"Es wird nicht wehtun", sagte der Mann. "Gleich ist alles vorbei."
Maxwell wusste sofort wen er vor sich hatte. "Warum tun Sie das?", fragte er.
"Du kannst nichts dafür, dass du so bist wie du bist. Aber es wird für alle besser sein, wenn du stirbst, auch für dich."
Maxwell hatte schon viel von ihm gehört, er war eine Berühmtheit, nein, eigentlich eher berüchtigt als berühmt.
Beim Essen im Speisesaal, während eines Spaziergangs, oder auch in der Gruppentherapie hatte der ein oder andere schon von ihm gesprochen. Und wenn die Leute von ihm sprachen, dann wurde er nur Todesengel genannt. Angeblich trat er meist höflich auf, und wirkte wie ein ganz normaler Mensch, aber er brachte nichts anderes als den Tod.
Maxwell war fixiert, aber selbst wenn er nicht am Bett festgeschnallt gewesen wäre, wäre er zu schwach, zu matt, um sich gegen ihn wehren zu können. "Ich möchte noch nicht sterben", sagte er leise mit brüchiger Stimme. "Ich habe noch viel vor."
Der Mann lächelte, und zog die Spritze auf. "So so, du hast noch viel vor."
"Ja, bitte geben Sie mir doch wenigstens noch ein paar Monate, oder wenigstens Wochen."
Das Lächeln auf dem Gesicht des Mannes erstarb.
"Deine Zeit ist um", sagte er mit fester, klarer Stimme, und hielt Maxwells Arm fest.
"Ich flehe Sie an, bitte, bitte lassen Sie mich noch von meiner Tochter verabschieden."
Die alte Standuhr, die schräg gegenüber seines Bettes stand, schlug wegen der vollen Stunde an. Es war ein warmer, vertrauter Klang.
"Da hörst du es doch: dein letztes Stündlein hat geschlagen."
Maxwell schloss die Augen, und spürte, wie die Spritze in seinen Arm piekte.
Als er die Augen wieder aufmachte, zog sein Mörder die nun leere Spritze heraus.
Weil ihm klar war, dass es jetzt nicht mehr lange dauern würde, schloss er die Augen wieder, und merkte wie sich eine unendliche Müdigkeit in ihm ausbreitete, langsam, aber immer mehr und mehr.
Vorerst zum letzten Mal bummelte Misty mit Patrick über den Rummelplatz. Denn schon am nächsten Tag sollte sein Flieger nach Europa gehen, wo er für einige Zeit als Austauschschüler leben wollte.
"Du, Schatz", maulte sie. "Mir ist langweilig, nur immer diese blöden Karussells."
Sie war gern mit Patrick zusammen, hatte soviel Glück mit ihm, denn sie war nicht nur in einer sehr schönen Beziehung mit ihm, er war auch noch ihr bester Kumpel.
"Wieso ist eigentlich Joanne nicht mitgekommen?", fragte Patrick. "Sie hatte sich doch so auf den Rummelplatz gefreut."
"Keine Ahnung. Wahrscheinlich hatte ihr neuer Freund keine Lust. Sie macht nur noch was dieser komische Kauz sagt." Joanne war ihre Tante, und zugleich auch ihre Erziehungsberechtigte und Vermögensverwalterin.
In der Nähe sah Misty die Stelle, wo jedes Jahr Freiluft-Lesungen aufstrebender Hobby-Schriftsteller stattfanden. Sie sollten das Niveau des Rummelplatzes anheben. Als sie herangeschlendert waren, las sie auf dem Schild am Eingang: Unsere heutige Gast-Autorin Olivia Schandy mit ihrem neuen Buch: "Die Dimension des Nichts".
"Nein", maulte Patrick. "Das hört sich total öde an."
Sie setzten sich dann doch dazu, in eine der hinteren Stuhlreihen. Die Autorin war mitten in ihrer Lesung : ".....ist der Versuch die Andersartigkeit des Seins in einer neuen Perspektive darzustellen. Die Herangehensweise an die Unterschiedlichkeit der Zustände gibt immer wieder neue Möglichkeiten die verschiedenen Blickwinkel in einen Vergleich zu setzen."
Patrick beugte sich zu Misty hinüber. "Was labert die Frau für eine gequirlte Scheiße." Doch Misty versuchte den Aussagen der Autorin zu folgen.
".........sind im allgemeinen der Ansicht, dass die Zuordnungen der wechselseitigen Betrachtungen erst dann zum Tragen kommen, wenn wir das geistige Durchdringen dieses Gedankenspiels verinnerlichen."
"Buhhhh", schrie ein Jugendlicher. "Das ist doch Müll, ich versteh nur Bahnhof!"
"Ich bin scheinbar nicht der einzige, der das Buch bescheuert findet", flüsterte Patrick grinsend. "Lass uns abhauen. Geh lieber zu deinem komischen Gandalfo. Dann hab ich wenigstens meine Ruhe."
"Olivia Schandy!", rief ein anderer Störenfried. "Dein Buch ist eine Schande!"
Misty und Patrick standen auf, und verließen die Lesung, während schon einer der Schreihälse von Security-Mitarbeitern des Rummelplatzes abgeführt wurde.
"Ich bezahl dir auch deine Zeitreise bei Gandalfo."
"Das ist keine Zeitreise. Das ist eine mentale Hypnose in Form einer Zeitreise."
"Du redest schon fast so komisch wie diese Bücher-Tante von eben." Patrick lachte. "Hauptsache, ich muss mir nicht weiter den Unsinn von dieser Fake-Autorin anhören. Das ist 'ne Fake-Autorin, die nur Bullshit schreibt."
Kurze Zeit später waren sie schon an Gandalfos Zelt angekommen. Misty betrat das kleine Reich ihres Lieblings-Magiers.
"Ach Misty, endlich sehe ich dich wieder", begrüßte er sie freundlich.
"Hallo Gandalfo, ich will zu Königin Marie Antoinette, an den französischen Königshof", platzte es aus ihr heraus.
"Aber du bist doch gar nicht richtig dafür angezogen", mahnte der Magier. "Du weißt doch, dass du genau in dem Zustand in die mentale Traumwelt versetzt wirst, in dem du hier bei mir sitzt."
"Daran habe ich doch gedacht", sagte sie, öffnete ihre Tasche, und holte den preiswerten Modeschmuck hervor, den sie mitnehmen wollte.
"Was soll denn dieser Billigkram?"
"Ich werde ihn als echten Schmuck ausgeben", antwortete Misty. "Damit werde ich drüben in der anderen Welt gutes Geld machen."
"Dir ist klar, was alles passieren kann, wenn dein Betrug auffliegt?" Gandalfo sah sie besorgt an.
Bist du dir über die politischen Hintergründe deines Ziels im Klaren?"
"Nö", antwortete sie. "Ich weiß nur, dass Marie Antoinette eine lustige Hoch-Frisur hatte. Um ehrlich zu sein: ich hab meistens den Geschichtsunterricht geschwänzt."
"Naja Misty, ideal ist das natürlich nicht, wenn du wieder in eine Zeit reist, in der du dich kaum auskennst."
"Ach Quatsch, Hauptsache ich lern wieder was Neues kennen."
Zweifelnd sah Gandolfo sie an. "Naja, eins muss man dir lassen: neugierig und risikobereit bist du."
Nachdem sie alles geklärt hatten, setzte Misty sich in den gemütlichen, mit rotem Samt bezogenen Sessel, und Gandalfo gesellte sich zu ihr. "Gehe nun fort, gehe nun fort." Seine Stimme klang einschläfernd. "An einen weit entfernten Ort, an einen weit entfernten Ort." Wie ein Mantra klangen die immer gleichen Worte in Mistys Ohren. Immer schläfriger wurde sie, bis sie mehr und mehr in die andere Welt hineindämmerte.
Eine Taube flog vom Kiesweg hinauf in die Luft, während Misty auf einen der vielen Springbrunnen der weitläufigen Parkanlage von Versailles zusteuerte. Verträumt schaute sie dem Vogel hinterher, während sie an das Becken des Springbrunnens herantrat.
Auf einmal spürte sie kühles Wasser auf der Haut, und hörte ein Kichern ganz nah bei sich. Und jetzt sah sie ihn: einen Jungen, der Wasser aus dem Becken auf sie spritzte. Einen kleinen Hund hatte er auch dabei. "Hey du Kopfgesicht", rief sie. "Was wird das, wenn's fertig ist?"
"War doch nur ein kleiner Spaß", sagte der Junge. Misty sah ihn sich genau an, er war sehr edel gekleidet. "Ich bin Lois," stellte sich der kleine Kerl vor. "Der Thronfolger."
"Du willst der Thronfolger sein?" Sie sah ihn ungläubig an. "Das kann ja jeder behaupten."
Der Junge deutete auf den Hund. "Und das ist Klabauter."
Auf einmal hörte sie laute Stimmen, zwei Frauen mit aufwendigen Perrücken, viel Schmuck und wallenden Reifröcken kamen auf sie zugelaufen. "Weiß die Königin, dass du hier im Park bist, Lois?", fragte die eine von beiden den Jungen. "Am Westtor gibt es Tumulte. Es können jederzeit Aufständische hier auftauchen."
"Nein", antwortete der Junge, und grinste. "Meine Mutter muss nicht alles wissen."
Die Frauen liefen weiter. "Es ist zu unsicher hier draußen", rief noch die eine, und dann waren sie auch schon wieder weg.
Zumindest war Misty jetzt klar, dass dieser Frechdachs wirklich der Sohn der Königin war.
Sie setzten sich auf den Rand des Wasserbeckens. "Mir ist es im Schloss zu langweilig, ich bin gern hier draußen", sagte Lois.
"Ich bin auch gern unterwegs", antwortete Misty. "Du kannst mich ja etwas rumführen."
"Gerne, ich zeige dir das Grand Trianon, es ist weit weg vom Schloss, dann findet Utella mich nicht so schnell."
"Wer ist Utella?"
"Meine Kinderfrau, auch Schlossdrache genannt."
Misty lachte.
"Utella von Klaasburg ist eigentlich aus dem Hofstaat meiner Großmutter."
"Wer ist deine Großmutter?", fragte Misty. "
"Maria Theresia." Lois sah stolz aus. "Die Kaiserin von Österreich."
"Und das Grand-Trianon?"
"Das ist ein kleines Schloss am Rand des Parks."
Lois zog Misty hinter sich her. "Nicht so schnell kleiner Mann", beschwerte sie sich. "Ich kann nicht mehr."
Sie liefen weiter.
"Es sind aber nicht gerade viele Leute unterwegs", meinte Misty.
"Viele haben Angst, und bleiben im Schloss." Lois' Gesicht bekam etwas Trauriges. "Oder sind sogar ganz verschwunden."
"Verschwunden?"
"Ja, ins Ausland, oder auf ihre Landgüter. Aber ausgerechnet Utella bleibt hier."
"Diese Utella muss ja wirklich ein komischer Vogel sein."
"Das wär schön, wenn sie ein Vogel wär, dann würd sie wegfliegen, und ich wär sie los."
"Guck mal", sagte Misty, und deutete auf den wolkenverhangenen Himmel. "Da oben fliegt sie."
Die beiden brachen in einen Lachanfall aus, und Misty genoss es, dass sie in Lois so schnell einen guten Freund gefunden hatte.
"Was ist denn hiiiiiier los?", hörte sie eine Stimme, und sah sich um. Eine kleine Frau mit hoher Perrücke, und einem extravaganten Kleid stand vor ihnen.
"Utella!", rief Lois.
"Wenn man vom Teufel spricht", sagte Misty. Als hätten sie es abgesprochen, liefen sie gemeinsam los.
"Hiergeblieben", rief Utella, und versuchte sie einzuholen, hatte aber wegen ihrem schweren Kleid Mühe hinter ihnen herzukommen.
Schnell drängte Misty Lois in einen kleinen Seitenweg.
Utella von Klaasburg hatte sie eingeholt. "Ich bin für Lois verantwortlich." Gebieterisch baute sie sich vor ihnen auf. "Du bist kein guter Umgang für den Thronfolger."
Wild fuchtelte sie mit ihren Händen vor Mistys Gesicht herum. "Entferne dich!"
Weil sie sich nicht anders zu helfen wusste, stieß sie Utella von Klaasburg von
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 07.11.2019
ISBN: 978-3-7487-6010-8
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