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Meine Finger streichen monoton über die Mauer, bis sie die Kälte nicht mehr spüren und ebenso taub und gefühllos werden, wie mein Geist schon lange ist. Langsam gehe ich die stinkende Straße entlang, mein Kleid schleift über Pferdeäpfel, Fischabfälle und den Inhalt von Nachttöpfen, der aus den Fenstern geleert wird. Heute Vormittag habe ich eine Freundin, die Dienstmädchen ist, besucht. Sie hatte mir ein neues Kleid in Aussicht gestellt, das sie ihrer Herrin zu stehlen gedachte, doch diese kam dahinter und hat mich schimpfend weggeschickt. Ich suche mir meinen Weg nach Hause durch die Menschen, die sich einem reißenden Strom gleich in Richtung Revolutionsplatz drängen. Doch ich habe genauso viel Erfolg wie eine ins Wasser geworfene Blume und werde mit ihnen hinfort gerissen.

Das Podest schwebt immer näher auf mich zu, die hölzerne Henkerin blickt drohend auf all jene herab, die ihr heute zum Opfer fallen werden. Ich will das nicht sehen. Die wogende Masse beginnt den Verurteilten Schmähungen entgegen zu schreien und wird dabei zu einem einzigen, vielköpfigen Monster. Dazwischen gellen Rufe wie „Vive la République!“
Sie vergessen, sie vergessen alle, dass die Verurteilten einst Teil von ihnen waren, Freunde, Brüder, Väter, Söhne. Der Grad zwischen Freund und Feind, Vertrautem und Verräter ist schmal geworden heutzutage. Niemand kann sich in Sicherheit wiegen, nicht als Verbrecher gegen die Revolution oder die Republik gehenkt zu werden.
Ich sehe mir die Verurteilten an. Sie scheinen sich alle zu kennen. Eine Frau mit gramzerfurchtem Gesicht hält die Hand eines Mannes mit versteinerter Miene. Ich wende mich ab, als ich den vielleicht zehnjährigen Jungen neben ihm sehe, der ängstlich zur Guillotine hochsieht. Ich will das nicht sehen.
Das, das ist das einzige, was uns die Revolution, der Aufstand gegen die Obrigkeit gebracht hat? Täglich verhungern die Menschen in den Straßen, Kinder sterben wie die Fliegen ohne je einen Tag lang satt gewesen zu sein. Und nun richten wir sie auch noch hin?
Aber nein, ermahne ich mich, das Revolutionstribunal würde niemanden verurteilen, der nicht eine gewisse Schuld mit sich führt. Sie werden wissen, warum dieses Kind sterben muss.

Ich kann mich kaum mehr auf den Beinen halten, als ich den lebenden Leichen auf der Tribüne den Rücken zuwende und heimwärts stolpere. Meine letzte Mahlzeit heute früh bestand aus einem Kanten Brot, dem letzten, dass wir hatten. Ich werde morgen versuchen, über den Schwarzmarkt ein Pfund Brot zu bekommen, aber dafür muss ich sehr früh aufstehen. Natürlich wird es kein richtiges Brot sein, dass ich dort bekomme; was genau zum Strecken des Teiges Verwendung findet, will ich lieber nicht so genau wissen.
Während ich durch die Gosse wate, bahnt sich ein Zweispänner seinen Weg rücksichtslos durch die Menschen und bespritzt auch mich mit Pfützenwasser. Eigentlich muss ich nicht nachsehen, aber ich werfe doch einen Blick ins Innere der Kutsche. Ein lachendes Gesicht, mit Rouge verschmierte Wangen und ein prachtvoller samtener Rock: Einer von denen geht mal wieder mit einer feinen Dame aus, führt sie herum, zeigt seine prächtige Wohnung mit Seidentapete an den Wänden und feinem Porzellan auf dem Tisch. Und auch das soll unsere Zukunft sein? Zweifelfrei gehört der feine Herr zum Konvent; einer von denen, die große Reden von der Demokratie und dem Staate Frankreich schwingen und sich danach die Pariser Töchter in die Betten holen. Gnade uns Gott, falls das wirklich unsere Zukunft sein sollte. Doch wir haben immer noch Robespierre. Er ist zwar spröde wie altes Brot, aber wenn jemand das Volk retten kann, dann er. Er steht zu uns, kleidet sich wie ein ehrbarer Mann und hält uns die Hand hin. „Der Unbestechliche“ hat immerhin ein freies Frankreich versprochen, dafür müssten nur die Feinde zur Strecke gebracht werden.
Ich bin an unserem Haus angekommen. Bevor ich hineingehe nehme ich einen Eimer, um am nächsten Brunnen Wasser zum Säubern der Stube zu holen. Doch ich habe Pech: Vor kurzem gab es anscheinend wieder mal einen Meuchelmord an einem Mann mit aristokratischem Verhalten, seine Leiche liegt quer über dem Brunnenrand. Das weiße Spitzentaschentuch ragt aus seiner Faust. Dummer Kerl. Es müsste doch eigentlich offensichtlich sein, dass solcherlei Leute in Paris eine verkürzte Lebenszeit zu erwarten haben, warum war er wohl noch hier?
Bis zum Wasserholen warte ich lieber, bis der Körper abgeholt wird, doch eines kann ich mir nicht verkneifen. Mich verstohlen umsehend schleiche ich zu ihm hin. Sein Mantel ist zwar nicht aus Samt oder Seide, doch immer noch aus gutem Tuch und warmen Futter, daraus könnte ich noch etwas machen. Mühevoll ziehe ich ihm die Ärmel vom Körper, wobei er noch mehr in den Brunnen hineinrutscht, und falte den Mantel zusammen. Nach kurzem Zögern nehme ich auch das Taschentuch an mich.
Vier Stockwerke schleppe ich mich hoch. Jede Stufe lässt die Luft stickiger werden, doch Wärme sucht man hier vergebens. Oben angekommen verstaue ich den Mantel samt Taschentuch in der großen Holzkiste, die unsere Kleider enthält. Morgen, gebiete ich mir, morgen. Zuerst sehe ich in den Töpfen, die in einer anderen Ecken stehen, nach, ob ich heute Morgen nicht doch etwas zu Essen übersehen habe. Meine Hoffnung schwindet zusehends. Lediglich ein halbes Dutzend Kartoffeln, etwas Salz und ein Stück Käse gibt es noch; zu klein um satt zu werden, zu groß, um es allein essen zu dürfen. Mein Vater und mein Bruder werden bald von ihrer Arbeit als Träger unten am Hafen zurückkehren und ich habe nichts, dass ich ihnen vorsetzten kann. Seit Mutters Tod, bedingt durch die dritte Fehlgeburt, reden wir kaum noch miteinander und ich muss das übernehmen, was man jämmerlicher weise Haushalt schimpft. Notgedrungen schneide ich die Kartoffeln klein, salze sie, werfe sie in einen Topf und überwinde mich, nun doch Wasser am Brunnen mit der Leiche zu holen. Das wird eine dünne Kartoffelsuppe ergeben, doch immer noch besser als nichts. Und da kommen sie schon: Mit gebeugten Schultern und Schatten in den braunen Gesichtern frage ich mich jeden Tag, ob es auch einmal etwas anderes als das hier gab oder geben wird. So lange ich mich erinnern kann, sind sie, erst mein Vater, mein Bruder ab seinem elften Lebensjahr, im Morgengrauen losgezogen und haben sich dabei kaputtgeschuftet.
Ich setzte den Topf auf den Ofen und lege ein Holzscheit ins Feuer. Augenblicklich wird das Zimmer und seine Insassen vom Rauch verschleiert. Doch ich habe keine Zeit, die aufkommende Wärme abzuwarten, ein Blick zum Fenster bestätigt mir, dass sich die frühe Herbstdämmerung über die Dächer von Paris schiebt; wenn ich mich nicht beeile, könnte ich sie verpassen oder an die Konkurrenz verlieren. Hastig gebe ich den beiden Anweisungen, wie sie die Kartoffeln zerstampfen sollen, dann bin ich auch schon aus dem Zimmer und laufe die Treppen runter. Als ich aus der Tür stürme, ist von der Leiche nichts mehr zu sehen; ein hoher Hut liegt einsam am Boden.

Ich eile der untergehenden Sonne nach in Richtung Konvent, dessen erleuchtete Fenster mir hoffnungsvoll entgegen blinken. Ich stelle mich an meine übliche Kreuzung, ziehe den Ausschnitt ein klein wenig tiefer und bin dann bereit für die heutige Nacht. Nicht lange dauert es, bis die Abgeordneten aus den breiten Flügeltüren kommen und die es nach Hause zieht, an ihren Esstisch, zu Frau und Kindern, oder aber zu mir, die ich hier im Schatten stehe und warte.
Und ich habe Recht. Schon bald steuert ein großer Mann mit Schnurrbart und Hut auf mich zu und hakt mich bei sich ein. Ich lächele ihn an. Ich bin froh darum, diese Freundlichkeit macht es wahrscheinlicher, vorher noch zum Essen eingeladen zu werden. Die Wohlhabenden sind freigiebiger und stinken wenigstens nur nach ihrem teuren Parfüm und nicht nach ranzigem Fett. Das macht es etwas erträglicher, auch wenn ich mich dann nur noch wertloser fühle, wenn ich wieder dort stehe und warte und hoffe, dass auch der Rest meiner selbst so taub werden wird wie die Hand an der Mauer.

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Texte: Alle Rechte liegen bei mir.
Tag der Veröffentlichung: 27.05.2012

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