Blut tropfte auf den Stein. Vermehrte sich und wurde schließlich zu einer Blutlache. Das Blut floss aus seinem Kopf, seiner Brust und tränkte das Gras, seine Kleider- all das was er nie mehr sehen würde.
Die Sonne verschwand hinter den grauen Wolken, die sich zu einer bedrohlichen Wand aufzutürmen schienen und ein sanfter Wind stricht durch sein schwarzes Haar.
Ich kniete mich neben ihn in das feuchte Gras, stützte mich darauf ab und horchte verzweifelt, ob er noch lebte. Ich wagte keinen Atemzug doch trotz der Stille, vernahm ich nichts was „Leben“ gleichkommen könnte. Ich schaute mich um. Nach dem Mörder, nach einem Fluchtweg, doch ich sah nur Steine und hörte nur das Rascheln der Blätter im Wind und das Meer, das unter uns tobte.
Die Lichtung hatte sich verdunkelt, so als wäre es Abend, doch es war gerade Mittag. Ich dachte an die zeit zurück, als ich noch eine Familie hatte- außer meinem Vater und mir.
Als Frieden die einzige Bedeutung zwischen unseren Welten war. Als „anders“ nicht gleich verachtet oder ausgestoßen wurde und als Ryan noch am Leben war.
Mein Bruder Ryan, den sie jetzt auch umgebracht hatten. Genauso, wie meine drei Tanten und meine zwei Onkel. Mein Vater meinte, auch meine Mutter hätten sie nach meiner Geburt getötet.
„Warum zeigst du dich nicht!“, schrie ich gegen den Wind „Dann kannst du auch mich töten!“
Ich stand auf und ging um meinen Bruder herum, während meine Tränen heiß auf meinen Wangen herunterflossen. Warum waren wir zu so etwas fähig? Wieso gab es Krieg zwischen uns, wo wir doch alle gleich waren? Wieso musste er dafür sterben, dass andere sich nicht entscheiden konnten?
Ich kniete mich erneut neben Ryan auf den Boden, lies meine Tränen sich mit den Regentropfen vermische und ich strich sanft sein nasses, schwarzes Haar aus dem Gesicht.
Den Blick, totengleich, starr geradeaus gerichtet, blasses Gesicht und Lippen, die wegen der bleichen haut röter wirkten. Seine sonderbare Augenfarbe, in der sich grün, blau und kupfern vereinten und das schwarze, fransige Haar.
Ich fuhr ihm mit zwei Fingern über die Augenlider und schloss sie, auf das sie auf ewig geschlossen bleiben würden. Der starke Wind zerrte an meinem Gewand, das ich hätte zu seinem Geburtstag am Abend tragen sollen. Er zerrte an meinen Haaren, die nass über meinen Rücken fielen.
Ich schloss die Augen, atmete tief durch und stand auf. Ich würde Daria Bescheid sagen, dass sie Ryan abholen und beerdigen sollten. Dass ich nicht zu seiner Trauerfeier erscheinen würde, da mich das an ihn erinnern und unsere Meinungsverschiedenheiten, die mir jetzt so sinnlos erschienen, wieder ins Gedächtnis holen würde. Ich konnte nicht weinen. Nicht vor all den Leuten. Ich durfte es nicht. Denn eines Tages müsste ich den Platz meines Vaters einnehmen, jetzt da Ryan tot war. Die Gedanken an meiner bevorstehenden Zukunft, dass nicht Ryan, sondern ich den Platz unseres Vaters übernehmen würde; dass er tot war, jagten mir Schrecken ein und nicht einmal Indira konnte mich trösten. Sie schnaubte, während ich ihr über den Hals strich, über das warme Fell, unter dem ich den Atem von ihr spüren konnte.
Meine Onkel und meine Tanten hatte ich gefunden. Ryan hatte ich gefunden- alle tot, weil ich zu langsam war. Zu langsam um nach dem sechsten Mal zu begreifen, dass Darias Intuition sich niemals irrte.
Ich schwang mich auf Indias Rücken und ritt zurück zu meinem Vater.
„Bella! Meine Tochter, wo warst du? Die Vorbereitungen sind in vollem Gange.“, sagte mein Vater, die Freude in seinem Gesicht kaum zu übersehen.
„Vater…“, versuchte ich es erneut, bemüht nicht in Tränen auszubrechen. Ich hatte versucht alles auf dem Heimweg auszulassen, da mich niemand auf einer verlassenen Lichtung hätte beobachten können.
„Und was hast du mit deinem Kleid gemacht!“, sagte er „Das ist ja voller Dreck!“ Er schnipste zweimal mit den Fingern und Ariana, eine der Dienerinnen, eilte zu ihm und verneigte sich kurz. „Jawohl?“ Sie hatte eine klare Stimme. Ihre Augen strahlten Freundlichkeit und Wärme aus und ihre blonden Haare trug sie stets in einem geflochtenen Zopf, der ihr über die Schulter fiel.
„Bring meiner Tochter, bitte ein frisches Kleid.“, sagte er und lächelte mich an.
„Vater“
„Was ist denn nur mit dir los, Isabella, du bist ja so blass. Werd mir ja nicht krank, das Fest dauert drei Tage.“, mahnte er und musterte mich.
„Ein Fest für einen toten Ryan?“, fragte ich und unterdrückte einen verzweifelten Laut.
Alle Farbe wich aus seinen alten, freundlichen Gesichtszügen „Nein…NEIN!“
„Doch.“, flüsterte ich und versuchte meine Tränen herunterzuschlucken, doch sie rollten schon über mein Gesicht.
„Wo?“, fragte er und sah mich mit feuchten Augen an. Ryan hatte seine Augen geerbt gehabt.
„Auf der Lichtung.“, antwortete ich und wich seinen Blicken aus.
„Die Lichtung, wo…“ Seine Stimme versagte und wurde von einem Schluchzer unterdrückt.
„Das blaue oder das rote?“, fragte Ariana und hob ein blaues und ein rotes Kleid in die Höhe. Das eine mit Perlen bestickt, das andere aus Seide.
„Ich nehme mein Alltagskleid.“, erwiderte ich und schaute zu ihr.
„Aber das Fest…“, fragte sie verwirrt.
„Das Fest fällt aus.“, sagte mein Vater mit erstaunlich ruhiger Stimme „Ryan ist tot!“
Arianas Augen weiteten sich, wobei sie keinerlei Mitgefühl zeigte. Ich konnte es ihr nicht verdenken, da sie Ryan noch nie gesehen hatte. Und falls doch, konnte sie ihn nicht einordnen. Doch sie schien zu wissen, dass sie jetzt lieber schnell aus dem Raum verschwand.
„Hast du Daria schon informiert?“, fragte mein Vater und ging zu einem kleinen Tisch mit drei Gläsern und einer Flasche, nahm ein Glas und füllte es zur Hälfte mit Martini.
„Bring mir bitte mein Kleid und mein Cape.“, bat ich Ariana, die inzwischen Löcher in die Luft zu starren schien.
Sie nickte und eilte mit schnellen Schritten aus dem Raum. Ich seufzte. So wie es aussah, wusste Ariana genauso gut wie ich, was Ryans Tod zu bedeuten hatte.
„Isabella, pass gut auf dich auf. Der Mörder hat sogar Ryan, einen erfahrenen Krieger und Königssohn getötet. Pass auf, ich will nicht, dass er auch noch dich tötet!“, sagte mein Vater und stellte das Glas ab. Ich nickte.
„Hattest du Daria nun Bescheid gesagt?“, fragte er erneut und lies sich schwer in einen Sessel fallen.
„Nein, ich wollte gleich los.“, antwortete ich.
Er nickte, schürzte die Lippen und sah mich an, als wolle er fragen. „Was glaubst du, wer es war?“. Aber er schwieg.
Tag der Veröffentlichung: 31.03.2012
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