Mord Und Liebe im Herrenhaus
Ein Kurzroman von Mike
Erstes Kapitel
Wie immer war ich gegen sechs Uhr hellwach. Die Glocken von St. Mary's läuteten wie immer den neuen Tag ein. Eine Weile lag ich einfach da und lauschte. Die Vöglein zwitscherten melodisch vor meinem Fenster, eine Kuh muhte, dann hörte ich eine Stimme etwas rufen. Zeit aufzustehen.
Ich warf das Bettuch zurück und stand auf. Es war Anfang Juli und mehr als ein Bettuch war nicht nötig, besonders hier in meinem kleinen Zimmer im Westflügel des imponierenden, aber auch ziemlich kleinen Herrenhauses. Ich zog meine Vorhänge zurück und ließ das helle Morgenlicht hereinströmen. Aus meinem Fenster hatte ich einen herrlichen Blick nach Süden. Im Winter, wenn die liebe Sonne schien und niedrig am Himmel hing, war mein kleines Zimmer ein netter Ort. Nicht dass ich viel Gelegenheit hätte, mich in meinem Zimmer aufzuhalten, aber trotzdem war das immer gut zu wissen. Als ich einmal krank war, schien es mir tatsächlich besser zu gehen, als die Sonne mal in mein Zimmer schien.
Ich öffnete das Fenster weil es schon warm im Zimmer war, und zog mein Nachthemd aus. Ich ging zur Kommode und wusch mich. Trotz der Wärme schauderte ich ein wenig wegen des kühlen Wassers. Dabei dachte ich, dass es eigentlich nicht mal kühl war. Ich erinnerte mich unvermittelt an einige Morgen im letzten kalten Januar. Bitterkalt in der Nacht und bitterkalt im Zimmer. Bitterkaltes Wasser. Tagelang hatte ich nur das Nötige gewaschen. Ich schmunzelte dabei, und das zierliche Mädchen in dem ramponierten Spiegel schmunzelte zurück.
Danach zog ich mich an und bürstete meine langen, braunen Haare. Ich war stolz, dass sie jetzt fast bis zu meinem Nabel hingen, flocht dann aber einen langen Zopf daraus. Nun sah ich präsentabel aus.
Ich warf einen letzten Blick aus meinem Fenster. Am Horizont sah es schon diesig aus, die Kühe weideten und die Milchmagd hantierte mit irgendetwas vor der Molkerei rum. Ich verließ das Zimmer, ging durch die Galerie und die Treppe runter. Unterwegs band ich meine Schürze um und stellte meine Haube auf, betrat die Küche und grüßte Bess und John, die schon da waren.
"Schönen guten Morgen auch”, sagten die Beiden wie aus einem Mund. John war der Gärtner/Mann-für-alles, und seine Frau Bess, bzw. Elizabeth, die Köchin. Die waren fast wie Eltern für mich.
Harriet, die Kammerfrau, saß schon am Tisch und aß ihren Haferbrei. Sie war ein komischer Vogel, so um die vierzig und oft hatte es keinen Sinn ihr etwas zu sagen, denn man bekam meistens keine Antwort. Fast immer sah sie mürrisch oder unzufrieden aus und oft murmelte sie etwas vor sich hin während sie arbeitete, aber sie machte gute Arbeit und sie tat niemandem Unrecht. Ich hatte auch keine Ahnung wie sie mit Nachname hieß. Aber all das war auch kein Grund unfreundlich zu ihr zu sein.
"Guten Morgen, Harriet", sagte ich daher.
"...'gen", erhielt ich als Antwort. Na, das war auch was.
Hier darf ich auch die Waschfrau, Mrs Agnes Wilson, nicht vergessen. Sie war von molliger Statur, um die dreißig und die Frau des Arztes im Dorf. Sie arbeitete von zehn bis vier von Montag bis Samstag. Morgens verschwand sie gleich in die Waschküche und man sah sie kaum während des Tages, es sei denn sie hatte Hunger oder Durst, oder sie hängte die Wäsche auf. Sie erledigte hervorragende Arbeit, und hatte ein phänomenales Gedächtnis, denn sie wusste wem welches Kleidungsstück gehörte und ich fand immer einen kleinen, ordentlichen Stapel dort, wenn ich meine Wäsche holen wollte.
Wenn man mehr Leute hier brauchte, dann heuerte Sir James halt die Leute, die er brauchte. Man konnte immer jemanden finden, der noch ein bisschen Kohle verdienen wollte.
"Hast gut geschlafen, Mädel?" fragte John mit seinem breiten West-Country-Akzent.
"Ja, bis die Glocken geschlagen haben", erwiderte ich grinsend.
"Die höre ich immer hier unten", sagte Bess. "Ich bin immer gegen fünf schon hellwach. So war ich immer, Rosie."
Ich fand ihrer Cockney-Akzent immer niedlich. Wie es dazu kam, dass diese gutmütige Frau aus dem Ostend von London den guten John aus Exeter geheiratet hatte, habe ich nie erfahren. Zugegeben habe ich auch nie danach gefragt.
"Machst du gleich den Wintergarten, Rosie?" fragte Bess gerade.
"Ja, Klar!" erwiderte ich und ging zum Frühstückszimmer, das im Sommer eigentlich der Wintergarten war, da die Leute immer gerne dort frühstückten. Im Winter benutzten die Leute doch lieber das Zimmer neben der Küche zum Frühstück. Zwischen Mai und September wollten sie also ihr Frühstück immer in dem Wintergarten haben. Als ich den Wintergarten betrat, war Miss Catherine, die Tochter des Hauses, überraschenderweise bereits anwesend. Catherine war ein Jahr jünger als ich, und wir waren uns auch nicht unähnlich. Sie hatte Haare wie meine, wenn auch nicht so lang und sie ließ ihre Haare auch immer locker hängen. Trotz teurer Gouvernanten und Erzieherinnen hatte sie auch eine spitze Zunge.
"Morgen, Rosie."
"Morgen, Miss Catherine", erwiderte ich. "Sie sind aber früh auf."
"Ach! Bei der Hitze im Zimmer konnte ich gar nicht schlafen!" sagte sie und gähnte. "Du vielleicht?"
"Ja, danke, Miss. Wie ein Murmeltier."
"Meine Güte, du Glückspilz!" rief sie und gähnte schon wieder.
Ich räumte dies und das auf und stellte die Tischchen und Stühle so hin, wie Sir James und Mylady sie für ihr Frühstück gerne hatten.
"Sag mal, Rosie, hast du nicht bald Geburtstag?"
"Nein, nicht wirklich, Miss. Etwas später im Jahr."
"Ach so. Du bist aber siebzehn, oder?"
"Ja, Miss." Ich schaute unauffällig die Uhr an, was sie natürlich sofort bemerkte.
"Ach, sorry, Rosie! Ich wollte dich nicht aufhalten."
"In Ordnung, Miss. Darf ich Ihnen etwas bringen? Eine Tasse Tee vielleicht?"
"Das wäre prima, danke, Rosie."
"Keine Ursache, Miss."
Ich ging zur Küche zurück und dachte unterwegs, was für eine gute Stelle ich hatte und das alle immer nett zu mir waren. Na ja, fast immer. George und Richard Markham waren auch da als ich die Küche betrat, um sich Brötchen und Tee zu holen. George war der alte Kutscher und Richard seinen Sohn, der Stallknecht. Die nahmen oft ihr Frühstück mit und aßen im Freien bei den Pferden.
Als ich mit dem Tee für Miss Catherine zurückkam, war ich überrascht drei Leute da zu finden, obwohl es kaum später als sieben Uhr war.
"Morgen, Rosemary", sagte Sir James. "Keine Sorge, wir wissen dass es zu früh ist. Wer kann bei solcher Hitze schlafen? Ihr könnt das Frühstück servieren wenn es euch passt."
"Guten Morgen, Sir James. Sehr wohl, Sir", sagte ich und machte einen Knicks. Ich drehte mich zu seiner Frau. "Guten Morgen, Mylady", sagte ich zu ihr, machte noch einen Knicks, und stellte den Tee vor ihrer Tochter hin. "Ich habe Miss Catherine schon Tee und Kekse gebracht, Bitte sehr."
"Rosemary, ich habe gerade gesehen, dass meine Post, die ich dir gestern gegeben habe, um sie zur Poststelle zu bringen, immer noch auf dem Tisch in der Eingangshalle liegt." Die herrschsüchtige Lady Mortimer saß da, kerzengerade wie immer, ihre Nase hoch in die Luft gestreckt, und durchbohrte mich buchstäblich mit ihrem Blick. Eigentlich war sie immer nett und höflich, hatte aber nunmal diese gebieterische Art. Man musste sich halt daran gewöhnen, und sich richtig benehmen.
"Ich bitte um Entschuldigung, Mylady, aber es hat gestern furchtbar gestürmt und....." Weiter kam ich nicht.
"Was? Aber nicht den ganzen Tag!"
"Nein Mylady, morgens musste ich doch...."
"Gegen Mittag war es aber eine Weile besser und...."
"Ich...!" unterbrach uns gerade Sir James, der wie immer auf seinem Stuhl wie ein Faulenzer saß. Aber man wusste immer, wer hier der eigentliche Chef war. Mir kam es immer so vor, als ob die Eheleute eigentlich wie Tag und Nacht waren. "Ich habe Rosemary gesagt, dass die Post warten könne. Nichts ist so wichtig, dass es nicht einen Tag noch warten kann. Lieber das, als eine durchnässte Magd, die mit Fieber im Bett liegt."
"Ja, du hast sicher recht, James. Aber meine Briefe gehen mit der Post heute ab, Rosemary!"
"Ja, Mylady", erwiderte ich und machte einen Knicks.
"Und egal wann unser Frühstück da ist, Rosemary", sagte Sir James.
"Ja, sehr wohl, Sir James", sagte ich und eilte zur Küche zurück.
Als ich um die Ecke ging, hörte ich Miss Catherine sagen, "Mama, du bist manchmal zu streng zu ihr, sie ist eigentlich sehr lieb! Aber, sag mal, was ist ein Murmeltier?! Manchmal bin ich soooo unwissend und sie hat mir gesagt....." Mehr hörte ich aber nicht, aber ich schmunzelte vor mich hin. Das war halt so ein Spruch, den ich als Kind gelernt hatte, und war sogar eine Art Lieblingsspruch von mir. Diese Frage hatte ich auch mal meiner Mutter gestellt. Miss Catherine's Mutter war wohl nicht so auskunftfreudig wie meine es gewesen war.
**********
Nach dem Frühstück räumte ich im Wintergarten auf und erzählte Bess, dass ich dringend zur Post musste. Als ich das Gebäude verließ, sah ich die Milchmagd, die gerade aus der Molkerei gekommen war. Ich gebe Leuten mal Namen die mir gefallen und für mich war Nellie halt die Milchfrau. Sie war für die Molkerei zuständig und zwischendurch half sie mit dem Putzen im Haus und was weiß ich noch. Ach ja, im Schweinestall auch. Sie war wirklich das Mädchen für alles.
"Grüß dich, Rosie!" rief sie als sie mich erspähte.
"Morgen, Nellie!" rief ich lächelnd zurück. "Ich muss weiter, Mylady’s Post wartet!"
"Ja, dann bis später!" rief sie gut gelaunt.
Ich ging zu Fuß denn es war kaum eine halbe Meile bis zum Dörfchen Twyford, wo sich die nächste Poststelle befand. Es war ein herrlicher Morgen, schon ziemlich heiß. Ich konnte ein paar Schwäne auf dem Fluss Itchen sehen, der sich durch die Landschaft bis zu der Großstadt Southampton schlängelte. Ich ging so schnell ich konnte bei der Hitze, und als ich bei der Post ankam, war ich ziemlich verschwitzt. Meine Freundin dort, Peggy, gab mir freundlicherweise ein Glas Wasser zu trinken.
Auf dem Weg zurück hatte ich wie immer einen herrlichen Blick von Shawford Hall, und die schöne Umgebung. Mit Freude sah ich, dass die Schwäne immer noch da waren. Als ich Shawford Hall wieder erreichte, schreckte mich eine Stimme aus meinen Gedanken.
"Hey, Rosie!"
Ich drehte mich um. "Oh, hallo, Luke!", sagte ich, "was erschreckst du mich denn so!"
"Hab ich das?" sagte er grinsend.
"Na ja, ein bisschen."
"Was machst du bei dieser Hitze? Du siehst ganz verschwitzt aus!"
"Tja, ich musste dringend zur Post, sonst hätte Mylady mich wohl hingerichtet", erwiderte ich.
Luke lachte schallend, und ich musste auch grinsen. Ich nannte ihn der Kuhhirt, weil er für die Kühe zuständig war. Und wie alle hier war er auch so eine Art Mädchen für alles. In der Nähe sah ich noch ein paar Tagelöhner, die auch oft hier arbeiteten.
"Ich muss weiter, Luke", sagte ich. "Bis später."
"Ja, bis später, Rosie!"
***********
Ich fand Mylady allein in dem Wintergarten beim Stricken. Lady Isabella Mortimer verbrachte ihre Zeit mit Lesen, Stricken, Nähen, Lesen, Stricken und Nähen. Ich hatte keine Ahnung was sie sonst noch tat. Wenn es einen Ball oder so etwas in der Nähe gab, musste ich ihr dann auch beim Ankleiden helfen, aber sonst war sie wohl eine ziemlich unabhängige Person.
Ich räusperte mich, und sie blickte auf und sah mich wie so oft etwas gebieterisch an.
"Mylady, ich habe ihre Briefe zur Post gebracht", sagte ich und machte einen Knicks.
"Sehr gut. Danke, Rosemary."
"Wäre das alles, Mylady?"
"Ja, danke, Rosemary."
"Danke, Mylady", sagte ich und machte einen Knicks.
Ich machte Anstalten zu gehen.
"Ach ja, es gibt doch etwas, Rosemary."
Ich drehte mich wieder um. "Ja, Mylady?"
"Ja, Robert kommt am Samstag nach Hause. Wie du dich bestimmt erinnerst, ist er in Oxford. Magdalen College."
"Ja, Mylady. Es sind bestimmt Sommerferien?"
"Ja. Er wird ein paar Wochen bei uns bleiben. Darum brauchen wir sein Zimmer."
"Ja, Mylady, ich werde mich darum kümmern", sagte ich.
"Danke, Rosemary. Ich würde natürlich Harriet darum bitten, aber ich weiß nie ob sie mir zuhört oder nicht."
"Ach so. Das macht mir nichts aus, Mylady. Harriet kann mir gerne dabei helfen."
"Gut. Harriet war ein uneheliches Kind irgendwo in Sir James' Familie, weißt du. Sie ist sehr lieb, aber.....na ja, du weißt schon. Danke, Rosemary, das war's."
"Ja, sehr wohl, Mylady", sagte ich und machte einen Knicks. Wieder machte ich Anstalten zu gehen, musste aber wiederum Halt machen.
"Bist du glücklich bei uns, Rosemary?" fragte sie ganz unvermittelt.
"Ja, Mylady, sehr sogar. Sie sind immer sehr gut und freundlich zu mir gewesen”, erwiderte ich, ziemlich überrascht wegen der Frage.
"Meine freche Tochter hat mir vorhin gesagt, dass ich zu streng zu dir bin."
"Ich....ähm, ja....ich habe das gehört, Mylady."
"Das dachte ich mir schon. Findest du, dass ich zu streng bin Rosemary?"
"Nein, Mylady. Ich....ähm....bin sehr zufrieden, ähm..."
"Schon gut, ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen. Ja, Das war's dann, Rosemary."
"Ja, sehr gut, Mylady", sagte ich und machte meinen Knicks.
Zweites Kapitel
An diesem Nachmittag bekam Miss Catherine Besuch von zwei Freundinnen aus dem Dorf Otterbourne, das etwas westlich von Shawford Hall liegt, und zu Fuß leicht erreichbar war. Die Schwestern Collins waren eigentlich Bauerntöchter, und standesgemäß kaum besser als ich. Aber deren Vater war der größte Bauer in Otterbourne und auch bei weitem der Wohlhabendste. Die drei waren seit Jahren befreundet und man hätte nie gedacht, dass es eigentlich einen Standesunterschied zwischen ihnen und Sir James’ Tochter gab. Lucy war 13 Jahre alt und Diana 15, ein Jahr jünger als Miss Catherine.
Ich fand die drei immer ein lustiges und unterhaltsames Trio, und es war auch nicht immer so einfach einen Lachreiz zu unterdrücken. An diesem Nachmittag ging es auch nicht anders zu.
"Unsere Nachbarin hat ein Baby im Bauch, das hat sie uns gestern erzählt, stell dir vor. Ich wollte ja nur wissen, was sie da unter ihrem Kleid hatte! Sie hat gelacht, und gesagt, dass ich ein freches Mädchen bin, aber dann hat sie es uns trotzdem gesagt", erzählte Lucy gerade, als ich Tee und Kuchen servierte. Sie saßen auf der Terrasse im Schatten der Mauer.
"Ich fragte sie, woher die Babies kommen", sagte Diana, "und sie hat gesagt, dass sie von Gott kommen! Aber das glaube ich nicht. Du etwa, Cathy? Du bist ein Jahr älter als ich, du weißt bestimmt mehr davon."
"Oh, das weiß ich auch nicht soooo genau", erwiderte Miss Catherine, und man konnte genau sehen, dass sie doch unwissend war.
"Du, Rosie, du weißt es bestimmt, oder?" fragte Lucy unvermittelt, und ich fuhr erschrocken herum.
"Oh, sie hat bestimmt recht", sagte ich ausweichend. Wie behütet diese jungen Dinger in den reichen Familien doch waren, dachte ich, und verglich ihr unschuldiges, engelhaftes Aussehen mit dem Zeug, das manchmal aus ihren Mündern unerwartet heraussprudelte.
"Aber sie sieht schon wie ein Kamel aus!" sagte Lucy. "Wie kommt das Baby denn raus?"
"Ach, dafür haben wir das Ding zwischen unseren Beinen, glaube ich", sagte ihrer Schwester mit ernster Miene.
Inzwischen hatte ich mich gefangen und ging eiligen Schrittes davon, und hatte dabei aber Mühe das Lachen zurückzuhalten.
**********
Die drei Engelchen hatten gerade meiner Erinnerung einen Ruck gegeben.
Meine Mutter starb plötzlich als ich acht Jahre alt war, und ich wurde über Nacht zu einer Art Ersatz-Hausfrau für meinen Vater. Dank meiner lieben Mama war ich ziemlich geschickt und konnte lesen, schreiben, nähen, stricken und auch ein bisschen kochen, obwohl ich nie eine Schule besucht hatte. Sie hatte früher als Lehrerin und Erzieherin in der Umgebung gearbeitet. Mein Vater andererseits, der konnte auf Sir James' Gut arbeiten. Und er konnte trinken.
Mein Vater tat mir eigentlich nie etwas Schlimmes oder Unrechtes. Ich glaubte damals, dass er genau wie ich einfach Trost brauchte, und mir tat es eigentlich auch gut, jemand nachts zu haben, der mich fest halten konnte, nach dem Verlust meiner geliebten Mama.
Über die Jahre hinweg ließ das nach und er kam kaum mehr abends nach Hause. Eigentlich vermisste ich ihn manchmal, denn ich war dann ganz allein. Aber ich gewöhnte mich natürlich auch daran.
Bis ich eines Tages zum ersten Mal blutete. Natürlich war ich damals verwirrt, und da ich sonst niemanden hatte, zeigte ich meinem Vater meine beschmutzte Kleidung.
Er schaute mich irgendwie komisch an und kippte noch ein Glas Branntwein runter. Dann erzählte er mir lallend einige Dinge über meinen Körper, die ich eigentlich nicht wirklich verstand. Er kippte noch ein Glas runter, und kam torkelnd auf mich zu. Er sagte, bzw. lallte: “Soso, du hast also geblutet, hmm?” und ich spürte seine Hand auf dieser Stelle. Etwas in mir schrie, dass das gar nicht richtig war, was er gerade tat und ich gab ihm eine Ohrfeige. Erschrocken schaute er mich an, und genauso erschrocken floh ich aus dem Zimmer. Danach ließ er mich völlig in Ruhe.
Eines Tages wurde er mit einer frischgebackenen Witwe im Dorf befreundet, und niemand schien sich für mich mehr zu interessieren.
Bis dann erstaunlicherweise vor zwei Jahren der nette Sir James in unserer Küche saß, und erzählte, dass er eine Stelle für eine Magd gerade frei hätte und dass er nach einem Mädchen in meinem Alter suche, und wollte wissen ob ich diese Stelle gerne haben möchte. Nur so. Natürlich wollte ich die Stelle. Eine Woche später kam Sir James Mortimer's Kutscher, um mich abzuholen. Mein Vater verabschiedete sich von mir nicht, aber ich wusste, dass er das alles irgendwie eingefädelt hatte. Irgendwie war ich dankbar dafür.
Inzwischen hat mein Vater sich zu Tode gesoffen, und hatte mir auch fast nichts hinterlassen, denn er hatte unser kleines Häuschen gemietet. Der Besitzer war Sir James.
**********
Eine Stunde später betrat ich die Terrasse wieder, und die Mädels bestellten mehr Tee und Kuchen. Als ich mit dem Tablett zurückkam, waren sie wohl gerade bei der Erdkunde.
"Nein, Lucy, New York hieß ursprünglich New Amsterdam", sagte Diana.
"Ach so."
"Ich habe einen entfernten Cousin, der in Boston wohnt", sagte Miss Catherine.
"Wow!" sagte Lucy. "Ist das in der Nähe von New York?"
"Nicht so weit weg, glaube ich, aber ich habe vergessen in welchem Staat es liegt."
"Ich habe keine Ahnung", sagte Diana.
"Ich weiß nicht viel über Erdkunde", warf ich ein, "aber ich glaube mich zu erinnern, dass Boston in Massachusetts liegt, Miss."
"Jaaa! Du bist ein Schatz!" rief Catherine aus. "Das habe ich immer gesagt!"
"Danke, Miss Catherine", sagte ich und ging wieder davon.
Sonst war der Tag kaum ereignisreich.
**********
Robert Mortimer wurde am kommenden Samstagabend erwartet. Während der Woche hatte ich mit Harriets Hilfe alles in seinem Zimmer vorbereitet. Die Familie freute sich auf Roberts Ankunft, denn er studierte schon lange in Oxford. Er wollte Anwalt werden, und eines Tages würde er wohl auch das Herrenhaus besitzen und das Gut leiten.
Gegen acht Uhr abends hörte man eine Kutsche vorfahren und die Familie stürmte hinaus, um ihn zu begrüßen. Ich zog mich unauffällig zurück und saß zusammen mit Bess und John in der Küche.
Master Robert war drei Jahre älter als ich, und ich hatte ihn natürlich vor zwei Jahren kennengelernt als Sir James mich von meinem Zuhause abholen ließ. Seitdem kam er nur im Sommer und zu Weihnachten nach Hause, weil er in Magdalen College studierte. Damals hatte ich ihn sehr gemocht, und ich war überglücklich als er mir manche Bücher schenkte, die er in Oxford nicht mehr brauchen würde. Ich war ungeheuer dankbar dafür, denn obwohl ich das Lesen und Schreiben zu Hause gelernt hatte, gab es damals nicht viel, was ich lesen konnte.
Die Familie saß im Großen Salon und trank Wein, als ich Master Robert Brot und Käse für sein Abendbrot brachte. Er sah etwas müde aus nach seiner Reise. Er grüßte mich freundlich, als er mich sah. Er war immer nett zu mir. Später musste ich den Salon aufräumen, nachdem alle gegangen waren.
*********
Am Morgen darauf bereitete ich gerade den Wintergarten für das Frühstück vor, als Bruder und Schwester reinkamen. Robert schien größer zu sein als ich ihn in Erinnerung hatte, jetzt war er bestimmt einen Kopf größer als ich, und als seine Schwester auch. Wie alle in der Familie hatte er braune Haare, aber nur er hatte diese wunderschöne, hellbraune Augen.
"Guten Morgen, Master Robert, Miss Catherine", begrüßte ich die beiden höflich.
"Grüß dich, Rosie!" sagte er freundlich, während Miss Catherine einen mürrischen Guten Morgen herausbrachte. Ich hatte schon mal den Verdacht gehegt, dass es ihr nicht so gut gefiel, dass Robert immer so freundlich zu mir war. Dass die Magd scheinbar mehr Zuwendung bekam als sie selbst, seine Schwester. Na ja, wie dem auch sei, ich versuchte nur höflich und nett zu sein, egal wem gegenüber.
"Setz dich, Rob", befahl Miss Catherine. "Ich bin sicher, Rosemary wird uns gleich Tee bringen, hmmmm?"
"Sehr gut, Miss Catherine", erwiderte ich. Als ich ging, hörte ich Master Robert zischen, "was ist denn los mit dir heute Morgen? Das hat gar nicht freundlich geklungen."
Ich wollte nichts mehr hören und ging so schnell ich konnte zurück zur Küche. Als ich ein paar Minuten später mit einem Tablett zurückkehrte, war die junge Dame wie verwandelt.
"Ich danke dir, Rosie", flötete sie.
"Gerne, Miss Catherine."
"Du bist aber jetzt eine hübsche, junge Dame, Rosie", sagte Robert.
"Danke, Master Robert", erwiderte ich und spürte die Röte ins Gesicht steigen.
"Robert!" rief Miss Catherine lachend aus, "du bringst sie in Verlegenheit."
"Quatsch! Man darf sicher mal einer jungen Dame ein Kompliment machen", sagte er. "Meiner Meinung nach, gehört sie sowieso zur Familie."
"Danke, Rosemary", sagte die junge Dame dann, ihren Bruder unterbrechend. "Wir brauchen nichts mehr, man sieht, dass du verlegen bist."
"Ja, sehr wohl, Miss Catherine", erwiderte ich und ging eiligen Schrittes davon, mich aber auch fragend, was Robert ihr wohl gesagt hätte, um ihren Gemütsumschwung zu verursachen.
Bald waren die Eltern auch da und ich war vollständig mit dem Frühstück beschäftigt.
***********
Nach dem Frühstück musste man die Sonntagspflicht der Familie erfüllen und so ging ich mit ihnen in die Kirche, St Mary's in Twyford. Gott hatte mich aber leider verlassen als ich noch ein Kind war, und eines Tages hatte ich auch ihn aufgegeben.
Nach dem Kirchbesuch gingen manche nach Hause, manche zur "The Crown", die Kneipe in Twyford. Nachdem ich meine nachmittägliche Arbeit erledigt hatte, fand ich ein bisschen Zeit um einen Spaziergang in den schönen Gärten von Shawford Hall zu machen.
Als ich durch den Rosengarten spazierte und die schönen Rosen beschnupperte, hörte ich aufgeregte Stimmen hinter einer Hecke.
"....das mir nicht gleich gibst, werde ich dir mal den Hals umdrehen, Kumpel!" sagte jemand laut und sehr aufgebracht.
"Das würdest du nie tun, du Sch....." Ich wollte mir die Ohren zustopfen um die folgenden unflätigen Wörter nicht hören zu müssen. Ich wusste aber schon, dass diese zweite Stimme Luke gehörte.
"Willst wetten, du Schuft...." und es folgten noch mehr solche Wörter, ich hielt mir den Ohren zu und eilte hastig davon. Was war denn das bloß für ein Gespräch? An einem schönen Sonntagnachmittag in Juli? Und die Ruhe für andere Leute wie mich so zu stören.
Vom Rosengarten ging ich in den langen Garten. Ein Pfad aus Kies führte zwischen zwei langgestreckten Blumenrabatten hindurch. Langsam spazierte ich durch die schöne Farbenpracht bis ich den Pfad erreichte, der links zurück zum Haus führte. Rechts aber gab es die Pforte zur sogenannten Liebesecke. Ich betrat den kleinen Garten und bewunderte das schöne Geißblatt, das sich um den kleinen Unterschlupf mit der Bank drin rankte.
Ich erschrak, als ich seine Stimme hinter mir hörte, "Hey, Rosie!" und drehte mich langsam um.
"Hallo Luke."
"Willste denn nichts mit mir zu tun haben heute, hä?" lallte er.
"Wie meinst du das? Ich habe dich kaum gesehen, Luke."
"Hast mich in der Kirche gemieden."
"Ich weiß nicht was du meinst. Du warst sowieso einige Reihen vor mir."
"Hättest mir mal was sagen können!"
"Und danach warst du wohl in der Crown? Wie immer sonntags."
"So?"
"Ich hatte kaum die Gelegenheit, dir was zu sagen, Luke", erwiderte ich so freundlich wie möglich, aber ich spürte schon, dass es vergebliche Liebesmüh war.
"Hach! Du meidest mich halt!"
"Tue ich nicht! Bist du betrunken Luke?"
"Ach, willst du auch streiten....." Ich will seine genauen Wörter hier nicht wiedergeben. Aber gerade als ich protestieren wollte, dass ich eigentlich keine blöde Schlampe sei, griff er nach mir und versuchte mich heftig zu küssen. Ich fürchte, dass Goliath zu stark für seine kleine Beute war und schon hatte ich das zweifelhafte Vergnügen, seine Zunge in meinem Mund zu haben. Und dazu den starken Geschmack nach Bier und Schnaps. Obwohl ich mich zu verteidigen suchte, war ich einigermaßen verloren. Wie erleichtert war ich, als ich eine andere Stimme hinter mir hörte.
"Was geht hier vor?" hörte ich Master Robert sagen. "Ich habe den Wortwechsel übrigens gerade mitgehört!"
Luke ließ mich los und schimpfte weiter. "Sie wollte es doch machen!"
"Ich habe allerdings einen anderen Eindruck bekommen", sagte Robert. Luke murmelte noch ein paar unflätige Wörter und ging schimpfend davon.
"Danke, Master Robert", sagte ich schüchtern.
"Hat er dich schon mal belästigt, Rosie?"
"Nein, gar nicht. Er war immer....ach, ich weiß nicht, nur dass ich ihn noch nie betrunken gesehen habe. Ich habe ihn übrigens vorhin mit jemandem streiten gehört. Er scheint sehr aufgeregt zu sein. Ich weiß nicht genau, über was sie sich gestritten haben, ich wollte es auch nicht hören. So viele unflätige Wörter! Ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist. Ich bin schockiert."
"Ja, ich bin auch ein bisschen schockiert", sagte Robert. "Wollen wir hier eine Weile sitzen? Es ist immer noch früh am Abend."
"Gerne," erwiderte ich und wir setzen uns auf die Bank.
Eine ganze Weile schwiegen wir, bis Robert sagte, "so ein ruhiger Ort zum Nachdenken."
"Ja, Master Robert, es ist sehr schön hier."
"Ach, weißt du Rosie, unter vier Augen kannst du mich gern Robert nennen."
"Ich kann......ähm, ich will......ähm, ich meine, na ja, das kann ich nicht, Master Robert."
"Wieso nicht? Auch wenn ich will, dass du es tust?"
"Ich.....ich.....es ist nicht richtig", erwiderte ich und ließ den Kopf sinken, um meine Hände anschauen zu können
"Dass eine Magd nicht gebührend Respekt zeigt? Meinst du das?"
"Ich.....ähm......na ja, wahrscheinlich."
"Quatsch! Dann muss ich wohl auch gebührend Respekt zeigen, Miss Jessop!"
"Ich......weiß nicht!" Ich hob den Kopf und sah, dass er lächelte, und dann waren seine Lippen schon auf den meinen, aber ich wehrte mich diesmal nicht, ließ es aber geschehen und erwiderte seinen Kuss.
"Master Robert!" konnte ich danach nur herausbringen.
"Ich wollte das schon lange tun", sagte er danach. "Ich habe dich sehr lieb, Rosie."
Ich wusste nicht was ich sagen sollte, und bald danach gingen wir zurück zum Haus und sprachen über Belangloses, und alles schien so normal zu sein, dass ich leicht den Verdacht hätte haben können, dass ich seinen Kuss vielleicht geträumt hätte.
**********
Ich stand vor meinem Spiegel und machte mich für die Nacht zurecht, schaute mein hübsches Spiegelbild an, und dachte über die Geschehnisse des Tages nach.
Hatte ich denn jetzt zwei Bewunderer, die wie Tag und Nacht waren? Luke überraschte mich eigentlich nicht, das hatte ich schon lange im Verdacht, nur seine Art überraschte mich gewaltig.
Aber Master Robert hatte mich auch sehr überrascht, denn obwohl er mich lieb hatte, war ich für ihn sicherlich nur eine Magd, oder?
Ich dachte auch an Miss Jane Ashwood. Wollte Robert sie nicht irgendwann heiraten? Es gab schon Verbindungen zwischen den beiden Familien und man wollte, dass die zwei irgendwann heiraten würden.
Wahrscheinlich wollte er nur freundlich zu mir sein? Ein Gentleman küsst seine Magd nicht ohne Grund, oder?
Dann dachte ich wieder an Luke. Ob ich ihm nach seinem Auftritt im Garten vertrauen konnte?
Wie man sehen kann, ging ich an diesem Abend mit schwirrendem Kopf ins Bettchen. Aber ich kann mich an nicht viel mehr erinnern. Es war ein anstrengender Tag und ich war auch ziemlich müde. Ich schlief wohl wieder wie ein Murmeltier.
Drittes Kapitel
Eine Woche verging, ohne dass viel passierte. Ich versuchte, Luke aus dem Weg zu gehen, und Master Robert war so höflich und nett zu mir wie immer. Bei mir war der Alltag zurückgekehrt, und ich begann die Geschehnisse der letzten Zeit einigermaßen zu verdrängen.
An diesem Mittwochmorgen musste ich zum Schweinestall, denn wir einige Essensreste hatten, was auch ziemlich oft vorkam. Als ich ankam, war Nellie da, und ich konnte ihr gleich die Reste geben. Ich bewunderte diese Frau und hatte keine Ahnung wie sie das alles hier draußen schaffte, und dann fand sie fast immer ein oder zwei Stunden, um im Haus mitzuhelfen. Sie konnte nicht lesen oder schreiben, aber sie war fast so muskulös wie manche Tagelöhner, und als Hilfskraft war sie unbezahlbar.
"Morgen, Nellie. Da haben wir was für die Schweinchen.”
"Morgen, Rosie. Danke, ich werde ihnen das gleich geben.”
"Sieht wieder nach einem schönen Tag aus.”
"Ja. Obwohl es die ganze Nacht geregnet hat.”
"Ach so. Nee, davon weiß ich nichts. Ich habe wie immer wie....”
"....ein Murmeltier geschlafen", sagte Nellie lachend.
"Ja, ja, das ist wohl mein Lieblingsspruch!" erwiderte ich auch lachend.
"Also dann, bis später, Rosie!”
"Ja, tschüss!" und ich eilte davon. Als ich die Molkerei erreicht hatte und um die Ecke ging, traf ich Luke. Oder genauer gesagt, wartete er auf mich. Diesen Endruck hatte ich als ich ihn erblickte.
"Hallo, Rosie!" sagte er, "lange nicht gesehen!”
“Hallo, Luke.”
Er griff nach meinen Handgelenken und zerrte mich unter einen Baum. Gleich wurde ich gegen den Stamm gedrückt.
"Luke! Was machst du da!”
"Komm schon, Mädel, nur ein kleines Küsschen", sagte er, und versuchte mich zu küssen.
"Nein, Luke! Ich muss arbeiten!”
"Komm schon, du dumme Gans! Nur ein kleines Küsschen für Luke!”
Das gab mir den Rest. Obwohl ich weit unterlegen war, versuchte ich mich diesmal zu wehren, aber platt gegen den Baumstamm gedrückt wie ich war, konnte ich nicht viel machen, außer zu versuchen ihn wegzuschieben. Ich drehte meinen Kopf hin und her und versuchte so gut es ging, seine Lippen zu vermeiden, die wieder nach Bier schmeckten. Ich überlegte fieberhaft, ob ich lieber nach Nellie schreien sollte, als er sich kräftig gegen mich presste und sein Körper zu zucken schien, und dann wusste ich nur allzugut was er gerade getan hatte. Dann ließ er mich plötzlich los, küsste mich auf die Wange, sagte: “bis später” und ging pfeifend davon, als ob nichts passiert wäre.
Angewidert trat ich von unter dem Baum hervor und schaute meine Kleidung an, die jetzt bestimmt schlampig aussehen würde. Vielen Dank, Luke, dachte ich, und bückte mich, um meine Röcke aufzuheben und mein Gesicht abzuwischen. Dann bemerkte ich eine flüchtige Bewegung in einem der oberen Fenster. Wenn jemand das beobachtet hatte, dann vielleicht Robert, denn das war sein Fenster.
Wieder im Haus ging ich so schnell ich konnte in mein Zimmer und machte mich zurecht. Der Idiot hatte meine Haube dreckig gemacht, aber zum Glück hatte ich eine zweite. Ich konnte nichts auffälliges an mir entdecken, nur dass ich wie ein verschrecktes Hühnchen aussah. Ich atmete ein paarmal tief ein und aus und ging langsam wieder hinunter zur Küche.
**********
Nach dem Frühstück ging ich zurück zum Wintergarten um aufzuräumen. Lady Mortimer und ihr Sohn waren noch da. Master Robert schaute mich ziemlich ausdruckslos an, und ich dachte gleich, dass er es wohl wusste, und dass er alles beobachtet hatte. Ob er wusste, dass ich ihn bemerkt hatte, wusste ich natürlich nicht. Es war sowieso nur ein flüchtiger Blick. Mylady saß wie immer kerzengerade da.
Nachdem ich aufgeräumt hatte, sagte Mylady, "Rosemary, ich habe etwas mit dir zu besprechen.”
"Ja, Mylady?" erwiderte ich.
"Ja, gestern Abend erhielten wir ganz unerwartet eine Einladung zu einem Ball bei den Ashwoods, die wir gerne angenommen haben. Dafür brauche ich ein neues Kleid. Der Ball findet am Samstag 30. August statt, und da wir für heute nichts besonderes vorhaben und es ein schöner Tag ist, dachte ich, dass ich das genausogut gleich erledigen kann. Also, hast du Lust, mit uns nach Winchester mitzufahren? Ich möchte nämlich auch ein Mädchen dabei haben, das mir helfen kann. Mit der Auswahl und die Sachen anprobieren, du weißt schon.”
"Ja, sehr gerne, Mylady", sagte ich und klang wohl sehr begeistert, denn das war ich auch. Luke hatte ich auf einmal fast vergessen.
"Also dann, wir fahren gegen zehn Uhr.”
"Sehr wohl, Mylady", sagte ich und machte einen Knicks. Ich räumte das Frühstücksgeschirr auf.
"Mein Sohn hat mir übrigens vorhin gesagt, dass ich dich Rosie nennen soll. Ist dir das denn lieber? Ich hätte das eigentlich schon wissen sollen, wenn das so ist.”
"Ähm, Rosemary oder Rosie, ich mag beides, Mylady. Rosie ist ähm.....”
"Persönlicher? Also meinetwegen kann ich dich genausogut Rosie nennen.”
"Ja, danke Mylady", sagte ich und machte einen Knicks.
"Und du brauchst auch nicht so viele Knickse zu machen", sagte sie.
"Ja, Mylady", erwiderte ich und machte einen Knicks......" Ach, Entschuldigung", murmelte ich als ich mir mein Tablett schnappte und mich aus dem Staube machte.
**********
Ich freute mich riesig auf den Ausflug nach Winchester, weil ich meine siebzehn Jahren doch in dem Dörfchen Twyford verbracht hatte, und hatte noch nie was anderes gesehen. Man hatte mir natürlich schon vieles über diese Stadt erzählt, die ehemalige Hauptstadt Englands, und ich freute mich darauf, den riesigen Dom unter anderen zu sehen. Aber das Schicksal hatte vor, das ich den Dom an diesem Tag nicht sehen würde.....
Für den Ausflug hatte ich mich für mein weißes Leinenkleid entschieden, weil es ein schöner Tag war und es halt mein Lieblingskleid war. So viele Auswahl hatte ich ja auch leider nicht. Während ich wartete, stand ich an meinem Fenster und beobachtete das Treiben im Hof. Nellies Kittel schien zu glänzen in der Sonne als sie eine Milchkanne aufhob, gerade als ob es nur ihre Lieblingspuppe wäre. Sie verschwand damit in die Molkerei. Richard hantierte mit den Pferden herum. Jemand in einer grünen Arbeitsjacke huschte um die Ecke rum und verschwand aus meinem Blickfeld hinter der Molkerei. Die Glocken von St. Mary's läuteten plötzlich. Oh, schon Viertel nach neun. Zeit mein Kleid anzuziehen und mich für den Ausflug zurechtzumachen.
Gegen Viertel vor zehn betrat ich den großen Salon in meinem weißen, leicht ramponierten Leinenkleid. Mylady und Robert standen vor dem Fenster und warteten auf die Kutsche.
"Ah, da bist du ja", sagte Mylady als ich mich zu ihnen gesellte.
"Ja, Mylady", sagte ich und machte einen Knicks, und als Mylady's Mundwinkel leicht zuckten, erinnerte ich mich an das morgendliche Gespräch.
"Mylady", führ ich tapfer fort, " ich hätte gerne gewusst, wie Sie dieses Kleid finden. Es ist halt mein Lieblingskleid, und ist sehr bequem für den Sommer. Leider ist es ziemlich alt und hat bessere Zeiten gesehen, aber ich hoffe, dass es geeignet für unseren Ausflug ist.”
"Natürlich ist es geeignet, Rosie", sagte sie, als sie mich vom Kopf bis Fuß musterte.
"Du siehst sehr hübsch aus, Rosie", warf Robert ein. "Und Mama hatte ihr Kleid da schon, als ich noch ein Kind war", fügte er breit grinsend hinzu.
Mylady wedelte mit ihrem Parasol herum, aber bevor sie etwas erwidern konnte, hörten wir ein schreckliches Geschrei irgendwo anders im Haus. Wir sahen uns erschrocken an, und Sir James, der lesend in seinem Ohrensessel saß, stand sofort auf.
"Sie sind im großen Salon versammelt", hörte ich Bess sagen, und gleich erschien sie im Türrahmen, mit Nellie dicht hinter ihr.
"Es ist etwas schreckliches passiert", sagte Bess. Aber bevor sie noch etwas sagen konnte, schob Nellie sie grob beiseite, und gab uns ihren eigenen, tränenreichen Bericht.
"Es ist Luke! Luke!" rief sie. "Ich....ich habe ihn gerade gefunden.”
"Was hast du gefunden, Nellie?" fragte Sir James in seiner ruhigen Art.
"Luke! Luke hab ich gefunden! Tot!" heulte sie weiter.
"Nellie! Reiß dich zusammen!" rief Mylady etwas zu streng aus. Das Ergebnis war, das Nellie noch lauter in die Zipfel ihres blauen Kleides heulte.
"Sie hat Luke tot in der Molkerei gefunden, hat sie mir eben erzählt", sagte Bess mit erstaunlicher Ruhe.
Alle starrten sie erschrocken an, ich inklusive. Der einzige Laut war Nellies Schnieferei. Dann kam John herein, und er nickte Bess nur zu.
"Wie?" fragte sie nur.
"Ich bin natürlich kein Experte, aber man hat ihm eindeutig die Kehle durchgeschnitten, und er ist immer noch ziemlich warm", sagte John leise.
Sir James fasste sich als erster. "Ich denke, wir müssen Doktor Wilson holen und Sir Ashwood informieren. Der ist Friedensrichter in dieser Gegend. Mehr können wir momentan nicht tun, denke ich.”
In diesem Moment sah ich wie die Kutsche vor der Tür hielt. Robert reagierte sofort. "Ich werde George und Richard sagen was passiert ist, und dass der Ausflug abgesagt ist, und frage ob sie nach Twyford fahren könnten und den Arzt und Sir Ashwood abholen." Und schon weg war er.
Viertes Kapitel
Zwei Stunden lang saßen alle in dem großen Salon und warteten auf die Kutsche, die den Arzt und Sir Thomas bringen würde. Ich saß auf einem Schemel und dachte an nichts, oder genauer gesagt, versuchte an nichts zu denken.
Niemand aß etwas, denn niemand hatte Hunger. Man konnte das Entsetzen und Angst im Salon spüren. Bess ging ab und zu in die Küche und kam mit einer Kanne Tee zurück. Endlich, so gegen Mittag, kam die Kutsche zurück. Die beiden Herren stiegen heraus. Doktor Wilson kannte ich ziemlich gut, aber Sir Thomas Ashwood erkannte ich nur von früheren Besuchen. Sie wurden von John abgeholt, der die Kontrolle über die Sache zu haben schien, und er führte die beiden durch das Haus.
Gegen ein Uhr nachmittags hielt noch eine Kutsche vor der Tür. Es war ein Bestatter aus der Umgebung. Sir Thomas erzählte uns später, dass er an ihn gedacht und seinen Diener mit dem Auftrag losgeschickt hatte.
Eine halbe Stunde später brachten die Männer den armen Luke zu dem Bestatterwagen. Niemand verdient so ein Schicksal, dachte ich als ich den grobgezimmerten Sarg erblickte.
Es war fast zwei Uhr, als die Herren sich wieder zu uns in den großen Salon gesellten. Doktor Wilson war fertig und wollte gleich gehen, weil er noch Hausbesuche in dem Dorf und Umgebung machen wollte. Aber zuerst begrüßte er seine Frau, die gerade zum vierten- oder fünften Mal im Salon war um herauszufinden, ob es irgendwelche Neuigkeiten gäbe.
Man hatte sich schon beraten und Sir Thomas wollte bleiben und Befragungen durchführen. George wurde damit beauftragt, den Arzt nach Hause zu bringen, und erklärte sich bereit einen Umweg zu machen, um Lady Ashwood Bescheid zu sagen, dass Sir Thomas bei uns übernachten würde.
Inzwischen hatte sich Hunger breit gemacht, und Sir James machte den Vorschlag, dass wir alle früher als gewöhnlich zu Abend essen konnten, und dass man inzwischen den Hunger mit Keksen und Kuchen stillen könnte.
Ich wollte auch etwas tun und ging nach oben, um Harriet zu finden und mit ihr eins der Gästezimmer für Sir Thomas in Ordnung zu bringen. Sie war schon oben beschäftigt weit weg von den Geschehnissen unten, obwohl sie offenbar wusste, was passiert war. Für ihre Verhältnisse war sie sogar umgänglich.
"Schlimme Sach'....schlimm," sagte sie leise, als wir das Bett machte.
"Ja, wirklich. Wie kann man so etwas tun?" erwiderte ich.
"Schlimme Sach'....ganz schlimm," murmelte sie wieder.
"Ja, du hast ganz recht, Harriet."
"Weiß..."
Wie gesagt, sie war ein komischer Kauz, aber ausgesprochen harmlos und hilfsbereit und ich zweifelte, ob jemand sie überhaupt verdächtigen würde.
Während wir das Zimmer putzten, hörte ich sie ab und zu etwas Unverständliches murmeln. Dann schaffte Harriet es auch, mich aus der Fassung zu bringen.
“Hab’s heut’ geseh’n.”
“Hmm? Wie bitte, Harriet? Was hast du gesehen?”
“Hab dich geseh’n”
“Wann hast du mich gesehen, Harriet?”
“Mit Luke.”
“Oh! Dann....warst du das an Master Roberts Fenster? Ich habe ja jemanden bemerkt.”
“Hm.”
Mich interessierte nicht, was sie in Roberts Zimmer zu dieser Zeit zu schaffen hatte, aber jetzt wusste ich wenigstens wer das gesehen hatte. Ich fragte mich, ob man sie auch überhaupt befragen würde.
“Ach, Harriet. Ich kriege allmählich Angst, dass man mich auch verdächtigen könnte. Er hat mich ja zweimal belästigt.”
“Ich sag’ nix.”
“Danke, Harriet.”
Danach sagte sie nichts mehr, erledigte ihre Arbeit und ging grußlos davon.
**********
Ich ging wieder in die Küche, um bei der Zubereitung der Mahlzeit mitzuhelfen.
Bess war eine Zauberin, denn sie schaffte es, Schweinefleisch und Gemüse für alle zu kochen, mit etwas Hilfe von John, mir und sogar Miss Catherine, die, wie sie sagte, gar nicht still sitzen konnte. Gegen sieben Uhr saßen alle zu Tisch. Nachdem ich die Mahlzeit serviert hatte, konnte ich mich in der Küche zu den anderen setzen.
Es war später am Abend und wir saßen immer noch zusammen am Tisch. Die Stimmung war verständlicherweise immer noch sehr bedrückt und niemand hatte viel zu sagen.
"Ach, was für einen Tag!" seufzte Bess.
"Ja, furchtbar", sagte John.
"Geht es dir besser, Nellie?" fragte Bess.
"Ja, danke. Aber ich kann es natürlich nicht vergessen."
"Ich bin froh, dass ich es nicht gesehen habe", sagte Bess. "Danke, dass du hingegangen bist, John."
"Ja, sei froh. Es war schrecklich."
"Weiß man mehr darüber?" fragte ich. "Ich meine, hat der Arzt etwas gesagt?"
"Ja. Luke hatte angeblich eine schwere Wunde hinter dem rechten Ohr. Man hat ihn wohl niedergeschlagen, und dann......"
Alle schwiegen wieder. Etwas störte mich an der ganzen Sache, aber ich hatte keine Ahnung, was es war. Etwas das ich wohl gesehen hatte, dachte ich. Ich begann mir auch einige Sorgen zu machen, dass man mich auch verdächtigen könnte, was meinen Gedankengang auch ziemlich erschwerte.
Miss Catherine kam hereingestürmt. Sie schien die Ernsthaftigkeit der Situation nicht zu verstehen, die Wörter sprudelten gleich aus ihr heraus:
"Stellt euch vor, Luke wurde zuerst niedergeschlagen! Mit einer Eisenstange, die neben ihm lag, hat Sir Thomas gesagt. Dann hat man ihm einfach die Kehle durchgeschnitten, und ihm den Rest gegeben. Einfach so. Mit einem Jagdmesser, meint der Arzt."
"Danke, Miss Catherine", brummte John, "wir haben auch gerade gegessen."
"Entschuldigung! Aber ich bin wohl zu aufgeregt. Ich meine, es gibt wohl einen Mörder unter uns."
"Oder Mörderin," sagte Nellie.
"Ach, ich könnte so eine Stange nicht schwingen, wie Sir Thomas es beschrieben hat. Ich bin also unschuldig. Und Rosie auch, die Stange wiegt bestimmt mehr als sie!"
"Sie nehmen die Sache nicht ernst, Miss Catherine", sagte Bess.
"Ach was! Ich habe den Kerl nie gemocht. Zigmal hat er mir schöne Augen gemacht, immer wenn er halb besoffen war!" rief sie trotzig aus. “Aber ich habe übrigens noch etwas herausgefunden! Nachmittags hat Sir Thomas mit dem Vorarbeiter gesprochen. Der Vorarbeiter kennt seine Leute und hat gesagt, dass Luke’s Eltern in Fair Oak wohnen und dass sein Vater auch Tagelöhner dort ist. Sir Thomas hat dann seinen Diener mit der Kutsche losgeschickt, und der hat den Pfarrer informiert. Dann musste der Pfarrer die Hiobsbotschaft überbringen. Der Diener ist vor zehn Minuten zurückgekommen und hat uns erzählt, dass die Eltern ihren Sohn sehen wollen, und ihm dann ein richtiges Begräbnis in Fair Oak zu geben. Aber ich habe keine Ahnung, wo das ist.” Miss Catherine schaute etwas atemlos in die Runde.
Da meldete sich John wieder zu Wort: “Dieses Dörfchen liegt zwischen hier und der Hafenstadt Southampton. Das Dorf Eastley liegt am Fluss Itchen, und Fair Oak liegt auf einer kleinen Anhöhe ungefähr zwei Meilen östlich entfernt.”
“Ach so! Danke, John! Entschuldige, dass ich vorhin so ungehörig war!” flötete sie und schon war sie weg.
“Na, so was!" sagte Bess.
Ich konnte kaum glauben, was ich gerade über Stangen und Messer gehört hatte. Und dabei störte mich immer noch etwas an der ganzen Sache.
**********
In dieser Nacht fand wohl keiner viel Schlaf. Mein Kopf schwirrte ständig. Ob man mich doch verdächtigen würde?
Solche fragen stellte ich mir, als ich da lag, und an die Decke starrte. Je mehr ich dachte, desto mehr Sorgen ich mir machte. Und morgen wollte Sir Thomas, der Friedensrichter alle befragen, auch mich. Er hatte eigentlich schon heute Abend mit der Befragungen begonnen.
Dieser Luke hat dich also belästigt, habe ich von Zeugen gehört? Nicht wirklich, Sir Thomas. Nicht wirklich? Was genau hat er denn gemacht? Er wollte mich küssen und so. Und wolltest du es auch machen? Nein! Natürlich nicht, Sir Thomas. Aha, du hast dich verteidigt, habe ich schon von einem Zeuge gehört, du wolltest nicht mitmachen, und er hatte dich mehr als einmal belästigt, habe ich gehört. Das nenne ich ein Motiv...... Wo warst du denn gegen halb zehn, als Luke ermordet wurde? In meinem Zimmer. Aha, kannst du das beweisen? Kann jemand das bezeugen? Ich glaube nicht......Und so ging es weiter in meinem Köpfchen, bis ich endlich etwas Schlaf fand.
**********
Am darauffolgenden Morgen ging ich in den Wintergarten wie immer und Miss Catherine war schon da. Sofort machte sie meinen Gemütszustand durch ihre Unwissenheit noch schlimmer.
"Guten Morgen, Miss Catherine."
"Morgen, Rosie," erwiderte sie. "Sag mal, Rosie, weißt du was ein Samenerguss ist?"
Mir fiel wohl die Kinnlade klappernd runter als ich das hörte und ich starrte sie nur an.
"Und, Rosie, weißt du es oder nicht?"
"Ähm....nein, Miss."
"Na, komm schon, sag mal, ich kann sehen, dass du es weißt!"
"Ich...ähm...."
"Rosie! Ich bin schon sechzehn, verdammt noch mal. Ich hasse es, wenn alle so zu mir sind. Jetzt auch du noch! Ich hörte den Arzt sagen, dass Luke einen frischen Samenerguss in seiner Hose hatte. Also, Rosie, du weißt es offenbar!"
Ich hatte sie noch nie so wütend gesehen.
"Also, das ist die Flüssigkeit, die ein Mann produziert wenn er ein Baby mit seiner Frau machen will."
"Ach so. Und Luke hatte das in seiner Hose. Wie kommt das denn vor?"
"Ich habe keine Ahnung, Miss."
"Doch, hast du, Rosie!"
"Miss, ich......ich.......das ist nicht meine......"
"Schon gut, Rosie, schon gut" sagte sie plötzlich ruhiger und versöhnlicher. "Ich sehe, dass ich dich irgendwie in Verlegenheit gebracht habe. Das war's. Ähm, eine Tasse Tee wäre nett, bitte."
"Sehr wohl, Miss Catherine," erwiderte ich, machte schnell die Vorbereitungen für das Frühstück und eilte in die Küche zurück.
Als ich die Küche wieder betrat, fand ich sie leer. Gleich stellte ich das Tablett hin und ohne nachzudenken befummelte ich meine Schürze wo der Idiot sich gegen mich gepresst hatte. Dann dachte ich, du blöde Kuh, reiß dich verdammt noch mal zusammen, er hatte doch seine Hose an, oder? Es wäre sowieso längst getrocknet, oder? Dann konnte ich mich nicht mehr dran erinnern, ob ich meine Schürze dabei überhaupt getragen hatte. Natürlich gab es keinen Fleck da, nichts was man überhaupt bemerken hätte können, aber mir wirbelte der Kopf so sehr, dass ich sowieso kaum mehr richtig denken konnte. Als ich dann meinen Rock noch befummelte, hörte ich sich nähernden Schritte. Bess kam rein gerade als ich meine Schürze zurecht machte. Sie fragte, ob alles in Ordnung sei, denn ich sähe irgendwie gehetzt aus. Ich überlegte fieberhaft, dann erzählte ihr etwas von dem Gespräch mit der jungen Dame, denn mir fiel gerade nichts besseres ein.
"Du hast es ihr hoffentlich nicht gesagt," sagte Bess.
"Ich musste. Du warst ja nicht da. Ich habe sie noch nie so wütend gesehen, und sie hat ein bisschen mit mir geschimpft, weil ich es ihr nicht sagen wollte!"
"Trotzdem hätte ich es ihr nicht gesagt."
"Sie hätte es halt woanders rausgefunden," verteidigte ich mich. "Du weißt gar nicht was für Sachen die drei Mädchen besprechen, wenn die Collins' Schwestern da sind!"
"Ach ja. Apropos Mädchen. Da du das gerade sagst. Lucy und Diana kommen heute Morgen, um Miss Catherine zu besuchen. Gegen elf hat man mir erzählt."
"Oje, auch das noch!" seufzte ich nur, setzte mich auf einen Schemel hin, und versuchte meinen Haferbrei zu essen. Zum Glück war Bess zu beschäftigt um zu bemerken, dass ich meine liebe Mühe damit hatte, aber trotz alledem konnte ich alles aufessen.
**********
Die Schwestern Collins kamen pünktlich zum Besuch an, und natürlich musste ich sie bedienen. Weil es kein schöner Tag war, bevorzugten sie es, im Wintergarten zu sitzen. Ich servierte ihnen Tee und Kuchen und musste ihre Unterhaltung hören. Miss Catherine war in Hochform.
"Sir Ashwood meint, dass der Mörder wahrscheinlich Rechtshänder ist. Aber es kommt darauf an, wo der Mörder gestanden hat, als er mit der Stange zuschlug. Wahrscheinlich hat er hinter Luke gestanden, und drum ist er wohl Rechtshänder."
Die rechtshändige Magd stellte den Tee und Kuchen auf den Tisch.
"Hast du aber Rosie nach diesem Zeug gefragt?" wollte Lucy dann wissen.
"Ja, aber....." sagte Miss Catherine, erwischte aber gerade meinen Blick",.....ja, aber sie wollte es mir nicht sagen. Ich habe sie irgendwie in Verlegenheit gebracht. Schau, sie wird schon wieder Rot! Besser lassen wir sie in Ruhe damit. Wir werden es bestimmt woanders herausfinden können!"
Danke, Mädels, dachte ich gerade, und spürte tatsächlich die Röte ins Gesicht steigen. Aber ich war dankbar, dass sie es nicht weitergesagt hatte, und mich sozusagen verraten hätte.
"Brauchen Sie noch etwas?" fragte ich.
"Nein, Danke."
Ich drehte mich um, und ging so ruhig ich konnte davon.
"Ich habe Luke irgendwie immer lästig gefunden. Besonders wenn er etwas besoffen war. Ob er viele Mädels belästigt hat?" fuhr Miss Catherine fort.
"Er hat ein Mädchen im Dorf belästigt, so weit ich weiß, ich glaube, dass es die....." sagte Diana.
Dann hörte ich nichts mehr, aber ich konnte den imaginären Strick um meinem Hals schon wieder spüren.
Fünftes Kapitel
Gegen Mittag schickte Sir Thomas endlich nach mir, und ich ging zu dem großen Salon, wo er die Befragungen durchführte. Ich hatte keine Ahnung von solchen Sachen und wusste nur, dass er der Friedensrichter in der Umgebung war, und so hatte er sich um Recht und Ordnung zu kümmern. Mit ein bisschen Angst trat ich ein. An einem Tisch, den man vor dem großen Fenster aufgestellt hatte, saß er und lächelte mir freundlich entgegen. Er bat mich, Platz zu nehmen.
"So, Rosemary Jessop, richtig?" fragte er. Er hatte eine angenehme, sonore Stimme und klang so freundlich, wie er mich anschaute. Wie ich schon gesagt habe, kannte ich ihn nicht besonders gut, aber irgendwie fiel ein bisschen von der Last von meinen Schultern, als ich da saß und seine angenehme Stimme zuhörte. "Als Friedensrichter muss ich dir einige Fragen zu diesem traurigen Ereignis stellen.”
"Ja, ich bin Rosemary", erwiderte ich jetzt viel ruhiger.
"Ich kannte deinen Vater ein bisschen", begann er. "Ich fand es eigentlich gut, und sehr nett von Sir James, als er dir deine Stelle hier gab. Dein Vater war leider ein Säufer, wenn ich mich genau erinnere. Er hatte wohl den Verlust deiner Mutter auch nie wirklich verkraftet.”
"Nein, wahrscheinlich nicht. Es war ... ziemlich hart damals. Mit acht Jahren wurde ich zu einer Art Ersatzhausfrau. Eines Tages freundete er sich mit einer frischgebackenen Witwe an, und schien nur noch wenig Interesse an mir zu haben. Ich glaubte, er wollte mich loswerden oder so was, als Sir James mir diese Stelle freundlicherweise gab.”
"Ne, ne. So weit ich weiß, wollte er dass du eine gute Stelle irgendwo hattest, weil er wusste, dass er nicht mehr lang zu leben hatte. Man glaubt, dass er sich dann absichtlich zu Tode besoffen hat, weil das ihm besser erschien, als die Krankheit die er wohl hatte. Doktor Wilson hat so etwas vermutet.”
"Oh! Ich ...ähm ... ich ... dann habe ich meinen Vater selber wohl nicht richtig gekannt", erwiderte ich und fragte mich erschrocken, wieso ich nichts bemerkt hatte, wenn er tatsächlich krank war. Andererseits hatte er nie wirklich gesund ausgesehen, weil er so viel trank. Trotzdem war mir das alles neu, und ich war ziemlich geschockt deswegen.
"So was kommt vor, Rosemary, es kommt vor. Nun, erzähl mir mal, was du gestern Morgen so gemacht hast, bis Mr Luke Ellis gefunden wurde.”
"Nun, erst musste ich zum Schweinestall, da wir einige Essensreste hatte. Das muss ich manchmal machen, wenn wir was übrig haben. Nellie war da und ich gab ihr den Eimer. Sie kümmerte sich darum. Dann kam ich zurück, und ... ach ja, mir fällt gerade ein, dass ich auf dem Weg zurück Luke tatsächlich sah.”
"Ah, wie sah er aus? Wie normal? Irgendwie gehetzt?”
"Nein, wie normal würde ich sagen, wir sagten guten Morgen, mussten aber beide weiter, weil es immer viel zu tun gibt.”
"Und wann war das?”
"Gegen sieben musste ich zum Schweinestall.”
"Und weiter?”
"Ja, alles wie gehabt eigentlich. Ich frühstückte mit Bess in der Küche und servierte das Frühstück für die Familie im Wintergarten. Da frühstücken sie immer im Sommer. Mylady fragte, ob ich gerne nach Winchester mitfahren würde. Ich war natürlich begeistert. Später räumte ich im Wintergarten auf, und ab neun war ich in meinem Zimmer, um mich für den Ausflug zurechtzumachen. Da waren wir dann im großen Salon so gegen Viertel vor zehn und warteten auf die Kutsche, als Bess und Nellie reingestürmt sind.”
"Hast du Luke nett gefunden?”
"Ja, ich.....denke schon.”
“Aha. Aber.....?" fragte er und hob leicht die Augenbrauen.
"Wenn er etwas getrunken hatte, war er.....vielleicht nicht immer so nett.”
"Hat er dich belästigt?”
"Nein, nicht wirklich.....”
“Aha, nicht wirklich. Aber......?”
"Aber....er wurde doch einmal sehr aufdringlich und.....und wollte mich unbedingt küssen!”
"Ach, und wo ist das denn passiert?”
“Im Garten.”
"Und du wolltest es nicht?”
"Nein! Natürlich nicht! Ich war.....ich war....er...." Ich hob hilflos meine Hände.
"Schon gut, Rosemary! Er schaffte es dann auch, dich zu küssen?" fragte er leicht schmunzelnd.
"Ja! Und es schmeckte auch furchtbar nach Bier und Schnaps. Es war ein Sonntagnachmittag. Da trank er nachmittags wohl am meisten. In der Kneipe.”
"Aha. Und sonst? Hat er dich wieder belästigt?”
"Nein. Ehrlich gesagt, habe ich versucht, ihm aus dem Weg zu gehen.”
"Weißt du ob er mal andere Mädchen belästigt hätte?”
“Nein.”
"Aha. Miss Catherine hat gestern Abend so etwas angedeutet.”
"Ach so", erwiderte ich und dachte dabei, gut gemacht, Rosie. Robert hatte dann wohl nichts angedeutet, und er hatte Harriet wohl nicht befragt.
"Also weißt du nicht ob er auch, zum Beispiel, Miss Nell Dawson belästigt hätte?”
"Nellie?! Oh! Nein, nicht das ich wüsste, Sir Thomas. Ich meine, ich sehe sie regelmäßig, aber sie hat nie was gesagt. Tut mir leid, nein. Ähm, hat er denn?”
"Das weiß ich auch nicht. Ich kann das nur vermuten, denn sie ist auch eine nette junge Dame. Ich habe sie leider noch nicht befragt. Aber, nein, sonst ist meine Vermutung unbegründet. Momentan muss ich die Möglichkeit natürlich in Betracht ziehen.”
“Aha.”
"Kennst du Miss Jeannette Richardson?”
"Jaa! Sie ist Kellnerin in der Crown. Ihr Vater hat diese Francoise aus Marseilles geheiratet.”
"Du kennst dich hier sehr gut aus, Rosemary! Weißt du zufällig ob er sie mal belästigt hat? Oder ob sie je so etwas angedeutet hätte?”
"Oh, nein. Ich war noch nie in der Crown. Ich treffe sie aber mal zufällig im Dorf, wenn ich mit der Post und....." sagte ich, aber dann fiel mir doch etwas ein. "Ähm, Moment mal.......da war doch was.......hmm, ähm......ja! Ich musste mal zur Post, und Jeannette war schon da, und gerade als ich ankam, sagte Peggy so in etwa: >und du musst nicht den ganzen Tag rumsitzen wie ich<. Wenn ich mich genau erinnere, Jeannette antwortete so in etwa: >Tja, du musst dich auch nicht mit dem Grobian sonntags herumschlagen<.”
"Ach so. Das ist auch sehr hilfreich.”
"Meinte sie denn Luke? Was hat er denn getan?”
"Oh, das kann ich dir nicht erzählen, Rosemary.”
"Oh, Entschuldigung. Tut mir leid, Sir Thomas, ich bin halt neugierig.”
Er saß nachdenklich da, dann sagte er, "ach, was soll's. Du warst mir da eine große Hilfe. Laut ein paar Tagelöhnern, die ich gestern Abend befragt habe, war es eine Art Gewohnheit von ihm, ihr.......na ja, seine Hand unter ihren Röcken hochzuschieben und ihren......ähm, Hintern zu begrapschen.”
"Oje, wie entsetzlich!" rief ich aus, denn das war es ja auch.
"So, Rosemary. Das war's, denke ich", sagte Sir Thomas gutmütig. "Meine Fähigkeiten sind natürlich begrenzt, aber wenn es noch etwas geben sollte, werde ich dich schon finden.”
"Ja, Sir Thomas", sagte ich und stand auf, und machte Anstalten zu gehen.
"Ach, eine letzte Sache, Rosemary. Bist du Rechtshänderin?”
"Ja, Sir Thomas, bin ich. Wieso?”
"Ach, nur so", erwiderte er, und musterte mich eingehend von Kopf bis Fuß. "Ich kann mir allerdings gar nicht vorstellen, dass du diese schwere Brechstange überhaupt schwingen könntest. Das war's, danke, Rosemary" fügte er lächelnd hinzu.
***********
Etwas erleichtert ging ich beschwingten Schrittes zum Wintergarten zurück, um zu sehen, ob die drei Engelchen noch etwas brauchten.
"Du warst gerade bei Sir Thomas, haben wir gehört?" fragte Miss Catherine rundheraus.
"Ja, Miss", sagte ich.
"Und er hat dich wieder rausgelassen, wie ich sehe", sagte sie frech grinsend. "Aber, du hättest diese Eisenstange nicht mal aufheben können, denke ich.”
"Nein, Miss, so etwas Ähnliches hat Sir Thomas auch gesagt", erwiderte ich. "Es heißt übrigens Brechstange.”
"Brechstange?" fragte Lucy.
"Ja, ein schweres Ding. Das war bestimmt ein kräftiger Mann, der auch ein Jagdmesser hat", fuhr Miss Catherine fort.
"Ein Tagelöhner vielleicht?" fragte Diana.
“Bestimmt.”
"Bräuchten denn die jungen Damen noch etwas?" unterbrach ich ihre gruselige Unterhaltung.
"Ja, nochmal Tee und Kuchen, bitte", rief Lucy begeistert.
"Ja, Dreimal", sagte Miss Catherine.
"Gerne, Miss", sagte ich und machte mich auf den Weg. Aber da war schon wieder dieses Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Ich hatte gedacht, es war meine dämliche Befürchtung wegen Lukes Hose oder so etwas, aber das war es offensichtlich wohl nicht. Ich hatte ehrlich gesagt aber keine Ahnung was es auch war.
Nach meinem Gespräch mit Sir Thomas bzw. dieser Befragung, verlief der Tag sehr ruhig und genießbarer für mich. Wie gesagt, alles wie gehabt. Und in dieser Nacht schlief ich wirklich tief und fest.
Sechstes Kapitel
Sir Thomas verbrachte noch eine Nacht bei uns. An diesem Freitagmorgen bekamen wir überraschenderweise noch mal Besuch, und zwar von Lady Ashwood und Miss Jane, die das einzige Ashwood Kind war, und wie alle dachten, Roberts Frau in spe. Lady Ashwood hatte sich angeblich Sorgen um ihren Mann und die Situation bei uns gemacht, und sich dann spontan entschieden, zu uns zu fahren. Beide Damen kannte ich auch von früheren Besuchen. Miss Jane war so eine blonde Schönheit: lange, lockige Haare, schöne Figur und eine beachtliche Oberweite, die sie mit ihrem Mieder sehr zur Geltung zu bringen wusste.
Als ich die Tür aufmachte und die zwei vornehmen Damen hereinließ, schaute Miss Jane mich mit echter Verachtung in den Augen an, obwohl Ihre Mutter einen “Guten Tag” hervorbrachte, allerdings mit gebührender Herablassung. Ich war nicht besonders besorgt, denn ich hatte ehrlich gesagt nichts anders als Herablassung und Verachtung von den beiden erwartet.
Lady Ashwood begrüßte ihren Mann überschwänglich, weil sie ihn schon vermisst hatte, sagte sie.
"Ist gut so, meine Liebe", sagte Sir Thomas, "denn ich bin hier mehr oder weniger fertig. Wir können heute Nachmittag oder Abend zusammen zurückfahren."
**********
Wegen des Besuches gab es natürlich viel mehr zu tun. Und nach dem Mittagessen, nachdem ich ein paar andere Sachen erledigt hatte, fand ich sogar eine halbe Stunde Zeit, um einen kleinen Spaziergang in dem Garten zu machen. Ich stand im Rosengarten und genoss die Ruhe um mich herum. Dann setzte ich mich auf eine Bank, schloss meine Augen und lauschte die zwitscherten Spatzen, und einigen Krähen.....und dann hörte ich wie jemand sagte: "du hast ihr die ganze Zeit schöne Augen gemacht!"
"Das stimmt nicht, Jane!"
Die Stimme kamen näher.
"Natürlich stimmt es. Wie du sie anschaust! Was siehst du in ihr? Sie ist doch nur eine blöde Magd!"
"Sie ist seit zwei Jahr....."
"So hast du mich noch nie angeschaut, Robert. Mit solchem Blick!"
Die Stimmen hatten halt gemacht, genau hinter mir, hinter der Hecke.
"Natürlich habe ich sie gern, aber das heißt noch la....."
"Siehste, ich habe recht! Du hast sie lieber als mich. Wie du sie beim Mittagessen angeschaut hast! Jedes Mal, wenn sie im Zimmer war, ich bin nicht blind, Robert!"
"Du bildest dir das alles....."
"Ich bilde mir was ein, aha! Was siehst du denn in dieser blöden Kuh?"
"Jane! Ich bitte dich! Das war nicht nötig, sie so zu nennen! Du kennst sie überhaupt nicht!"
"Ach was!"
Die Stimmen entfernten sich.
"Jane, du solltest auch zu deiner eigenen Magd etwas freundlicher sein, denn....."
"Das brauche ich nicht zu tun! Robert, wie kannst du......diese Magd.......blöd...." Mehr konnte und wollte ich nicht mehr hören. Schon wieder wurde meine Ruhe im Garten gestört.
***********
Ein bisschen später ging ich zurück zum Haus, noch aufgewühlt über das was ich gerade gehört hatte. Dass Robert und Miss Jane sich gerade ziemlich heftig gestritten hatten, und dass ich wohl das Hauptthema war.
Als ich die Küche wenig später betrat, deutete Bess mit dem Finger auf einen Eimer, der einige Essensreste enthielt. Ich sagte, dass ich das gleich erledigen würde, und nahm ihn mit. Ich fand Nellie vor der Molkerei.
"Hallo, Nellie, da gibt es wieder was für die Schweinchen."
"Hallo, Rosie," erwiderte sie, und griff nach dem Eimer, der ziemlich schwer war und den ich sofort loswerden wollte. "Hui, so viel!"
"Ja, die Ashwoods sind heute da."
"Ach so, stimmt. Sag mal, Rosie, ist diese unausstehliche Jane auch da?"
"Ja. Wieso unausstehlich?"
"Die behandelt ihre Zofe wie den letzten Dreck. Die Zofe ist meine Cousine."
"Wow! Das wusste ich nicht. Tja, sie hat mich auch so grimmig angeschaut, würde ich sagen. Gleich bei ihrer Ankunft." Natürlich wollte ich nichts von dem Streit erzählen, den ich gerade gehört hatte.
"Siehste. Dieser Zicke würde ich gerne mal meine Meinung sagen."
"Aber sag mal, Nellie, hast du da nicht einen neuen Kittel an?"
"Ja! Gefällt er dir?"
"Doch, was war mit deinem alten los?"
"Na ja, ich brauchte halt einen neuen. Ist auch ein bisschen länger als den alten."
"Toll." Plötzlich erspähte ich etwas neben der Tür zur Molkerei. "Hui, ist das da diese Brechstange?"
"Ach, ja, Sir Thomas hat die da wohl liegen lassen." Sie bückte sich und hob das Ding auf. "Schau, es klebt noch Blut drauf."
"Oh, wie ekelhaft", rief ich. "Danke, Nellie! So genau wollte ich es auch nicht wissen!"
Nellie lachte schallend und ließ die Brechstange wieder fallen. "Na dann, Rosie, ich gehe mal und füttere die Schweine."
"Ja, bis später dann," rief ich und ging zurück zum Haus.
Warum hatte ich dieses komische Gefühl schon wieder. Ich schüttelte meinen Kopf, und versuchte den Spuk da drin hinauszutreiben, bis ich die Küche wieder betrat.
**********
Als ich eine Weile später im Wintergarten war, um das Geschirr für den Tee auszulegen, kam Miss Jane herein. Herablassender hätte sie mich gar nicht anschauen können, dachte ich, als sie sich hinsetzte.
"Er gehört mir, das weißt du hoffentlich", zischte sie bissig.
"Wie bitte, Miss?" erwiderte ich entsetzt, aber auch so höflich wie möglich.
"Eine Unverschämtheit ist es, wie du versuchst, ihn mir auszuspannen!" zischte sie weiter.
"Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen, Miss!"
"Das hast du wohl, du dumme Gans! Wie du ihm schöne Augen machst!"
"Nein, Miss. Ich weiß gar nicht, wovon Sie sprechen", erwiderte ich höflich, "ich mache niemandem schöne Augen. Ich würde nie versuchen so etwas zu tun. Und es gibt auch keinen Grund, ausfallend zu sein, Miss." Das machte sie aber noch ärgerlicher.
"Oh! Keinen Grund ausfallend zu sein," äffte sie mich nach.
Dann kamen zum Glück die Ladies Mortimer und Ashwood rein, und als sie Platz nahmen, fragte ich betont höflich: "wäre das denn alles, Miss Jane?"
"Jaaa, danke", murmelte sie, und schien tatsächlich um einen besseren Ton bemüht zu sein.
"Sehr wohl, Miss", erwiderte ich und drehte mich um, um die zwei Damen noch zu begrüßen. "Guten Tag, Myladys. Ich bringe Ihnen den Tee gleich," sagte ich nur, machte einen noch tieferen Knicks als sonst, um hoffentlich einen guten Eindruck zu machen und eilte davon.
Als ich um die Ecke ging, hörte ich Lady Ashwood noch sagen, "Sie haben da eine höfliche Magd, Lady Mortimer!"
Ich eilte zur Küche zurück und half Bess mit dem Tee noch. Bess hatte einige Scones gebacken, das sind weiche, oft zum Tee gegessener kleine Kuchen, oft mit Sahne und Marmelade. Da ich sieben Personen im Wintergarten zu bedienen hatte, half Bess mir dabei, und Punkt vier Uhr betraten wir den Wintergarten, ich mit den Scones und Bess mit den Teekannen und Milch. Jeder sagte Dankeschön, als ich die Scones vor ihnen hinstellte, außer Miss Jane, die beharrlich in den Garten schaute. Hinter meinem Rücken hörte ich Robert zischen: "du hättest dich ja dafür bedanken können, Jane!"
Als wir fertig waren, machten Bess und ich beide einen Knicks und eilten erleichtert zur Küche zurück.
**********
Die Ashwoods blieben dann auch zum Abendessen und wir hatten alle Hände voll zu tun. Das Bedienen war eine ziemliche Qual an diesem Abend. Jedes Mal wann ich die Leute bediente, konnte ich Miss Jane's bohrende Blicke spüren, obwohl ich versuchte, sie so weit wie möglich zu ignorieren, und Robert einigermaßen auch, denn ich erinnerte mich an ihr Gespräch im Garten, das ich notgedrungen mithören musste.
Zum Glück musste sie während des Dinners ihre große Klappe halten, denn ich war ziemlich sicher, dass sie sich vor ihren Eltern nicht blamieren wollte.
Siebtes Kapitel
Am darauffolgenden Tag wollte Lady Mortimer doch den Ausflug nach Winchester machen, und wieder warteten wir im großen Salon auf die Kutsche. Ich trug wieder mein weißes, altes Kleid, in dem ich mich immer sehr wohl fühlte. Robert wollte auch wieder mitfahren, denn er brauchte auch neue Kleider für sein letztes Semester in Oxford.
"Freust du dich auf unseren kleinen Ausflug, Rosie?" fragte Lady Mortimer.
"Ja, Mylady, sehr sogar",
“Vielleicht werden wir auch Zeit haben, den Dom zu besichtigen."
"Das wäre sehr schön", antwortete ich.
Die Kutsche hielt vor der Tür, und wir verabschiedeten uns von Sir James, der in seinem Lieblingssessel saß und seine Winchester Weekly News Zeitung las.
Unterwegs konnte ich sogar schon von weitem den Dom bewundern, der sehr beeindruckend die schöne Landschaft ringsherum zu beherrschen schien.
Als wir an einem großen Hügel vorbeifuhren, deutete Master Robert mit dem Finger darauf, und sagte: "Rosie, dieser Hügel heißt St. Catherine's Hill, er ist sehr historisch, glaube ich. Aber mehr weiß ich leider nicht."
"Ach so. Ich finde es wunderschön hier, Master Robert."
"Ja, man kann hier auch gut spazieren gehen."
Die Kutsche hielt in der Nähe des Doms, und wir stiegen aus. Mylady sagte George, dem alten Kutscher, dass er uns gegen drei Uhr vor dem Dom abholen sollte. Dann verabschiedeten wir uns von ihm, und Mylady erzählte mir dann als erstes etwas über den Dom. Aber ich war ehrlich gesagt zu aufgeregt, um mir irgendetwas davon zu merken. Wir gingen hinein, und ich flüsterte Master Robert zu, dass der Dom riesengroß war, im Vergleich zu St. Mary's in Twyford. Zur vollen Stunde hörten wir dann die Glocken läuten, und danach machten wir uns gleich auf den Weg zu Mylady's Lieblingsladen für Damenkleidung.
Die Ladenbesitzerin zeigte Mylady einige Entwürfe und Stoffprobe, und Mylady entschied sich für ein königsblaues Kleid, und dann wuselte die Schneiderin herum und notierte Myladys Wünsche und andere Änderungen. Ich war völlig fasziniert von dem Treiben.
Nachdem ich Mylady beim Umziehen geholfen hatte, brachte Master Robert mich ganz aus der Fassung.
"Wie gefällt dir dieses grüne Kleid hier, Rosie?"
"Sehr, Master Robert. Es ist ein schönes Kleid."
"Möchtest du es haben?"
"Ähm, ja! Aber wie, Master Robert?"
"Ich werde es für dich kaufen. Schau, es ist sehr günstig, schon reduziert."
"Oh! Nein, Master Robert, ich könnte nicht...."
“Entschuldigen Sie, Mr. Mortimer”, unterbrach uns gerade die Ladenbesitzerin. “Dieses Kleid war ein Probestück meiner Näherin, dann hatte ich es zwei Jahre lang als Ausstellungsstück im Fenster. Daher ist es nicht mehr die allerneueste Mode, und ich würde es ihnen ähm... gern zum halben Preis geben.”
"Oh, danke! Also, geh hinter den Vorhang, Rosie, und probiere es an."
"Aber ich...."
"Kein Aber! Na, los Rosie!"
Ich argumentierte nicht mehr und tat das, was Master Robert wünschte. Während ich mich umzog und das grüne Kleid anprobierte, konnte ich aber das Gespräch im Laden hören.
"Wieso willst du ihr dieses Kleid unbedingt kaufen, Robert?" fragte Mylady.
"Sie bekommt kein Gehalt, oder? Und du hast das ramponiertes Ding, das sie trägt, ja gesehen. Ich wette, man hat ihr noch nie ein schönes Kleid geschenkt. Wir haben sie alle gern, oder? Wieso ihr nicht auch mal eine kleine Freude machen."
"Na ja, ich weiß nicht", sagte Mylady, "aber tu es wenn du es unbedingt willst."
"Ja, ich will ihr eine Freude machen."
Als ich vor den Vorhang trat, um ihnen das Kleid zu zeigen, sagte Master Robert begeistert: "Oh sehr hübsch! Nun, das ist dann entschieden, Rosie. Zieh dich wieder um, dieses Kleid gehört dir!"
Kurze Zeit später kaufte Mylady zwei Kleider. Da hatte ich dann keine Ahnung, wer mir nun eigentlich das Kleid geschenkt hatte, bzw. dafür bezahlt hatte, aber ich konnte mich gar nicht überschwänglich genug dafür bedanken.
Danach wollten sie einen kleinen Spaziergang neben dem Fluss Itchen machen, der auch in der Nähe von Shawford Hall vorbeifließt. Auf einer Bank machten wir dann ein kleines Picknick. Master Robert hatte was zum Essen in seiner Schultertasche mitgebracht. Einige Enten schwammen herum und ab und zu warf Master Robert ihnen ein kleines Stück Brot zu. Während wir da saßen, hörten wir die Glocken halb drei Uhr läuten, und kurz darauf machten wir uns langsam auf dem Weg zum Dom, wo wir George mit der Kutsche schon auf uns wartend sahen.
**********
Gegen vier Uhr nachmittags waren wir wieder zu Hause, und Mylady fühlte sich müde und wollte sich eine Weile hinlegen. Ich ging auch zu meinem Zimmer, wo ich das neue Kleid wieder anprobieren wollte, das mir Master Robert, oder vielleicht Mylady selbst sehr gütig und freundlich gekauft und geschenkt hatte. Master Robert sagte, dass ich das Kleid an diesem Abend tragen sollte, und nicht wie üblich meine Magdkleidung. Mylady war aber stark dagegen, weil es kein Arbeitskleid war und ich entschied mich, lieber Mylady's Wunsch zu folgen.
Im Vorbeigehen bemerkte ich, dass Nellie's Tür sperrangelweit offen stand, und dass sie in ihrem Zimmer mit etwas beschäftigt war. Bevor ich aber meine Zimmertür erreichte, traf es mich wie den Blitz. Hatte ich das eben richtig bemerkt? Trug Nellie da dieses blaue Kleid? Das einfache, aber auch schöne Kleid? Dieser verdammte Spuk war plötzlich wieder da. Ich musste überlegen.
An meinem Fenster stehend schaute ich hinaus, genauso wie ich es an diesem verhängnisvollen Morgen getan hatte. Der Spuk in meinem Kopf war Nellie's blaue Kleid. Das Bild in meinem Kopf zeigte mir Nellie, wie sie heulend in dem großen Salon stand, und dieses Kleid trug. Aber gegen viertel nach neun hatte ich sie vor der Molkerei gesehen, und sie trug da noch ihren Kittel.
Warum trug sie denn das Kleid, als sie in den Großen Salon reinkam? Warum trug sie ihren Kittel nicht? Es war noch nicht mal zehn Uhr an diesem Morgen. Hatte sie den Kittel über diesem Kleid getragen? Das konnte ich natürlich nicht sagen, aber wir haben alle unsere Magdsachen, und ich weiß natürlich wie diese Sachen aussehen, ihre auch.
Sie hatte ja gerade Luke gefunden. Ich persönlich wäre gleich ins Haus gerannt, um Alarm zu schlagen, und hätte mich bestimmt nicht zuerst umgezogen, oder den Kittel ausgezogen. Das machte keinen Sinn. Das braucht sicherlich einen ruhigen Kopf, wenn man das absichtlich tun würde?
Andererseits heulte sie Rotz und Wasser. Und wieso hat sie auch diesen neuen Kittel? Gerade heute habe ich ihn zum ersten Mal gesehen. Wenn, ja wenn, sie Luke ermordet hätte, dann hätte sie dabei vielleicht auch ihren Rock beschmutzen können. Aber, wie hätte sie sich umziehen können, sie war ja allein in der Molkerei, oder?
Dann gab es die Sache mit der Brechstange. Mit einer Hand konnte sie diese aufheben, um sie mir zu zeigen, denn sie war ja ein strammes Mädel. Und rechtshändig auch.
War sie überhaupt fähig, jemanden zu ermorden, sich seelenruhig umzuziehen und dann ins Haus zu stürmen, um zu behaupten, dass sie Luke gefunden hätte? Je mehr ich darüber dachte, umso verkehrter kam es mir auch vor. Oder doch nicht. So ganz abwegig war es auch nicht.
Das denken half mir doch, einen klareren Kopf zu bekommen, und ich fragte mich ob ich lieber Sir Thomas informieren sollte. Aber natürlich konnte ich das alles gar nicht beweisen, das war ja nur eine Theorie, etwas das ich zufällig gesehen hatte.....und ja, irgendwie wollte ich es ja auch gar nicht beweisen. Beweisen, dass meine liebe Freundin Nellie etwas damit zu tun haben könnte.
Wie dem auch sei, ich war nun ziemlich unruhig, denn meine lebendige Phantasie beschwor mir eine bildhafte Vorstellung von meiner Freundin, wie sie ihren blutdurchtränkten Kittel und Rock loswerden wollte.
**********
"Also, Robert hat dir ein schönes Kleid geschenkt, Rosie", sagte Miss Catherine als ich das Abendessen an diesem Abend servierte.
"Ja, Miss. Es ist wirklich schön."
"Du bist sehr lieb, Robert!" sagte Miss Catherine. "Aber ich hätte es gerne heute Abend gesehen! Schade, dass du es nicht trägst, Rosie."
"Sie können es am Sonntag sehen, Miss Catherine", erwiderte ich. “Ich habe vor, es dann zu tragen.”
"Ich wollte eigentlich nicht, dass sie es trägt", sagte Mylady lächelnd, "denn eigentlich arbeitet sie jetzt, und das Kleid ist neu und wirklich fürs Arbeiten nicht geeignet. Außerdem musste ich auch für das Kleid bezahlen, denn wie immer hatte mein lieber Sohn nicht genug Geld in der Tasche. Er hatte kaum genug Geld für seine eigene Kleider bei Fraser's Herrenkleidung zu kaufen. Da war Mama wieder gefragt."
"Dann möchte ich mich bei Ihnen für das Kleid ganz herzlich bedanken, Mylady", sagte ich.
"Ach, keine Ursache, es war ja Roberts ausdrücklichen Wunsch. Ich bin hier nur die Geldbörse!" erwiderte Mylady und schien mich fast schelmisch anzulächeln.
"Ja, Mylady, aber noch mal Danke", sagte ich lächelnd und machte meinen Knicks.
**********
Nach dem Abendessen verbrachte die Familie wie gewöhnlich eine Stunde oder etwas mehr im großen Salon. Gegen halb elf ging ich in den Salon um aufzuräumen, weil ich dachte, dass alle schon gegangen waren, aber ich fand Master Robert allein da.
"Ich konnte sehen, dass du unseren kleinen Ausflug sehr genossen hast, Rosie", sagte er während ich die Gläser und Tassen auf mein Tablett hinstellte.
"Ja! Sehr sogar. Ich muss mich nochmals für dieses wunderschöne Kleid bedanken, Master Robert."
"Ach, keine Ursache! Ich wollte dir eine Freude machen."
"Aha. Das haben Sie getan, Master Robert."
"Trägst du das Kleid am Sonntag?"
"Ja! Unbedingt, Master Robert."
"Schön."
"Also, ich muss zurück in die Küche und dann ist es Zeit fürs Bettchen."
"Ja, ich gehe auch gleich hoch."
"Gute Nacht, Master Robert."
Ich ging zurück in die Küche, wo Bess noch etwas zu erledigen hatte, stellte mein Tablett auf das Abtropfbrett hin, schnappte mir eine Kerze, wünschte Bess eine gute Nacht und ging zu der Treppe, wo Master Robert überraschenderweise auf mich wartete. Im Licht seiner Kerze sah ich ihn lächeln. "Na dann, ich begleite dich nach oben, Rosie."
"Oh, Danke, Master Robert", erwiderte ich und versuchte mein Erstaunen zu unterdrücken.
Vor meiner Zimmertür machten wir halt, und ich sagte: "Gute Nacht, Master Robert."
Aber er antwortete nicht, sondern beugte sich vor und küsste mich sanft auf die Lippen.
"Master Robert!" murmelte ich überrascht.
Aber dann spürte ich seine Hand an meine Hüfte und seine Lippen trafen die meinen schon wieder und er gab mir den süßesten, schönsten, und wahrscheinlich auch längsten Kuss meines Lebens.
Nach einer gefühlten Ewigkeit ließ er mich los und sagte: "Na dann, gute Nacht, liebe Rosie, und schlaf gut!"
Erstaunt konnte ich nur noch "gute Nacht, Master Robert!" zu seinem Rücken sagen, als er zu seinem eigenen Zimmer ging.
Aufgewühlt stand ich vor meinem Spiegel und löste meinen Zopf. Ich begann mich sogar zu fragen, was er eigentlich wollte, denn das vorhin war kein Gutenachtkuss. Das war........innig. Was mich an der Sache eigentlich am meisten hätte stören sollen, war die Tatsache, dass ich seinen Kuss genauso innig erwidert hatte.
Diese Sache mit dem Kleid war bestimmt mehr als nur ein Geschenk?
Langsam begann ich einigermaßen Miss Jane's Benehmen zu verstehen. Nicht ihre Boshaftigkeit, nein, aber wenn sie doch irgendeinen Verdacht hatte, oder wenn Robert vielleicht etwas aus Versehen etwas ausgeplaudert hatte, dann vielleicht konnte ihre Wut als Eifersucht verstehen. Was Miss Jane aber wohl nicht begreifen konnte oder wollte, war dass ich selber nichts Unrechtes getan hatte. Robert hegte mehr als einfache Zuneigung für mich, das wurde mir nun auch allmählich klar.
Ich musste eine Lösung finden.
Achtes Kapitel
Am darauffolgenden Morgen war ich sofort auf den Beinen als die Glocken sechs Uhr läuteten. Fest entschlossen mein kleines Problem zu lösen ohne dabei Robert zu kränken, stand ich am Fenster und überlegte, was zu tun war. Es würde wohl nicht so einfach eine Lösung zu finden sein, aber ich musste etwas tun. Die Wörter Skandal und Schande geisterten immer wieder durch meinen Kopf. Schlimmer noch: Mätresse. Nein, danke!
Es hatte in der Nacht stark geregnet und alles war nass, der Himmel grau und ganz bedeckt. Momentan sah es wie Nieselregen aus. Nellie kam aus der Molkerei, gerade als George der Kutscher und sein Sohn Richard um die Ecke kamen, und die drei begrüßten sich. Die beiden Männer wohnten in der alten Pförtnerloge, die gerade genug Platz für zwei oder drei Leute hatte. Ich schloss mein Fenster, verließ mein Zimmer und eilte hinunter in die Küche.
“Morgen, Bess!”
“Morgen, Rosie! Möchtest du Kaffee?”
“Ja, bitte.”
Ich holte mir eine Schüssel Haferbrei und setzte mich an den Tisch, und bedankte mich, als Bess mir den Kaffee brachte. In diesem Moment kamen George und Richard herein. Wir begrüßten uns und George meinte, dass sie in der Küche bleiben würden und bestellte auch Haferbrei und Kaffee. Bei gutem Wetter nahmen sie oft ihr Essen mit und aßen im Freien, oder gingen einfach zur Pförtnerloge zurück.
Richard saß mir gegenüber. Er war der Stallknecht und dreiundzwanzig Jahre alt. Er hatte braune Haare und war nicht sehr groß, dafür ziemlich stämmig. Ich hatte ihn eigentlich immer sehr gemocht, aber er war ziemlich schüchtern und außer ein paar Freundlichkeiten im Vorbeigehen oder beim Abendessen, hatte es zwischen uns nie viel gegeben.
Während ich meinen Haferbrei aß, warf ich ab und zu verstohlenen Blicke auf ihn. Er war mit seinem Frühstück zu beschäftigt um es zu bemerken, aber als ich zum fünften- oder sechsten Mal aufblickte, schaute George mich schräg an. Sofort widmete ich mich wieder meinem Haferbrei zu.
“Ist was, Rosie?” fragte George unvermittelt.
“Hmmm? Wie bitte?” sagte ich und fühlte mich irgendwie ertappt.
“Na, du schaust meinen Richard komisch an.”
“Oh? Ich.....ähm......na ja......” Plötzlich wurde es mir peinlich. Meine Blitzidee, mir einen Kerl zu angeln um meine doofe Probleme zu lösen, lief gerade ziemlich schief, besonders weil mir auch allmählich klar wurde, dass ich diesen Kerl tatsächlich ganz gerne hatte.
“Und, Rosie?”
“Ich....” Ach, verdammt. “Na ja, ich habe Richard immer sehr gemocht”, platzte ich unvermittelt heraus.
“Na, so was!!” sagte der alte George erstaunt, und Richard schaute mich irgendwie erschrocken an.
“Ich....ich schaue besser mal im Wintergarten nach”, sagte ich, trank meinen Kaffee aus und floh aus dem Zimmer.
**********
Natürlich war Miss Catherine schon da. Wie immer, wenn ich ihre spitze Zunge am wenigsten gebrauchen konnte.
“Bist du verliebt oder so was, Rosie?”
“Nein, Miss!”
“Hmmm. Rosie mit den recht rosigen Wangen. Jaja, bei dir ist was los!”
“Nein, Miss, Sie irren sich.”
“Komm schon! Mein Vater wird dich nicht entlassen, nur weil du einen Freund hast!”
“Ich habe keinen Freund, Miss!”
“Aha. Dann formuliere ich es anders. Du schwärmst für Jemanden.”
Meine Fassade bröckelte langsam ab und Miss Catherine wusste es.
“Und, Rosie?”
“Ich.....ich habe Richard sehr gerne, Miss”, und das war ja auch keine Lüge mehr.
“Oh! Da bin ich schon eifersüchtig! Wenn ich eine Magd wäre, hättest du starke Konkurrenz!”
“Oh?!”
“Ja, er ist natürlich immer da wenn ich nach meinem Pferd schaue oder reiten möchte. Richard ist sehr nett.”
“Aha, ich verstehe, Miss.”
“Ich kann mich allerdings nicht erinnern, ob er dich mal erwähnt hat.”
“Oh, ich weiß eigentlich nicht ob es auf Gegenseitigkeit beruht. Ich habe gerade mit ihm und George gefrühstückt, und.....na ja.” Ich zuckte mit den Schultern
“Ich werde mit ihm sprechen, er ist nicht so schüchtern, wenn man ihn besser kennenlernt.”
“Oh, ich kann doch nicht erwarten, dass Sie.....”
Miss Catherine machte eine wegwerfende Handbewegung. “Ach, keine Sorge, Rosie! Mal sehen, was dabei rauskommt!”
Ich sagte nichts mehr, erledigte meine Arbeit und ging zurück zur Küche.
**********
Bess war allein und wortlos goss sie zwei Becher Kaffee ein. Sie stellte die Becher auf den Tisch hin und nahm mir gegenüber Platz. Bess schaute mich an. Man konnte erraten, was sie gerade dachte.
“Ich habe ihn immer gemocht, Bess. Aber....man sieht ihn sehr wenig hier. Ich habe gerade......” Ich zuckte mit den Schultern.
“Er ist sehr überrascht.”
“Ich....kannst du etwas für dich behalten, Bess?”
“Klar! Was denkste denn von mir? Erzähl!”
“Also, Master Robert hat mich ein Paarmal überrascht und überrumpelt.”
“Ja, mit diesem Kleid.”
“Ja, und geküsst.”
“Ohoho!!”
“Ja. Jetzt habe ich irgendwie Angst. Ich meine, ich habe mich nicht gewehrt oder so was und vielleicht denkt er......na ja, ich suchte verzweifelt nach einer Lösung und als ich Richard heute Morgen sah..... Ich sah da nicht nur eine Art Lösung, sondern mir wurde auch plötzlich klar, dass ich ihn eigentlich immer gerne hatte. Und da hat Miss Catherine mich gerade durchschaut und mich ausgefragt. Ist es denn so offensichtlich, Bess?”
“Ja!” sagte Bess und lächelte mich liebevoll an.
“Kannst du das alles verstehen, Bess?”
“Ja, natürlich.”
“Danke, Bess. Ich bin selber etwas verwirrt.”
“Auch verständlich. Ich kann dir übrigens versichern, dass Richard dich auch sehr mag.”
“Oh, wirklich? Was sagt denn George?”
“George? Keine Ahnung. Wahrscheinlich freut der sich schon auf seine Enkelkinder!” sagte Bess und lachte schallend.
**********
An diesem Nachmittag hatte Nellie Zeit, mir beim Saubermachen im großen Salon zu helfen, und ich bemerkte gleich, dass sie wieder dieses blaue Kleid anhatte.
"Was hast du denn Rosie?"
"Hmm? Wie bitte?"
"Wieso starrst du mich denn so an?"
Verdammt!! "Oh, ach so! Habe ich wohl! Ähm.....Ich habe nur gerade gedacht, dass du dieses Kleid an dem Tag getragen hast, als Luke....Luke.......na ja, ein Glück dass du es auch nicht verdorben hast. Es gab sicherlich viel Blut und so."
"Oh....ähm, nee, ich habe ihn nicht berührt oder so was, ich war gar nicht in seiner Nähe, man sah gleich dass er....dass er....nicht......ich bin einfach gleich weggerannt."
"Schon gut, schon gut, Nellie! Ich habe das Kleid nur wiedererkannt, weil es mir so gut gefällt. Es passt zu dir auch sehr gut, finde ich."
"Meinst du? Ich finde, dass es zu schlicht ist. Zu einfach."
"Aber genau deswegen gefällt es mir! Hast du nicht mein weißes Leinenkleid gesehen? Es ist sehr ähnlich und war immer mein Lieblingskleid. Drum ist es jetzt auch ziemlich alt und hat bessere Zeiten gesehen."
"Doch, ich habe es gesehen, glaube ich."
Unsere Unterhaltung ging auf diese Weise weiter, und so schien die Zeit auch schneller zu vergehen. Später war ich wieder in der Küche und trank eine Tasse Tee, und der Teufel in meinem Kopf sagte mir, dass ich gerade etwas Glück gehabt hatte. Dass ich nicht was dämliches gesagt hatte und was mich vielleicht verraten hätte.
Trotzdem hatte ich den Eindruck, dass meine Freundin zusammengezuckt war, als ich ihr Kleid und Luke erwähnt hatte.
**********
Ich räumte das Teegeschirr im Wintergarten auf, während die zwei Damen sich wohl über nichts interessantes unterhielten und Sir James mit seiner Winchester Weekly News Zeitung beschäftigt war. Da kam plötzlich John rein, mit einem Tagelöhner im Schlepptau, der etwas in den Händen hielt, was verdächtig wie ein großes Messer aussah.
"Sir James. Mylady", sagte John rundheraus: "Ähm, bitte verzeihen Sie die Störung, aber das ist Martin, Martin Fellows, und er hat Ihnen etwas Wichtiges zu erzählen."
Mr Fellows schien etwas verlegen zu sein, da sagte Sir James: "Ja, Mr Fellows, wir hören?"
Er räusperte sich. "Also, Sir James, ich habe heute Nachmittag da drüben nähe des Flusses gearbeitet, wo es mal überschwemmt und so, und da habe ich in dem Graben nahe der Straße gebuddelt, weil der sah etwas verstopft aus, und dann habe ich dieses Messer gefunden." Er hielt es in die Höhe. "Na ja, dann dachte ich......na ja, es ist ziemlich verdreckt, aber ich bin sicher, man kann doch ein bisschen Blut sehen. Da habe ich gedacht, das bringe ich am besten zum Haus und habe gleich John getroffen."
“Da hast du ganz richtig gehandelt, Mr Fellows”, sagte Sir James und Mr Fellows schien sich über das kleine Lob zu freuen.
"Es steht auch eine Gravur darauf", fügte John dann hinzu. "Und zwar: Albert Fletcher Messerschmied seit 1785, Southampton, England."
"Höchst interessant", sagte Sir James nachdenklich. "Das sollten wir Sir Ashwood zukommen lassen. Obwohl man wohl nicht mehr viel damit anfangen kann, man hat es nach der Tat einfach weggeworfen. Aber es ist immerhin ein Beweisstück."
"Soll ich George fragen, ob er gleich zu Sir Thomas fahren könnte, Sir James?" fragte John.
"Ja, bitte. Und wenn Ihr auch mitfahren würdet, wäre das wohl hilfreich, denke ich. Dann kann Mr Fellows seine Geschichte weitergeben. Geht das, Mr Fellows?"
"Ja, natürlich, Sir James."
"Gut, so machen wir es denn."
John und Mr Fellows verabschiedeten sich und gingen mit dem grausigen Fund weg.
"Das ist ja unglaublich!" sagte Miss Catherine, als die zwei Männer gegangen waren.
"Ja, aber man kann wohl nicht viel damit anfangen, wie dein Vater gerade gesagt hat. Es sei denn, man könnte beweisen, wem das Messer gehört", erwiderte Mylady eher nüchterner.
"Es war wahrscheinlich ein Tagelöhner", sagte Miss Catherine.
"Rosie, nach dieser Aufregung, könnte ich gerne noch eine Tasse Tee vertragen", sagte Sir James.
"Jaaa, gute Idee, Papa! Und noch ein Stück Kuchen", rief Miss Catherine aus.
“Also dann, dreimal Tee und Kuchen, Rosemary!” sagte Mylady
"Sehr wohl, Mylady, mache ich sofort.”
**********
Gegen sechs Uhr abends war ich in meinem Zimmer, um mich für das Abendessen zurechtzumachen. Danach stand ich eine Weile an meinem offenen Fenster und genoss die frische Luft. Seit Mittag hatte das Wetter sich allmählich gebessert und jetzt schien die Sonne.
Unten im Hof war momentan nicht viel los, aber dann kamen drei Arbeiter gerade um die Ecke. Richard und zwei andere, die ich nur vom Sehen kannte. Alle drei trugen Arbeitsjacken und mir fiel plötzlich ein, dass ich so eine Jacke an diesem verhängnisvollen Morgen gesehen hatte. Ich erinnerte mich nun wieder, dass jemand um die Ecke gegangen war, gerade als die Glocke Viertel nach neun geläutet hatte. Alle Arbeiter hatten wohl solche Jacken, Richard offenbar auch, obwohl seine eher dunkelblau war. Das könnte aber wichtig sein, denn jemand in einer Grünen Jacke war ja in der Nähe, und zwar kurz bevor Luke ermordet wurde. Die zwei Männer mit Richard trugen auch grüne Jacken.
Dann ging Nicholas der Kuhhirt, der Lukes alte Stellung gerade übernommen hatte, über den Hof und bog um die Ecke, und das war so eine Art Deja-vu-Erlebnis, denn der trug auch genau so eine Jacke und ähnelte darum dem Bild in meinem Kopf. Könnte das sein? Der ehemalige Kuhhirt vom Gegenwärtigen ermordet? Hui, hatte ich da plötzlich einen neuen Verdächtigen?
Ich schloss meinen Augen und genoss die abendlichen Sonnenstrahlen. Die frische Luft tat mir gut. Als ich meine Augen wieder aufschlug, sah ich, wie Nicholas wieder um die Ecke kam und Nellie begrüßte, die gerade mit etwas vor der Molkerei beschäftigt war. Nellie drehte sich um und sagte wohl etwas, und dann......aber hallo!!
Er riss Nellie an sich und küsste sie leidenschaftlich, aber Nellie schien seinen Kuss nicht so eifrig erwidern zu wollen. Sie war allerdings einen Kopf kleiner als Nick, und er stand auch etwas schräg mit dem Rücken zu mir, und so war das von hier oben auch nicht so leicht zu beurteilen. Nach einem langen Kuss brachen sie ab und Nicholas gab ihr einen Klaps auf den Hintern und ging.
Na dann! Das alles war mir neu und es gab nun Einiges, um drüber nachzudenken. Da hatte ich einen neuen Kandidat gefunden und er war auch womöglich Nellies Freund? Das könnte man bestimmt herausfinden.
**********
Nachdem ich das Abendessen serviert hatte, konnte ich auch meine eigene Mahlzeit essen. Ich betrat die Küche und sah gerade, dass der Platz Richard gegenüber frei war, was bisher noch nie der Fall gewesen war. Sie hatten das wohl absichtlich so arrangiert. Ich nahm Platz und lächelte Richard ein wenig scheu an, denn nach meiner morgigen Aufführung, kam ich mir jetzt ein bisschen töricht vor. Ich wusste nicht, was er wirklich dachte. Wenigstens lächelte Richard zurück.
Bess stellte mein Essen vor mich hin und ich bedankte mich.
“Rindfleisch Eintopf, Rosie.”
“Danke, Bess. Sieht sehr lecker aus.”
“Es ist sehr lecker, Rosie”, sagte Richard dann.
“Schmeckt es dir?”
“Ja, sehr. Bess ist ja eine fantastische Köchin.”
“Ja, das ist sie”, sagte ich und freute mich riesig über den kleinen Wortwechsel.
Alle waren schon fertig, während ich noch mit meinem Essen beschäftigt war, was auch ziemlich normal war. Es gab ja keine Regel in der Küche, alles locker und ungezwungen. Dabei konnte ich auch immer den Gesprächen zuhören. Richard warf mir hin und wieder Blicke zu und ich lächelte jedesmal zurück. Bess räumte die leeren Teller weg und stellte dann Gläser und einen großen Krug Bier auf den Tisch.
“Ja, Martin Fellows hat dieses Messer gefunden”, erzählte John gerade, obwohl wir alle es natürlich schon wussten. Alle machten sich Sorgen, und es tat gut darüber zu sprechen. “Und dann hat er mich gefunden. Wir gingen dann zum Wintergarten, um es Sir James zu zeigen.”
“Ist Martin der Vorarbeiter?” fragte ich zwischen den Bissen.
“Nein, der Vorarbeiter heißt Jack. Martin arbeitet aber seit Jahren als Tagelöhner hier.”
“Ich hätte das Messer in den Fluss geworfen, glaube ich”, sagte George nachdenklich. “Komischer Platz, finde ich, wo es gefunden wurde. Wo es mal überschwemmt ist, haste gesagt?”
“Ja, George. Das hat Martin gesagt.”
“Was hat denn Sir Thomas gesagt? Das hast du noch nicht erzählt, John. Martin musste es ihm auch erzählen, nehme ich an?”
“Ja, George. Sir Thomas war sehr interessiert und nimmt die Sache sehr ernst. Leider haben wir keine Ahnung, wem das Messer gehören könnte.”
“Weißt jemand wer dieser Messerschmied ist?” fragte Bess.
“Nee, keine Ahnung, Schatz”, erwiderte John.
Jetzt war ich mit dem Essen fertig und schob meinen leeren Teller weg. Richard goss ein Glas Bier für mich ein.
“Oh, danke, Richard!” sagte ich lächelnd.
“Bitte!”
“Oh, die Turteltauben gurren”, witzelte John.
“Na na!” sagte ich und wackelte mit einem Finger in seine Richtung. Richard lächelte breit und alles schien in Ordnung zu sein.
Da stand Harriet einfach auf und ging. Sie hatte wie üblich kein Wort gesagt, aber neulich hatte ich ja eine andere Harriet im Gästezimmer kennengelernt.
“So, ich werde jetzt auch hochgehen, denke ich”, sagte Nellie. “Bin etwas müde heute. Gute Nacht allerseits.”
“Nacht, Nellie.”
“Sie war ungewöhnlich schweigsam heute, oder?” sagte Bess, nachdem Nellie gegangen war.
“Ja, die Müdigkeit wohl”, erwiderte John.
Ja, schweigsam, und sie ist auch zusammengezuckt, als du den Messerschmied erwähnt hast, Bess. Aber das sagte ich natürlich nicht.
“Hat sie denn neuerdings einen Freund?” fragte ich stattdessen. “Ich habe sie heute mit jemandem gesehen.”
“Ja, es ist Nick, der Kuhhirt. Hat Lukes Stelle übernommen”, erzählte Richard.
“Ach so. Ich hatte den Eindruck, dass sie gute Freunde sind.”
“Ja, seit drei Wochen vielleicht.”
“Ach so.”
Schweigend saßen wir da und tranken das Bier. Dann stand George auf und sagte: “So, das reicht für heute. Schon fast zehn Uhr. Kommst du mit, Rick? Oder willst du hier bleiben?”
“Ähm....ich....” erwiderte Richard und sah ein bisschen betreten aus.
“Ich muss auch bald aufräumen”, sagte ich.
“Dann komm ich mit, Vater.” Richard stand auch auf.
“Nun gib ihr schon einen Gutenachtkuss, Junge!”
“Oh! Ähm....”
Ich stand auch auf und lehnte über den Tisch, so dass er mir einen Kuss auf die Lippen geben konnte.
“Gute Nacht, Rosie.”
“Gute Nacht, Richard. Bis morgen!”
Neuntes Kapitel
Der nächste Tag war wieder schön und sonnig, und nach dem Frühstück konnte ich eine Pause machen und zum Stall gehen, in der Hoffnung, Richard zu sehen. Ich fand ihn doch vor dem Stall hockend, aber nicht mit seinem Vater, sondern mit diesem Nicholas.
Wir begrüßten uns und Richard holte mir auch einen Hocker, und so konnte ich ihnen Gesellschaft leisten.
"Habt ihr Lust auf einen Apfel", fragte Nicholas gerade, und öffnete eine Tasche, die er dabei hatte.
"Ja, gerne", erwiderte ich.
Die zwei Männer benutzen Taschenmesser, um sich Scheiben von ihren Äpfeln abzuschneiden. Ich bemerkte, dass Richard offenbar Linkshänder war.
“Möchtest du auch ein Taschenmesser haben, Rosie?” fragte Richard, der meine Blicke wohl bemerkt hatte.
“Oh, nein, danke”, erwiderte ich, “ich würde mir wohl nur einen Finger abschneiden.”
Die beide lachten, und das lockerte meine innere Spannung etwas, denn ich hatte gerade bemerkt, wie geschickt Nicholas mit seinem Messer umgehen konnte, und dass er es in seiner rechten Hand hielt.
Ich aß meinen Apfel und hörte die zwei Männer zu während sie über Gott und die Welt plauderten. Dieser Nicholas hatte etwas an sich, das mich irgendwie störte. Ich konnte nicht genau sagen, was es war, aber als er manche Dinge sagte, kam es mir etwas komisch vor. Ich zermarterte mein Hirn, aber mir wollte es gar nicht einfallen, was mich nun genau störte.
Schließlich sagte Nicholas, dass er wieder arbeiten musste, und verabschiedete sich. Allerdings nur von Richard. Ich hatte den Eindruck, dass er mich einfach ignorierte.
“Bis später, Richard”, sagte ich, nachdem Nicholas gegangen war.
“Ja, bis später, Rosie. Wir sehen uns wahrscheinlich beim Abendessen wieder. Miss Catherine will heute Nachmittag nach St. Catherine’s Hill reiten, und ich werde sie begleiten.”
“Ach so. St. Catherine’s Hill habe ich neulich gesehen. Bei dem Ausflug nach Winchester. Sieht sehr schön dort aus. Da bin ich neidisch!”
“Dann solltest du reiten lernen!” sagte er lachend.
“Na, keine Chance, leider!” gab ich lachend zurück.
Da stand ich ziemlich dicht vor ihm und lächelte ihn hoffnungsvoll an, hob sogar meinen Kopf ein bisschen. Es dauerte, aber schließlich kapierte er und beugte sich vor, um mir ein kleines Küsschen auf den Mund zu geben. Ich lächelte ihn noch breiter an.
“Tschüss dann, Richard!”
“Ja, tschüss, Rosie!”
Aber als ich zurück zum Haus ging, gab mir wieder mal Einiges zum Nachdenken. Nicholas war also auch Rechtshänder und er hatte etwas an sich, was mich etwas störte. Er könnte der große Unbekannte sein, den ich damals im Hof gesehen hatte. Er war offensichtlich Nellies Freund. Was war damals in der Molkerei los? Oder verrannte ich mich da in etwas?
Es war höchste Zeit, mein Herz bei Sir James auszuschütten.
**********
Ich fand Sir James und Mylady im großen Salon. Mylady strickte etwas und Sir James war wieder in seine Zeitung vertieft.
“Ja, Rosemary, was gibt’s?” sagte Mylady.
“Mylady, ähm, ich hätte gerne gewusst, ob es möglich wäre, mit Sir James unter vier Augen zu sprechen, bitte.”
“Aber was gibt es denn, das so wicht......oh, du siehst aber sehr besorgt aus, Rosemary!”
“Ja, Mylady.”
“Um was handelt es sich denn, Rosie?” sagte Sir James, der seine Zeitung auf den Tisch hinlegte und mich interessiert anschaute.
“Um die Sache mit Luke, Sir James. Ich möchte Ihnen etwas erzählen und würde auch gerne Ihre Meinung hören.”
“Oje, ich will es gar nicht hören!” sagte Mylady. “Ich mache mir schon genug Sorgen deswegen!”
“Am besten gehen wir in mein kleines Arbeitszimmer, Rosie”, sagte Sir James. “Komm mit.”
Ich folgte Sir James in sein Arbeitszimmer und er bat mich, Platz zu nehmen. Er setzte sich hinter seinem Schreibtisch hin, und begann zu sprechen.
“Rosie, ich möchte dir gleich sagen, dass diese ganze Sache mir viel Sorge bereitet hat. Lady Mortimer auch. Wir wollten irgendwie den Schein wahren, dass wir alles unter Kontrolle haben. Wenn du verstehst, was ich meine. Vorhin hast du selber gesehen, wie nahe die Sache Lady Mortimer geht. Sie will nur, dass man diesen Täter bald findet. Was wir alle ja wollen. Ich hoffe, du kannst das alles nachvollziehen?”
“Ja, natürlich, Sir James. Ich habe mir auch große Sorgen gemacht.”
Sir James beugte sich vor und verschränkte seine Hände vor sich auf dem Schreibtisch.
“Nun, Rosie. Was möchtest du mir über diese Sache erzählen?”
Ich fand seine Art beruhigend und begann zu erzählen. Eine Weile später erzählte ich dann von meinen Gedanken wegen Nicholas.
“Und ich habe gerade auch erfahren, dass er Rechtshänder ist”, schloss ich dann meinen Bericht ab.
“Du glaubst also, dass er im Hof zu der Zeit war, als Luke ermordert wurde?”
“Ja, so ungefähr. Es hätte natürlich jemand anders sein können. Fünf oder sechs Tagelöhner habe ich mal gesehen, die auch passen würden.”
“Hmm. Und dein Richard hat ihn die ganze Zeit nur Nick genannt?”
“Ja, das habe ich bemerkt.”
“Hmm. Das sagt mir doch was. Nick.....hmmm. Er hat Luke’s alte Stelle übernommen, hast du gesagt? Ich habe einen Vorarbeiter, der alles für mich unter den Arbeitern organisiert. Moment mal, ich schaue in meinen Papieren nach.”
Sir James nahm einen Stapel Papier aus einer Schublade.
“Meine Gehaltsliste, sozusagen”, sagte er lächelnd. “Moment, Bitte.”
“In Ordnung, Sir James.”
Nach eine Weile des Blätterns, sagte er: “Ja, da habe ich es. Nicholas Fletcher steht da.”
Fletcher? Fletcher?! Fletcher!! Ich klatschte in die Hände und beugte mich vor. “Fletcher, Sir James!” sagte ich aufgeregt.
“Hmm? Was meinst du, Rosie?”
“Das Messer, Sir James!”
“Ich kann dir nicht folgen, Rosie.”
“Also, die Gravur. Ist das Zufall? Moment, Sir James. Es war.......ja, Albert Fletcher Messerschmied oder?”
“Meine Güte, Rosie! Was für ein Gedächtnis du hast!”
“Moment, bitte.......Albert Fletcher Messerschmied seit 1785, Southampton, England", rief ich begeistert aus.
“Kann ja Zufall sein.”
“Ja, Sir James, natürlich.”
“Du hast auch gerade gesagt, dass etwas an seine Art dich stört, Rosie?”
“Ach ja. Ich habe leider keine Ahnung was es ist. Wenn er spricht, habe ich ein komisches Gefühl.”
“Hmm. Er hat vielleicht etwas gesagt. Oder seine Stimme erinnert dich an etwas.”
“Hmm. Kann sein, dass ich et.....” Es traf mich wie den Blitz und ich starrte Sir James mit offenem Mund an.
“Ja, Rosie?”
“Luke hat mich mal im Garten ein bisschen belästigt, aber gleich vorher hörte ich zufällig einen Streit an. Zwischen Luke und einer unbekannten Stimme. Jetzt weiß ich, was mich gestört hat. Es war Nicks Stimme! Ohne Zweifel, Sir!”
“Ein Streit, sagst du?”
“Ja. So viele unflätige Wörter, Sir James! Aber ich hatte genug gehört zu wissen, dass Luke ihm etwas schuldete. Geld wahrscheinlich. Jetzt erinnere ich mich daran. Nick drohte Luke und sagte: “Ich werde dir den Hals umdrehen, Kumpel!” Ja, genau das sagte er!”
“Wir müssen vorsichtig vorgehen, Rosie. Ich werde Sir Ashwood einen Brief zukommen lassen. George kann ihn überbringen. Ich werde ihn bitten, hierher noch heute zu kommen, wenn möglich. Das ist sinnvoll, denke ich, egal ob es richtig ist oder nicht, was du erzählt hast.”
“Ja, sehr wohl, Sir James. Jetzt bin ich beruhigt, und bin froh, dass ich alles erzählt habe.”
“Du hast ganz richtig gehandelt, Rosie. Wir wollen den Täter aber nicht aufschrecken, also müssen wir sehr vorsichtig vorgehen. Ich werde den Brief an Sir Ashwood gleich schreiben. Hoffentlich wird er während des Nachmittags zu uns kommen können.”
“Ja, das hoffe ich auch, Sir James.”
“Und sei bitte vorsichtig, Rosie. Denn wir sollten das alles nicht an die große Glocke hängen.”
“Ja, natürlich. Ich möchte mich für Ihre Zeit und Hilfe bedanken, Sir James.”
“Nein, ganz meinerseits, Rosie. Ich möchte mich für deine Hilfe und Auskünfte bedanken, egal ob richtig oder falsch. Ich sehe dich dann wieder gegen zwölf beim Mittagessen.”
“Ja, sehr wohl, Sir James”, sagte ich, machte einen Knicks und ging.
**********
Ich servierte gerade das Mittagessen im Wintergarten, als George hereinkam und Sir James einen Brief gab. Das hatte nicht sehr lange gedauert, denn Sir Ashwoods Besitz war sozusagen nur um die Ecke, und ich selber konnte das Dorf Twyford zu Fuß in zehn Minuten oder so erreichen.
“Hmm. Interessant”, sagte Sir James. “Sir Thomas will heute Nachmittag gegen vier Uhr zu Besuch kommen. Er sagt aber nicht was er will.” Sir James schaute mich bedeutungsvoll an. “Rosie, könntest du Bess Bescheid geben. Er wird bestimmt zum Tee bleiben wollen.”
“Ja, sehr wohl, Sir James”, sagte ich, spielte mit und machte meinen Knicks.
“Wir können aber nachmittags immer noch ein paar Kaninchen jagen, oder. Wenn du noch Lust hast, Papa”, sagte Master Robert.
“Ja, das machen wir noch, Robert.
Als ich wegging, sagte Miss Catherine: “Hmm, dieser Besuch kommt aber überraschend. Kommt er denn allein?”
**********
Als ich später im Wintergarten aufräumte, sah ich, wie die zwei Männer mit ihren Gewehren auf Kaninchenjagd gingen.
Als ich die Küche wieder betrat, sagte Bess: “Wir haben etwas für die Schweinchen. Eimer steht draußen, neben der Tür.”
“Mache ich gleich, Bess.”
Ich stellte das Tablett mit dem Geschirr aufs Abtropfbrett hin und ging nach draußen. Sollte ich das allein machen? Aber dann hätte ich Bess alles erzählen müssen. Dann dachte ich, dass es nur eine kurze Strecke zum Schweinestall war und nichts konnte passieren, oder?
Als ich mich den Schweinestall näherte, konnte ich aufgeregte Stimmen hören. Was war da los? Ich ging langsam um die Ecke und konnte die zwei Stimmen hinter dem Stall klar und deutlich hören. Als erstes hörte ich Nellies aufgeregte Stimme.
“......und sie hat mich auch mal über dieses blaue Kleid ausgefragt! Ich kann nicht mehr, Nick. Es ist mir zu viel!”
“Du sollst nur tun was ich dir sage, Mädel! Und sich keine Sorgen über diese neugierige Zicke machen!”
“Ja, da bedrohst du mich schon wieder, Nick! Und sagst was ich zu tun habe! Wieso konntest du denn nicht einen Rock holen, den eine Magd tragen würde, und nicht dieses Kleid. Ich hatte dir ganz deutlich erzählt, wo du meine Kleidung finden würdest. Sie hat das mit dem blauen Kleid bemerkt, da bin ich sicher. Ich habe mir auch Sorgen über ihre Fragen zu meinem neuen Kittel gemacht. Ich habe schon gedacht, dass sie mich tatsächlich verdächtigt!”
Mit dem blauen Kleid bemerkt.....ihre Fragen zu meinem neuen Kittel....tatsächlich verdächtigt..... Oje, sie meint natürlich mich! Was sollte ich nun tun?
“Ich kann nicht mehr, Nick! Sie werden es sicherlich eines Tages herausfinden.”
“Was gibt es denn herauszufinden?”
“Das es dein Messer war, zum Beispiel. Wieso hast du es nicht in den Fluss geworfen?! Und Arthur Fletcher steht auch drauf! Man hat es gefunden, das weißt du doch, oder?”
“Was beweist das denn? Und lass meinen Onkel aus dem Spiel!”
Hui!! Also, Neffe des Messerschmieds!
“Du hast ein Glück, dass niemand die Namensgleichheit bisher bemerkt hat.”
“Was willste denn tun, Nellie? Petzen? Das kann ich nicht zulassen!!”
“Ich kann halt nicht mehr, Nick.”
“Willste mich zum Galgen schicken denn, Mädel?”
“Nein!! Natürlich nicht!! Lauf weg, Nick. Geh nach Norden oder so was. Irgendwohin meinetwegen.”
“Du wirst petzen, Mädel! Und ich habe dich vor diesem Schuft Luke gerettet!” brüllte Nick unvermittelt, und plötzlich hörte es sich so an, als ob man kämpfen würde.
“Aber du musstest ihn ja nicht gleich töt.....”
“Schnauze!”
Ich hielt den Griff des Eimers fest umklammert und zitterte angstvoll, als ich fieberhaft überlegte, was am Besten zu tun wäre. Hilfe holen, schreien oder was? Sir James und Master Robert waren beim Kaninchenschießen, Richard reitet mit Miss Catherine aus. George ist bestimmt da, John auch, aber wo? Bess, Mylady.....
Plötzlich hörte ich Nellies Stimme wieder, oder genauer gesagt die Geräusche, die sie gerade machte. Das klang gerade ernst.
“Ich werde dir den Hals umdrehen, Mädel!” Zu diesem Zeitpunkt fiel mir gar nicht ein, dass er genau das auch zu Luke bei dem Streit im Garten gesagt hatte.
Mit mir selber unbekanntem Mut schielte ich um die Ecke. Nellie kniete auf dem Boden gegen die Mauer gedrückt, und Nick stand breitbeinig hinter ihr und war gerade dabei, Nellie zu erdrosseln. Erschrocken und ohne weiter nachzudenken, trat ich hervor und schrie aus Leibeskräften.
“Oh, Gott. Nellieee!! Hilfeeeee! Hilfeeeee! Hilfeeeee! Hilfeeeee.......”
Nick ließ Nellie los und drehte sich zu mir um.
“Was?! Steckst duuuu deine Nase schon wieder rein, du Luder!” brüllte er.
Kaum bemerkte ich wie Nellie zu Boden plumpste, als er auch schon wutentbrannt auf mich zukam. Ohne zu denken schwang ich meinen Eimer, aber ich konnte ihn nicht festhalten. Trotzdem traf das schwere Ding seine Schulter, und das verschaffte mir etwas Vorsprung. Er brüllte laut vor Schmerz und Wut.
Ich fackelte nicht lange und rannte weg, unterwegs versuchend meine Röcke aufzuheben. Nach ein paar Sekunden wusste ich schon, das ich gerade einen schweren Fehler gemacht hatte. Wie oft bin ich diesen Weg zum Schweinestall gegangen? Aber statt rechts und dann links abzubiegen, um Richtung Küche zu gelangen, rannte ich einfach panikartig geradeaus und schon war es zu spät. Ich wusste, dass er hinter mir her war, weil ich das Wort “Luder” immer wieder hören konnte. Wenigstens hörte ich auch Nellie schwach nach Hilfe rufen.
Ich rannte den Pfad hinter der Molkerei entlang und schon wurde das Gebüsch dichter. Man konnte hier nur geradeaus gehen und als ich das Wäldchen erreichte, war er dicht hinter mir. Er griff nach meinem Arm und wir gingen beide zu Boden. In meiner Verzweiflung fand ich erstaunlich viel Kraft und kämpfte wie verrückt, strampelte mit den Beinen, versuchte einfach etwas zu treffen. Meine Stirn traf seinen Mund und ich sah seine Unterlippe aufplatzen, und ich spürte wie mein Knie etwas weiches traf.
Er schrie vor Schmerz und rollte sich von mir weg. Ich wollte nicht wissen was ich getan hatte, sondern rappelte mich so schnell ich konnte auf und rannte ohne zu denken weiter. Wenigstens war der Pfad durch das Wäldchen fest und eben. Oh, da kam die Gabelung gerade in Sicht. Ach herrje, die hatte ich ganz vergessen! Denk nach, Rosie, denk nach! Rechts zum Garten, geradeaus zum Fluss! Ich konnte mich gerade genug abbremsen, um einen Aufprall mit einem Baum zu vermeiden, als ich nach rechts abbog. Ich hatte kaum mehr Puste. Als ich zurückblickte, sah ich, wie er leider langsam wieder aufholte, trotz der Schmerzen, die er wohl zwischen den Beinen hatte. Der Sonnenschein schien meilenweit entfernt zu sein, als ich mit meiner letzten Kraft den Garten zu erreichen versuchte. Gerade als ich aus dem Wäldchen endlich in den Sonnenschein rannte, spürte ich seine Hand schon wieder, und während ich einen letzten verzweifelten Versuch machte, um wegzukommen, riss er mir die Bluse fast vom Leib. Ich schaffte noch ein paar Schritte, aber sein Griff war zu fest und dann gingen wir vor der Liebesecke zusammen zu Boden. Weinend lag ich da mit dem Gesicht in den staubigen Kies gepresst.
“Ich mache dich fertig!” keuchte er, und ich spürte seine Hände um meinem Hals.
Plötzlich gab es einen Knall. Seine Hände lockerten sich. Hunderte Krähen machten einen Höllenlärm. Ich hob den Kopf und versuchte durch meinen Tränenschleier etwas zu entdecken. Da stand Sir James am anderen Ende des Kiesweges und zielte mit seinem Gewehr in die Luft. Ich zuckte zusammen, als er eine zweite Kugel über uns hinweg schoss.
Dann hörte ich einen dumpfen Knall, und ein tonnenschweres Gewicht schien auf meinen Rücken zu fallen. Zwei Stiefel kamen in mein Blickfeld. Ich erkannte diese Stiefel. Ich blickte hoch und schaute den Besitzer an, der sein Gewehr am Lauf wie einen Knüppel vor sich hielt. Ich spürte etwas warmes auf meine Wange tropfen.
“Bist du in Ordnung, Rosie?” fragte Master Robert besorgt.
“Ich glaube schon”, brachte ich irgendwie hervor und weinte hemmungslos.
Zehntes Kapitel
Später konnte ich gar nicht mehr sagen, in welcher Reihenfolge die Ereignisse passierten. Auf einmal waren Sir Thomas und Doktor Wilson da, und alle waren sehr um Nellie und mich besorgt. Aber mir fehlte nicht viel, außer schmerzende Beine, ein paar unwichtige Prellungen und eine total zerrissene Bluse. Deswegen trug ich immer noch Master Roberts Jacke. Nellie saß neben mir, und ihr Hals machte dem Arzt viel Sorgen, und Doktor Wilson gab ihr eine Creme, die er in seinem Köfferchen hatte. Sonst war sie auch einigermaßen glimpflich davongekommen.
Man hatte Nick vorsichtshalber gefesselt, und er saß in der Ecke mit einem Verband um den Kopf, wo Master Robert ihn mit seinem Gewehrkolben getroffen hatte.
Robert hatte uns auch erzählt, dass sie nicht zu weit gehen wollten, und dass sie noch nichts geschossen hatten, als sie meine entfernte Schreie hörten. Robert konnte natürlich schneller gehen, und er war gerade in der Nähe der Apfelbäume, als ich aus dem Wäldchen rannte. Danach ging alles sehr schnell.
Ich musste Sir Thomas meinen Bericht unter vier Augen geben, und danach war Nellie an der Reihe.
Als ich nach dem Gespräch zurückkam, überreichte Mylady mir zwei Blusen, und Ich war fast sprachlos.
“Für mich, Mylady?! Oh, vielen Dank!”
“Keine Ursache, du kleine Heldin. Diese Blusen hatte ich allerdings als siebzehnjährige, damals war ich viel zierlicher. Die passen mir gar nicht mehr. Wenn nötig, kannst du die bestimmt ändern. Du kannst dir übrigens gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, dass alles jetzt überstanden ist, Rosie!” Und damit war sie weg.
Das war genug Überraschungen für einen Tag, und ich ging zu meinem Zimmer, um die Blusen anzuprobieren.
**********
Die weiße Blusen waren ganz in Ordnung. Die passten nicht perfekt, aber sie waren sehr schick und vor einigen Jahren wohl auch sehr modisch. Ich war Mylady sehr dankbar.
Ich warf alle meine Kleider auf mein Bett und inspizierte meinen Körper. Außer ein paar Prellungen sah ich nichts Ernsthaftes, obwohl ich fühlte mich natürlich ein bisschen ramponiert.
Als die Glocken halb sieben läuteten, zog ich mich schnell an und eilte hinunter in die Küche, denn ich hatte die Zeit ganz aus den Augen verloren.
“N’bend, Bess!”
“Rosie, Rosie! Geht es dir gut?” fragte Bess, als sie mich umarmte.
“Ja, ganz gut eigentlich. Ein bisschen ramponiert vielleicht.”
“Ich habe gerade Nellie gesehen! Furchtbar! Und du hast es gesehen. Ich hatte dich gehört und rannte gleich los. Und da fand ich Nellie und konnte ihr gleich helfen. Aber ich konnte dich nirgendwo sehen.”
“Da war ich wohl schon im Wäldchen.”
“Wie schrecklich!”
Sie umarmte mich wieder.
“Aber das Leben geht weiter, Rosie. Sir Thomas wird bei uns zu Abend essen. Leute kommen von Winchester, habe ich gehört, aber ich habe keine Ahnung, wann.”
“Aha. Ich gehe gleich ins Speisezimmer. Fünf Plätze also?”
“Ja, genau.”
“In Ordnung, Bess.”
“Du Heldin”, sagte sie als sie mich losließ und mir einen Kuss auf die Wange drückte.
**********
Als ich später das Essen servierte, sagte Mylady: “Oh, meine alte Bluse passt dir gut, Rosie!”
“Ja, sehr bequem, vielen Dank, Mylady!”
“Keine Ursache, Rosie. Ich......” Aber dann klopfte es, und John kam rein.
“Entschuldigen Sie die Störung, aber die Beamten aus Winchester sind da, Sir Thomas.”
“Ach! Danke, John, Ich bin gleich da.”
“Rosie, kannst du Sir Thomas’ Essen warm halten?” fragte Sir James.
“Natürlich, Sir James. Ich sage Bess Bescheid”, sagte ich und ging mit dem Teller zurück zur Küche.
**********
Eine halbe Stunde später kam John in die Küche rein und sagte, dass Sir Thomas nicht bleiben konnte, und dass wir sein Essen verteilen dürften.
Später tranken alle ein Bier und plauderten über die Ereignisse des Tages. Richard war sehr besorgt als er erstmals davon gehört hatte, und jetzt saßen wir händchenhaltend auf unseren jetzt zugeteilten Plätzen.
“Nellie, fühlst du dich imstande, darüber reden?” fragte ich. “Mich interessiert eigentlich, was damals in der Molkerei passiert ist?”
“Ja, ich habe kein Problem darüber zu reden. Es ist aber keine schöne Geschichte. Also, ich war in der Molkerei beschäftigt, und alles ging schnell. Ich hatte Luke nicht mal gesehen, aber plötzlich lag ich da auf dem Stroh unter ihm. Natürlich versuchte ich zu kämpfen, aber es war ziemlich hoffnungslos. Er zerriss meinen Kittel und hatte mein Mieder schon gelöst. Ich versuchte ihn wegzuschieben, aber er war viel zu stark und konnte mich immer wieder begrapschen. Dann erschien Nick plötzlich und ich sah ihn etwas schwingen. Es ging alles so schnell, Luke lag neben mir, und Nick beugte sich über ihn. Dann sah ich das Messer....es war schrecklich! Und dann....dann war Nick auf einmal ganz verwandelt. Er bedrohte mich mit dem Messer, wenn ich nicht mitmachen würde. Er ging zu meinem Zimmer, um Kleider zu holen, und die Geschichte mit dem Kleid weißt ihr schon. Er nahm meinen ruinierten Kittel mit, und ich wartete auf eine günstige Gelegenheit, um ins Haus zu kommen.”
“Du warst aber sehr überzeugend im großen Salon”, warf ich ein.
“Das war echt, Rosie. Es war schrecklich! Und ich hatte Angst wegen dem, was Nick mir in der Molkerei gesagt hatte.”
“Ich habe ihn hinter dem Schweinestall gehört, Nellie.”
“Eben.”
“Was wollte Nick denn eigentlich von Luke?” fragte Richard.
“Luke schuldete ihm Geld, und er wollte es zurückhaben.”
“Ich kann es übrigens immer noch nicht glauben”, sagte Richard. “Er hat ab und zu mit mir gesprochen, und ich hätte das nie für möglich gehalten, was er getan hat.” Er schaute mich an, als er das sagte, und ich drückte seine Hand. Wir hielten ja immer noch Händchen.
Dann betrat Miss Catherine die Küche. “Man hat gerade Nick in Ketten weggeführt. Die Beamten aus Winchester wollten kein Risiko eingehen. Eine Zelle im Winchester Gaol Gefängnis wartet auf ihn.”
**********
Vor mich hin summend räumte ich im großen Salon gegen halb elf auf, und versuchte die schreckliche Ereignisse des Tages zu verdrängen. Meine Gedanken waren bei Richard, als jemand sich räusperte, und ich zuckte unwillkürlich zusammen.
“Oh! Master Robert! Sie haben mich irgendwie erschreckt!”
“Das habe ich bemerkt”, erwiderte er lächelnd.
“Ja, meine Gedanken waren wohl woanders.”
“Bei Richard wahrscheinlich?”
“Oh! Ähm....ja! Aber wie haben Sie....”
“Ich habe dich heute Morgen gesehen, Rosie.”
“Oh!”
“Er ist ein sehr netter junger Mann, Rosie.”
“Ja, ich weiß. Ich....ich habe ihn immer gemocht.”
“Er mag dich auch, Rosie. Ihr passt gut zusammen.”
“Oh, danke, Master Robert.”
“Eigentlich wollte ich mich bei dir entschuldigen, Rosie. Für mein Benehmen dir gegenüber und so. Dir ist wohl klar, dass ich dich sehr gerne habe. Aber das ist keine Rechtfertigung für mein Benehmen, das manchmal nicht so korrekt war.”
“Oh. Ähm...ich hab das auch gar nicht so ernst genommen, Master Robert.”
“Also, dann. Gute Nacht, Rosie.”
“Ja, gute Nacht, Master Robert.”
So war das jetzt auch in Ordnung und ich brauchte mir keine Sorgen mehr zu machen. Vor mich hin summend erledigte ich meine Arbeit und ging zurück zur Küche. George und Richard waren gerade dabei aufzubrechen.
Mein Gutenachtkuss von Richard war ein bisschen länger als der vorherige, aber meine Nachtruhe war gar nicht so schön. Eigentlich konnte Ich gar nicht schlafen. Schließlich gab ich es auf, und tat etwas, das ich seit langem nicht mehr getan hatte.
Ich stand auf und stellte eine Kerze auf meine Kommode hin, setzte mich auf meinen Hocker und öffnete die unterste Schublade. Ich griff nach dem Buch drin und legte es auf die Kommode.
Ich hatte die Seiten zigmal gelesen und kannte das ganze Buch auswendig, aber trotzdem wollte ich drin blättern.
1. Oktober 1782
Liebes Tagesbuch,
Meine kleine Tochter wurde heute Nachmittag geboren. Sie ist wunderschön, sie hat meine braune Augen, ich sehe meine Haare schon. Sie soll lange Haare wie ich haben!
22. März 1788
Wie klug sie ist! Heute hat sie mir ein Stück von Milton’s Paradise Lost vorgelesen! Und wie sie heute zum ersten Mal zu Stricken versucht hat. Und sie hat neulich ihr Röckchen selber repariert. Ich bin so stolz, dass sie so viel von mir gelernt hat.
18. August 1788
Schon wieder mache ich mir Sorgen. Wieder Geldprobleme. Und er trinkt mehr. Er kann es nicht sehen, das ist keine Lösung, je mehr er trinkt, desto weniger Geld. Aber meine liebe Rosie hat keine Sorgen, wie sie da in der Ecke sitzt und mit ihrer Puppe spielt. Das einzige Spielzeug, was sie hat.
15. Dezember 1790
Wieder fühle ich mich nicht wohl. Es macht mir sorgen, dass mein Mann trinkt, statt was für mich und unsere Tochter zu tun. Wieder habe ich diese Kopfschmerzen. Drum schreibe ich nicht mehr heute und werde zu Bett gehen.
Und das war das Letzte, was meine Mutter je tat. Ich wischte einige Tränen weg, und legte meine Schreibutensilien auf die Kommode. Sie hatte nur die Hälfte des Buches geschrieben. Ich blätterte um, starrte die leeren Seiten an, und begann zu schreiben.
Juli 1800
Meine liebe Mama!
Ich hoffe, dass es dir nichts ausmachst, wenn ich jetzt dein Büchlein benutze, meine eigene Geschichte zu dokumentieren. Heute war aber so ein schrecklicher Tag.......
Allmählich fielen mir die Augen zu.
Epilog
Samstag 30. August 1800
Heute Abend findet der Ballabend bei den Ashwoods statt. Bess, Nellie und ich sind als Bedienungsaushilfe eingeladen. Ich würde gerne mein grünes Kleid tragen, aber die Anweisungen sind eindeutig: Schwarzer Rock; weiße Bluse, Schürze nd Haube.
Jetzt schreibe ich am Sonntagnachmittag weiter, denn wir waren so spät in der Nacht zurück, dass ich keine Gelegenheit mehr hatte in meinem Büchlein zu schreiben.
George musste zwei Fahrten machen. Zuerst mit den drei Dienerinnen, und dann später mit der Familie.
Der Ball machte mir dann doch nicht sehr viel Spaß, denn man war fast die ganze Zeit mit einem Tablett unterwegs. Der Saal war sehr groß und imponierend. Sir Thomas’ Haus ist eindeutig größer als das Anwesen des Mortimers. Die Leute feierten und tanzten und tranken. Miss Jane kann sehr gut Klavier spielen, meistens Walzer und Quadrillen.
Gegen acht Uhr abends rief Sir Thomas nach Aufmerksamkeit. Man ahnte schon, was kommen würde, denn die Bedienung musste dafür sorgen, dass jeder ein Glas Sekt hatte.
Die Ashwoods und Mortimers waren vor dem Büffettisch versammelt, und wir mussten ganz hinten stehen.
“Sehr verehrte Damen und Herren!” rief Sir Thomas und hielt sein Glas in der Höhe. “Mit der größten Freude möchte ich bekanntgeben, dass Jane, meine Tochter, und Robert Mortimer ab jetzt verlobt sind. Zum Wohl!”
Alle jubelten und applaudierten. Man konnte sehen, wie stolz Mylady war und Miss Jane und Master Robert sahen wirklich gut aus als Paar zusammen.
“Und jetzt ist das Büffet geöffnet. Guten Appetit!”
Arthur, Sir Thomas’ Diener, erklärte uns: “Der kleinere Tisch in der Ecke ist für die Dienerschaft.”
Sonst gab es nicht viel zu berichten. Gegen halb elf begannen die Leute aufzubrechen, und Sir James’ Kutsche war zu um elf Uhr bestellt. Diesmal mussten wir drei Mägde warten, bis George zurückkam, um auch uns abzuholen, und dann war es schon fast Mitternacht. Da bekam ich gleich noch eine Überraschung, allerdings eine sehr schöne, denn nicht nur George saß auf dem Kutschersitz, sondern Richard auch!
Richard wollte wissen, ob ich Lust hätte, neben ihm auf dem Kutschersitz zu sitzen. Ich wusste gar nicht, dass er das konnte. Und ob ich neben ihm sitzen wollte! George gab mir seine Jacke und stieg zu den zwei Frauen in die Kutsche hinein. Ich war dankbar für Georges Jacke, denn es war ja ein bisschen kühl geworden.
Obwohl die Strecke nach Hause nicht sehr weit war, dauerte es etwas länger als bei Tageslicht. Richard saß leicht vornübergebeugt, und ich konnte mich an ihn anschmiegen. Es war eine sehr schöne Fahrt, und Wörter waren gar nicht nötig. Es dauerte nicht lange, bis ich meinen Kopf auf seine Schulter gelegt hatte.
Die Kutsche war kaum zum Stillstand vor Shawford Hall gekommen, als ich mich noch enger an ihn anschmiegte. Richard drehte seinen Kopf zu mir und er brauchte wenig Aufforderung von mir. Ich bekam genau das, was ich haben wollte, einen langen, süßen Gutenachtkuss.
Danach räusperte sich jemand, und ich bemerkte George, der grinsend zu uns hochblickte.
Wir sagten beide: “Gute Nacht” und George half mir dann beim Absteigen.
Ich folgte Harriet nach oben, die den Auftrag hatte, auf uns zu warten und reinzulassen. Vor meiner Tür wünschte ich ihr eine gute Nachtruhe und erhielt etwas Unverständliches als Antwort. Sie war wohl nicht besonders erfreut, weil es bestimmt fast ein Uhr morgens war. Aber das kümmerte mich nicht, und bald lag ich unter meiner Bettdecke. Wohlig verliebt dachte ich an Richard und schlief bald ein.
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2. September 1800
Morgen (Mittwoch) fahren Nellie und ich nach Winchester, denn wir müssen vor Gericht aussagen! Eigentlich begleiten wir Sir Thomas in seiner Kutsche. Um zehn Uhr sollen wir im Winchester Court of Assizes erscheinen. Ich bin sehr aufgeregt und ich habe auch ein bisschen Angst, denn das ist natürlich ein Riesenereignis für kleine Dienerinnen wie uns.
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3. September 1800
Was für einen aufregenden Tag! Ein Erlebnis, das ich nie vergessen werde. Gegen zehn Uhr saßen Nellie und ich in einem düsteren Raum im Winchester Assizes, und mussten ein paar Stunden warten, bis man uns endlich aufrief. Ich zuckte zusammen, als eine laute Stimme rief: “Call, Rosemary Anne Jessop.” Schüchtern saß ich da in dem großen, holzvertäfelten Saal auf der Zeugenbank und schaute Nicholas an, der wie einen Häufchen Elend aussah. Aber als er meinen Blick erwiderte, lief mir ein Schauder den Rücken hinunter. So viel Boshaftigkeit, richtig voller Hass. Ich glaube, dass die Beamten dort das auch bemerkt hatten. Ich musste dann meine ganze Geschichte wieder erzählen. Oder genauer gesagt, Sir Thomas fragte mich der Reihe nach. Es schien so, dass er mit den anderen Beamten eng zusammenarbeitete, denn sie waren zu Dritt am Tisch. Die sahen alle sehr imposant in ihren schwarzen Roben und weißen Perücken aus. Andere Leute stellten auch noch Fragen, und ich war sehr erleichtert als es vorbei war. Danach war Nellie an der Reihe. Später erzählte sie, dass man ihr vorgeworfen hätte, nichts getan und gesagt zu haben. Sie glaubten ihr aber, dass Nick sie erfolgreich eingeschüchtert hatte.
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29. September 1800
An diesem Morgen servierte ich das Frühstück wie immer.
“Es gibt hier etwas, das dich interessieren wird, Rosie”, sagte Sir James und überreichte mir seine Zeitung. “Da auf Seite zwei. Artikel ganz unten.”
Ich sah es sofort.
Nicholas Fletcher, 24, in Southampton geboren, wegen Mord im Affekt und Mordversuch verurteilt, wurde am 20. September auf Gallows Hill, Winchester hingerichtet.
Lord Bartlett, KC [King’s Counsel]: “Obwohl Mr Fletcher im Affekt gehandelt hatte, war ich strikt dagegen, als man Totschlag in Betracht ziehen wollte. Mr Fletcher hätte ganz anders handeln können. Das ist ein Mann, der keine Kontrolle über seine Gefühle und Handlungsweise hat. Seine Aktionen gegen die zwei Dienerinnen beweisen das auch. Daher bin ich mit dem Urteil >Mord im Affekt< im großen und ganzen zufrieden.”
Lord Bartlett, KC gilt als starker Verfechter der Todesstrafe.
Sir Thomas Ashwood, Friedensrichter in Twyford, Hampshire: “Zuerst war man unschlüssig, und konnte sich nicht entscheiden, denn Mr Fletchers Verteidigung plädierte natürlich auf Totschlag. Ich persönlich bin immer noch der Meinung, dass Mr Fletcher anders hätte reagieren können. Mr Ellis wurde bestialisch ermordet, aber ich sehe natürlich auch ein, dass er im Affekt gehandelt hatte.”
Man hatte Sir Ashwood hinzugezogen weil er mit dem Fall vertraut war, und er durfte mit Lord Bartlett, KC und Mr Pettigrew, Anwalt, zusammenarbeiten. Es war eigentlich Sir Ashwoods erster Fall dieser Bedeutung und das erste Mal, dass er im Winchester Assizes mitarbeiten musste.
Miss J. und Miss D., zwei Dienerinnen, waren auch geladen, im Winchester Assizes auszusagen.
Mr Ellis [das Todesopfer] hatte Miss D. belästigt, und wurde dabei von Mr Fletcher erwischt, der Mr Ellis dann auf ganz grausame Weise tötete.
Danach wurde Miss D. von Mr Fletcher so stark bedroht und eingeschüchtert, dass sie nichts zu sagen wagte. In einem späteren Streit erkannte Mr Fletcher, dass Miss D. ihn doch verraten könnte und versuchte nun, sie zu erdrosseln, wobei er jedoch zufällig von Miss J. überrascht wurde.
Miss J. musste nun selbst in Todesangst um ihr Leben rennen, bis der Gutsherr und sein Sohn, die zufällig in der Nähe waren, den Täter aufhalten und sie retten konnten.
Harold Walters, Redakteur
Ehrlich gesagt, ich konnte nicht sagen, ob ich eigentlich froh oder traurig darüber war. Als ich kurze Zeit später in der Küche war, erzählte ich Bess und John natürlich davon.
“Das ging nun ziemlich schnell!” bemerkte ich zum Schluss.
“Ja. Die fackeln nicht lange, Rosie”, sagte John. “Man wird für weniger aufgehängt, weißt du. Egal ob Totschlag oder Mord, der hatte keine Chance, meiner Meinung nach.”
**********
1. Oktober 1800
Heute feierte ich meinen 18ten Geburtstag, und hatte mein grünes Kleid angezogen. Ich sah sehr hübsch aus, das wusste ich genau.
Was für ein aufregender Abend es war! Bess hatte mir einen schönen Kuchen gebacken. Sir James schenkte zwei Flaschen Wein. Mein Richard gab mir ein Päckchen. Ich öffnete mein Geschenk und fand ein Buch genau wie dieses. Die Szene danach werde ich nie vergessen.
“Oh, Richard, Dankeschön!” Ich gab ihm einen Kuss.
“Gerne! Du hast mir mal dein Mamas Büchlein gezeigt, und da dachte ich, wenn das voll ist....”
“Ja. Vielen Dank, Richard.” Ich gab ihm noch einen Kuss, denn ich freute mich riesig.
Inzwischen standen die anderen auch, was mir ein bisschen komisch vorkam. Richard schien irgendwie verlegen zu sein und schaute zu Boden.
“Na, komm schon, Rick”, sagte George und klatschte in die Hände.
Richard schaute zu seinem Vater hinüber, dann zu mir.
“Komm schon, Junge, wenn du es jetzt nicht machst, wirst du es nie tun, so wie ich dich kenne!”
“Was ist denn?” fragte ich mit pochendem Herzen.
Richard schaute mich sehr ernst an. “Rosie....willst du mich heiraten?”
Eine Sekunde lang war ich überrascht. Dann rief ich “Ja!” aus und warf mich in seine Arme. Alle klatschten. Selbst Harriet.
Nicht so romantisch, wie in Büchern beschrieben, aber was soll´s, die schönste Frage der Welt!
*********
ENDE
Tag der Veröffentlichung: 14.06.2016
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