Es brennt.
Es brennt so sehr.
Ich gehe die Straße entlang und versuche verzweifelt, Ablenkung zu finden. Doch so sehr ich mich auch bemühe, die Stimmen der Menschen treffen mich nicht, kommen nicht näher, wenden sich ab.
Ich weiß, was ich bin.
Sie wissen es nicht, und doch lehnen sie mich ab. Warum, will ich schreien, warum tut ihr mir das an? Wisst ihr es doch, wollt ihr mich verhöhnen?
Ich unterdrücke es, schaudernd. Ich habe schon genug zerstört.
„Hey, geht es dir gut?“
Der Junge bewegt seinen Mund. Es dauert eine Weile, bis ich den Sinn seiner Worte verstehe. Er hat mich angesprochen… Ich sitze auf dem Boden, warum?
Der Junge schaut zu mir hinab, ein Gefühl spiegelt sich in seiner Mimik. Wenn das Besorgnis wäre, sähe das anders aus. Er macht sich über mich lustig!
Oder
, wispert mein Unterbewusstsein mir zu, hat er dich erkannt, er kennt dich, erkennt dich!
Ich springe auf, stoße seine ausgestreckte Hand von mir und renne davon, seines Blickes in meinem Rücken bewusst. Es brennt, das Feuer brennt.
Dieser Blick verfolgt mich die Straße entlang, lässt mich nicht gehen, selbst als ich in einen Nebenweg einbiege und mich gegen eine Hauswand lehne. Dieser Blick liegt schamlos auf mir, sieht mir meine Qualen an. Lästerlich ist dieser Blick. Dann vergeht er.
Mein Atem erholt sich langsam von dem kurzen Sprint. Ich blicke mich um, doch zwischen den alten Kartons, Mülleimern und Spinnen bin ich das einzige menschliche Wesen. Gut. Hier kann mich niemand mit irren Blicken verfolgen. Hier kann ich atmen. Hier will ich bleiben.
Tatsächlich?
Aber dann wissen sie ja, dass etwas nicht stimmt. Dass mit dir etwas nicht stimmt. Dass du etwas getan haben musst.
Ich schüttele den Kopf. Aber nein, wenn ich nicht da bin, kann mich auch keiner vermissen. Das Feuer brennt, egal wo ich bin. Das ist doch absurd, so zu fühlen.
Sie werden suchen. Sie werden dich finden. Sie werden es finden.
Nein! Das kann ich nicht zulassen. Ich kann normal sein! Wenn ich bei ihnen bin, werde ich nicht auffallen. Ich raffe mich auf und gehe zu der Straße zurück.
Dies ist eine Fußgängerzone. Es ist Freitagnachmittag, Viele sind unterwegs. Ich falle nicht auf. Es sind viel zu viele Menschen hier. Keiner wird hier auf mich achten. Die Flammen züngeln in meiner Brust, versengen meine Kehle.
Ich atme tief durch und mische mich in ihre Reihen ein und folge den Menschen, wohin auch immer sie gehen.
Und dann…
Frei! Ich bin frei! Niemand wird mich je erkennen, solange ich nur bei ihnen bin! Ein Lachen bricht sich seinen Weg aus meiner Kehle; ich gehe schneller, immer schneller und schwinge die Tasche, die über meiner Schulter hängt, übermütig hin und her.
Wer wird sich anmaßen, das lachende Mädchen zu verdächtigen? Sich zu fragen, ob sie etwas getan hat, das man selber nicht tun würde? Ob sie…
Ich hüpfe vor Freude, denn ich kenne die Antwort. Niemand! Niemand wird sich das je fragen! Nicht solange ich hier bin, o nein! Weil sie alle, sie alle nur mein lachendes Gesicht sehen –
Und den Riss darunter.
Ich bleibe abrupt stehen. Feuer, immer dieses Feuer. Da ist doch…
Dieser Blick! Da war er schon wieder! Die Frau da, sie hat mich angesehen!
Aber nein, sie hat mich nur lachen gesehen. Nur ein lachendes Mädchen mit blonden Zöpfen und blauem Faltenrock. Pfff, keiner von ihnen ist klug genug, dahinter zu kommen. Ich überrage sie alle, ich bin schließlich hier. Ich gehe weiter. Das Feuer brennt.
Und doch…
Diese Blicke…sie sehen mich an. Meine wunderschönen Haare. Das ist es. Sie sehen meine Haare an.
Diese Blicke. Es werden immer mehr.
Schon wieder.
Und wieder.
Das lasse ich mir nicht gefallen. Ich gehe zu einem von ihnen hin. „Warum sehen Sie mich so an?!“ Die Flammen flackern in meiner Kehle, liegen mir auf der Zunge. Sein scheinbar so verwirrtes Gesicht verbirgt gut die Berechnung und das Wissen, das ich ahne. Er tut, als wisse er keine Antwort auf meine Frage. Ich wende mich angeekelt ab und will meinen Weg fortsetzen, doch ich kann nicht.
Sie sehen mich an.
Das Feuer bricht sich zusammen mit der Wut seine Bahn. „Warum seht ihr mich so an?!“, schreie ich die Leute an, die mich alle aus dem Augenwinkel beobachten.
„Ich habe nichts getan, also hört auf, mich so anzusehen!“
O ja, ich merke, wie sie mir auflauern, obwohl ihre Gesichter nur Erstaunen zeigen. Alles nur Tarnung. Aber ja, schrecke ich zusammen, sie gehören zur Polizei, sie haben mich die ganze Zeit verfolgt!
Kalter Schweiß bricht mir aus; ich presse die Tasche an mich. „Ich war es nicht!“, schreie ich mit überschlagender Stimme. Die Flammen lodern in meinen Augen, verschleiern meinen Blick. Doch sie sehen mich noch immer an, ich weiß es. „Ich habe ihn nicht umgebracht! Hört auf! Ich sage, ihr sollt aufhören!!“
Überall. Sie sind überall und sehen dich an.
Sehen das Blut, das an meinen Händen klebt. Sie kommen immer näher, ihre Fesseln drohen mir. Verzerrte Gesichter, grinsende Münder. Greifende Hände.
Nein!
Ich drehe mich um und renne weg. Sie werden mich nicht bekommen.
Blutrote Flammen umgeben mich.
Ich renne und renne. Verschwommene Bilder von Menschen und Häusern fliegen an mir vorbei. Immer weiter renne ich, und die Flammen sind meine treuen Begleiter. Die Tasche hängt schwer auf meiner Schulter, meine Zöpfe peitschen mir ins Gesicht. Schließlich komme ich hinunter zum Fluss, der träge und grau Richtung Osten fließt.
Wie schön das sein muss, so dahinzufließen.
Das Feuer lodert, während ich mich auf eine Bank setze und die Tasche neben mich stelle. Mir ist so warm, ich öffne meine dünne Jacke und lege sie auf meinen Schoß. Ich schließe meine Augen, als die ersten Tropfen fallen. Angenehm, wie das Wasser prickelnd auf meiner Haut auftrifft und das Feuer zum Fauchen bringt. Einige Minuten sitze ich so da und versuche, die Menschen mit ihren Blicken zu verdrängen. Sie sind weit weg.
Da ist es, es ist da, es geht nicht von allein…
Mein Blick stiehlt sich zu der Tasche.
Wie von selbst bewegen sich meine Finger zum Verschluss. Fahren um ihn herum, spielen damit, lassen ihn auf- und wieder zuschnappen. Trancegleich schlage ich die Klappe nach hinten. Da ist es, wartet auf mich, wartet drauf, herausgeholt zu werden. Das will es, und wenn es das will, dann tue ich das auch.
Zischend schlagen die Flammen in mir hoch und umhüllen mich, als sich meine Hand um den Griff legt und es aus der Tasche zieht. Absurd, wie groß es ist. Man sollte nicht meinen, dass derart große Messer überhaupt verkauft werden. Ich wende es in der Hand, von den verschmierten Blutflecken fasziniert, die sich fast malerisch über die Klinge ziehen. Staunend sehe ich, wie es die Luft zerschneidet. So scharf und spitz. Es war unerwartet leicht, ihm die Klinge in die Brust zu rammen. Er schien auch ziemlich überrascht zu sein, jedenfalls war sein betrunkener Blick erst nach zwei Sekunden nach unten gewandert; sein obszönes Lachen erst dann geschwunden. Er hatte wohl noch im letzten Augenblick nicht geglaubt, dass ich es wagen würde. Tja, da war er selber Schuld. Galle kommt mir hoch, wenn ich an seinen widerlichen faulen Atem denke, der noch im Moment des Todes, als er auf dem Boden lag und ich mich über ihn beugte, mich zu vergiften drohte. Doch glücklicherweise hatte er
dann aufgehört zu atmen und ich
bekam endlich wieder Luft. Erleichtert werfe ich den Kopf in den Nacken und lache einmal laut auf. Ha!
Ich recke meine Arme in die Luft, stoße das Messer in den Himmel und höre damit auch nicht auf, als eine ruppige Stimme hinter mir mich auffordert, mich umzudrehen. Mit erhobenem Messer rutsche ich auf der Bank herum und erblicke zwei Polizisten, die auf meine Bluse starren. Dann geht alles ganz schnell. Der Eine entreißt mir das Messer, während der Andere mich packt und mir die Arme auf den Rücken dreht, um mir Handschellen anzulegen. Mittlerweile hat es wirklich begonnen zu regnen, das Wasser verwandelt die unzähligen Blutspritzer auf meiner ehemals weißen Bluse in tausend verwischte Blüten.
Ich sitze auf der Rückbank des Streifenwagens und lehne meine Stirn gegen das Fenster. Die dumpfen Stimmen erreichen mich nicht.
Das Feuer brennt. Und das ist gut so. Es sagt mir, dass ich lebe, überlebe.
Ich muss lächeln. Ein glückliches Lächeln nach Jahren der Folter.
O ja, ich weiß, was ich bin.
Ich bin eine Mörderin.
Das Fegefeuer, die Flammen der Schuld lodern in meiner Brust.
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Tag der Veröffentlichung: 06.06.2012
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