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Kapitel 2: Zirkus Wunschkind




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Stumm stand ich am Zaun und betrachtete mit großen Auge den Menschenauflauf. Ich hatte noch nie so viele Leute auf einem Haufen gesehen und ich fragte mich was so aufregend sein konnte dass die halbe Stadt auf den Beinen war. Neugierig versuchte ich meinen Hals weit genug zu strecken um über die Köpfe der Menge hinwegzusehen, leider vergeblich. Betrübt ging ich vom Zaun weg in Richtung des Waisenhauses in dem ich lebte seid ich denken konnte. Eltern hatte ich keine. Nur wenige Kinder hier hatten sowas, wir kamen alle gut damit zurecht.
Aber einen Vater und eine Mutter zu haben musste ein tolles Gefühl sein. Manche Jungen erzählten gerne über die Zeit mit ihren Eltern die sie jedes Wochenende abholten um mit ihnen irgendwohin zu fahren wo es besser war als hier. Auch wenn es 'nur' Wochenendeltern waren, ich beneidete die anderen darum.
Ich hatte noch nie Wochenendeltern. Mit mir wollte noch nie jemand von den Erwachsenen reden. Vielleicht lag es daran dass ich ein wenig schwächlich aussah. Meine Haut war sehr blass, ich hatte eine schmale und kleine Statur und meine Haare standen immer zu allen Richtungen auf dem Kopf ab. Mit so einem Jungen wollten nur wenige etwas zu tun haben, sogar die meisten Kinder mieden mich. Überhaupt war das Waisenhaus kein schöner Ort, es wirkte heruntergekommen und war nicht zu vergleichen mit den hochtrabenden und edlen Gebäuden außerhalb des großen Zaunes der verhinderte dass irgendwer aus diesem 'Gefängnis' flüchten konnte.
Einmal hatte es ein Mädchen tatsächlich geschafft durch ein Loch im Zaun zu entkommen. Man hat sie schnell wieder gefunden, doch sie sah furchtbar aus als die Schwestern des Hauses sie auf ihr Zimmer führten. Manche munkelten jemand hätte sie geschlagen und missbraucht. Die Welt dort draußen schien ein furchtbar grausamer Ort zu sein, aber trotzdem wollte auch ich das Wagnis eingehen und all das Unbekannt erkunden. Deswegen stand ich manchmal stundenlang dort am Zaun und suchte nach einem Loch, einer Lücke, irgendetwas womit ich mir eine Flucht ermöglichen konnte. Aber immer wieder musste ich enttäuscht feststellen...
...das mein Wunsch sicht nicht erfüllte.
Also ging ich zurück ins Waisenhaus und wartete geduldig, wärend ich in meinem Zimmer auf dem Bett lag und durch ein kleines Fenster zu den Sternen und dem Mond hochsah.
Ein winziges Stückchen Freiheit das mir niemand nehmen konnte.

*

Am nächsten Morgen bezog ich wieder Posten am Zaun. Hinter mir tobten und spielten die restlichen Kinder von denen keiner die Illusion verfolgte jemals von hier wegzugehen. Warum auch, die meisten interresierten sich nicht für das Leben außerhalb des Metallzaunes oder waren hierhergekommen weil sie das Leben dort satt hatten. Die Passanten auf der anderen Seite würdigten mich oftmals keines Blickes, egal wie lang ich hier stand und vor mich hinstarrte. Dort ein Mann mit Aktentasche der hektisch auf die Uhr sah, hier eine Frau mit buschigem Pelzmantel und einem kleinen hässlichen Hund der mich giftig anbellte. Ich hätte gute Lust zurückzuknurren, aber ich hatte Wichtigeres zu tun.
"Hey, Träumer!"
Eine seltsame Stimme riss mich urplötzlich aus meinen Gedanken. Irritiert sah ich mich um. Auf der anderen Seite des Zaunes, ein paar Meter von mir weg stand ein junger Mann.
Ich musste zugeben, ich hatte noch nie so eine ulkige Gestalt gesehen.
Der Herr hatte eine seltsame Frisur, seine Haare waren etwa schulterlang und Lila und kräuselten sich an ihren Enden nach oben, auf den schmalen Wangen waren Barthaare aufgemalt wie die einer Katze. Er trug einen seltsamen blauen Hut der etwas plattgedrückt wirkte und einen farblich auf die Kopfbedeckung angepassten Mantel. Seine dunkelblauen, stechenden Augen musterten mich und er grinste ununterbrochen als würde er den gleichen lächerlichen Eindruck von mir haben wie ich von ihm.
"Du siehst aus als wolltest du ein wenig Spaß haben.", meinte er mit seiner jugendlichen, irgendwie schrägen Stimme und kam näher auf mich zu. Ich wich ein wenig vom Zaun zurück. Dieser Herr hatte eine Ausstrahlung die mir nicht gefiel. "Was denn für...Spaß?", fragte ich vorsichtig nach.
"Na wie wäre es denn mit ein wenig Zauberei? " Der Fremde trat einen Schritt zu Seite und deutete auf ein buntes Gebilde am Ende der Straße die ich so oft beobachtete. "Und wo wenn nicht in einem Zirkus solltest du so etwas finden?"
Ich blinzelte und sah genauer hin. Dort stand tatsächlich ein Zirkuszelt. Das war wohl der Grund gewesen warum hier am Tag zuvor so viele Leute gewesen waren. Ich wäre gern in diesen Zirkus gegangen, aber wie so oft war das was ich wollte so nah und doch unereichbar. "Ich würde ja gerne in den Zirkus aber...ich komme nicht über den Zaun. Es tut mir leid."
Der Fremde verschrenkte die Arme und sah mich empört an. "Also wirklich! Du wirst dich doch nicht von so ein paar lächerlichen Eisenstangen aufhalten lassen! Da durchzukommen ist doch kein Problem." Und ich musste nicht lange warten bis er mir den Beweis dazu lieferte.
Mit scheinbarer Leichtigkeit steckte er erst seinen Kopf durch einen der schmalen Zwischenräume, verrenkte seine Arme und seinen Oberkörper auf schmerzlich und unmöglich aussehende Weise und schob am Ende noch seine langen Beine durch die Lücke. Erschrocken ging ich noch ein paar Schritte rückwärts. Die Knochen des Fremden knackten unangenehm als er sich wieder in die richtige Form brachte. Er atmete erleichtert und warf seine Haare zurück die ihm ins Gesicht gefallen waren. "So einfach geht das!"
Zweifelnd sah ich nochmal zum Zaun und zu dem Fremden. "Gehören sie auch zu dem Zirkus? Sind sie eine Art Schlangenmensch?"
Bei dem letzten Wort sah er mich erst schräg und fragend an, dann musste er wieder breit grinsen und lachte laut auf. "Ein Schlangenmensch?Ein SCHLANGENmensch? Oh Junge wenn du wüsstest...aber ja ich gehöre zum Zirkus. Und es wird Zeit dass wir dich hier rausholen, sonst fängt die Show noch ohne dich an." Er griff nach meinem Arm und zog mich zu sich zum Zaun. Doch ich schüttelte heftig mit dem Kopf."Ich glaube nicht dass ich das auch so gut kann wie sie Sir...!"
Der Fremde verdrehte genervt die Augen. "Ich bin doppelt so groß wie du und hab es überstanden. Also stell dich jetzt nicht Quer, ich helfe dir!"
Das mit dem Querstellen dürfte zwischen den Gitterstäben auch schlecht gehen dachte ich. Mit einem Ruck hob mich der Fremde hoch und schob mich durch die Gitterstäbe. Und tatsächlich, mein Körper schien schmaler zu werden und ich konnte mich mit Leichtigkeit durch den Spalt zwängen. Auf der anderen Seite sah ich prüfend an mir herunter und stellte fest dass sich trotz allem nichts an meinem Körperumfang geändert hatte. "Das ist ja echt wahnsinn...", murmelte ich beeindrucht und wollte mich zu dem Fremden umdrehen, doch dieser war plötzlich verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben.
Ich runzelte die Stirn und suchte mit meinem Blick die Straße ab.
Nein, er war weg. Einfach weg.
Und ich?
Ich war frei.
Die Erkenntnis überkam mich nur langsam, doch als ich sie dann komplett erfasst hatte überfiel mich die Freude. Endlich weg von diesem Waisenhaus, von dieser kleinen beschränkten Welt und der kleinen Freiheit, auf in ein anderes, aufregenderes Leben.
Und ich wusste auch schon wo ich zuerst hinwollte.
Der Wind trug leise Zirkusmusik zu mir hinüber und in einiger Entfernung konnte ich wieder das bunte Zelt stehen sehen.
*

Vielleicht war diese neue Welt doch nicht ganz so wunderbar wie ich sie mir eingebildet hatte.
Sie war laut. Und unfreundlich.
Die Leute drängelten und schubsten herum und ein kleiner Junge wie ich es war wurde einfach beiseite geschoben. Ein Mann beschimpfte eine Frau die ihre kleine Tochter auf dem Arm hatte und sich einfach vor ihn in die Warteschlange gestellt hatte. Ein älterer Herr murmelte irgendwas von 'unverschämter Jugend' und ein paar andere Jugendliche pöbelten jeden an der ihnen in die Quere kam.
Mir kam das alles sehr suspekt vor. Ich beschloss mir einen anderen Weg ins innere des Zelts zu suchen. Ich hatte das bunte Gebäude schon fast einmal umrundet, da fiel mir auf dass es tatsächlich eine kleine Lücke zwischen den Zeltplanen gab durch die ich mich vorsichtig durchquetschte, was ironischerweise nicht so leicht war wie bei den Gitterstäben. Noch dazu musste ich jetzt aufpassen dass mich niemand sehen konnte, schließlich hatte ich weder eine Eintrittskarte noch das Geld dazu.
Im inneren des Zeltes war es dunkel und ich musste warten bis sich meine Augen an die unheimliche Schwärze gewöhnt hatten. Langsam konnte ich über mir stählerne Gerüstkonstelationen ausmachen und gedämpfte Schritte hören, also musste ich genau unter der Tribüne sein. Durch die roten Vorhänge genau vor mir drang das Licht der Manege und ich nahm einen angenehm-süslichen Geruch wahr. So roch also ein Zirkus.
Ich musste zugeben dass es mir schon jetzt gefiel wo die Vorstellung noch garnicht angefangen hatte.
Ich fragte mich ob ich wohl den seltsamen Herren wiedersehen würde der mich eingeladen hatte. Vorsichtig schob ich den Vorhang einen winzigen Spalt zur Seite und warf einen Blick in die Manege. Die Zuschauertribünen waren berstend voll und als alle Leute ihre Plätze eingenommen hatten wurde das Licht gedimmt und noch seltsamere Gestalten als ich sie vorhin kennengelernt hatte betraten den Zirkus.
Eine von ihnen war ein Mann mit einem feinen, blassen Gesicht und langen weißen Haaren, näheres konnte ich nicht erkennen. Er trug einen weiten schwarzen Seidenzylinder und einen edlen Smoking. Er trat in die Mitte der Manege, verbeugte sich tief und ließ den Blick über die Zuschauertribüne schweifen. Erschrocken zog ich den Vorhang zurück als er nur für den Teil einer Sekunde direkt zu mir sah. Ich wusste nicht ob ich es mir nur eingebildet hatte, aber hatten seine Augen nicht für einen Moment auf mir geruht? Ich konnte ganz genau in sie hineinsehen, sie hatten die Farbe lodernder Flammen und durchbohrten meine Gedanken. Ich wagte erst wieder den roten Stoff beiseite zu schieben als die Menge plötzlich überrascht aufschrie und eine Sekunde später bedrückende Stille herschte. Das Licht in der Manege war noch weiter gedämpft worden und ich stellte erschrocken fest dass der Mann mit dem Zylinder verschwunden war. An seiner statt war die zweite Gestalt in die Mitte des Spektakels getreten. Und als einer der Scheinwerfer sich auf das Wesen richtete schlug mein Herz bis zum Hals und ich wusste nicht ob ich erstaunt oder verängstigt sein sollte.
Was dort erschienen war hatte weder das Aussehen eines Menschen noch das eines Tieres. Eine große Gestalt, die Arme und Beine mindestens so lang wie ich hoch war und so dünn wie Spinnenbeine und langen spitzen Fingern an den Händen von denen mir jeder vorkam wie ein langer, scharfer Dolch. Der Kopf war ein rundes, weißes Gebilde, fast in der Form eines rießigen, rundlichen Eies. Seine mittellange Pluderhose war rot und weiß Kariert, seine Schuhe lang und Spitz wie die eines Clowns. Mehr konnte ich nicht ausmachen, das Geschöpf stand mit dem Rücken zu mir. Und genau in dem Augenblick wo es sich zu mir umwandte wurde ich grob von hinten am Kragen gepackt und in die Dunkelheit gezerrt.
Panisch fing ich an zu zappeln und versuchte mich aus dem starken Griff zu befreien, doch die Finger schlossen sich nur fester um den Stoff meiner Jacke und ich stolperte rückwärts umher. Dann wurde ich herumgerissen und ich sah direkt in das Gesicht des Mannes mit dem Zylinder.
Und diesmal konnte ich spüren wie sein Blick mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Er sah nicht besonders wütend aus, doch seine Züge waren verhärtet und ich ahnte dass noch etwas schlimmes auf mich zukommen würde.
"Junger Mann, dir ist doch klar dass das hier kein Zuschauerraum ist?", fragte er kühl.
"Könnte ich bitte deine Eintrittskarte sehen? Soweit du so etwas besitzt?"
Ich schluckte. "Entschuldigen sie Sir, ich hatte kein Geld und-"
"Und du dachtest du könntest dir dein Vergnügen einfach ergaunern? Das wird wohl noch ein Nachspiel haben. Komm mit!" Der Herr schubste mich energisch voran irgendwo in die Dunkelheit. Ich konnte nicht genau sehen wo er mich hinbrachte, bis er plötzlich einen Vorhang beiseite schlug und mich in ein kleines, mit Kerzen beleuchtetes Zimmer brachte. Es enthielt eigentlich nichts als einen mehr als mannshohen Spiegel, eine große hölzerne Truhe und einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen. Der ganze Boden war über und über mit Heu ausgepolstert und ich fragte mich ob ein Zirkus immer solche wundersamen Zimmer hatte. Der Zylindermann bugsierte mich auf einen der Stühle und setzte sich auf den anderen. Danach legte er seinen Hut ab und sah mich mit einer leichten strenge im Blick an. Seine sehr schmalen Augen funkelten dabei seltsam. " Wie ich das vorhin verstanden habe hast du kein Geld. Dann wirst du den Schaden wohl durch eigene Leistung wieder beheben müssen."
Ich sah reuig gen Boden und nickte. Eine kurze Pause trat ein in der wir beide Schweigsam auf unseren Plätzen verharrten. "Wie lautet dein Name, junger Mann?", fragte mein Gegenüber plötzlich und ich musste unweigerlich zu ihm und in seine stechenden Augen aufsehen. "Mein Name...mein Name ist Tom."
"Was hast du dir dabei gedacht Tom?"
"Ich wollte die Freiheit genießen"
Der stechende Blick wurde fragend, doch noch bevor er mich beten konnte diese Aussage weiter zu erläutern trat eine andere Person ein. " Mephisto! Zum Teufel wo bleibst du, die Vorstellung ist in vollem Gange!"
Ich erkannte den Mann mit den Lila Haaren und dem seltsamen Hut auf anhieb und freute mich ihn wieder zu sehen. Auch er schien mich noch nicht vergessen zu haben. "Hey Kleiner, was machst du denn hier?"
Der Zylindermann den er Mephisto genannt hatte, erhob sich schwungvoll und warf meinem seltsamen Bekannten und mir einen verwunderten Blick zu. "Du kennst ihn also? Ist er etwa ein Freund von dir, Balthasar?"
Der Angesprochene nahm seinen Hut ab und warf ihn achtlos in eine Ecke. "Nicht wirklich, ich habe ihn zu uns in dem Zirkus eingeladen weil ich dachte...naja du weißt sicher was ich meine." Er schenkte mir ein breites grinsen. Ich lächelte zurück, obwohl ich nicht wusste worauf er anspielte.
Vielleicht wurde Balthasar tatsächlich ein guter Freund von mir.
Mephisto jedoch wirkte auf mich eher verschlossen und im Moment noch nichtmal besonders Freundlich, obwohl ich spürte dass er sich die ganze Zeit über zurückzuhalten schien, ein normaler Erwachsener hätte bei der Sache mit den Eintrittskarten sicher nicht so locker reagiert wie er.
"Was soll ich wissen? Warum hast du den Jungen hierhergebracht?", fragte Mephisto nach. Sein Blick wirkte starr, so als ob er darauf wartete dass ihm Balthasar eine Hiobsbotschaft überbrachte. Balthasar deutete zur Tür. "Nicht hier. Draußen kann ich es besser erklären.", schlug er vor. Mephisto wandte sich zu mir um. "Wenn du uns einen Augenblick entschuldigen würdest..."

*

Nachdem die beiden Männer den kleinen Raum verlassen hatten sah ich mich noch ein wenig genauer um. Ich wollte so schnell wie möglich diese neue Welt erforschen die ich sonst nur aus Büchern und Zeitungen kannte, denn noch immer gab sie mir viele Rätsel auf. Die große Holztruhe die groß und schwer in einer der Ecken stand hatte es mir besonders angetan. Ich kniete mich vor sie und drückte den Deckel mit beiden Armen auf. Schnell stellte ich fest dass das alte Holz schwerer war als es aussah und so musste ich ordentlich dagegendhalten bis der Deckel endlich ganz nach hinten klappte. Ein modriger Geruch kam mir entgegen und eine große Staubwolke blies mir entgegen. Hustend und keuchend wandte ich mich ab und wartete noch einen Moment bis sich der Dreck wieder gelegt hatte. Dann beugte ich mich vorsichtig über den Rand der Truhe. In ihr befanden sich Bücher die aussahen als lägen sie schon Jahrzehnte darin und daneben war eine Schachtel mit kleinen Dosen und Pinseln. Auf den Etiketten stand etwas von Schminkfarbe und Puder und ich entschied mich sie wohl lieber nicht zu öffnen. Obwohl ich mir es mir recht lustig vorstellte einmal selbst als bunter lustiger Clown in einer Manege zu stehen und die Leute um mich herum zum lachen zu bringen. Schnell kramte ich noch ein wenig tiefer in der Kiste und bekam unter ein paar alten Stoffetzen noch etwas zu fassen. In Händen hielt ich eine Marionette aus altem Holz. Starr sahen mir zwei runde schwarze Löcher aus einem runden Gesicht entgegen die wohl die Augen dastellen sollten. Die Gliedmasen der Puppe wurden mit dicken schwarzen Fäden an den Körper gebunden und weiß-rot karierte Kleidung versteckte den Holzbau des schmalen Körpers. Uminös lächelte mir das Männlein entgegen und ich dachte für einen Moment die dunklen Augen würden mir entgegenfunkeln wie die eines gigantischen Insekts.
Eine plötzliche Bewegung die ich nur aus den Augenwinkeln erkennen konnte ließ mich herumwirbeln. Und mein Herz fing an zu rasen.
Vor mir stand das wundersame Wesen aus der Zirkusmanege und jetzt wo ich es in voller Lebendigkeit vor mir stehen sah jagte es mir furchtbare Angst ein. Es überagte mich um mindestens eineinhalb Meter. Jetzt konnte ich auch endlich das Gesicht erkennen und runzelte die Stirn. Diese schwarzen Augen kamen mir bekannt vor. Zwar lag das wahre Antlitz unter einer Menge Clownschminke und Farbe verborgen, aber ich konnte die Ähnlichkeit mit der Marionette in meiner Hand nicht verdrängen. Des Wesen legte den Kopf schief und sah mich starr an.
Ich musterte den Koloss noch einmal. Aus der Nähe betrachtet wirkte sein Körper fast noch skuriler und ich wunderte mich wie so dünne Arme und Beine den - zugegeben schmächtigen- Körper überhaupt tragen konnten. Plötzlich beugte sich das Wesen weit bis zu mir vor. Das aufgemalte Clownsgrinsen wirkte eher abschreckend und ich wich zurück als mein Gegenüber mit seinen dünnen, langen Fingern nach mir greifen wollte. Irritiert sah es mich an und machte erneut einen Schritt auf mich zu. Es bemerkte die Marionette in meiner Hand und fixierte abwechselnd diese und mich. Meine Angst löste sich in wohlgefallen auf. Scheinbar war dieses Wesen doch nicht so gefährlich wie ich es eingeschätzt hatte.
"Bist das du? Ich meine die Puppe?" Ich hielt sie ihm mit einer Hand entgegen.
"Wenn sie dir gehört gebe ich sie dir zurück."
Verwundert sah ich wie das Wesen vor dem Spielzeug zurückwich. Fast schon ängstlich duckte es sich ein wenig herab und sah mich aus den großen Käferaugen an.
"Du magst wohl Puppen nicht besonders. Naja, ich fände es auch gruselig wenn ich eine Marionette sehen würde die aussieht wie ich..."
Vorsichtig legte ich sie wieder zurück in die Holzkiste und verschloss den Deckel. Das Wesen verließ sofort seine unterwürfige Haltung und kam auf mich zu. Neugierig beeugte es mich von allen Seiten und seine dünnen Finger fuhren mir durchs Haar. Es war ein seltsames Gefühl, fast so wie die Beine einer Spinne die einem über den Kopf krabbelte.
"Oh, wie ich sehe mögt ihr euch."
Mephisto schlug den roten Samtvorhang zur Seite und betrat den Raum, wennauch ohne Balthasar. Ich fragte mich was die beiden wohl zu besprechen hatten.
"Was ist das denn für ein...Ding?" Ich deutete auf meinen scheinbar neu gewonnen Freund, der interresiert an meinen wirren Haaren herumzupfte. "Das ist doch kein Tier oder?"
Mephisto schüttelte den Kopf. "Nein, er ist weder Tier noch Mensch, doch besitzt er sehr wohl eine menschliche Seele.", fügte Mephisto hinzu.
"Aber bevor ich dir ein wenig mehr über diesen Zirkus erzähle habe ich noch ein paar Fragen an dich."
Überascht hob ich eine Augenbraue. "Komm, wir setzen uns.", schlug Mephisto vor und wir nahmen erneut am Tisch platz.
*

"Ich bin ein Waisenkind. Meine Eltern habe ich nie kennengelernt. Ich habe bis jetzt im Waisenhaus gelebt, aber es war immer mein Wille auch mal die Welt dort draußen zu sehen. Deswegen bin ich hier und ich bin froh das mir Balthasar geholfen hat."
Mephisto nickte als Zeichen dafür das er verstanden hatte. "Du hast dir also deinen größten Wunsch bereits erfüllt. Bist du Zufrieden mit dem Ergebnis?"
"Naja...ich weiß noch nicht so genau. Dafür bin ich einfach noch nicht lang genug hier." Verlegen sah ich zu Boden. "Ich will meine Freiheit doch zu schätzen wissen. "
"Wie sieht es mit Familie aus? Hättest du gerne Eltern?"
Ich runzelte die Stirn und blickte Mephisto tief in die wie Glut glimmenden schmalen Augen. Warum fragte er mich danach?
"Jaaa...es wäre sicher toll nicht mehr so allein zu sein...ich meine im Waisenhaus ist man nie allein. Aber es ist auch nie wirklich jemand da. Es ist seltsam, ich kann es nicht beschreiben."
Erneut nickte mein Gegenüber.
"Aber entschuldigen sie Sir...könnte ich sie vielleicht auch etwas fragen?"
Mephisto sah mich ein wenig überascht an und bedeutete mir mit einer Handbewegung dass ich fortfahren sollte.
"Warum wollen sie das alles von mir wissen?", fragte ich und sah wie Mephisto noch wärend ich sprach ein geheimnisvolles Lächeln aufsetzte.
Er lehnte sich auf seinem Stuhl noch ein wenig zurück und schien einen Moment zu überlegen was er antworten sollte. Wärenddessen kam das Wesen von vorhin aus einer der dunklen Ecken und setzte sich wie ein Schoßhündchen neben Mephisto auf den Boden und sah ihn auf eine Art an die ich nicht deuten konnte. Ich fand es gab ein skurriles Bild ab.
Dann hatte Mephisto endlich die richtigen Worte gefunden. "Ich werde dir ein kleines Geheimnis verraten, Tom. Aber ich muss darauf vertrauen dass du es für dich behälst."
Ich nickte und spizte neugierig die Ohren.
"Ich und Balthasar...wir gehören auch nicht hierher. Wir sind keine Menschen."
"Was?Was denn dann?"
Mephistos Lächeln wurde noch geheimnisvoller.
"Hast du schonmal etwas von 'Wunscherfüllern' gehört?"
Ich verneinte mit einem Kopfschütteln.
"Dann will ich es dir erklären.", meinte Mephisto und räusperte sich nocheinmal bevor er fortfuhr. Wärend er erzählte fuhr er dem Wesen zu seinen Füßen mit der Hand streichelnd über das Gesicht wie einem Haustier und es schien ihm zu gefallen, denn es schlang die langen dünnen Finger um die Hand seines Wohltäters.
"Wunscherfüller sind Ausgewählte Kreaturen aus allen Schichten der Existenz. Menschen, Tiere, Dämonen oder himmlische Wesen. Mit der Auswahl zum Wunscherfüller kommen übermenschliche Fähigkeiten hinzu die jeden dieser Art zu etwas absolut Einzigartigen machen."
Ungläubig starrend begriff ich was mir Mephisto sagen wollte. "Du und Balthasar, ihr seid solche Wunscherfüller?"
Mein Gegenüber nickte."Oja, aber wie gesagt...es wäre gut wenn niemand davon erfahren würde." Er legte den Zeigefinger auf seine schmalen Lippen und fuhr danach fort.
"Unsere Aufgabe besteht einzig darin den Menschen ihre Wünsche zu erfüllen, und davon gibt es reichlich. Allerdings gibt es unumstößliche Gesetze die wir zu befolgen haben. Zum Beispiel ist es verboten Wünsche zu erfüllen die das Leid anderer zur Folge haben, beispielsweise solch närrische Wünsche wie Krieg oder Waffen. Noch dazu liegt das weit unter meinem Niveau...Auch materielle Güter sind nicht erlaubt, Geld oder dergleichen."
Mephisto machte eine kleine Redepause und sah mit Entzücken dass ich zutiefst beeindruckt und mit offenen Mund dasaß. Ich hatte schon Geschichten gelesen mit Flaschengeistern und Feen die einem drei Wünsche auf einmal erfüllen konnten und hatte nie geahnt dass es so etwas tatsächlich gab. Und ich saß so jemanden gegenüber!
"Du könntest jedem einen Wunsch erfüllen?"
"Jedem."
"Zum Beispiel auch..."
"Ja auch dir."
"Bin ich deswegen hier?"
Mephisto beugte sich zu mir vor so das sein Gesicht ganz nah an meinem war und ich seinen Atem auf der Haut spüren konnte. Er war warm und duftete angenehm.
"Hast du denn einen Wunsch?",fragte er flüsternd .
Es dauerte ein wenig bis der Gedanke in mir Gestalt angenommen hatte, doch dann begriff ich dass Mephisto diese Frage tatsächlich ernst gemeint hatte.
"Ich...ich weiß nicht genau...",murmelte ich zögerlich.
"Du brauchst mir jetzt noch keine Antwort zu geben, mein Angebot steht dir noch etwas länger zu verfügung. Aber wähle weise, denn du hast nur einen Wunsch und du wirst ihn nichtmehr rückgängig machen können sobald er erfüllt wurde."
Mephisto erhob sich und ging zum Vorhang der die Tür zu diesem Raum verbarg.
"Ich wünsche dir noch eine angenehme Nacht.", sagte er und lies mich auf dem Stuhl zurück, mit dem seltsamen Wesen und einem Kopf voller Fragen.
*

"Na, gut geschlafen?" Balthasar sah mich mit seinem scheinbar unerschütterbaren Grinsen an als ich ein wenig schlaftrunkend und unordentlich am nächsten Morgen in die Manege trat. Ich hatte überaschend gut im Stroh geschlafen, der gestrige Tag war wohl anstrengender gewesen als ich ihn in Erinnerung hatte.
Ich antwortete Balthasar nur mit einem Nicken.
"Na dann wird es Zeit dass wir dir ein paar Tricks beibringen.",meinte Balthasar und zog mich stürmisch am Arm zu sich heran."Schließlich bist du jetzt Teil dieser Show."
Verwirrt sah ich zu ihm hoch. "Wie bitte? Aber ich kann doch sowas garnicht!"
Er schien mir nicht zuzuhören.
"Wir könnten dich als Clown angagieren...oder auf dem Hochseil? Vielleicht ein Assistenten für die Messernummer..."
Ich schluckte schwer und ahnte dass dieser Tag nicht ganz einfach werden würde.
"Hör auf ihm Angst zu machen Balthasar!"Mephisto betrat die Manege und durchquerte sie mit stolzierenden Schritten. "Ich habe andere Aufgaben für ihn."
Murrend ließ Balthasar mich los. "Schade, das hätte lustig werden können...aber bitte, wie du willst, du bist der Boss."
Beruihgt dass ich heute doch nicht allzusehr gequält werden würde ging ich zu Mephisto der mich heranwinkte. "Balthasar spaßt gerne herum, nimm es ihn nicht übel. Er weiß nicht wie man Menschen umgeht..."
"...aber bei Mephisto könnte man fast meinen er wäre selber einer.", murmelte Balthasar in einem herablassenden Ton. Die roten Augen seines Gegenüber sahen ihn bedrohlich funkelnd an. Schnell legte ich mir eine Frage zurecht die ich in den Raum werfen konnte damit die Situation sich beruihgte. "Was soll ich denn jetzt für sie tun Sir?"
"Oh, ich glaube die Arbeit wird dir gefallen. Du wirst dich ab heute um Khibli kümmern."
"Khi..Khibli? Wer oder was ist das?"
Mephisto lächelte wieder auf seine geheimnisvolle Weise. "Du hast ihm bereits kennengelernt. Komm rein, Khibli!"
Und in die Manege trat das Wesen mit dem seltsamen Aussehen. Meine Augen wurden groß. "Ich soll mich um...das kümmern?"
"Keine Sorge, Khibli hat noch nie jemanden etwas getan. Er hat mehr Angst vor dir als du vor ihm haben solltest."
Khibli trat vor mich und beugte sich zu mir herunter. Ich konnte wieder in die großen schwarzen Augen sehen und trotz Mephistos Bemühungen wurde mir immer noch mulmig in Gegenwart dieser Gestalt. "Khibli, das ist Tom. Er wird sich ab heute ein wenig um dich kümmern.", erklärte Mephisto und Khibli legte seinen runden Kopf schief und betrachtete mich eindringlich, so wie er es gestern schon getan hatte. "Er wird mit dir spielen und dir bei deinen Tricks zusehen."
Ich hatte zwar noch keine Ahung was für Spiele das sein würden, aber ich nickte eifrig. Khibli schien interesiert an dem Vorschlag und schlang seine Finger um einen meiner dünnen Arme und sah mich erwartungsvoll an.
"Aber bevor du damit anfängst Tom werde ich dir noch eine ganze Menge erklären und zeigen müssen. Nimm Platz."
*

"Um ein Publikum zu fesseln bedarf es nicht nur einem besonders guten Trick, nein, nein, nein. Man muss ihnen bieten was sie außerhalb dieses Zirkus nie erfahren werden - das Unglaubliche, das Fantastische, so zum greifen nah dass sie es nie vergessen werden.", erklärte Mephisto und schritt durch die Manege wärend sein Blick über die Zuschauertribüne glitt auf der nun nur ich und Khibli platz genommen hatten. Balthasar saß in der Mitte der Manege auf einem Trapez und starrte scheinbar gelangweilt in der Gegend herum.
"Doch selbst das reicht noch nicht, noch lange nicht. In einem Theater oder in einem Zirkus wird man nie Beifall und Anerkennung bekommen wenn man sich nicht ins rechte Licht setzt." Mephisto schnippste mit dem Finger und mit einem Schlag wurde es dunkel im Zelt. Ein einziges Scheinwerferlicht richtete sich auf den Zylindermann und folgte ihm bei seinem Rundgang durch die Manege. "Manche halten das alles hier nur für Albernheiten, Tricks und Illusionen, unbedeutend und ohne jeglichen Sinn, aber ich sage dir: Das alles ist falsch. Für manche ist es keine einfache Kunst, für manche ist es wie Luft zum Atmen, das pure Leben. Und jede Show gibt dir die Chance dein Leben zu gestalten wie DU es willst. Einzig allein du bestimmst was du dem Publikum preisgibst oder nicht."Mephisto stoppte und sah zu mir hoch auf die Tribüne.
"Stehst du am Rande der Manege oder im Rampenlicht?
Versteckst du dich vor Fremden Blicken oder stellst du dich ihnen?
Bist du nur ein falscher,geschminkter Clown oder der Raubtierdompteur?
Verbirgst du dein "Ich" hinter einer falschen Maske oder bändigst du alle Ängste und Gefahren?
Je nachdem ob du den Menschen dich zeigst wie sie dich haben wollen oder wie du bist wird man dir aplaudieren oder dir Missgunst entgegenbringen" Mephisto machte eine kurze Pause und starrte mit einem seltsam wehmütigen Blick auf einen leeren Platz genau vor sich
"bis der Vorhang fällt."
*

Wärend das Licht wieder langsam stärker wurde wandte uns Mephisto den Rücken zu. Mich hatte ein seltsames Gefühl ergriffen als er sprach, das Leben mit einer einzigen Show verglich. Es war skurril, aber vieles was er gesagt hatte enthielt eine Wahrheit. Plötzlich drehte er sich wieder zu uns herum und jeglicher Unmut der wärend seiner Erklärung in seiner Stimme zu hören war schien wie weggeblasen. "Aber jetzt genug der grauen Theorie! Ich sprach von dem fantastischen und unglaublichen, so werde ich es euch vorführen."Mephisto verbeugte sich elegant und ging zu Balthasar. Dieser saß nun kerzengerade auf dem Trapez und schien auf etwas zu warten. Der Zylinderträger zog ein Tuch hinter sich hervor.
"Was ich hier in Händen halte ist nichts als ein normales Tuch, gerade groß genug um darin vielleicht eine Taube zu verstecken..."
Und ich staunte nicht schlecht als plötzlich einer dieser weißen Vögel aus dem Tuch hervorkam und neben einen kleinen Freiflug im Zelt neben mir auf Khiblis Kopf landete der sich davon nicht weiter stören ließ.
"Laaangweilig", meldete sich Balthasars Stimme aus dem Abseits. "Komm lass uns meine Nummer vorführen, die hat einiges mehr an Pepp als deine Kartenspielertricks!"
Mephisto verdrehte die Augen und warf ihm einen strafenden Blick zu bevor er weitermachte.
"Und nun werde ich meinen geschickten - wenn auch uncharmanten - Partner nur mit Hilfe dieses Gegenstandes auf wundersame Weise verschwinden lassen!"
Gebannt sah ich wie Mephisto das Tuch knapp über den Kopf seines Partners fallen ließ und es sich langsam über sein Gesicht legte. Merkwürdigerweise glitt das Tuch weiter, über die Schultern, den Rücken, die Beine bis alles von Balthasar auf wundersame Art verschwunden war. Der Stoff allerdings hatte seine Größe beibehalten und Mephisto faltete ihn sorgsam zusammen.
Ich klatschte begeistert. "Das war toll! Und, kannst du ihn auch wieder auftauchen lassen?"
Mepisto lachte bei der Frage."Aber natürlich. Ansonsten würde er dass doch nicht mitmachen oder?Aber ich muss euch warnen...er könnte sich ein klein wenig verändert haben." Wieder dieses geheimnisvolle Lächeln.
Mephisto nahm das Tuch und mit einem kräftigen Ruck faltete es sich auseinander. War es vorher nur ein kleines, weißes Quadrat gewesen entfaltete es sich nun zu einem großen Rechteck unter das selbst ich mich hätte verstecken können. In ihm bildete sich eine Silhouette einer Gestalt mit einer unmenschlichen Form. Erst als das Tuch sanft zu Boden geschwebt war konnte ich sie besser erkennen und hielt den Atem an.
Es kam mir vor wie ein monströses Raubtier, eine Mischung aus einem Tiger und einem Löwen mit rießigen Tatzen und großen Ohren. Es schüttelte seine buschige Mähne wärend es fauchte und knurrte. Das skurrilste an diesem Wesen war wohl das sein Fell eine violette Tönung hatte,immer wieder durchsetzt mit dunkleren und schwarzen Streifen was allerdings dem gefährlichen Aussehen keinen Abbruch tat. Mephisto schien eher unbeeindruckt.
Die dunkelblauen, schimmernden Katzenaugen der Raubkatze fixierten ihn mit einem gefährlichen Leuchten und der lange Schweif peitschte unruihg über den Boden. Ein bedrohliches Knurren entdrang seiner Kehle und ich fürchtete für einen Moment der vermeintliche Balthasar würde seinen Partner angreifen. Doch dieser blieb gelassen und zog eine rote Kugel aus seiner Anzugtasche. "Was hier so gefährlich vor mir steht, mit großen Krallen und einen ansehlichen Gebiss(genau in diesem Moment überfiel Balthasar das bedürfnis zu gähnen und ich konnte seine blitzenden scharfen Zähne begutachten) mag auf dem ersten Moment aussehen wie ein brutales wildes Tier, bereit Fleisch zu reissen und blutigen Jagten nachzugehen...allerdings kommt dies - wie so oft - auf den Standpunkt des Betrachters an."
Mit einem geschickten Wurf landete die rote Kugel genau auf Balthasars Kopf der sie geschickt belancierte. In diesem Moment sah er eher aus wie eine dressierte Hauskatze als ein furchterregendes Raubtier, so wie Mephisto es gesagt hatte. Nun klatschte auch Khibli begeistert in die großen Hände und auch ich konnte mich nicht zurückhalten. Balthasar verwandelte sich zurück und nahm sich die Kugel vom Kopf wobei er seinen Partner mit tödlichen Blicken konfrontierte. "Das mit der Kugel hättest du lassen können, das war höchstens lächerlich aber nicht unterhaltsam!"
"Für dich vielleicht nicht",lachte Mephisto. "Ich zum Beispiel habe mich bei dem Anblick köstlich amüsiert, mittlerweile müsstest du mich doch kennen Partner." Das letzte Wort betonte er mit besonderer Freude.
"Aber jetzt wird es wohl Zeit Tom und Khibli das Feld zu überlassen."
Mit gemischten Gefühlen nahm ich Khiblis große Hand und führte ihn in die Mitte des Zelts.
"Keine Angst, er beißt nicht.",sagte Balthasar.
"Aber wie sagt man so schön, es gibt für alles ein erstes Mal!"
Mit einem amüsierten Lächeln auf den Lippen verschwanden beide und liesen mich mit meinem neuen Freund zurück.
*

Ich wusste immer noch nicht wer oder was Khibli eigentlich war, aber langsam fasste ich vertrauen zu ihm. Zwar sagte er nie ein Wort, ja ich zweifelte daran dass er überhaupt sprechen konnte, aber er konnte mir mittlerweile mit Blicken und Gesten klarmachen was er wollte. Mit scheinbar unerschöpflicher Ausdauer führte er mir ein paar Nummern vor die ich noch nichtmal von den größten Artisten oder Verrenkungskünstlern erwartet hätte. Khiblis dünner Körper konnte sich verdrehen und verknoten, verbiegen und verrenken dass es schon fast beim zusehen wehtat und ich meine Knochen unangenehm schmerzen spüren konnte. Zu meiner Freude musste ich an keinen seiner Tricks mitwirken und konnte fasziniert beobachten was dieses Wesen alles konnte. Das geschminkte Clownsgesicht auf dem weißen, glatten Kopf sah mich immer wieder mit dem aufgemalten Grinsen an und ich konnte nur erahnen wenn Khibli sich über meinen Applaus freute.
Als er am Ende seiner Show war ließ sich Khibli neben mir auf den Boden der Manege sinken. Dieser war mit Sand bedeckt auf dem ich mich bereits so bequem wie es ging niedergelegt hatte. Khibli rollte sich dicht an mich gedrängt zusammen wie ein Schoßhund an sein Herrchen. Er hatte schnell zu mir vertrauen gefasst und das freute mich.
"Du hast heute viele tolle Sachen gemacht Khibli. Ich würde sowas auch gerne können."
Khibli hob den Kopf und die dunklen Augen fixierten mich als hätte ich etwas falsches gesagt. Erschrocken blickte ich zur Seite und schwieg wieder. Für einen Moment spürte ich wie mich sein Blick fast durchbohrte. Dann hörte ich wie er anfing im Sand zu schaben. Mit einem seiner langen Finger fing er an etwas in leidlich leserlicher Schrift in den Sand zu schreiben.
"KHIBLI WILL DAS NICHTMEHR"
Ich runzelte die Stirn. "Was willst du nichtmehr?"
"KHIBLI WILL NICHT DASS SIE IHN SO ANKUCKEN"
Ich sah meinen Freund fragend an und er versuchte sich mit undeutlichen Gesten noch besser auszudrücken. Sein plötzlich so unendlich trauriger Blick glitt über die Zuschauertribüne und ich verstand was er meinte.
"Du meinst die Zuschauer? Wieso, wie sehen sie dich denn an?"
Khibli schrieb mit großen, krakligen Lettern einzelne Wörter in den Sand.
"ANGST
ABSCHEU
HASS"
Erschrocken griff ich nach Khiblis Händen um ihn zu bedeuten dass er aufhören sollte. "Die hassen dich doch nicht! Angst brauchen sie auch nicht haben! Und Abscheu...Menschen sind verschieden, mache werden dich mögen, andere dich schief ankucken, so ist das nunmal."
Ich befürchtete das Khibli mich nicht verstand, denn er sah sich hilflos um. Sanft zog er seine Hand unter meiner hervor und schrieb.
"KHIBLI IST WIE ER IST
ANDERS
UND DAS GANZ ALLEIN
KHIBLI IST EINSAM"
ich hatte nicht geahnt das Khibli so bedrückt war, und jetzt wo ich es wusste war es unheimlich und erschreckend. Ich hatte doch gesehen mit welcher Freude er mir seine Nummern zeigte, wie sehr er sich freute wenn ich ihm applaudierte. Aber ich konnte mir denken woher sein Unmut kam. Es stimmte, Menschen verurteilten das anders sein, und Khibli war auf viele Weisen anders, nicht nur wegen seines Aussehens. Ich wettete viel Besucher kamen nur um dieses furchterregende, skurrile Wesen zu sehen, weder Mensch noch Tier, eher eine Marionette an deren Fäden ein gnadenloser ruheloser Puppenspieler zog und sie selbst nach der Vorstellung noch zum Leben zwang.
Eine Marionette...ich erinnerte mich an die aus der Holzkiste die Khibli so ähnlich sah, und die Schminke. Und dann kam mir noch ein Satz von Mephisto in den Sinn.
"Bist du nur ein falscher,geschminkter Clown...?"
"KHIBLI WÜNSCHTE ER WÄRE NICHT MEHR ALLEIN"
Seine Finger zitternden wärend er das letzte Wort schrieb und kurz darauf schlossen sich seine großen, schwarzen Augen und er fiel dem Schlaf zum Opfer. Das hier musste ihn mehr Kraft gekostet haben als alle Showeinlagen bisher.
"Dieser Anblick ist traurig, nicht wahr?" Ich drehte mich um und sah das Mephisto die Manege betreten hatte.
"Bitte Sir...können sie Khibli nicht helfen? Sie sind doch Wunscherfüller?", fragte ich flehend.
Er schüttelte den Kopf und seufzte. "Ich kann ihm keinen Wunsch erfüllen. Er ist kein Mensch."
Ich betrachtete den schlafenden Khibli, seine dünnen Glieder und seine spinnenbeinartigen Finger die immer wieder leicht zuckten und ich überlegte ob er wohl träumte.
"Aber wenn er nicht das ist...und auch kein Tier...was ist er dann?"
"Er ist eine Puppe."
"Wie bitte?" Ungläubig sah ich Mephisto an. "Aber wie kann eine Puppe so groß werden? Und leben? Und überhaupt habe ich noch keine Puppe erlebt die sich einsam fühlt!"
"Du weißt vieles nicht Tom. Genauso wie der Rest der Menschen die sich Tag für Tag an Khibli erfreuen." Mephisto sah zur Decke des Zirkuszelts die über ihnen lag wie ein dunkelroter Nachthimmel.
"Puppen besitzen auch so etwas wie eine Seele. Nur hat sie weder die Kraft noch das Wissen um das Wunder des Lebens zu entfesseln. Ich weiß selber nicht wie Khibli es geschafft hat zu erwachen, aber er hat es geschafft. Ich habe ihn in diesen verwahrlosten Zirkus gefunden als ich hier ankam auf der Suche nach einem neuen Wunsch und war fasziniert von ihm und seinen Fähigkeiten, also beschloss ich mich eine Weile um ihn zu kümmern und habe mich als der Zirkusdirektor ausgegeben. Khiblis Vorbesitzer muss etwas passiert sein was ihn wohl daran hindert dass er sich weiter um ihn kümmern kann."
"Aber warum hören sie dann nicht auf ihn auftreten zu lassen und nehmen ihn mit auf ihrer Wunschsuche? Dann würde es Khibli bestimmt besser gehen!",beteuerte ich Mephisto, doch er schüttelte langsam den Kopf.
Das leuchten in den roten Augen trübte sich.
"Wenn er nicht weitermacht wird er irgendwann aufhören zu Leben. Er braucht die Menschen und ihre Gefühle um zu existieren, ansonsten wäre er irgendwann wirklich nur noch eine Puppe, auch wenn es ihn schmerzt. Und auch ich werde gehen müssen, meine Reise führt mich an Orte die nur gefährlich für ihn wären. Ich kann nichtmehr tun als ihm mit Schminke ein Gesicht zu geben und ihm zu sagen dass er nicht alleine ist, dort in der Manege. Aber wenn ich irgendwann weggehe...befürchte ich wird er irgendwann in den Spiegel sehen und bemerken dass er nichts ist als eine Puppe und eben wieder zu einer solchen werden.
Stumm.
Starr.
Aber mit den schmerzlichen Erinnerungen an die Erfahrung zu Leben und zu denken, mit all den Schattenseiten, und wie ein Mensch wird er daran kaputtgehen."
Ich stand abprubt auf und ging auf Mephisto zu, meine Stimme und meine zu Fäusten geballten Hände bebten vor Wut über seine Worte. "Es muss doch noch einen anderen Weg geben! Wenn Khibli es geschafft hat zu leben, dann wird er es auch mit deiner Hilfe schaffen zu akzeptieren!",schrie ich ihm entgegen. "Sonst war dieses Wunder doch völlig umsonst!"
Mephisto sah mich schweigend an, mit einem sanften, verständnisvollen Blick.
"Wenn ich ein Wunscherfüller wäre",begann ich und holte für den nächsten Teil des Satzes viel Luft um ihn mit all meiner vorhandenen Entschlossenheit auszusprechen.
"dann würde ich die Regeln vergessen und ihm seinen Wunsch erfüllen! Egal was es kostet!"
Mephistos Blick verlor seine Trübheit und seine roten Augen glitzerten plötzlich auf als hätte ihn ein Gedanke erfasst.
"Egal was es kostet?"
"Egal was!"
Mein Gegenüber sah mir fest in die Augen.
"Dann komm morgen zu mir und nenne mir dein Opfer. "
*

Die Nacht war kurz gewesen, zu kurz für meinen Geschmack. Ich war in Ghiblis Klammergriff aufgewacht, irgendwo im Sand der Manege. Die ganze Nacht hatte ich überlegt was mir eine Freundschaft wert sein würde, und als antwort kam mir eignetlich nur eines in Frage.
Alles
Ein Freund war mir alles wert, wie auch immer er aussah, was auch immer er war. Ich kannte Khibli erst eine kurze Zeit, aber wenn er traurig war wurde ich es auch. Und wenn er wieder allein sein würde würde er sterben. Das konnte ich nicht zulassen!
"Hey Träumer!" Balthasars Stimme drang klar durch meine dichten Gedanken hindurch.
Er beugte sich über mich und grinste auf mich herab. "Mephisto will dich sprechen, er meinte du wüsstest schon worum es geht."
Ich stand auf und klopfte mir den Sand von den Kleidern.
"Und Khibli soll auch mitkommen." ,fügte Balthasar noch hinzu.
Sanft stupste ich Khibli am Kopf an. Langsam öffnete er seine Augen und sah mich verwirrt an. Ich zog ihm am Arm und bedeutete ihm mir zu folgen.
Mephisto stand vor dem übergroßen Spiegel als wir in das kleine Zimmer eintraten in dem ich und Khibli uns kennengelernt hatten.
Er warf mir nur einen stummen Seitenblick zu.
"Hier sind wir.",sagte ich."Und ich bin bereit jeden Preis-"
"Nicht so schnell.",unterbrach mich Mephisto mit seiner ruihgen Stimme."Wie sieht es mit deinem Wunsch aus?"
Ich sah Mephisto verwirrt an. "Ich weiß nicht...ich meine ich habe doch noch Zeit...oder etwa nicht?"
Mephisto sah wieder in den Spiegel.
"Du musst dir doch schon Gedanken gemacht haben. Schließlich bekommt man so eine Chance nur einmal im Leben."
Ich überlegte. Es gab tatsächlich etwas was ich mir wünschte.
Ich wünschte mir eine Familie, Eltern die mit mir überall hinfuhren, mit denen ich die Welt entdecken konnte die ich sonst nur durch das Zaungitter erahnen konnte. Sie würden mir Liebe und Geborgenheit geben und ich wäre nicht mehr alleine.
Ich war kurz davor meinen Wunsch auszusprechen, da umfasste Khiblis Hand meinen Arm. Er sah mich mit einem Blick an den ich vorher noch nie bei ihm gesehen hatte. Es war als wollte er sagen:"Sprich deinen Wunsch aus. Ich werde dich nicht daran hindern, schließlich wirst du dann Glücklich."
Es lag kein Vorwurf in diesem Blick, nicht das leiseste Flehen dass ich bleiben sollte. Dieser Anblick brach mir fast das Herz und ich beschloss meine Pläne zu ändern.
"Ich habe mich entschieden." Mephisto bat mich mit einer Gester fortzufahren nachdem sein Blick wieder auf mir ruhte.
Ich musste tief Luft holen bevor ich ihn aussprach.
"Mach mich zu einer Puppe."
Mephisto und Khibli sahen mich gleichermasen erstaunt an.
Das unangenehme Schweigen machte mich nervös.
"Ich habe gesagt ich will eine Puppe sein. Mach mich zu einer Puppe wie Khibli eine ist! Eine lebendige Puppe!"
Khibli konnte nicht umhin sich zu mir nach unten zu beugen und heftig den Kopf zu schütteln.
"Nein Khibli, ich habe mich entschieden! Es ist mein Wunsch und ich kann damit anfangen was ich will!",sagte ich entschieden.
"Du weißt hoffentlich worauf du dich da einlässt.", murmelte Mephisto. "Du wirst wie Khibli an die Menschen um dich herum gebunden sein und wirst Ablehnung erfahren, denn dann wirst du kein Mensch mehr sein."
Ich nickte heftig und sah Khibli fest in die Augen.
"Dann bist du wenigstens nichtmehr alleine! Dann stehen wir das zusammen durch, werden zusammen auftreten und wir werden dabei jede Menge Spaß haben!"
Fast schon gerührt wirkte Khiblis Blick und ich dachte mir wäre er keine Puppe würde er sicher weinen. Seine dünnen Arme schlossen sich um mich und hielten mich fest.
Vielleicht war das die Geborgenheit die ich gesucht hatte.
Ja, ab jetzt würde Khibli meine Familie sein.
"Nun denn...lasss uns deinen Wunsch erfüllen. Setz dich hierhin.", meinte Mephisto und deutete auf einen der Stühle. Wärend ich mich setzte, - Khibli wie ein Beschützer an meiner Seite - öffnete Mephisto die große Holzkiste und holte die Schminke hervor mit der er bereits meinem Freund ein Gesicht geschenkt hatte.
"Nichts wird so sein wie vorher.",sagte Mephisto nocheinmal eindringlich und sah mich ernst an.
Aber ich hatte mich entschieden.
"Ich werde es tun. Ich will mein Leben alleine bestimmen."
Mephisto lächelte leicht als er seine Worte aus meinen Mund hörte.
"Dann wünsche ich dir alles gute. Du bist ein mutiger Junge Tom."

Ab da an erinnere ich mich nur noch verschwommen an die Ereignisse. Wärend ich spürte wie Mephisto die Schminke auftrug bemerkte ich ein Kribbeln in meinem ganzen Körper. Es war nicht unangenehm oder gar schmerzhaft, nur seltsam. Und als die letzte Farbe auf meinem Gesicht getrocknet war betrachtete ich stolz mein neues Ich in dem mannshohen Spiegel. Nun war ich eine Puppe, wie Khibli. Es war ein großer Schritt gewesen, und vielleicht würde ich ihn irgendwann bereuen, aber jetzt solange ich und Khibli nichtmehr alleine waren genossen wir unser Leben. Als Mephisto und Balthasar uns verließen war ich nicht traurig, sondern ich freute mich dass sich alles so gut gefügt hatte. Ich bedankte mich tausendmal bei dem Wunscherfüller.
"Werden wir uns wiedersehen Sir?",fragte ich."Sie müssen sich eine unserer Shows ansehen!"
Mephisto lachte."Aber natürlich. Aber jetzt müssen wir gehen."
"Bleib sauber Kleiner!",meinte Balthasar und gab mir einen leichten Klaps auf die Schulter.
Die beiden stiegen in eine schwarze Kutsche die genau vor dem Zirkus gehalten hatten und verschwanden als sie die lange Straße entlangfuhren, vorbei an dem Waisenhaus an dem alles seinen Anfang genommen hatte.
Ich und Khibli hingegen betraten das Zelt. Wir standen in der Dunkelheit und hörten wie die Zirkusmusik langsam leiser wurde, ein Zeichen dass der Auftritt bald begann.
"Wir schaffen das Khibli.",versprach ich mit fester Stimme."Wir sind doch Freunde, und Freunde überstehen alles!"
Dann erhob sich der Vorhang zu einer neuen Aufführung und wir würden im Mittelpunkt der Scheinwerfer stehen, und es der ganzen Welt zeigen...
...denn wir werden Stolz auf uns sein...
...wir werden zusammenhalt...
...in allen Zeiten die auf uns Zukommen...
...bis der Vorhang fällt.

*

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 16.04.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
~Gewidmet allen die mir das Leben verderben und allen die es anschließend wieder schön machen~

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