Cover

Es begann mit einem Keks und endete beim Kaffee

Seit ich zwanzig Jahre alt bin, gehe ich jeden Tag in das gleiche Café. Es ist nie besonders voll, laut oder stickig. Es ist relativ klein, sehr unauffällig, aber irgendwie trotzdem gut genug besucht. Ich liebe dieses Café. Würde es irgendwann schließen, dann würde ein Teil meines Herzens sterben. Lächelnd sitze ich auf meinem Stuhl neben dem Fenster und beobachte das hektische Treiben der Leute auf der Straße. Noch ein Vorteil. Hier drinnen scheint die Zeit immer unwichtig zu werden. Man interessiert sich nicht mehr für seine Sorgen oder seine Erledigungen. Man sitzt einfach da und genießt ein Stück Kuchen oder seinen Kaffee. Die Bedienung kommt zu mir an den Tisch und bringt mir meinen Cappuccino. Ich denke man könnte sagen, dass ich von dem Getränk abhängig bin. „Möchten Sie vielleicht auch ein Stück unserer neusten Tortenkreation probieren?“ Ich lächele ihr entgegen und nicke. „Warum nicht?“ Nichts und niemand scheint diesen perfekten Moment in meinem kleinen Café zerstören zu können.

Einen Augenblick später klingelt die kleine Glocke an der Eingangstür. Ich sehe auf und bemerke einen Mann, den ich hier zuvor noch nie gesehen habe. Wir leben in einer Kleinstadt und so jemand wie er, würde sehr schnell auffallen. Er ist groß gewachsen, gut gebaut und sieht mehr als nur griesgrämig aus. Vermutlich jemand, von dem man sich fernhalten sollte. Er setzt sich in eine Ecke des Cafés. Eher versteckt, ohne Interesse an seiner Umgebung oder dem Leben draußen auf der Straße. Das genaue Gegenteil von mir. Die Bedienung bringt mir das Stück der neuen Torte und ich betrachte sie eingehend, ehe ich von meinem Cappuccino und der Torte ein Foto mit meinem Handy mache. Das ist mein übliches Ritual. Ich weiß auch nicht genau, warum ich damals damit angefangen habe, aber bisher habe ich nicht damit aufgehört. Lächelnd nehme ich eine Gabel und bin erstaunt. Die Torte schmeckt wirklich richtig gut! Nicht, dass ich hier jemals schlechten Kuchen gegessen hätte. Aber so etwas Gutes bekommt man wirklich nicht alle Tage. Ich trinke meinen Cappuccino und fühle mich heute besonders wohl, bis ich plötzlich von dem grummelnden Mann gestört werde. Ich blicke auf und sehe der Unterhaltung des Mannes mit der Kellnerin zu. Er scheint einen Keks zu seinem Kaffee zu verlangen, den es scheinbar derzeit nicht mehr gibt. Diese kleinen leckeren runden. Amarettini glaube ich. Ich blicke auf meine Untertasse. Dann wieder rüber zu der Kellnerin und dem Mann. Die Kellnerin versucht weiterhin vergeblich zu erläutern, dass die Kekse derzeit ausgegangen sind, aber das scheint den Mann alles andere als zu interessieren. Genervt schüttele ich den Kopf. Na wenn ihm der Keks so wichtig ist… Ich stehe auf, greife nach meinem Amarettini und gehe auf ihn zu. „Bitte schön“, meine ich mit einem Lächeln und halte ihm meinen Keks hin. Er sieht auf meine Hand, dann in mein Gesicht. „Was soll das?“, fragt er dann nach. Die Kellnerin nimmt den Moment zur Flucht und verschwindet vorerst wieder hinter den Tresen. „Ihr Gespräch war nicht zu überhören. Sie wollen doch einen Amarettini, oder nicht? Ich brauche meinen nicht, also nehmen Sie ihn schon. Ich bestehe darauf.“ Lächelnd warte ich darauf, dass er mir das Gebäck abnimmt. Vorher werde ich bestimmt nicht weggehen. Der Mann murrt etwas vor sich hin, greift nach dem Keks und legt ihn sich auf die Untertasse. „Danke.“ Ich nicke nur und gehe zurück auf meinen Platz. Von dort aus beobachte ich, wie der Mann ein Buch herausholt und beginnt darin zu lesen. Ein Bücherwurm also? Interessant. Dennoch habe ich nicht vor, mich weiter mit ihm zu beschäftigen. Ich trinke meinen Cappuccino aus und esse die Torte, ehe ich bezahle und alles nach vorne an den Tresen bringe. „Danke, Timo“, richtet sich die Kellnerin an mich. „Immer gerne. Die Torte ist wirklich lecker, Susan! Ich frage mich immer wieder, wie Sie und Ihr Mann das nur so gut hinbekommen.“ Wir lachen beide ein wenig auf und nach einer kurzen Unterhaltung verabschiede ich mich. Der Mann sitzt noch immer vertieft in sein Buch in seiner Ecke. Kurz blickt er auf und mir direkt in die Augen. Mein Herz setzt eine Sekunde lang aus, dann bin ich aus dem Café verschwunden.

Am nächsten Tag sitze ich wieder zur gleichen Zeit am gleichen Tisch, mit der gleichen Bestellung, allerdings mit einer anderen Torte. Es ist wirklich zur Routine geworden, aber eine angenehme Routine und keine, welche einem irgendwann auf die Nerven geht. Ich finde es immer noch spannend, den Leuten draußen zuzuschauen und herauszufinden, welche Personen jeden Tag ebenfalls das gleiche machen und immer hier vorbeikommen. Zudem gibt es Personen, welche man wirklich nur einmal sieht und danach nie wieder.

Ich sehe nicht minder überrascht auf, als die Person von gestern zur gleichen Zeit das Café betritt und sich setzt. Er bestellt wieder einen schwarzen Kaffee, er liest wieder ein Buch, wieder in der Ecke. Vielleicht ist der Mann auch ein Gewohnheitstier? Er muss neu in der Stadt sein, da bin ich mir immer noch sicher. Ich stehe auf und greife nach meinem Keks. Lächelnd gehe ich zu ihm rüber und lege ihm den Amarettini auf den Teller. „Bitte schön.“ Mehr sage ich dazu nicht. Der Mann blick verwirrt auf. Dann nickt er leicht. „Ich habe schon einen Keks“, murmelt er dann mit einem Blick auf den zweiten Amarettini. Schulterzuckend sehe ich ihn an. „Ist das denn schlimm? Sie scheinen diese Kekse zu mögen, ich nicht so sehr. Also können Sie ihn gerne haben. Ist doch besser, als ihn wegzuwerfen.“ Ich kehre zurück an meinen Platz, etwas belustigt darüber, dass ich ihm meinen Keks geschenkt habe. Und belustigt über seinen verwirrten Blick. Heimlich schiele ich immer wieder zu ihm. Lächelnd muss ich feststellen, dass seine eiskalten blauen Augen anfangen zu leuchten, wenn er die Kekse isst. Er scheint sie wirklich zu lieben. Ich bleibe lieber weiterhin bei meinem Cappuccino. Mehr benötige ich eigentlich nicht.

 

Dieses Vorgehen wiederholt sich einige Wochen, jeden Tag. Bis auf dem Wochenende. Als er das erste Mal an einem Samstag nicht aufgetaucht ist, war ich enttäuscht. Ich bin mir nicht sicher, woran es lag. Aber ich hatte nicht mehr so viel Spaß an meinem kleinen Café. Glücklicherweise war er den Montag darauf und auch den Rest der Woche wieder da und ich durfte feststellen, dass er wohl nur am Wochenende keine Cafébesuche machte. Vielleicht ist es ihm einfach zu voll?

Heute ist Montag. Ich sitze an meinem Tisch und sehe aus dem Fenster die Straße entlang. Die letzten Male konnte ich ihn immer schon in der Ferne sehen. Doch diesmal erscheint er nicht. Auch eine halbe Stunde später bin ich alleine in dem Café. Geknickt lasse ich meinen Kopf hängen. Wieso enttäuscht mich das jetzt? Vielleicht hat er einfach nur keine Zeit? Oder er hat ein besseres Café gefunden? Meines Erachtens ist das zwar nicht möglich, aber das ist ja leider nur die subjektive Meinung. Seufzend schlürfe ich an meinem Kaffee und blicke immer wieder die Straße hinunter. Nein, er scheint wirklich nicht mehr zu kommen. Ich bezahle, bleibe aber noch etwas auf meinem Stuhl sitzen. Der Amarettini liegt einsam auf der Tischplatte. Plötzlich klingelt die Tür und der junge Mann kommt erschöpft und schwer atmend in das Café. Er blickt auf, lächelt mich leicht an und setzt sich an seinen Tisch. Ist er gerannt? Warum hat er mir zugelächelt? Wollte er es noch schaffen, bevor ich gehe? Aber wieso sollte er? Wir kennen uns doch gar nicht. Ich hole einen Zettel und einen Stift aus meiner Tasche. Vielleicht hätte er ja auch mal Interesse daran, mit mir zu reden? Aber wenn, dann geht es nur am Wochenende. Jetzt muss ich wieder zur Arbeit. Ich nehme meine Tasche, stehe auf, gehe zu ihm rüber und lege ihm lächelnd den Keks und den Zettel auf den Tisch ohne etwas zu sagen und verschwinde.

Die ganze Woche warte ich jeden Tag aufgeregt darauf, dass der Samstag näherkommt. Er hat auf meinen Zettel hin nichts gesagt und somit sehe ich ihn weiterhin nur durch das Café, wie er den Kaffee an seinem Ecktisch trinkt und irgendein Buch liest. Wobei es wirklich alle drei Tage ein neues Buch ist, was mich ein wenig erstaunt. Wie kann man so viel lesen? Allerdings verlasse ich immer vor ihm das Café, wer weiß, wie lange er noch dasitzt und liest? Ich kenne ja nicht mal seinen Namen.
Als es endlich Samstag wird, betrete ich aufgeregt das Café. Leider ist mein Fenstertisch bereits besetzt, somit setze ich mich das erste Mal in die Ecke. Was findet der Mann an diesem Tisch so schön? Man hat keinen guten Ausblick nach draußen und auch nicht in das Café. Man wirkt hier etwas verloren. Aber vermutlich will er genau diese Ruhe haben, wenn er sein Buch liest. Ich bestelle schon mal und warte dann aufgeregt auf ihn. Doch auch nach zwanzig Minuten kommt er nicht herein. Es hat inzwischen angefangen zu regnen. Vielleicht will er deshalb nicht? Ich könnte es verstehen. Oder ich habe die Zeichen komplett falsch gedeutet und er hat keinerlei Interesse an mir? Etwas in meinem Herzen zieht sich zusammen. Ich wollte mich doch nur mit ihm unterhalten, um ihn ein wenig besser kennenzulernen? Betrübt starre ich auf den Keks. Was soll ich damit, wenn er nicht herkommt? Die Tür öffnet sich und strahlend sehe ich auf. Eine Familie betritt das Café mit zwei lauten Kindern. Ich lasse den Kopf erneut hängen. Wäre auch zu schön gewesen. Beim nächsten Klingeln blicke ich nicht auf, bis sich ein Schatten über mich legt und sich plötzlich ein Regenschirm in mein Blickfeld stellt, welcher an den Tisch gelehnt wird. „Hallo“, höre ich eine Stimme, die mir ein wenig bekannt vor kommt. Langsam hebe ich den Blick und starre in die eisblauen Augen. „H-Hallo!“, erwidere ich nervös. „Tut mir leid, mein Platz war besetzt, deshalb habe ich mich direkt hierhin gesetzt!“, versuche ich schnell zu erklären. Er lächelt nur ein wenig. „Wir wollten uns doch sowieso unterhalten.“ Wo er recht hat. So oder so wäre er zu mir an den Tisch gekommen. Die Kellnerin bringt ihm direkt seinen schwarzen Kaffee und ich lege ihm meinen Amarettini hin. „Du bist nicht von hier, oder?“, frage ich dann direkt nach. Er schüttelt den Kopf. „Ich wurde hierher versetzt vor einem Monat ungefähr.“ Das war das erste Mal, dass ich ihn im Café getroffen hatte. Aber er wirkt inzwischen nicht mehr so schroff, wie damals. „Ach ja, ich heiße Timo! Timo Garding. Und du?“ Ist es überhaupt in Ordnung, ihn einfach so zu duzen? Ich habe nicht danach gefragt, weil ich mich ihm ehrlich gesagt schon sehr viel näher fühle, als wir es sind. „Mein Name ist Georg Serat.“ Er trinkt von seinem Kaffee, ohne auch nur wirklich eine Gefühlsregung zu zeigen.  „Du bist wirklich jeden Tag hier?“, fragt er dann plötzlich interessiert nach. Ich nicke. „Jeden Tag gegen dreizehn Uhr. Seit ungefähr schon drei Jahren.“ Ob das merkwürdig ist? Ich hoffe nicht! Plötzlich lächelt er mich an. „Du hast dir ein gutes Café ausgewählt. Und ehrlich gesagt, wenn ich dich nicht hier getroffen hätte, dann hätte ich es wohl nie bemerkt und hätte mir eines gesucht, was näher an meiner Arbeit liegt.“ Ich sehe ihn überrascht an. „Oh, als was arbeitest du denn?“ Stimmt, er meinte, er wurde versetzt. „Ich arbeite bei der Bank.“ Ok, die liegt wirklich einige Blocks von hier entfernt. „Also kommst du immer um dreizehn Uhr von soweit her?“ Wieso? Was bringt ihn dazu? Er nickt. „Schließlich bist du auch immer hier. Am Wochenende bin ich allerdings oft in meiner Heimatstadt, deshalb bin ich dann nie hier. Heute ist eher eine Ausnahme. Aber ich wollte auch etwas über dich erfahren…“ Er betrachtet mich mit einem geheimnisvollen Blick und ich werde leicht rot. „Ich gehe hier in der Nähe zur Ausbildung und habe immer gegen dreizehn Uhr meine Mittagspause. Allerdings liegt mir das Mensaessen wirklich nicht. Und dann habe ich irgendwann auf dem Weg dieses Café entdeckt und mich sofort in es verliebt.“ Mein Cappuccino ist leer und ich schaue auf die Uhr. Ob er noch länger bleiben würde? Oder muss er weg? Sein Kaffee ist auch so gut wie leer. Den Amarettini hat er allerdings noch nicht gegessen und das lässt mich ein wenig hoffen. „Ich fand dich damals wirklich süß, als du mir den Keks gegeben hast.“ Überrumpelt starre ich auf seinen Teller. Süß? Inwiefern? Mag er mich? Ohne mich zu kennen? „Tut mir leid, dass ich dich damit überfalle, aber ich würde dich gerne noch besser kennenlernen. Wollen wir nicht ab heute immer zusammen einen Kaffee trinken?“ Sofort nicke ich. Er isst seinen Amarettini und steht auf, um für uns beide zu zahlen. „Tut mir leid, aber ich muss los.“ Wir verabschieden uns voneinander und ich sehe ihm nach, als er die Straße heruntereilt. Dann blicke ich auf den Regenschirm, den er vergessen hat. Ich will ihm gerade noch hinterherrufen, als er um die Ecke geht und verschwunden ist. Lächelnd sehe ich auf das schwarz-weiße Muster. Er will mich kennenlernen…

Die nächsten Wochen sitzen wir immer zusammen, mal am Fenstertisch, mal in der Ecke. Ich genieße jede Minute, auch wenn es leider immer nur eine knappe Stunde lang dauert und am Wochenende kommt er weiterhin nicht in das Café. Aber ich habe es sogar schon einmal geschafft, ihn zum Lachen zu bringen. Manchmal ist er auch schlecht drauf, aber seine Stimmung hebt sich meistens nach einiger Zeit. „Hey, Timo“, meint er plötzlich in die kurz eingetretene Stille hinein. Ich sehe ihn lächelnd an. „Ja?“ Irgendwie sieht er so ernst aus. „Wir sollten mal reden.“ Ich hasse diesen Satz. Mit diesem Satz haben alle meine Exfreunde immer mit mir Schluss gemacht. Georg und ich sind zwar nicht zusammen, aber vielleicht will er mich einfach nicht mehr sehen? „Ich mag dich sehr.“ Und jetzt kommt das große „aber“. „Ich finde es immer schön, wenn wir uns im Café sehen, aber…“ Da ist es. „Ich würde dich sehr gerne häufiger treffen. Und nicht nur im Café. Sondern mehr privat.“ Ich sehe ihn überrascht an. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. „Ähm…“ Mehr bringe ich einfach nicht über die Lippen. „Wenn du magst, dann kannst du es dir noch überlegen und mir am Montag Bescheid sagen.“ Er will aufstehen, als ich nach seinem Handgelenk greife. „Warte!“ Ich will nicht, dass er geht. „J-ja!“ Oh man, was soll er damit anfangen können? „Ja, ich will dich auch öfter sehen!“ Ich strahle über das ganze Gesicht. „I-Ich mag dich auch sehr!“ Seine Lippen formen sich zu einem Lächeln. Dann beugt er sich über den Tisch zu mir rüber und gibt mir einen Kuss. „Du schmeckst nach Cappuccino“, murmelt er gegen meine Lippen. Ich schließe meine Augen. „Und du nach Amarettini.“

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 06.06.2016

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /