Als ich ihm das erste Mal begegne, regnet es draußen. Herbstlich weht der Wind zwischen den Blättern, zieht durch das Fenster an mir vorbei und ich beginne zu frösteln. Die Bibliothek, in der ich Schutz vor dem Regen gesucht habe, scheint leerer zu sein, als erwartet. Es ist still, sehr still. Zu still für eine Bibliothek, in der sich oft Kinder und Jugendliche befinden, in der Erwachsene über Bücher diskutieren, versuchen sie anderen anzupreisen oder in der sich die Bibliothekarin immer mit lauter kräftiger Stimme über den Lärm aufregt.
Ich sehe mich um, entdecke allerdings kein bekanntes Gesicht. Normalerweise meide ich solche Orte wie diesen. Ich empfinde Unbehagen, sobald ich sie betrete. Doch heute wirkt die Bibliothek ausgestorben. Schlimmer noch als sonst.
Die kleine Glocke an der Tür erklingt, als jemand eintritt und triefend eine kleine Pfütze auf dem Boden hinterlässt. Sein Gesicht schimmert im Wasser, als er verlegen auf den Boden blickt und versucht, sich nicht zu viel zu bewegen, um wenigstens den Rest der Holzdielen von dem kühlen Nass befreit zu lassen.
Ich wende meinen Blick desinteressiert wieder ab und schließe das Fenster. Es ist kalt und stürmisch. Erneut huschen meine Augen zu dem Fremden, der noch immer im Eingang steht. Langsam drehe ich mich zu ihm um und trete auf ihn zu.
„Brauchst du ein Handtuch?“
Er sieht kaum älter aus als ich, wirkt nicht überheblich oder eingebildet. Ich denke, er ist eine der wenigen Personen auf dieser Welt, die sich keine Feinde machen und dafür überall beliebt sind. Lächelnd sieht er mich an, wir sind beinahe auf einer Höhe, nur ganz leicht, muss ich meinen Blick anheben. „Das wäre nett, danke.“, meint er mit tiefer Stimme. Ich bin überrascht, so hätte ich seine ihn nicht eingeschätzt.
Nickend öffne ich meine Trainingstasche und krame nach meinem Handtuch. „Ist unbenutzt, keine Sorge.“ Ich reiche es ihm und schließe meine Tasche wieder. Er trocknet sich sein Gesicht, seine Haare und versucht auch einen Teil seiner Klamotten vom Regenwasser zu entlasten. Dann sieht er mich an.
„So kann ich es dir aber nicht zurückgeben. Gibst du mir deine Nummer, oder deine Adresse? Dann kann ich es dir zuschicken, oder es vorbei bringen.“
Ich schüttele nur den Kopf. „Kein Ding, behalte es einfach.“ Mit diesen Worten gehe ich an ihm vorbei und verlasse die Bibliothek. Die Sonne scheint, der Regen hat aufgehört. Es sind wieder mehr Leute unterwegs, die trübe Stimmung ist vergangen. Ich sehe noch einmal in eine Pfütze am Straßenrand und denke kurzzeitig an sein Gesicht, ehe ich mich auf den Weg nach Hause mache.
„Timo!“, ruft meine Mutter, während ich mich im Schneckentempo aus dem Bett quäle. „Du kommst zu spät!“ Das sagt sie jeden Morgen und jeden Morgen bin ich pünktlich.
„Ich weiß!“, antworte ich also lediglich und ziehe mich um. Ich schlendere gemütlich in die Küche, während meine Mutter aufgeregt hin und her rennt und Dinge tut, für die sie noch viel Zeit hätte, die sie sich allerdings nicht nimmt. Ich halte mich nicht lange beim Frühstück auf und bin froh, als ich endlich auf meinem Weg zur Schule bin. Ich treffe keinen meiner Freunde, was daran liegen könnte, dass ich nicht sonderlich viele habe. Genaugenommen habe ich nur einen Freund und dieser geht nicht in meine Klasse. Schule ist für mich also lediglich Lernzeit, das wars.
Als ich meinen Klassenraum betrete herrscht eine bedrückende Stille. Ob etwas passiert ist? Oder sie haben wieder über mich gesprochen und daher schweigen sie nun. Da mich jedoch nicht einer eines Blickes würdigt, kann ich diese Option ausschließen. Mir kommt es vor, als würde ein eisiger Wind durch den Raum kreisen, jeden schneiden, der sich bewegt oder einen Ton von sich gibt und mir stellen sich die Nackenhaare auf. Unwohl setze ich mich an meinen Platz und warte. Eine Weile lang geschieht nichts, bis unsere Lehrerin herein kommt und einen Jungen vor sich schiebt, ihn zum Lehrertisch bringt und ihre Hände auf seine Schultern legt, um ihn ermuntert vorzustellen.
„Ihr habt einen neuen Klassenkameraden und ich hoffe, ihr nehmt ihn gut in eure Gemeinschaft auf.“
Welche Gemeinschaft, stellt sich mir die Frage, aber ich sage dazu nichts. Meine Mitschüler sehen auf, die meisten scheinen hin und weg zu sein, ich starre ihn nur gedankenlos an. Er kommt direkt auf meinen Platz zu, wirft seine Tasche auf den Boden, setzt sich neben mich, lehnt sich nach hinten und streckt mir seine Hand entgegen.
„Cole, freut mich. Auf eine wunderbare Freundschaft!“
Perplex sehe ich ihn an, nehme langsam seine Hand entgegen, - sie ist sehr kalt, um es eben zu erwähnen, was mich recht überrascht, denn draußen scheint heute wieder die Sonne und der Wind hat sich gelegt, - und stelle mich knapp mit meinem Namen vor.
„Dein Handtuch habe ich leider nicht dabei, aber wer konnte auch ahnen, dass wir in einer Klasse landen?“ Cole grinst mir entgegen, ich lasse seine Hand los und sehe schweigend zur Tafel. Ich habe ihm doch gesagt, er kann es behalten, wieso will er es mir jetzt zurück geben? Ich würde es eh nur wegwerfen, denke ich. Ich mag es nicht, wenn jemand meine Sachen benutzt und sie mir danach wiedergibt. Cole wirft mir einen undefinierbaren Blick zu, ehe auch er sich auf den Unterricht konzentriert.
Seit diesem Tag weicht er mir nicht mehr von der Seite. Ich glaube er bemüht sich wirklich eine gute Freundschaft zu mir aufzubauen und langsam gewöhne ich mich an ihn. Wir treffen uns beinahe jeden Tag – mein Handtuch habe ich übrigens nicht wieder bekommen – und zocken eine Runde, gehen raus und er versucht mir Skatebordfahren beizubringen. Die Betonung liegt hierbei leider auf „versucht“.
Wenn ich ehrlich bin, dann macht mir die Zeit mit Cole zusammen sogar ein wenig Spaß und ich würde es bereuen, hätte ich ihm damals nicht mein Handtuch geliehen. Irgendwann werde ich mich sicherlich bei ihm bedanken, dass er mir ein so guter Freund geworden ist. Irgendwann.
Tag der Veröffentlichung: 04.09.2013
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