Episodenübersicht
Prolog
Episode 1: Der Absturz
Episode 2: Die Agentin
Episode 3: Der Unterschlupf
Episode 4: Alarm am Raumhafen
Episode 5: Vernehmung
Episode 6: Der Plan
Interlude: Der Auslöser
Episode 7: Das Angebot
Episode 8: Das Attentat
Episode 9: Der heiße Stuhl
Episode 10: Ellis Island
Episode 11: Ebene 13
Episode 12: Untergang
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Prolog
Drei Wochen zuvor
Irgendetwas stimmte heute nicht.
Nylla spürte es ganz deutlich in ihren Haarspitzen. Irgendwas ging hier eindeutig nicht mit rechten Dingen zu.
Die junge Schmugglerin versuchte sich nichts anmerken zu lassen, während sie langsam auf die offene Tür vor ihr zutrat. Dass diese Tür – die Tür zum wichtigsten Raum auf der ganzen Raumstation – so einfach offen stand, war schon ungewöhnlich genug. Aber dass sie auf der Stelle durchgelassen wurde....
Nein, ganz eindeutig, das alles hier stank fürchterlich zum Himmel!
Nylla war in letzter Zeit schon einige Male zu Torx, ihrem Boss, ins Büro gerufen worden, um mit ihm besonders knifflige Coups persönlich zu besprechen, aber er hatte sie vorher immer ein paar Minuten lang vor dem Büro warten lassen. Soweit sie wusste, konnte er gar nicht anders. Er brauchte dieses Gefühl, dass jeder auf ihn warten musste.
Nylla konnte sich auch nicht erinnern, hier jemals mehr als eine Wache auf dem Posten gesehen zu haben. Heute waren es zwei und sofort, als sie Nylla entdeckten, strafften sie ihre Körperhaltung und einer von ihnen machte eine auffordernde Geste in Richtung der offenen Tür. Ihre Blicke waren dabei auch so merkwürdig....
Ganz ruhig, versuchte Nylla sich selbst zu beschwören. Es gab doch schließlich überhaupt keinen Grund, so misstrauisch zu sein. Dies hier war eine harmlose Missionsbesprechung. Übertriebene Paranoia war vielleicht im Kampf gut oder bei ihren regelmäßigen Streifzügen durch verbotenes Territorium. In solchen Fällen hatte ihr ihre ständige Vorsicht schon ein paar Mal knapp das Leben gerettet und darüber war sie sehr dankbar. Aber wenn sie selbst bei dieser harmlosen Unterredung mit ihrem Auftraggeber so verschreckt war, würde sie sich höchstens lächerlich machen. Also versuchte sie ihr Herzklopfen mental zu dämpfen und nickte den beiden Wachleuten mit möglichst entspannter Miene zu.
„Hey, Leute“, sagte sie und versuchte ihre Stimme vergnügt klingen zu lassen. „Warum so mürrisch? Hat man euch die Spielsachen weggenommen?“
Keiner der beiden zeigte irgendeine Gefühlsregung. „Geh endlich rein“, knurrte der rechte. „Du wirst schon erwartet.“
Nylla hob besänftigend die Hände. „Ist ja schon gut. Ich bring euch nachher einen süßen Teddy vorbei.“ Sie wartete keine Antwort ab, sondern betrat schnell das Büro.
Sofort kehrte das ungute Gefühl mit doppelter Wucht zurück.
Dabei hätte sie eigentlich mit ihm rechnen müssen. Mit Gruth. Dem persönlichen Leibwächter von Torx. Schließlich rückte Gruth seinem Boss ja sonst auch so gut wie nie von der Pelle. Und Torx vertraute ihm offensichtlich mehr als jeder anderen Person. Trotzdem flößte Gruth einem allein durch seine Statur schon automatisch gehörigen Respekt ein. Er war über zwei Meter groß und sein Oberkörper glich einem Panzerschrank. Sein kantiges Gesicht mit dem schwarzen Kinnbart half auch nicht unbedingt dabei, sich in seiner Gegenwart wohlzufühlen. Und als Nylla hereinkam, lauerte er mit verschränkten Armen hinter Torx‘ Schreibtisch und stierte sie aus seinen tiefen, dunklen Augen an.
Nylla war einen Moment abgelenkt und hätte fast nicht mitbekommen, was hinter ihr passierte: Die beiden Wachleute folgten ihr sofort ins Büro und ließen die Tür hinter ihnen zufahren. Dann bezogen sie zwischen Nylla und der geschlossenen Tür Stellung, sodass ein möglicher Fluchtweg zumindest in dieser Richtung versperrt war.
Nylla beunruhigte das nur noch mehr, denn in den letzten Jahren hatte sie es sich angewöhnt, überall, wo sie hinkam, nach einer Möglichkeit Ausschau zu halten, wie sie im Ernstfall wieder verduften konnte. Das Schmugglermilieu war ein gefährliches Pflaster und man musste immer auf der Hut sein. Heute konnte sie diese Möglichkeit wohl vergessen, denn außer der Tür gab es hier keine Ausgänge. Nylla versuchte jedoch weiterhin, sich ihr Unbehagen nicht anmerken zu lassen. Sie trat entschlossen auf ihren Auftraggeber zu, der gemütlich in seinem protzigen Sessel hinter seinem nicht minder protzigen Schreibtisch lümmelte.
„Hallo, Boss“, sagte sie, während sie halbironisch salutierte. „Deine Lieblingsbedienstete meldet sich hiermit wie befohlen.“ Sie wollte unbekümmert klingen und das gelang ihr ganz gut – aber nicht zu hundert Prozent.
Torx war eigentlich eine eher unscheinbare Gestalt. Die ganze Autorität und Bedrohlichkeit, die er ausstrahlte, kam von seinem Ruf als einer der berüchtigtsten Schmugglerbosse der Galaxis und von den Gerüchten über seine miesen Charaktereigenschaften, die auch unter seiner eigenen Belegschaft grassierten. Es war alles Psychologie und wahrscheinlich spielte dabei auch die Wahl seiner Kleidung und Büroeinrichtung eine Rolle, die sofort deutlich machten, wie gerne er seine Macht und seinen Wohlstand zur Schau stellte.
Aber ansonsten zeigte Torx nicht viel von einer eindrucksvollen Persönlichkeit. Inzwischen hatte er schon einige Jährchen hinter sich, was man an seiner faltigen, leicht ledrig wirkenden Haut sehen konnte. Seine Figur war ziemlich schmächtig, er war vielleicht einen halben Kopf kleiner als Nylla, obwohl sie sich selbst nicht unbedingt zu den besonders Hochgewachsenen zählen würde. Er hatte einen leichten Buckel und knorrige Hände, die die Angewohnheit hatten, ständig nervös herumzufuchteln. Seine schon leicht angegrauten Haare bildeten auf dem Kopf einen schmalen Halbmond, seine Augen waren zusammengekniffen und standen eng beieinander. Insgesamt sah er eher wie der Chef einer Möbelfirma aus als wie eine gefürchtete Schmugglerautorität.
„Ah, Nylla!“ begrüßte er die Schmugglerin mit seiner leisen, krächzigen Stimme und einem Lächeln, das nicht besonders geübt wirkte. „Schön, dass du so schnell kommen konntest. Bitte, nimm doch Platz!“ Dabei zeigte er auf den Stuhl, der vor seinem Schreibtisch stand.
Und auch das beunruhigte Nylla extrem, denn Torx hatte ihr noch niemals diesen Stuhl angeboten, obwohl das Ding immer an dieser Stelle stand. In den ganzen letzten fünf Jahren war sie während den regelmäßigen Briefings mit Torx immer vor seinem Schreibtisch stehen geblieben. Nicht dass ihr das irgendwas ausgemacht hätte, denn wenn sie wollte, konnte sie sogar im Stehen schlafen.
Aber im Moment war sie neugierig, was hier los war, und deshalb beschloss sie, nicht lange zu diskutieren, sondern Torx‘ Aufforderung nachzukommen. Sie hatte bereits ein ziemlich ungutes Gefühl bei dieser Sache. Und wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst war, hatte sie schon die ganze Zeit einen Verdacht, worum es hier gehen könnte. Sie wollte es wohl einfach nur nicht wahrhaben, dass es tatsächlich darum gehen konnte. Mehr noch – der Gedanke, dass überhaupt jemand außer ihr selbst davon wissen konnte, erschien ihr einfach zu absurd! Sie hatte auf dem gesamten Weg höllisch aufgepasst und niemand war ihr gefolgt und es hatte auch sonst keine Anzeichen gegeben, dass man sie bemerkt hatte. Aber wenn es das nicht war – was war es dann?
Torx beugte sich langsam vor, stützte sich mit den Ellenbogen auf der Schreibtischplatte ab und legte sein Kinn auf die gefalteten Hände. „Nylla“, begann er und bemühte sich dabei offensichtlich um einen nüchternen, freundlich klingenden Tonfall. „Wie ich hörte, hast du letzte Woche wieder einen ziemlich außergewöhnlichen Volltreffer gelandet. Ich muss schon sagen, du überraschst mich immer wieder mit deinem Gespür für diese großen Dinger. Willst du deinen alten Boss nicht aufklären, wie du das dieses Mal wieder angestellt hast?“
Okay, er will also nicht sofort zur Sache kommen, dachte Nylla und war dabei gleichzeitig erleichtert und beunruhigt. Erleichtert, weil sie so noch länger Zeit hatte, sich zu überlegen, wie sie mit dieser Situation umgehen sollte. Beunruhigt, weil Torx sie anscheinend noch ein bisschen zappeln lassen wollte, bevor er die Bombe platzen ließ.
„Eigentlich hat sich doch schon länger angekündigt, dass die Bolodmhono wieder aktiv werden wollen!“ erwiderte sie schnell. „Es gibt doch schon ewig keine Kreide von denen mehr auf dem Markt und es war nur eine Frage der Zeit, bis die es nicht mehr aushalten würden. Ich hab mich nur ganz vorne in die Reihe gestellt.“
„Und warst damit wieder schneller mit neuer Ware dabei, als unsere Konkurrenz überhaupt reagieren konnte“, ergänzte Torx. „Nebenbei hast du auch noch einer ganzen Kolonne von Raumpatrouillenschiffen deine Heckflosse gezeigt und bist denen durch ein – wie ich hörte – unheimlich spektakuläres Manöver entkommen.“
„Spektakuläres Manöver – so könnte man es natürlich nennen“, lenkte Nylla ein. „Man könnte es aber auch genau so gut Glück nennen. Kommt beides der Wahrheit nahe.“
Torx lachte leise, was bei ihm mehr nach Atemproblemen klang. „Oh, das war sicherlich mehr als Glück. Weißt du, vor fünfzehn Jahren, als du zum ersten Mal hier aufgetaucht bist und noch verängstigt deinem Vater am Hosenbein gehangen hast, hätte ich es niemals für möglich gehalten, aber inzwischen bist du zu einer meiner besten Leute aufgestiegen. Du scheinst nicht nur einen sechsten Sinn für die großen Coups zu haben, du hast offensichtlich auch einen unheimlich betriebsamen Schutzengel.“
Worauf will er hinaus? Nylla konnte sich nicht erinnern, dass Torx ihr jemals so viel Honig ums Maul geschmiert hatte wie jetzt gerade. Er hatte sie zwar schon öfters mal für besonders erfolgreich abgeschlossene Flüge gelobt, aber grundsätzlich galt seine Begeisterung immer mehr den beschafften Waren oder dem erzielten Reibach als ihr persönlich. Sein untypisches Verhalten konnte eigentlich nur eins bedeuten: Er hatte irgendwas vor. Spätestens jetzt hielt Nylla den Moment für gekommen, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie möglichst schnell und heil aus diesem Büro entwischen konnte….
„Du bist für meine kleine Organisation hier eine wahre Geldmaschine und gleichzeitig so raffiniert, dass weder diese Idioten von den Sicherheitsbehörden noch meine unnützen Konkurrenten etwas gegen uns in der Hand haben, was deine Geschäfte betrifft“, fuhr Torx inzwischen vergnügt fort. „Ich finde es nur ziemlich schade....“
In diesem Moment verdunkelte sich sein Gesicht. Und Nylla spürte, wie das flaue Gefühl in ihrem Bauch rapide stärker wurde.
„.... dass du für mich zu einem untragbaren Sicherheitsrisiko geworden bist. Es tut mir leid, Nylla, aber du hast die wichtigste Währung auf meiner Raumstation missachtet: Mein Vertrauen. Du hast dieses Vertrauen verletzt, indem du in Dingen herumgeschnüffelt hast, die dich absolut nichts angehen.“ Er beugte sich noch weiter vor und bohrte seinen Blick dabei regelrecht in Nyllas Augen. „Du weißt, worüber ich rede, nicht wahr?“
Das ist unmöglich! Nylla spürte, wie ihr Herzschlag in die Höhe schoss. Er kann es überhaupt nicht wissen! Nein, es geht einfach nicht! Sie war sich doch völlig sicher gewesen, dass keiner von Torx’ Leuten sie damals entdeckt hatte. Nylla war nicht erst seit gestern auf dieser Station – und diese Wachleute waren alles keine großen Leuchten. Sie wusste längst, wie sie jeden einzelnen von denen übertölpeln konnte. Zumindest.... hatte sie sich das bisher immer eingebildet....
„Nun, natürlich weißt du es“, sprach Torx weiter, ohne eine Antwort abzuwarten. „Wie sollte es auch anders sein? Aber wahrscheinlich hast du gedacht, es würde niemals herauskommen, dass du mich belauscht hast. In dem Fall muss ich aber sagen, dass du dich mächtig getäuscht hast.“
Während Nylla sich nicht traute, die kleinste Bewegung zu machen, erhob sich Torx gemächlich von seinem Sessel und ging zum großen Videoschirm hinüber, der rechts von Nylla aus der Wand herausschaute.
„Ich kann nicht glauben, dass du mich für so dumm hältst, dass ich keine Vorsichtsmaßnahmen für so einen Fall treffe, vor allem bei so einer wichtigen Unterredung“, fuhr er fort und widmete sich dabei dem Bedienfeld neben dem Videoschirm. „Wahrscheinlich hast du gedacht, dass dich niemand mehr erwischen würde, wenn du dich ganz schnell wieder in dein kleines Schiffchen zurückziehen kannst. Du hast dir sicherlich was darauf eingebildet, hier wieder rauszukommen, ohne den geringsten Alarm auszulösen. Aber so einfach war es dieses Mal nicht!“
Torx schaltete den Bildschirm ein, drehte sich dann zu Nylla um und wies wie ein Wettermann mit der Hand auf das eben erschienene Bild.
Nylla erkannte es sofort: Es war ein Grundriss von Torx’ Raumstation. Genauer gesagt war es der Grundriss eines Teils des obersten Decks. Das da in der Mitte des Plans war das Büro, in dem sie sich nun befand, daneben entdeckte sie den Hauptkontrollraum und den Aufzug. Farbig markiert waren die Luftschächte, Wasser- und Energieleitungen .... und noch etwas.
„Diese roten Streifen hier.... hier.... und hier....“, erklärte Torx und stellte sich dabei tatsächlich so an, als würde er die Wetterkarte erklären, „.... sind Infrarotsensoren. Sie erfassen sämtliche Luftschächte, die es um dieses Büro herum gibt, und registrieren dabei absolut jede Bewegung in diesen Schächten. Sie sind so gut in die Wand hineingearbeitet, dass man sie mit bloßem Auge niemals aufspüren könnte. Sobald einer von ihnen ausgelöst wird, erhält Gruth hier sofort eine automatische Warnmeldung.“ Torx wandte sich kurz seinem Leibwächter zu, der kaum merklich nickte, ansonsten aber reglos wie eine Statue dastand.
Nylla konnte nicht anders als verblüfft auf den Videoschirm zu starren. „Das ist ja nicht zu fassen“, flüsterte sie. „Warum habe ich davon noch nichts gehört?“
Sie hielt es inzwischen für unnötig, noch irgendetwas zu leugnen. Nylla musste den Tatsachen ins Auge sehen: Sie war aufgeflogen. Dabei hatte dieser Tag so harmlos angefangen....
„Dass möglichst wenige davon wissen, ist ja wohl der Sinn der Sache“, erwiderte Torx grimmig. „Ursprünglich hatte ich diese Sensoren anbringen lassen, um mich vor Spionage meiner neidischen Konkurrenz zu schützen. Ich hatte eigentlich nicht erwartet, dass ich sie mal gegen einen meiner eigenen Leute verwenden müsste.“
„Überraschung!“ sagte Nylla trocken.
„Allerdings!“ Torx ging nicht auf den eindeutigen Sarkasmus ein. „Ich war ziemlich überrascht, als Gruth mir mitteilte, dass wir hier vor kurzem einen Eindringling hatten. Einen mir nur zu bekannten Eindringling. Die Sensoren haben ein eindeutiges ID-Signal identifiziert. Eines, das nur zu dir gehören kann. Und ganz zufällig ist das genau zu dem Zeitpunkt aufgenommen worden, als ich diese wichtige Unterredung hatte. Diese unglaublich wichtige Unterredung, du weißt sicherlich, was ich meine.“
Nylla zuckte mit den Achseln. „Natürlich. Es war schließlich sehr schwer, da irgendetwas zu überhören, so laut, wie du herumgebrüllt hast.“ Irgendwie war es fast befreiend, dass sie endlich mit offenen Karten spielen konnte. Jetzt wusste sie wenigstens, woran sie war. Auch wenn sie schon ahnte, welches Ausmaß der Schlamassel hatte, in dem sie jetzt steckte.
„Das gefällt mir so an dir, Nylla. Du schaffst es sogar noch, deine Mauer der Gleichgültigkeit aufrecht zu erhalten, wenn du gerade bloßgestellt wirst. Nur leider wird es dir diesmal nichts nützen. Sag mir nur eins: Hast du gewusst, dass ich diesen wichtigen Gast empfangen würde, oder hast du dich einfach mal zum Spaß durch die Luftschächte gezwängt und bist dabei zufällig auf dieses Gespräch gestoßen?“
„Es war eigentlich eine recht spontane Entscheidung.“ Nylla nickte nachdenklich, als würde sie gerade eine interessante Geschichte erzählen wollen. „Ich hab dieses protzige Raumschiff an der Andockbucht bemerkt und ich war neugierig, was jemand mit so einem Schiff auf dieser Station will. Dann hab ich mir gedacht: Hey, warum siehst du nicht einfach nach? Und so bin ich zu dem zweifelhaften Vergnügen gekommen, deinen kleinen Plan mit anzuhören. Das ist eine sehr interessante Idee, wenn du mich fragst.“
„Da muss ich dir zustimmen. Und weil du ja alles so gut weißt und sehr genau im Bilde bist, müsste dir eigentlich schon klar sein, was ich jetzt mit dir machen muss. Im Prinzip führt gar kein Weg daran vorbei.“
„Lass mich raten: Du willst mich heiraten?“
Torx verzog nicht einen Gesichtsmuskel. „Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Ich habe das schon einmal versucht und es war eine Katastrophe. Eher würde ich sterben, als mir das noch einmal anzutun.“ Torx machte eine bedeutungsvolle Pause. „Aber ich bin nicht derjenige von uns beiden, der heute sterben wird.“ Torx gab Gruth ein Zeichen, der sich sofort in Bewegung setzte und um den Schreibtisch herumkam. „Du musst verstehen, ich kann unmöglich mit dem Risiko leben, dass du dein Wissen an die falschen Leute weitergibst. Diese Sache hat nämlich eine Tragweite, die selbst dir wohl noch nicht bewusst ist. Deswegen muss ich dich nun beseitigen. Und du kannst mir glauben....“ Torx setzte eine Miene auf, wie sie ein Bestatter nicht besser hinbekommen würde. „Das tut mir wirklich alles unendlich leid!“
Dann passierte alles sehr schnell. Wie der Blitz sprang Nylla von ihrem Stuhl auf, gerade als Gruth ihn erreichte. Der Hüne reagierte sofort und wollte die junge Schmugglerin packen, doch diese machte sofort einen Sprung zur Seite, wodurch sie um Haaresbreite Gruths Kralle entging.
Da sie sich wenig Chancen ausrechnete, im Zweikampf gegen Gruth besonders lange eine gute Figur zu machen, stürmte sie auf den Ausgang zu, wo sie diese beiden Wachen wusste. Nylla machte sich bereit, um mit all ihrer Kraft zuzuschlagen – als sie die Waffe in der Hand des linken Wachmanns bemerkte, die genau auf sie zielte! Sofort blieb sie wie angewurzelt stehen.
„Nein, nicht hier!“ befahl Torx streng. „Ihr wisst, was das beim letzten Mal für eine Sauerei gegeben hat!“
Die Wache zögerte abzudrücken und plötzlich erwachte in Nylla wieder die Hoffnung, dass dies vielleicht doch noch nicht ihre letzte Sekunde war. Wenn sie dem Wachmann blitzschnell die Waffe aus der Hand schlagen konnte, die zweite Wache damit ausschalten und dann schnell entwischen, bevor Gruth Zeit hatte.....
Doch dann spürte sie einen unvermittelten, reißenden Schmerz am Hinterkopf. Während sie noch versuchte sich zu fangen und der Boden dabei immer näher kam, wurde ihr bewusst, dass Gruth doch ein bisschen schneller aufgeholt hatte als erwartet.
Dieser Kerl hat eine verdammte Kraft in der Faust, dachte sie noch, dann verschwamm ihre Sicht und ihre Gedanken versanken im Dunkeln.
Die Stationsbewohner, denen Gruth auf dem Weg zur Luftschleuse begegnete, starrten ihn alle mit so einer Mischung aus Verwunderung und Entsetzen an. Sie wussten natürlich nicht, warum er dieses bewusstlose Mädchen auf den Armen durch die Gänge der Station trug – aber da sie den Besitzer dieser Station und dessen Regeln alle sehr gut kannten, konnten sie sich schon denken, was ihr jetzt blühte.
Gruth hatte jedoch keine Mühe dabei, die auf ihn gerichteten Blicke zu erwidern. Schließlich handelte er auf Torx’ Befehl hin und das war sicherlich jedem bewusst.
Ihm tat es im Nachhinein ein bisschen leid, das er so fest zugeschlagen hatte. Es war absolut keine Absicht gewesen, Nylla derart umzuhauen. Eigentlich hatte er sie nur aufhalten wollen und ihm war im Eifer des Gefechts einfach nichts Besseres eingefallen, als mit der Faust auszuholen. Dabei hatte er sich wohl mit seiner eigenen Kraft ein bisschen verschätzt. Aber gut, es war vielleicht auch von Vorteil für Nylla, wenn sie bewusstlos war. Denn dann würde sie das, was nun kommen würde, nicht miterleben müssen.
Er blickte in Nyllas Gesicht, das durch die Bewusstlosigkeit jegliche Härte verloren hatte und ihn fast wieder an das süße, kleine Mädchen erinnerte, das ihm vor fünfzehn Jahren von ihrem Vater vorgestellt worden war. Plötzlich musste er sich fest zusammen nehmen, um nicht sofort wieder Kehrt zu machen und Nylla laufen zu lassen. Es war einfach nicht gerecht – sie gehörte zu den gerissensten Menschen, die er kannte, und mit ihren neunzehn Jahren hatte sie bereits einiges auf dem Kasten und schon mehr Erfahrung gesammelt, als so manch anderer Schmuggler in seinem ganzen Leben.
Gruth wusste einfach, dass aus dieser jungen Frau eine echte Schmugglerlegende hätte werden können. Die Geschichten über ihre meisterhaften Flugmanöver und ihren enormen Beuteinstinkt waren bereits jetzt häufig Thema unter Torx‘ Belegschaft gewesen. Er hatte sie auch schon ein paar Mal bei Trainingskämpfen gesehen und dabei immer ihre eleganten, schnellen, entschlossenen Bewegungen und ihren scharfen, analysierenden Blick bewundert. An ihr konnte sich sogar so mancher aus seiner Wachmannschaft noch eine Scheibe abschneiden.
Nun musste er sie in den Weltraum hinauspusten. Und das nur wegen dieser einen, blöden Sache. Das war einfach nicht fair! Aber andererseits hatte Torx natürlich Recht. Es gab wohl wirklich keine andere Möglichkeit. Was sie geplant hatten.... Es war einfach zu bedeutungsvoll, um alles wegen des Lebens einer einzigen jungen Frau zu riskieren....
Als Gruth schließlich den Vorraum der Luftschleuse erreichte, atmete er noch einmal kräftig durch. Das war nicht das erste Mal, dass er jemanden auf diese Art tötete, aber es war wirklich das erste Mal, dass es ihm so schwer fiel. Er sah noch einmal auf Nylla hinunter, die immer noch bewusstlos in seinen Armen hing und sich nicht rührte. Sofort bereute er das wieder.
Sie sah so furchtbar unschuldig aus. Ihr Gesicht wirkte geradezu kindlich – und sie war ja auch noch sehr jung – aber gleichzeitig auch markant und bildhübsch. Im Moment hatte sie die Augen geschlossen, aber Gruth wusste, dass sie sehr auffällige, fast gefährlich leuchtende grüne Augen hatte. Gruth mochte auch ihre extrem glatten, rabenschwarzen Haare, die von einer hübschen silbernen Spange in Nackenhöhe zusammengehalten wurden. Wenn er daran dachte, dass diese zierliche, junge Frau bald vom Vakuum zerfetzt werden würde.... Seine Augen wurden fast ein bisschen feucht. Das war nicht unbedingt vorteilhaft für einen guten Leibwächter, der immer eine steinerne Miene zu zeigen hatte.
Schweren Herzens ließ er Nylla mit den Füßen auf den Boden herunter und beschränkte sich darauf, sie mit einem Arm zu halten, damit er den Öffnungsmechanismus der Luftschleuse betätigen konnte.
Genau in diesem Moment kam Leben in Nyllas Körper.
Und für eine Bewusstlose war sie plötzlich ganz schon aktiv! Ehe Gruth überhaupt kapierte, was los war, hatte sie bereits ihren Ellenbogen in seine Rippen gerammt.
Das Mädchen wusste genau, wo sie hinschlagen musste. Und dafür, dass sie gerade noch bewusstlos gewesen war und sicherlich nicht mal halb so viel Gewicht auf die Waage brachte wie Gruth, lag trotzdem so viel Kraft in ihrem Schlag, dass der durchtrainierte Hüne tatsächlich kurz zurücktaumelte.
Trotzdem: Lange blieb Gruth dadurch nicht außer Gefecht gesetzt. Genau genommen hatte er den Schlag kaum gespürt. Seine Überraschung und seine kurze Bemühung, das Gleichgewicht wieder zu erlangen, gaben Nylla jedoch einen kleinen Augenblick Bewegungsfreiheit.
Und diesen Augenblick verstand die junge Schmugglerin zu nutzen. Mit einer schwungvollen Drehbewegung befreite sie sich vollständig aus Gruths Umklammerung und ließ sich blitzschnell auf den Boden fallen.
Gerade noch rechtzeitig, denn Gruth war sofort wieder voll bei der Sache und holte mit der Faust aus – traf aber nur noch die Luft und wäre um ein Haar durch seinen eigenen Schwung aus dem Gleichgewicht gekommen.
Nylla rollte sich lässig am Boden ab und kam sofort wieder auf die Beine. Ohne sich noch einmal umzublicken oder zu zögern begann sie zu rennen.
Die hat sich bewusstlos gestellt und mich die ganze Zeit verarscht, schoss es Gruth durch den Kopf. Die entkommt mir am Ende noch! Der Wachmann griff zur Energiewaffe an seinem Gürtel.
„Hiergeblieben!“ brüllte er aus vollem Hals.
Gleichzeitig zielte er mit der Waffe und drückte ab.
Der weiße Energiestrahl zischte durch den Gang, verfehlte Nylla nur knapp und versengte etwas weiter vorne einen Teil der Wand. Die Schmugglerin blickte sich nervös um, als ihr bewusst wurde, dass sie sich in einer guten Schusslinie befand. Sie wurde aber nicht langsamer.
Auch Gruth begann nun zu rennen. Er legte noch ein zweites Mal mit der Waffe an und war gerade im Begriff abzudrücken, als Nylla vor ihm in einer Gangbiegung verschwand.
Gruth legte noch einen Zahn zu und fegte auch um die Biegung. Der Gang, in den er jetzt hineinrannte, war relativ kurz und endete weiter vorne in einer Aufzugtür – und er war leer!
Verdammt, wo ist sie?
Bevor Gruth über diese Frage nachdenken konnte, landete etwas mit ziemlicher Wucht auf seinen Schultern. Finger krallten sich in seine Haare und zogen mit aller Kraft daran. Gruth schrie wütend auf und riss die Waffe nach oben, doch Nylla blockte seinen Arm mit beiden Händen, sodass er sie nicht vor den Lauf bekam. Also feuerte Gruth einfach wild in die Luft. Er wusste nicht, was er sonst tun sollte, denn Nylla saß fest auf seinen Schultern und hatte offensichtlich nicht vor, so schnell wieder runterzukommen.
Gruth feuerte noch einmal an die Decke – und noch einmal und immer wieder, ohne damit irgendetwas zu bewirken. Nylla umklammerte weiter erbarmungslos mit ihren Oberschenkeln seinen Hals und hielt ihn eisern davon ab, sie mit den Händen zu packen oder seine Waffe auf sie zu richten. Sie ließ einfach nicht locker....
Und als Gruth plötzlich ein leises, hässliches Knarren hörte, wurde ihm bewusst, dass er doch etwas mit seinem Feuer bewirkt hatte! Auch Nylla schien etwas zu bemerken, denn sie packte unvermittelt seinen Hinterkopf mit beiden Händen und benutzte ihn als Widerstand, um mit Schwung nach hinten wegzuspringen. Gruth konnte nichts dagegen tun, dass er noch weiter nach vorne taumelte....
Das Knarren war inzwischen lauter und aufdringlicher geworden und riss plötzlich ab. Gruth stieß einen schrillen, unwürdigen Schrei aus, als sich ein Teil der Decke über ihm löste und genau auf seinen Kopf fiel! Ihm wurde schwarz vor Augen und plötzlich hatte er mit der Bewusstlosigkeit zu kämpfen.....
Es fehlte nicht viel und er wäre umgekippt, aber nach einer Weile fing er sich wieder. Er hatte keine Ahnung, wie viel Zeit ihn das gekostet hatte, aber als er sich umblickte, war keine Spur mehr von Nylla zu sehen. Gruth schüttelte seinen Kopf, um die letzten Reste Benommenheit zu vertreiben. Dann griff er nach seinem Komlink.
„Gruth an das gesamte Wachpersonal!“ sprach er aufgeregt hinein. „Sicherheitsbruch! Ich wiederhole: Sicherheitsbruch! Wir haben eine flüchtige Person auf der Station! Ihr Name ist Nylla – ich schicke euch gleich ihre ID zu, aber die meisten von euch kennen sie bestimmt. Lasst euch von ihr nicht täuschen oder weichklopfen, sie muss um jeden Preis am Verlassen der Station gehindert werden! Gruth Ende!“
Dann rannte er los, um sich selbst an der Suche zu beteiligen. Das wird Torx absolut nicht gefallen, dachte er beunruhigt. Wenn Nylla entkommen sollte, haben wir hier ein mächtiges Problem....
So viel war sicher: Er, Gruth, würde alles in seiner Macht stehende tun, um ihre Flucht doch noch zu verhindern! Gleichzeitig machte sich aber noch ein anderer Gedanke in seinem Kopf bemerkbar: Irgendwie hoffte er doch, dass sie es schaffte! Dass sie ihrem ungerechten Tod doch noch entkommen würde!
Doch natürlich wusste Gruth, dass dieser Gedanke völlig unvereinbar mit seinen Pflichten und Loyalitäten als Leibwächter von Torx war. Und das passte ihm überhaupt nicht....
Nyllas kleines Raumschiff, die Landario, befand sich nur ein Deck über der Luftschleuse, nämlich an ihrem persönlichen Andockplatz. Nachdem sie Gruth entkommen war, brauchte sie keine Minute, um dort hinzukommen, und traf unterwegs glücklicherweise auf niemanden vom Wachpersonal. Sie rannte nur an ein paar anderen Schmugglern vorbei, die sich höchstens etwas darüber wunderten, dass Nylla so in Eile war.
Als sie ihre Ziel-Dockstation erreichte, entdeckte sie einen Wachmann davor – wahrscheinlich hatte Torx ihn vorsorglich dort postiert, nachdem er Nylla zu sich gerufen hatte. Glücklicherweise war er gerade mit seinem Komlink beschäftigt, offenbar erhielt er einen stationsinternen Funkspruch. Auf jeden Fall war er dadurch so abgelenkt, dass Nylla sich ohne große Mühe von hinten anschleichen und ihn mit einem gezielten Handkantenschlag in den Nacken außer Gefecht setzen konnte. Dann entriegelte sie die Andockluke zu ihrem Schiff und trat hinein.
In diesem Moment hörte sie aus dem Gang hinter ihr einen lauten Ruf und eilige, näherkommende Schritte. Sofort trat sie zum Eingabefeld neben der Luke und schloss sie wieder – direkt vor der Nase der Wache, die schon auf sie zugestürmt kam! Dann lief Nylla schnell nach vorne zur Steuerkonsole, während von der Andockluke lautes Pochen ertönte. Um Zeit zu sparen, blieb sie neben ihrem Pilotensessel stehen und aktivierte hastig die Hauptenergie der Landario.
Eine Sekunde später schaltete sich dadurch der Sichtschirm ein. Und auf ihm erschien der gewaltige, gebogene Horizont des roten Gasriesen, um den die Station kreiste. Das Licht, das von ihm reflektiert wurde, erfüllte nun den gesamten Innenraum mit einem geheimnisvollen rötlichen Schimmer. Es war der sechste Planet dieses Sonnensystems und gleichzeitig der größte. Er hatte auch ein paar Monde und, wenn man genau hinsah, einen dünnen Planetenring. Aber das war im Moment unwesentlich für Nylla, denn sie musste jetzt nur hier weg!
Da sie sich kaum Chancen ausrechnete, von der Stationszentrale eine Abfluggenehmigung zu erhalten, aktivierte sie stattdessen sofort den Antrieb. Die beiden Antriebsdüsen waren zwar, wie das Schiff selbst, ziemlich klein, aber dennoch sehr leistungsfähig. Nylla holte alles aus dem Antrieb heraus und die Energie reichte locker aus, um die Andockklammern, die ihr Schiff noch festhielten, abzureißen. Die Landario beschleunigte sofort nach vorne, dank der Trägheitsdämpfer blieb Nylla aber von den Auswirkungen der Beschleunigung verschont. Sie wusste, der Flug würde gleich noch deutlich ungemütlicher werden, also schwang sie sich nun endlich auf ihren Pilotenstuhl.
Keine Sekunde zu früh, denn im nächsten Moment wurde die Landario kräftig durchgeschüttelt. Ein Blick auf die Taktikanzeige genügte Nylla, um festzustellen, dass die Geschütze der Raumstation aktiviert worden waren.
„Dieser verdammte Torx!“ rief sie gepresst aus.
Ein zweites Mal wurde die Landario durchgeschüttelt. Dieses Mal waren die Auswirkungen noch heftiger, die Beleuchtung flackerte kurz und Funken sprühten aus einer Wandverkleidung links von Nylla.
„Okay, jetzt reicht’s mir!“
Nyllas Finger begannen über die Steuerkonsole zu huschen. Sie wollte auf keinen Fall noch so einen schweren Treffer einstecken – der ihr Schiff eventuell ganz außer Gefecht setzen konnte. Also ließ sie die Landario Schleifen und Schlangenlinien fliegen, während sie sich immer weiter von der Station entfernte.
Sie profitierte dabei von der Tatsache, dass sie es mit einem Computer als Gegner zu tun hatte. Mit ihren geschulten Flugkünsten konnte sie den recht einfach austricksen – sie musste nur immer schnell genug ihre Flugrichtung und Geschwindigkeit ändern. Dennoch, ein paar Mal wurde sie während ihrer Flucht von der Station noch getroffen, bis sie endlich die Reichweite der Geschütze verließ. Zum Glück waren es aber keine so schwerwiegenden Einschläge wie bei den ersten beiden Malen.
Als sie endlich dem unerbittlichen Feuer der Station entkommen war, blieb ihr jedoch immer noch keine Zeit zu entspannen, denn es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis von Torx’ Raumstation Schiffe starten würden, um ihr zu folgen. Ihr Tod war dummerweise viel zu wichtig für die, um jetzt aufzugeben!
Sie wollte schon das Navigationsprogramm aufrufen – als ihr ein gehöriger Schreck in die Glieder fuhr: Der Hyperantrieb war ausgefallen! Das war sicherlich die Auswirkung dieses zweiten Einschlags, der einen Teil der Energieverteilung lahmgelegt hatte!
Mist! So komme ich nie aus diesem System raus! Es blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als sich ein vorläufiges Versteck hier irgendwo im Sonnensystem zu suchen. Und sie wusste auch schon ganz gut, welches:
Torx‘ Station war nicht der einzige bewohnte Ort in diesem System, dem Anbis-System. Der zweite Planet besaß eine atembare Atmosphäre und er war besiedelt, auf ihm gab es eine recht große Kolonie. Anbis City, die mit Abstand größte Stadt des Planeten, war sicherlich der geeignetste Ort hier in der Nähe, um für eine Weile unterzutauchen. Nylla wusste, dass es in der Stadt wie in jeder guten Randkolonie ein paar ziemlich heruntergekommene Gegenden gab, wo niemand sich in die Angelegenheiten von anderen einmischte.
Vielleicht konnte sie sich eine Weile in der Masse und Anonymität dieser riesigen Stadt vor Torx‘ Suchtrupps verstecken. Vielleicht versuchte sie es aber auch an einem etwas abgelegeneren Ort außerhalb von Anbis City – Nylla hatte mal gehört, dass es dort irgendwelche Banden von Gesetzlosen geben sollte.
Auf jeden Fall war Anbis 2 – so hieß der Planet – nun erstmal ihr nächstes Ziel. Und von dort aus würde sie weitersehen.
Nylla gab schnell einen Kurs ein und lehnte sich dann erschöpft zurück. Die Raumstation hinter ihr war jetzt schon zu weit weg, als dass irgendein Verfolger sie vor Anbis 2 einholen könnte. Für den Moment war sie also außer Gefahr. Aber sie wusste – Torx würde nicht eher ruhen, bis er sie gefunden und endgültig aus dem Verkehr gezogen hatte.
In den nächsten Tagen würde sie also höllisch auf der Hut sein und sich irgendeinen Plan überlegen müssen, wie sie Torx und seine Leute dauerhaft vom Hals bekam. Wie auch immer sie das jetzt, wo sie völlig auf sich allein gestellt war, nur bewerkstelligen sollte....
Gruth stand mit verschränkten Armen am großen Sichtfenster in der Stationszentrale und blickte auf den kleinen, glänzenden Punkt hinüber, der sich unaufhörlich von der Station entfernte und es dabei irrsinnig gut verstand, dem Feuer der Geschütze auszuweichen. Nylla wusste sehr genau, wie sie mit dem Zielcomputer der Station spielen konnte! Und als sie schließlich ganz verschwunden war und das Waffensystem seine Arbeit einstellte, atmete er kräftig durch.
Nun war sie also entkommen! Gruth wusste nur zu gut, dass diese Flucht ernste Folgen haben würde. Denn Torx würde das auf keinen Fall einfach hinnehmen! Er würde sie von all seinen verfügbaren Leuten suchen lassen und es dabei nicht scheuen, über Leichen zu gehen, wenn es nötig war. Gruth wusste natürlich, wie gut Torx sein Netz aus Verbindungen und Mittelsmännern im Griff hatte. Man würde Nylla auf der Spur bleiben und man würde sie letztendlich finden. Garantiert.
Es war wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis er wieder auf diese gerissene, junge Schmugglerin treffen würde. Und irgendwie....
Irgendwie freute er sich schon auf das Wiedersehen....
Episode 1: Der Absturz
„Wir sind getroffen!“ schrie Khisall hysterisch. „Die Heckschilde sind weg!“
Khisalls Stimme überschlug sich vor lauter Panik. Sie brüllte aus nächster Nähe und in voller Lautstärke in Jehnirs rechtes Ohr, aber er nahm die Schmerzen kaum wahr. Er war völlig im Tunnel und viel zu sehr damit beschäftigt, die Steuerkonsole zu bedienen.
„Die haben uns gleich!“ Khisall schrie noch lauter und schriller. „Wir sind erledigt!“
„Ich versuche schneller runter zu gehen!“ zischte Jehnir durch zusammengebissene Zähne. „Aber die Bugschilde sind auch schon kurz vor dem Ende! Wenn wir zu steil in die Atmosphäre eintreten, schmilzt uns vielleicht das verdammte Schiff unterm Hintern weg!“
Er schwitzte auch jetzt schon ganz erheblich und musste sich kurz mit dem Ärmel über die Stirn wischen, damit ihm die Schweißtropfen nicht in die Augen rinnen konnten. Er warf einen bangen Blick auf den Sichtschirm vor sich und sah eigentlich nur brennende Luft – und dahinter konnte er ganz schemenhaft die Oberfläche des Planeten ausmachen, auf die sie gerade zurasten.
„Wenn die uns nochmal treffen, sind wir auf jeden Fall tot!“ erwiderte Khisall. „Du musst es riskieren!“
Jehnir fauchte frustriert. Er vergrößerte den Eintrittswinkel minimal, aber mehr traute er ihrem Schiff wirklich nicht zu. Es war doch nur ein kleines Überwachungsschiff, kaum Schildleistung, keine nennenswerte Bewaffnung und, wie sich gezeigt hatte, auch nicht schnell genug, um ihrem Verfolger davonfliegen zu können.
Gleichzeitig versuchte er weiter Ausweichmanöver zu fliegen, damit das Schiff in ihrem Nacken es schwerer haben würde, den nächsten – und womöglich auch letzten – Treffer zu landen. Doch ein kurzer Blick auf den Taktikschirm verriet Jehnir, dass der gegnerische Pilot hartnäckig hinter ihnen blieb und sie weiter unaufhörlich mit Waffenfeuer eindeckte. Jeden Moment konnte einer dieser Schüsse sie treffen....
„Wie lange noch bis zum Raumhafen?“ fragte er gehetzt, wahrscheinlich zum hundertsten Mal.
„87 Sekunden!“ brüllte Khisall, die neben ihm auf dem Kopilotensitz saß.
Jehnir schnaubte. 87 Sekunden konnten in dieser Situation eine Ewigkeit sein!
Aber endlich sah es so aus, als hätten sie den Atmosphäreneintritt hinter sich. Das Feuer auf dem Sichtschirm schien schwächer zu werden und die Planetenoberfläche war immer deutlicher zu erkennen. Es war eine einheitliche hellgrüne Landmasse, der sie sich da rapide näherten, nur wenige kleine Wolken versperrten die Sicht darauf. Jehnir zog das Schiff hoch und steuerte auf den einzigen Störfleck in diesem Hellgrün zu: Die Stadt Anbis City, dessen Raumhafen ihr Ziel war.
Plötzlich wurde ihr Schiff mächtig durchgeschüttelt und Khisall schrie erneut auf. Jehnir erschrak fürchterlich und brauchte zwei Sekunden, um die richtigen Steuerkontrollen wiederzufinden
„Irgendwas haben sie getroffen!“ verkündete Khisall entsetzt. „Wir verlieren jetzt rapide Energie!“
Jehnir fluchte lautlos. Er versuchte die Flugbahn zu stabilisieren, aber das Schiff reagierte plötzlich nur noch sehr träge. Außerdem waren auch seine Finger schweißnass und rutschten zunehmend auf den Schaltflächen ab – oder war es seine Konzentration, die nachließ? Sein Kopf pochte und fühlte sich furchtbar heiß an.
„Halte bitte durch!“ beschwor ihn Khisall. „Wir erreichen gleich Anbis City!“
Jehnir nickte hastig, während er um die Kontrolle über ihr Schiff kämpfte. Sie waren jetzt unterhalb der Wolkendecke und vor ihnen war schon die Skyline der Stadt auszumachen.
Plötzlich hallte eine laute, energische Stimme durch den Schiffsraum: „Unbekanntes Schiff: Sie nähern sich besiedeltem Gebiet! Es ist nicht erlaubt, Raumschiffe durch den Luftraum über Anbis City zu fliegen! Drehen Sie ab und nähern Sie sich dem Raumhafen von der anderen Seite!“
Jehnir und Khisall keuchten beide laut auf. Jetzt abdrehen?! Das würde die Flugzeit bis zum rettenden Raumhafen erheblich vergrößern!
„Das kannst du vergessen!“ schrie Jehnir zurück, obwohl er wusste, dass man ihn am anderen Ende nicht hören konnte. „Wir sind so gut wie tot, wenn wir noch eine Schleife fliegen!“
Jehnir blieb auf Kurs. Die ersten Häuser der Stadt waren jetzt unter ihnen. Sie mussten über die ganze Stadt fliegen, um zum Raumhafen zu kommen, aber bei dieser Geschwindigkeit würde das nur ein paar Sekunden dauern. Dummerweise folgte auch das andere Schiff ihnen unbeirrt in den verbotenen Luftraum. Und es feuerte immer noch ohne Unterlass.
„Unbekanntes Schiff! Verlassen Sie sofort den städtischen Luftraum! Das ist eine strafbare....“
„Anbis City, hier Agent Jehnir und Agent Khisall von der Kosmopol!“ schrie Khisall. Anscheinend hatte sie einen Antwortkanal öffnen können. „Das ist ein Notfall! Wir haben wichtige Daten an Bord, die unbedingt.... Aaah!!“
Plötzlich wurden sie und Jehnir in ihren Sitzen nach vorne geschleudert. Gleichzeitig ging ein ohrenbetäubender Knall durchs Schiff. Einen Moment später wurden sie zurück in ihre Sitze gedrückt, als das Schiff kräftig zu trudeln begann. Das war er, konnte Jehnir nur grimmig denken. Der Treffer, den wir die ganze Zeit befürchtet haben. Und dabei war die Rettung doch schon so nah gewesen....
Erstaunlicherweise war Jehnir jetzt ganz ruhig. Er hörte auch Khisall neben sich nicht mehr schreien. Alles, was er noch wahrnahm, war das Muster aus Häusern und Straßen, das auf dem Sichtschirm rasend schnell größer wurde. Er schloss die Augen und versuchte noch, sich seine Frau und seinen Sohn vorzustellen.
Dann schlug ihr Schiff auf.
Die Bilder von der Absturzstelle liefen schon den ganzen Morgen auf jedem Bildschirm.
Sie zeigten im ständigen Wechsel entweder das noch qualmende Raumschiffwrack, die Spur der Zerstörung, die das Schiff beim Crash in die Stadt gerissen hatte, oder die enorme Rauchwolke, die auch Stunden nach dem Absturz immer noch über diesem Teil von Anbis City hing.
Kommissar Alsth erschauderte jedes Mal aufs Neue, wenn er die Bilder sah. Aber es gelang ihm trotzdem nicht, seine Augen von diesem erschreckenden Anblick abzuwenden. Auch jetzt konnte er nicht anders, als den Monitor in dem kleinen Warteraum anzustarren, auf dem der Nachrichtenfeed zu sehen war. Natürlich gab es seit dem Absturz kein anderes Thema mehr in den Nachrichten von Anbis City.
Es war eins der größten Unglücke in der bisherigen Geschichte der noch jungen Stadt und das erste, das Alsth wirklich so bewusst mitbekam. Er war hier in Anbis City geboren und hatte seine bisherigen 26 Lebensjahre in der Stadt verbracht, aber eine Katastrophe dieses Ausmaßes hatte es in dieser Zeit nie gegeben, deswegen bereiteten diese Bilder ihm ein bisher ungekanntes mulmiges Gefühl. Und das hatte sich nur noch verstärkt, als er vorhin erfahren hatte, dass er und sein Partner, Kommissar Kheilo, in diesem Fall ermitteln würden....
Alsth erwartete seinen Partner auf dem Dach der Polizeizentrale von Anbis City, genauer gesagt im Warteraum der kleinen Kontrollstation, von der aus die Polizeishuttles beim Flug überwacht wurden. Wenn er nach draußen aufs Dach hinaussah, konnte er die Shuttles dort aufgereiht stehen sehen. Polizeishuttles gehörten zu den wenigen Fluggeräten, die in Ausnahmefällen über die Stadt fliegen durften – und warum diese Regel eine sehr sinnvolle war, hatte sich heute Morgen schmerzlich bestätigt, nachdem ein Raumschiff dieses Verbot missachtet und auf die Stadt herabgestürzt war.
Der Hauptturm der Polizeizentrale war eins der höchsten Gebäude der Stadt und wenn Alsth nach draußen gehen würde, könnte er die Rauchwolke auch mit bloßem Auge in einiger Entfernung ausmachen. Aber das war irgendwie noch realer und folglich noch erschreckender – also starrte er lieber weiterhin nur auf diesen Bildschirm vor ihm....
„Weiß man schon etwas Neues?“
Alsth wandte sich um und entdeckte Kommissar Kheilo, der gerade aus dem Lift getreten war und nun zu ihm herüberkam. Alsth nickte seinem Partner ernst zu.
„Die Opferzahl ist auf 24 gestiegen“, erwiderte er. „Die zwei Insassen des Schiffs – und 22 nichtsahnende Bürger von Anbis City.“
Kheilo seufzte, während er nachdenklich auf den Bildschirm blickte. Dann sah er Alsth an und schenkte ihm ein verständnisvolles, aufmunterndes Lächeln.
Sofort fühlte Alsth sich schon ein bisschen besser. Er hatte schon immer gefunden, dass Kheilos Gesichtszüge irgendwie.... beruhigend wirkten. Die intelligenten Augen, die ernsthafte und trotzdem gemütlich wirkende Miene, seine Denkerfalten auf der Stirn – all das verursachte bei Alsth das Gefühl, dass Kheilo wie ein Fels war, der selbst in extrem unruhiger Witterung einen sicheren Halt bot.
Er war etwa zwanzig Jahre älter als Alsth und hatte schon einiges mehr an Erfahrung im Polizeigeschäft. Deswegen übernahm Kheilo in ihrem Zweierteam meistens die Führungsrolle und leitete ihre gemeinsamen Ermittlungen, obwohl die beiden eigentlich denselben Rang hatten. Aber das machte Alsth nicht besonders viel aus, denn trotz des Altersunterschieds verstanden sich die beiden recht gut und Alsth überließ Kheilo in den meisten Fällen nur allzu gerne die Verantwortung.
„Dabei hatten wir wohl noch Glück, dass das Schiff in einem relativ dünn besiedelten Bereich der Stadt runtergekommen ist“, meinte Kheilo mit seiner gewohnt ruhigen, gemächlichen Stimme. „Wenn es irgendwo in der Nähe des Zentrums abgestürzt wäre.... Es hätte bestimmt ein Vielfaches an Toten gegeben....“
„Stimmt“, murmelte Alsth und musste bei dieser Vorstellung schlucken.
„Aber wir sollten wohl langsam losfliegen.“ Kheilo runzelte die Stirn. „Du hast uns doch hoffentlich die Abfluggenehmigung besorgt und nicht nur die ganze Zeit auf diesen Bildschirm gestarrt....“
„Hab ich – der Pilot ist schon an Bord und bereitet den Start vor.“ Alsth erwiderte Kheilos fragenden Blick leicht trotzig. „Seitdem warte ich nur darauf, dass du endlich aufkreuzt. Was hat unsere Direktorin dir denn noch so Wichtiges mitteilen müssen, bevor wir losfliegen können?“
„Ein paar Infos über die Hintergründe unseres Falls.“ Kheilo hob seine Hand, in der er ein Notepad hielt, und wedelte kurz damit herum. „Ich hab den ganzen Bericht hier drauf – aber damit wir nicht noch mehr Zeit verlieren, würde ich sagen, wir reden während des Flugs weiter. Also? Können wir dann endlich los?“
Alsth zuckte mit den Achseln. „Hey, ich steh hier schon seit einer Ewigkeit....“
„Na dann – die Arbeit wartet.“
Kheilo winkte Alsth mit sich und trat aufs Dach hinaus. Alsth warf einen letzten Blick auf den Bildschirm und folgte dann seinem Partner.
Kurze Zeit später hob das Polizeishuttle mit Kheilo und Alsth an Bord vom Dach der Polizeizentrale ab und machte sich auf den Weg zur Absturzstelle. Ein paar Minuten würde der Flug schon dauern, da keine Eile bestand und der Pilot aus Sicherheitsgründen bei einem gemächlichen Tempo bleiben musste.
Kaum hatte das Shuttle etwas Geschwindigkeit aufgenommen, drehte Alsth sich in seinem Sitz zu Kheilo um und belegte ihn mit einem erwartungsvollen Blick. „Also – neue Infos von der Direktorin? Hast du zufällig Lust, mich schon mal über das Wichtigste aufzuklären – ich meine, solange wir jetzt sowieso unterwegs sind....?“
Kheilo schmunzelte.
Das machte er ständig und Alsth hatte irgendwie den Eindruck, dass Kheilo ihn in solchen Momenten immer noch als einen grünen Anfänger sah, der gerade erst zur Ermittlungsabteilung gewechselt hatte und sich erst mit der Situation anfreunden musste. Dabei war Alsth jetzt schon fast vier Jahre in diesem Job und hatte sich längst gezwungenermaßen an die Leichen und Tatorte gewöhnt, die er in dieser Zeit schon hatte sehen müssen.
Natürlich war er noch längst nicht so abgebrüht wie sein älterer Partner und würde es vermutlich auch nie werden – dazu kam ihm sein Temperament einfach zu oft in die Quere. Ursprünglich war er über das Einsatzkommando in den Polizeidienst eingestiegen, hatte aber recht schnell gemerkt, dass ihn die Ermittlungsarbeit noch mehr faszinierte. Also hatte er während des Einsatztrainings nebenher auch die notwendigen Prüfungen abgelegt, um in relativ jungem Alter schon als Kommissar anfangen zu können. Trotzdem war er von Natur aus nun mal eher ein Mann der Tat. Kheilo dagegen war jemand, der am liebsten seinen Verstand und seine Rhetorik einsetzte, um Verbrecher zu überführen, und nicht besonders gerne und gut mit Waffen umging. Deshalb ergänzten die beiden sich ziemlich gut bei ihren Ermittlungen.
„Was für ein Glück für dich, dass du einen Partner hast, der gerne Geschichten erzählt, nicht wahr?“ erwiderte Kheilo mit recht offensichtlichem Humor in der Stimme. „Am Ende müsstest du diese ganzen langweiligen Berichte noch selbst lesen. Hab ich recht?“
Alsth kniff die Augen zusammen und versuchte zu grinsen. „Na ja, diese Dinger sind immer so ewig lang und staubtrocken. Außerdem: Steht da überhaupt irgendwas drin, was ich nicht sowieso schon aus den News weiß?“
Kheilo zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung. Was weißt du denn aus den News?“
„Hmm, mal sehen....“ Alsth zählte die Punkte an den Fingern auf. „Das abgestürzte Schiff heißt Zella und ist ein Überwachungsschiff der Kosmopol. Es hat beim Anflug auf den Raumhafen die Flugverbotszone über der Stadt verletzt. Zwei Kosmopol-Agenten waren an Bord, die bei dem Absturz ums Leben gekommen sind.“
Eine kleine Pause entstand, in der Alsth so tat, als wäre damit bereits alles gesagt und Kheilo so tat, als würde er noch auf etwas warten. Natürlich wussten beide, was der jeweils andere wirklich gerade dachte....
„Und?“ fragte Kheilo schließlich mit einer erwartungsvollen Geste. „Wo kam die Zella her? Welche Einsatzbefehle hatten die Kosmopol-Agenten? Was war die Absturzursache?“
„Was das angeht....“ Alsth druckste herum. „....tappen die Medien immer noch ein bisschen im Dunkeln. Man weiß eigentlich nur, dass das Schiff angeblich gar nicht vorhatte, nach Anbis City zu kommen. Dass es sich nur durch einen unvorhergesehenen Zwischenfall dem Planeten genähert hat. Angeblich hat unser Raumhafen kurz vor dem Absturz einen Funkspruch von dem Schiff erhalten, der eine Notlandung auf dem Raumhafengelände ankündigte. Aber das ist alles nicht so ganz sicher.“
Kheilo knurrte amüsiert. „Oder mit anderen Worten: Eigentlich wissen die so gut wie nichts.“
Alsth blickte Kheilo abschätzend an. „Jetzt sag bloß nicht, der Bericht weiß das alles besser!“
„Du wirst es nicht für möglich halten, aber dieses Ding ist wirklich sehr informativ!“
„Willst du dann nicht endlich einen Unwissenden wie mich erleuchten?“
Kheilo verschränkte die Arme und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Jetzt kam für ihn nämlich eines der Dinge, die er immer am liebsten machte: Tatbestände zusammenfassen.
„Pass auf“, begann er. „Dieses Schiff, die Zella, stammt direkt von der Kosmopol-Zentrale auf Borla und war gerade hier im Anbis-System mit irgendwelchen Ermittlungen beschäftigt. Und inzwischen war die Kosmopol so freundlich, uns ein paar spärliche Infos darüber zukommen zu lassen. Daraus geht hervor, dass die Ermittlungen der Zella schon fast beendet waren. Die Agenten an Bord haben schon auf Borla Bescheid gegeben, dass sie sich auf den Weg zurück zur Zentrale machen wollen.
So. Irgendwas muss aber im letzten Moment schief gelaufen sein. Man hat keine Ahnung, was genau, aber das wahrscheinlichste Szenario ist wohl, dass die Überwachung aufgeflogen ist. Wahrscheinlich wurden sie von denjenigen entdeckt, denen sie da draußen nachspioniert haben, und angegriffen. Entweder wurde dabei der Hyperantrieb der Zella beschädigt oder die Agenten hatten irgendeinen anderen Grund, in Richtung Anbis 2 zu flüchten. Auf jeden Fall hat die Zella den Raumhafen von Anbis City ansteuern wollen, um so den Verfolgern zu entkommen.“
Alsth knurrte grimmig. „Und natürlich hatten sie den grandiosen Einfall, direkt über die Stadt zu fliegen, während sie von irgendwem beschossen wurden.“
„Der Kosmopol-Bericht hat das nur wage angedeutet, aber anscheinend müssen die Ermittlungsergebnisse der Kollegen ziemlich wichtig gewesen sein“, erwiderte Kheilo. „So wichtig, dass sie es wohl für vertretbar hielten, dieses Risiko einzugehen. Leider mit dem bekannten unglücklichen Ergebnis.“
Alsth sah nach draußen. Sie hatten jetzt schon fast die zentralen Sektoren der Stadt hinter sich gelassen, in denen recht hohe Wolkenkratzer das Stadtbild beherrschten. Je weiter sie sich vom Stadtzentrum entfernten, desto mehr nahmen die Wohngebiete mit flachen, alleinstehenden Häusern und Gartenflächen Überhand. Am Horizont war die Rauchwolke von der Absturzstelle schon sehr deutlich zu sehen – also wandte Alsth sich schnell wieder Kheilo zu.
„Und über dieses ominöse Verfolgerschiff wissen wir etwa gar nichts?“
Kheilo seufzte. „Es ist sofort wieder abgehauen, nachdem es die Zella abgeschossen hatte. Es war so schnell weg, dass niemand Zeit hatte, es zu verfolgen. Man weiß nur, dass das unbekannte Schiff für seine Größe ziemlich stark bewaffnet gewesen sein muss und dass es keine offizielle Kennung hatte. Was auch immer das bedeuten mag.“
Alsth rümpfte die Nase. „Das klingt jetzt aber auch nicht alles besonders erhellend, Kheilo. Die Kosmopol müsste doch viel mehr über diese Verfolger wissen, oder etwa nicht? Sonst hätte man sie ja wohl kaum observiert.“
„Tja....“ Kheilo stieß einen gequälten Lacher aus. „Das ist ja gerade das Problem bei der Sache: Die Arbeit der Zella war leider geheim, das heißt, die Kosmopol will uns nicht viel darüber verraten, um was es bei ihren Ermittlungen eigentlich geht. Es muss wirklich ein extrem heißes Eisen sein, an dem sie da dran sind. Auf jeden Fall sind die von Borla nicht besonders glücklich darüber, was mit ihrem Schiff, ihren Agenten und den ganzen Informationen, die sie gesammelt haben, passiert ist.“
Kheilo hielt inne und Alsth nutzte die Gelegenheit, um eine Frage loszuwerden: „Sag mal, irgendwie verstehe ich da was nicht so ganz: Es ist ein Kosmopol-Schiff verunglückt, zwei Kosmopol-Agenten sind getötet worden und das hat ganz sicher was mit diesem Kosmopol-Fall zu tun, an den die Zella dran war. Warum zum Henker haben dann wir den Ermittlungsauftrag bekommen? Sollte die Kosmopol nicht das größte Interesse daran haben, den Fall selbst zu übernehmen?“
„Darauf wollte ich eigentlich gerade kommen“, erwiderte Kheilo. „Die Kosmopol hat nämlich genau so argumentiert. Sie haben schon kurz nach dem Absturz bekannt gegeben, dass sie ihr eigenes Ermittlungsteam nach Anbis City schicken wollen.“
„Und was ist dann schief gelaufen?“
„Kannst du dir das nicht denken? Fast zwei Dutzend Bürger von Anbis City sind umgekommen. Die Vorstellung, dass jemand von Borla herkommt und das allein untersucht, hat unseren hohen Tieren gar nicht gefallen.“
„Ach ja, natürlich.“ Alsth klopfte sich an die Stirn. „Unterschätze niemals das Ego von Lokalpolitikern.“
Kheilo knurrte amüsiert. „Unser Bürgermeister war natürlich sofort dagegen, dass sich hier die Kosmopol breit macht und einfach die Kompetenzen seiner Stadt untergräbt. Er hat argumentiert, dass der Fall zum allergrößten Teil eine Angelegenheit von Anbis City ist. Schließlich haben wir hier die größten Verluste zu beklagen.
Aber im Grunde geht es dem Bürgermeister natürlich darum, sich zu profilieren. Er steht wesentlich besser da, wenn seine Stadt selbst die Aufklärung übernimmt. Und natürlich geht es auch ein bisschen darum, seine Souveränität gegenüber Borla zu beweisen. Der Bürgermeister will sicherlich deutlich machen, dass seine hübsche Kolonie hier auf eigenen Beinen stehen kann und auch große Zwischenfälle ohne die Unterstützung aus den Zentralsystemen bewältigen kann.“
„Der Bürgermeister ist größenwahnsinnig“, brummte Alsth mürrisch.
„Na ja, jetzt übertreib mal nicht. Soll ich dir was sagen: Ich stimme ihm durchaus zu! Es sieht erheblich besser für unsere Leute aus, wenn sie auch mal selbstständig mit so einer Sache fertig werden und nicht auf Schützenhilfe von der Kosmopol angewiesen sind.“
„Was? Bist du jetzt übergeschnappt? Diese Sache ist doch wohl wirklich eine Nummer zu groß für uns! Ich meine, streng geheime Ermittlungen der Kosmopol, dunkle Verfolger, die Schiffe über bevölkertem Gebiet abknallen....“
Kheilo unterbrach ihn schnell: „.... und um das gleich mal vorweg zu nehmen: Auch die Kosmopol hat den Forderungen unseres Bürgermeisters schließlich zugestimmt! Sonst wären wir jetzt ja nicht hier!“
„Die Kosmopol hat zugestimmt?! Was ist denn jetzt kaputt?!“
„Ich glaube, die Kosmopol macht sich in letzter Zeit eine Menge Sorgen um ihr Image. Besonders in den Randsystemen haben sie immer mehr den Ruf als bürokratische Geheimniskrämer, die sich ständig in örtliche Angelegenheiten einmischen müssen. Wenn sie diesen Fall alleine untersuchen würden, würden sie genau dieses Klischee bedienen und die öffentliche Meinung noch weiter gegen sich aufbringen – besonders hier in Anbis City.“
„Und du glaubst, die Kosmopol interessiert sich dafür, was die Leute in so einem Provinznest wie unserem von ihr denken?“
Kheilo zuckte mit den Achseln. „Auf jeden Fall wäre es für sie schwer geworden, hier in Ruhe ihren Ermittlungen nachzugehen. Deswegen haben sie auch einem Kompromiss zugestimmt: Sie wollen einen Agenten hier her schicken, der dann mit der Polizei von Anbis City zusammen an diesem Fall arbeitet. Und auch unser Bürgermeister war wohl mit diesem Kompromiss einverstanden. Und damit sind wir jetzt an diesem Fall und müssen uns nur mit diesem Agenten von der Kosmopol arrangieren, der bald hier eintreffen wird.“
„Na toll. Wir bekommen also demnächst so einen Anzugträger von der Kosmopol aufgehalst und müssen dann mit dem zusammen einen Fall bearbeiten, über den wir so gut wie gar nichts wissen. Und wahrscheinlich wird der auch total begeistert sein, dass er mit uns zusammenarbeiten darf. Genau so begeistert wie ich.“
„Alsth.... Ich finde es sehr wichtig, dass die Bürger dieser Stadt alle Einzelheiten und Umstände erfahren, die zu dieser Katastrophe geführt haben, und dass die Sache nicht hinter irgendeinem geheimen Aktenzeichen der Kosmopol endet. Ich finde, die Bevölkerung von Anbis City hat ein Recht darauf. Und wenn wir beide an diesem Fall beteiligt sind, können wir das auch schaffen, im Gegensatz zu so einer verschwiegenen Einsatztruppe der Kosmopol. Ich bin sehr glücklich darüber, dass wir hier aktiv mitarbeiten können.“
„Ja, schon gut! Ich bin ja schon still. Sag mal, wann soll dieser Agent hier ankommen?“
„In knapp zwei Stunden soll sein Shuttle hier am Raumhafen landen. Und wir sollen ihn nachher dort abholen. Aber zuerst wollte ich mir unbedingt einmal ohne diesen Agenten den Tatort anschauen und mich mit der Spurensicherung besprechen. Die Daten, die wir eventuell noch aus dem Computer des Wracks bergen können, dürften sehr hilfreich für uns sein und ich will es nach Möglichkeit vermeiden, dass uns dieser Agent mit seiner Heimlichtuerei gleich dazwischen funkt.“
In dem Moment spürte Alsth, wie das Shuttle in den Sinkflug ging, und sah nach draußen. Sofort drehte sich ihm der Magen um.
Sie waren nun direkt über dem Unglücksort und die Auswirkungen des Absturzes waren wirklich verheerend. Die Spur der Zerstörung, die das Raumschiff bei seiner unfreiwilligen Landung in die Stadt gerissen hatte, zog sich locker über einen Kilometer hin, vorbei an halb eingestürzten Häusern, durch ehemals grüne Gärten und über verschüttete Wege. Am Ende war das Schiff in einer großen Erdmulde zum Stillstand gekommen. Dort lag es nun, sah extrem demoliert aus und qualmte immer noch ein bisschen, obwohl das Unglück jetzt schon ein paar Stunden her war.
Neben dem Wrack erkannte Alsth die typischen weißen Zelte der Spurensicherung, die schon seit einer Weile am Tatort waren und fleißig Aufräumarbeiten und Beweissicherung betrieben. Eine ganze Menge Leute in blauen Overalls wuselten schon in der Umgebung der Absturzstelle herum.
Das Shuttle hatte inzwischen zur Landung angesetzt und Kheilo erhob sich nun von seinem Stuhl. „Dann schauen wir doch mal, was unsere Leute schon herausgefunden haben....“
Alsth blieb kurz stehen, als er das Shuttle verließ, und ließ sich einen Moment Zeit, um den leichten, warmen Wind zu genießen, der hier draußen wehte. Anbis 2 war von Natur aus ein eher heißer Planet und obwohl Anbis City ziemlich weit nördlich lag, war das Klima vergleichbar mit den irdischen Subtropen. Dazu kam noch, dass die Stadt mitten auf einem sehr großen, kompakten Kontinent lag und dass der Planet aufgrund seiner nahezu senkrechten Planetenachse kaum Jahreszeiten kannte. All das führte dazu, dass das Wetter in Anbis City fast immer genau gleich aussah.
Natürlich war Alsth als gebürtiger Einwohner von Anbis City dieses Klima gewohnt, dennoch war der laue Wind eine willkommene Abwechslung zur abgestandenen Luft im Shuttle. Allzu lange ließ Alsth sich aber nicht aufhalten, sondern schloss nach wenigen Sekunden wieder zu Kheilo auf, der schon vorgegangen war. Gemeinsam gingen die beiden zielstrebig zu den weißen Zelten der Spurensicherung hinüber, vor denen bereits mehrere Leute ihrer Arbeit nachgingen und Teile des Wracks untersuchten.
Kheilo sah sich nach jemandem um, den er nach dem Weg fragen konnte, und entdeckte einen Mitarbeiter im typischen hellblauen Overall der Spurensicherung, der gerade aus dem Wrack geklettert war und ihnen entgegen lief. Man konnte ihn auch kaum übersehen, denn er war nicht nur sehr hochgewachsen, sondern auch ziemlich muskulös und breit gebaut. Alsth musste beim Anblick dieses Kleiderschranks ein bisschen schmunzeln, denn normalerweise waren die Leute von der Spurensicherung eher unscheinbar. Labor-Typen eben.
„Entschuldigung“, rief Kheilo, woraufhin der Hüne stehen blieb und zu ihnen herunterblickte.
„Ist Ihr Chef in einem der Zelte?“ fragte Kheilo ihn. „Oder war er bei Ihnen im Schiff?“
Der Typ überlegte kurz und strich sich dabei über seinen schwarzen Kinnbart. Dann ließ er seine dunkle, grollende Stimme erklingen. „Ich denke, er ist drinnen im Zelt. Im Schiff war er bis jetzt zumindest nicht.“
„Ah, okay. Und in welchem Zelt?“
Die Frage schien den Spurensicherer aus irgendeinem Grund nervös zu machen. Er zuckte mit den Achseln. „Äh, keine Ahnung. Ich schätze, in dem großen in der Mitte.“
„Danke“, sagte Kheilo und wandte sich dann dem Eingang zu.
Alsth stutzte noch einen Moment, weil der Kerl ihm irgendwie seltsam vorkam, aber anscheinend war Kheilo nichts weiter aufgefallen – und er hatte ohnehin die bessere Menschenkenntnis von ihnen beiden. Außerdem war der Hüne schon hinter dem nächsten Zelt verschwunden, wo er offenbar irgendeine Arbeit zu tun hatte. Also folgte Alsth seinem Partner achselzuckend.
Im Zelt selbst waren mindestens genau so viele Leute mit irgendetwas beschäftigt wie draußen und so sah es hier drinnen ein bisschen überfüllt und chaotisch aus. Alsth brauchte einige Zeit, um den Gesuchten auszumachen, aber dann entdeckte er ihn im hinteren Bereich des Zeltes.
Roald, der Chef der Spurensicherung, erhob sich sofort von seinem Computer, als er Kheilo und Alsth erblickte, und kam auf sie zu.
„Ah, die Herren Kommissare!“ begrüßte er sie laut. „Wollen Sie sich selbst ein Bild von diesem Haufen Schrott dort drüben machen, der noch von diesem schönen Raumschiff übriggeblieben ist?“
Roald sah nun schon eher wie das aus, was Alsth von einem typischen Spurensicherer im Kopf hatte. Der hellblaue Arbeitskittel, den er trug, verstärkte diesen Eindruck noch. Der Chef der Spurensicherung war für Alsth inzwischen kein Unbekannter mehr, schließlich kamen sie bei fast keinem ihrer Fälle um ein oder mehrere Gespräche mit ihm herum.
„Ganz genau“, antwortete Kheilo. „Außerdem wollten wir uns Ihre ersten Untersuchungsergebnisse direkt vor Ort abholen. Und zwar bevor dieser Kosmopol-Agent hier auftaucht und uns in die Suppe spuckt.“
„Ich verstehe.“ Roald grinste. „Gehen wir nach draußen, wo ein bisschen weniger los ist, würde ich sagen.“
Die drei verließen das Zelt wieder und entfernten sich ein gutes Stück von ihm, um sich ungestört unterhalten zu können.
„Ich muss Ihnen gleich sagen, dass wir eigentlich noch nicht so weit sind, Ihnen wirklich brauchbare Informationen für Ihre Ermittlungen zu liefern“, begann Roald. „Obwohl wir natürlich schon einiges an Arbeit geleistet haben. Aber wir haben uns eben bis jetzt vor allem um die Sicherung des Tatorts gekümmert und den Kollegen von der Notfallhilfe bei der Bergung der Toten und Verletzten geholfen. Ich denke, Sie verstehen, dass das absoluten Vorrang hatte.“
„Na klar“, erwiderte Kheilo. „Das ist natürlich für die Menschen hier am wichtigsten, besonders für die Angehörigen.“
„So ist es.“ Roald nickte resignierend und hob dabei kurz die Hände.
„Das heißt, die Leichen sind alle schon weggebracht worden?“ fragte Alsth. „Konnte man sie alle identifizieren?“
„Die meisten.“ Roald wiegte mit dem Kopf. „Bei dreien hat der ID-Scanner nicht angeschlagen. Entweder sind sie nicht als Bürger der Stadt registriert oder die ID wurde durch Feuer oder chemische Reaktionen zu stark verändert. Das sollte sich aber später im Labor und beim Abgleich mit den Vermisstenmeldungen klären lassen.“
„Und wie ist es mit der Crew der Zella?“ fragte Kheilo.
„Die Leichen der beiden Agenten haben wir ebenfalls geborgen und die befinden sich wohl schon auf dem Weg nach Borla“, klärte Roald ihn auf. „In dem Fall sind die von der Kosmopol hart. Aber das ist für mich auch verständlich.“
„Sie haben sich also noch gar nicht um die Datenbanken der Zella gekümmert?“ wollte Kheilo wissen. „Diese Daten könnten für uns sehr wichtig sein, weil sie mit Sicherheit einiges über diesen Verfolger zu verraten haben – seine Identität und Herkunft und so weiter.“
„Nein, damit haben wir noch gar nicht angefangen. Wir hatten bis jetzt eben Wichtigeres zu tun – nichts für ungut, Herr Kommissar. Außerdem bezweifle ich, dass die Kosmopol es besonders gern sehen würde, wenn wir einfach in ihren Dateien herumschnüffeln....“
„Die Kosmopol sieht viel nicht gern“, bemerkte Alsth. „Das ist schließlich ihr Job.“
„Na ja, ich halte es auf jeden Fall für sinnvoll, wenn wir diese Daten schon einmal sicherstellen, bis dieser Agent hier eintrifft“, sagte Kheilo mit seiner besten Unschuldsmiene. „Ob wir es mit unserem Gewissen vereinbaren können, ohne ausdrückliche Erlaubnis darin herumzustöbern, können wir dann immer noch später entscheiden. Notfalls kann sich die Kosmopol ja dann bei der Direktorin über uns beschweren.“
„Ich verstehe schon.“ Roald rieb sich die Hände und blickte nachdenklich zum Wrack hinüber. „Na gut, wenn Sie wollen, kann ich gleich persönlich damit beginnen, mich am Speicherkern der Zella zu vergreifen. Und Sie können eigentlich auch mitkommen und sich bei der Gelegenheit das Wrack mal von innen ansehen. Aber nur, wenn Sie gerade nichts Besseres zu tun haben.“
Kheilo blickte seinen Partner erwartungsvoll an. „Na, Alsth, wie sieht es aus? Haben wir gerade etwas Besseres zu tun?“
„Etwas Besseres als in Kosmopol-Geheimnissen herumzuschnüffeln?“ Alsth zuckte mit den Achseln. „Ich wüsste nichts.“
Roald grinste. „Gut, kommen Sie mit, Sie bekommen einen Schutzhelm und ein paar Stiefel aus unserer Ausrüstung und dann widmen wir uns gemeinsam Ihren heiß ersehnten Kosmopol-Daten.“
Der Innenraum der Zella, der schon von Natur aus nicht gerade geräumig war, war extrem verwüstet und bot kaum genug Raum für die drei Herren, um sich gleichzeitig darin aufzuhalten. Sie stiegen durch die Eingangsluke an der Bugsektion ein, in der sich das Cockpit des Schiffs befand. Der viele Schutt und die verbogenen Stützstreben und losgelösten Abdeckplatten machten es fast unmöglich, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Der Qualm im Inneren des Schiffs war immer noch so stark, dass Kheilo, Alsth und Roald Atemschutzmasken tragen mussten. Sie kämpften sich nacheinander irgendwie zum Zugang zur Hecksektion durch, wo sie vor dem nächsten Problem standen: Die Zugangstür, die ohnehin ziemlich schmal war, ging zur Hälfte überhaupt nicht auf und die zweite Hälfte war so verbeult, dass man sich nur mit Gewalt durchquetschen konnte. Die drei Herren mussten ziemlich ihre Gelenke verbiegen, um den kleinen Raum im Heck betreten zu können, in dem das Überwachungsequipment des Schiffs untergebracht war. Hier sah es sogar noch verwüsteter aus als im Cockpit: Die ganzen Instrumente, Datenträger und Einrichtungsgegenstände waren derart zerstört und herumgewirbelt worden, dass der gesamte Fußboden von einer kniehohen Gerümpelschicht bedeckt war.
Natürlich war es hier drinnen stockdunkel, da das Wrack keine Energie mehr hatte, aber Roald hatte eine Leuchtröhre dabei, die er an einem geeigneten Platz in der Mitte des Raums postierte und die ein akzeptables, wenn auch nicht unbedingt taghelles Licht spendete.
Daneben legte er seinen Werkzeugkoffer ab, öffnete ihn und nahm drei Scandys heraus, kleine, handliche Geräte, mit denen man die nähere Umgebung unter allen möglichen Aspekten untersuchen konnte. Je eines davon reichte er an Alsth und Kheilo weiter, während er das dritte selber behielt.
„So, dann schauen wir mal, ob wir die richtige Datenkonsole finden“, sagte er. „Die Zella hat etliche dezentrale Speicherkerne, wo während so einer Überwachungsmission Unmengen an Daten gespeichert werden. Sehen Sie sich um: Wenn Sie Kosmopol-Agenten wären, wo würden Sie dann besonders wichtige Informationen aufbewahren?“
Kheilo überlegte kurz und sah sich in dem verwüsteten Raum um. „Also, die neueren Daten, die wir suchen – die Sensordaten der letzten Observierung – müssten eigentlich noch als Rohdaten abgelegt und nicht weiter verarbeitet worden sein. Das heißt, sie liegen wohl noch irgendwo im Hauptspeicher.“
„Ja, das würde ich auch sagen“, stimmte Roald zu. „Nur leider ist dieser durch den Aufprall irreparabel beschädigt worden. Sehen Sie nach dort hinten: Dieser zerschmolzene Plastikklumpen, den Sie dort sehen – das ist.... war die Hauptdatenkonsole.“
„Na toll“, brummte Alsth abwesend, während er im hinteren Teil des Raumes mit seinem Scandy herummarschierte. „Dann können wir ja gleich wieder hier verschwinden, bei unserem unglaublichen Glück.“
„Keine Sorge.“ Roald stieg über eine Stützstrebe hinweg und näherte sich einer der hinteren Konsolen, die nicht ganz so erbärmlich aussah. „Diese Kosmopol-Spähschiffchen haben so gut wie immer ein dezentrales Sicherungssystem, wohin wichtige Daten gleich weitergeleitet und für den Ernstfall doppelt und dreifach abgespeichert werden. Jede andere Vorgehensweise wäre auch ziemlich dämlich.“ Er blieb mit dem Scandy vor seiner auserwählten Konsole stehen und studierte die technischen Daten, die ihm dieses kleine, nützliche Gerät lieferte. Dann blickte er sich zu den beiden Polizisten um. „Und diese Konsole hier scheint noch brauchbar zu sein! Wir müssen sie nur wieder in Gang bekommen.“
Roald stapfte zu seinem Koffer zurück und gab dabei genau acht, auf keines der Schuttteile zu treten, die auf dem ganzen Boden verstreut herumlagen. Er kramte ein bisschen im Koffer herum und nahm daraufhin ein längliches, antennenartiges Gerät heraus.
„Damit werden wir versuchen, die letzten Reste an Energie aus dem ganzen Schiff zu dieser Konsole umzuleiten. Das müsste zumindest als Starthilfe reichen, damit wir an den Datenspeicher rankommen. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir hier ein bisschen zur Hand gehen könnten.“
„Was sollen wir tun?“ fragte Kheilo und aktivierte sein Scandy.
„Suchen Sie nach irgendwelchen Restenergien, die hier irgendwo im Schiff übrig sind. Vielleicht können wir noch Energie von der Kaffeemaschine umleiten – um nur ein Beispiel zu nennen.“
Alsth nickte und stellte sein Scandy auf Energieanzeige um. Sofort hatte er schön farbig und in 3D die Standorte von allen möglichen Energiequellen auf dem kleinen Display. Am schärfsten stach da natürlich Roalds Leuchtröhre heraus, aber es gab auch einige andere Punkte, die vom Scandy besonders deutlich angezeigt wurden. Alsth blickte auf und sah, wie Kheilo sich dem vorderen Teil des Raumes näherte. Das war Alsth ganz recht, denn er hatte im hinteren Teil gerade eine interessante Energiequelle ausgemacht, die abgesehen von dieser Leuchtröhre mit Abstand die höchsten Energiewerte lieferte.
„Hey, das ist ja fast wie Ostereier suchen“, bemerkte er und machte einen Schritt in die Richtung, wo sich seine Entdeckung befinden musste.
Dann blieb er jedoch verdutzt stehen, blickte abwechselnd auf das Display und auf den Raum vor ihm und runzelte die Stirn.
„Hey, Roald, sagten Sie nicht gerade, die Hauptdatenkonsole wäre nicht mehr zu gebrauchen?“
„Richtig – warum?“
„Ich.... bin mir nicht sicher. Aber anscheinend kommen genau von dort die stärksten Energiewerte....“
„Was? Das kann nicht sein. Sehen Sie sich dieses Ding doch mal an! Das kann keine Energie mehr haben!“
„Dieses Scandy zeigt aber welche an....“ Alsth trat noch einen Schritt nach vorne, sodass er direkt vor der Energiequelle stand. „Warten Sie, vielleicht ist es doch nicht die Konsole....“ Er zog den Stuhl, der ihm die Sicht versperrte, ein Stück zurück und bückte sich nach unten, wo die Energieanzeige eindeutig herkam.
Und tatsächlich, in der Nische unter der Konsole war ein quadratisches, mittelgroßes Gerät angebracht, das eine matt leuchtende Anzeige hatte und das eindeutig der Grund für diese seltsamen Energiewerte sein musste.
„Hier haben wir es ja!“ rief er aus. „Ein kleiner Kasten. Ich weiß zwar nicht, wozu der gut ist, aber er verbraucht einiges an Energie.“
Roald ließ Kheilo kurz alleine und kämpfte sich durch den Raum zu Alsth hinüber. „Zeigen Sie mal her.“ Irgendwie klang er leicht genervt. „Wir haben das Wrack doch schon untersucht, und wenn uns da so ein Gerät aufgefallen wäre, würde ich mich doch wohl daran erinnern.“
„Also, hier ist es! Ich kann ja auch nichts dafür“, rechtfertigte sich Alsth, als Roald neben ihm stand. Er wies auf den Kasten und sah Roald erwartungsvoll an. „Und? Nützt uns das irgendetwas?“
Roald warf einen ersten Blick auf das Gerät – und sofort versteinerte sich sein Gesichtsausdruck. „Das glaube ich eher nicht!“ Seine Stimme klang plötzlich ziemlich unruhig. „Das ist nämlich eine Bombe!“
Weiter vorne klapperte etwas, als Kheilos Scandy auf den Boden fiel und der Kommissar erschrocken aufsprang. „Eine Bombe?! Ist sie aktiv?“
Roald schien plötzlich ziemlich zu schwitzen. „Das weiß ich nicht! Dieses Ding war vorhin noch nicht da! Meine Herren, wir tun wirklich gut daran, wenn wir jetzt so schnell wie möglich hier verschwinden! Lassen Sie alles liegen, wir müssen auf der Stelle hier raus!“
Dann stolperte er los und Alsth drängte sich sofort hinter ihm auf den Ausgang zu. Kheilo quetschte sich als erster durch die Tür und während Alsth warten musste, bis Roald ihm folgte, verspürte er plötzlich die ersten Anzeichen von Panik.
Eine Bombe.... Wo kam sie plötzlich her? Würde sie jeden Moment hochgehen? Wie viel Zeit hatten sie noch? Nun beeilt euch doch mal ein bisschen!
Alsth drängte sich durch den offenen Türspalt und blieb dabei mit dem Fuß in der schmalen Öffnung stecken. Das unangenehme Gefühl der Hilflosigkeit stieg in ihm hoch, während er sich hektisch zu befreien versuchte. Aber dann war er draußen und sprang durch die Eingangsluke auf den Boden vor dem Raumschiff. Er riss sich die Atemmaske vom Gesicht und hetzte hinter Kheilo und Roald her. Weg vom Wrack, einfach nur möglichst schnell weg von der Bombe....
Es war vielleicht eine Art Instinkt, vielleicht nur sein verzweifelter Versuch, einen Grund für seine Panik zu finden, aber Alsth sah im Moment ganz klar vor Augen, wie der Timer in diesem Moment die allerletzten Sekunden herunterzählte. Er ließ sich keine Zeit, zu überlegen, wo er überhaupt hinrannte, er blickte sich nicht um. Das einzige was er momentan denken konnte, war: So weit wie möglich weg von hier!
„Weg hier!“ hörte er Roald brüllen und sah, wie der Chef der Spurensicherung seinen Kollegen vor den Zelten wild zuwinkte. „Da drinnen ist eine Bombe! Na los! Nehmt die Beine in die Hand!“
Und kurz darauf war Alsth von Dutzenden von Leuten umringt, die alle in die gleiche Richtung rannten. Er sah nur noch hellblaue Overalls, hörte nur noch angestrengtes Atmen und Fußgetrappel und dachte nur an die Bombe da drinnen und wie ihr Countdown auf Null umsprang....
Ein ohrenbetäubendes Donnergrollen ertönte hinter ihm! Und fast im selben Moment erfasste ihn eine Druckwelle. Sie war stark genug, um ihn beinahe umzuwerfen. Er fing sich noch im letzten Moment und prallte dabei gegen den hellblau Gekleideten vor ihm.
Alsth keuchte und hielt sich an seinem Vordermann fest. Er wollte ihm einen entschuldigenden Blick zuwerfen, doch der beachtete ihn gar nicht. Sein entsetzter Blick ging über Alsths Schulter hinweg.
Als auch Alsth sich umsah und dem Blick des Anderen folgte – fielen ihm fast die Augen aus den Höhlen!
Die Zella war spurlos verschwunden! Die Explosion hatte rein gar nichts mehr von ihr übrig gelassen außer einem tiefen Krater und einer dichten Rauchwolke, die darüber schwebte. Und auch von dem Zelt der Spurensicherung, das dem Wrack am nächsten gewesen waren, war nichts mehr übrig abgesehen von ein paar verkohlten Fetzen, die verstreut in dem neu entstandenen Krater lagen.
Während Alsth noch versuchte, seine wild durcheinanderspringenden Gedanken zu ordnen, stellte er plötzlich fest, dass Kheilo und Roald direkt vor ihm standen. Irgendwie musste er es geschafft haben, die beiden während dieses kurzen, panikartigen Spurts zu überholen.
„Was zum Teufel....“, keuchte Roald. „Wie ist dieses Ding dort reingekommen? Das.... ergibt doch überhaupt keinen Sinn!“
Langsam begann Alsth zu begreifen, was er soeben miterlebt hatte – und was dieser Vorfall für ihn und seine Kollegen für Konsequenzen hatte. Die Zella war weg! Vernichtet! Und mit ihr sämtliche wichtigen Daten!
Wenigstens sah es so aus, als hätten sie die Bombe noch rechtzeitig genug entdeckt, dass sie keine weiteren Opfer gefordert hatte. Alsth hoffte nur, dass nicht doch noch jemand von der Spurensicherung in diesem zerstörten Zelt gewesen war.
„Roald, haben Sie wirklich keine Ahnung, wie diese Bombe ins Schiff gekommen sein könnte?“ fragte Kheilo scharf. „Wie kann das sein? Dieses Ding hätten Sie doch wohl kaum übersehen können!“
„Kommissar, ich bin im Moment ebenso ratlos wie Sie. Ich kann Ihnen schwören, wir haben das Schiff von vorne bis hinten untersucht, als wir zum ersten Mal reingegangen sind – und da war keine Bombe!“
„Aber das gibt es doch gar nicht!“ Kheilo war nun wirklich sauer, was Alsth ihm nicht verübeln konnte. „Wie kann vor den Augen mehrerer Dutzend Polizisten unbemerkt eine Bombe in ein bewachtes Wrack gelangen? Warum hat zum Beispiel....“ Kheilo suchte nach Worten. „Kurz nachdem wir angekommen sind, war doch noch jemand von Ihnen im Raumschiff. Der hätte doch wohl diese Bombe entdecken müssen! Oder nicht?“
Roald schüttelte verwirrt den Kopf. „Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Die Arbeiten im Raumschiff waren erst mal beendet, wir waren vor Ihrer Ankunft alle mit Laboruntersuchungen beschäftigt. Niemand von uns hatte einen Grund, noch einmal ins Raumschiff zu steigen. Vor allem nicht, ohne mir vorher Bescheid zu geben.“
„Wir haben doch gesehen, wie jemand herausgekommen ist!“ entgegnete Kheilo. „Alsth, du hast ihn doch auch gesehen!“
Alsth nickte schnell. „Ja, da war dieser riesige Kerl. Warten Sie mal....“
Er blickte sich um und versuchte den Hünen auszumachen, den sie vorhin angesprochen hatten. Inzwischen waren schon einige hellblaue Overalls hier um sie herum versammelt und redeten ähnlich aufgeregt aufeinander ein, aber ein besonders hünenhaftes Exemplar konnte Alsth im Moment nicht ausmachen.
Wo ist er hin?
„Was für ein riesiger Kerl? Meinen Sie jemanden aus meinem Team?“ wollte Roald wissen.
„Richtig, es war jemand von der Spurensicherung. Er ist eindeutig aus dem Raumschiff gekommen“, erklärte Kheilo. „Er hat uns gesagt, wo wir Sie finden können, und ist dann wieder an die Arbeit gegangen. Er war sehr groß, vielleicht anderthalb Köpfe größer als ich, ziemlich muskulös, schwarzhaarig, Kinnbart und er hatte eine ähnliche Garderobe wie alle anderen aus Ihrem Team.“
Roald starrte Kheilo eine Weile nur entgeistert an. „So jemanden gibt es bei der Spurensicherung nicht!“ sagte er dann zittrig. „Glauben Sie mir, ich kenne alle meine Leute, und es gibt hier niemanden, der auch nur annähernd zu Ihrer Beschreibung passt!“
„Verdammt!“ Kheilo schnaufte kräftig aus. „Damit dürfte alles klar sein, oder was meinst du, Alsth?“
Alsths Miene verdunkelte sich. „Ich fürchte schon.“
„Warten Sie mal....“, unterbrach ihn Roald. „Wollen Sie damit sagen, jemand, der als Mitglied der Spurensicherung verkleidet war, hat die Bombe da rein geschmuggelt?“
„Irgendwie muss er wohl an einen Ihrer Arbeitsoveralls gekommen sein, der ihm einigermaßen gepasst hat“, erwiderte Kheilo. „Dann hat er sich unbemerkt ins Raumschiff geschlichen und seine Bombe dort deponiert. Schließlich ist er wieder rausgekommen und als wir ihn ansprachen, hat er schnell irgendwas geantwortet, was ihm logisch erschien. Und zum Schluss ist er wieder verschwunden, ohne dass wir etwas gemerkt haben.“
„Und warum er das gemacht hat, dürfte uns auch klar sein“, ergänzte Alsth grimmig. „Er wollte die Beweise vernichten, die die Zella gesammelt hatte! Das muss jemand von den Leuten gewesen sein, die schon einmal so erpicht darauf waren, dass dieses Kosmopol-Raumschiff nicht weit kommt!“
Kheilo atmete tief durch und blickte zu der Stelle hinüber, wo gerade eben noch das Wrack gewesen war. „Inzwischen ist er natürlich längst über alle Berge“, seufzte er. „Er ist genauso verschwunden wie all die Daten, die uns verraten hätten, wer er ist. Aber wenigstens haben wir jetzt ein Gesicht. Das Gesicht von einem der Übeltäter, die für die heutige Katastrophe verantwortlich sind.“
Er warf einen letzten Blick auf den Krater vor ihnen und drehte sich dann mit entschlossener Miene zu Alsth um. „Und wir beide werden alles daran setzen, ihn zu finden.“
Episode 2: Die Agentin
Gruth stellte den Wasserhahn auf volle Stärke und genehmigte sich erleichtert einen kräftigen Schluck direkt aus dem shuttleeigenen Synthetisierer. Dann formte er seine Hände zu einer Kelle, ließ sie mit Wasser volllaufen und spritzte sich den Inhalt ruckartig ins Gesicht. Er drehte den Hahn wieder ab, ging zum einzigen Sessel hinüber, der im Heckbereich des Shuttles stand, und ließ sich erschöpft hineinfallen.
Die letzten paar Stunden hatten ihn ziemliche Nerven gekostet! Es war nicht einfach gewesen, diese Kleidung aufzutreiben, die ihn wie jemanden von der Spurensicherung aussehen ließ und ihm gleichzeitig zumindest so weit passte, dass er damit kein Aufsehen erregte. Aber zum Glück waren diese Overalls schon von Natur aus eher weit geschnitten und auch recht dehnbar und so war Gruths Körpergröße zumindest nicht zu einem unlösbaren Problem geworden.
Die Bombe in das bewachte Raumschiffwrack zu schmuggeln war da schon weitaus schwieriger gewesen. Dummerweise hatte der Chef der Spurensicherung gerade in dem Moment, als Gruth sich endlich an den Tatort hatte schleichen können, die Arbeiten im Wrack für beendet erklärt. Gruth hatte eine Weile warten und den richtigen Moment abpassen müssen, bis keiner der Polizisten das Wrack im Auge gehabt hatte. Die Warterei hatte ganz schön an seiner Geduld gezehrt und er hatte die ganze Zeit befürchten müssen, dass jemand ihm dumme Fragen stellen würde, warum er hier so lange untätig herumstand und was in diesem großen Koffer war, den er in der Hand hatte.
Als sich dann endlich eine passende Gelegenheit geboten hatte, sich ins Wrack zu schleichen, hatte er sich beim Versuch, die Bombe durch das enge Schiff und den ganzen Schutt darin an die richtige Stelle zu schaffen, beinahe sämtliche Gelenke ausgerenkt und etliche blaue Flecken zugezogen. Manchmal war so eine Körperstatur wie seine eben doch reichlich unpraktisch.
Und als er dann schließlich auf dem Rückweg von diesen zwei Polizisten angequatscht worden war, hatte er zuerst wirklich gedacht, er wäre ertappt worden! Zum Glück hatten die beiden aber nur nach dem Weg fragen wollen und sich nicht weiter über seine nervösen Antworten gewundert. Und so war er auch über dieses letzte Hindernis noch einmal mit einem blauen Auge hinweg gekommen.
Endlich war mal wieder etwas relativ glatt gelaufen! Das Raumschiff war zerstört und mit ihm alle Informationen, die seinem Boss noch gefährlich hätten werden können. Das muss ich Torx gleich mitteilen, vielleicht wird dann seine Laune wieder ein bisschen besser.
Gruth langte zu seinem Computer hinüber, der auf dem Tisch neben dem Sessel stand, und drehte ihn so, dass er direkt auf den Bildschirm sehen konnte. Dann aktivierte er ihn und griff auf das Kommunikationsprogramm des Shuttles zu. Er tippte die Komnummer ein, mit der er Torx erreichen konnte, und wartete auf die Verbindung.
Ungewöhnlicherweise erschien Torx sofort persönlich auf dem aufflackernden Bildschirm. Offenbar hatte er Gruths Komruf schon erwartet.
„Na endlich!“ begrüßte Torx seinen Leibwächter barsch. „Ich habe schon aus den News erfahren, dass du Erfolg hattest. Die haben sofort einen Sonderbericht über die Explosion an der Absturzstelle gebracht.“
„Hallo, Boss“, erwiderte Gruth.
Eigentlich war er Torx inzwischen so weit verbunden, dass er ihn mit seinem Namen anreden konnte. Und das tat er auch sonst immer. Bei Gesprächen über das Komnetz erwartete Torx aber von seinen Leuten, keine Namen zu verwenden. Schließlich gab es selbst bei abhörsicheren Verbindungen keine hundertprozentige Garantie, dass nicht doch jemand mithörte. Die Anrede „Boss“ war in dem Fall eine gute Alternative.
Ganz offensichtlich war Torx recht gut aufgelegt, was bei ihm aber nicht unbedingt hieß, dass er ein freundliches Gesicht machte oder seine Stimme weniger schroff klang. Trotzdem glaubte Gruth von sich sagen zu können, dass er den Gemütszustand seines Chefs inzwischen recht gut deuten konnte. Dass sich Torx‘ Laune wieder etwas gebessert hatte, erleichterte Gruth doch erheblich.
„Es ist eine ziemliche Nervenprobe gewesen“, fuhr er fort. „Ich wäre fast erwischt worden, aber am Ende konnte ich doch aus einiger Entfernung dabei zusehen, wie die letzten Reste unseres kleinen Problems in die Luft gegangen sind.“
„Das höre ich gerne.“ Torx nickte anerkennend. „Darf ich gleich mal fragen, wie es mit unserem.... zweiten kleinen Problem steht?“
„Na ja....“ Gruth zuckte mit den Achseln. „Ich habe die Mädels auf Erkundungstour geschickt. Sie sind noch nicht zurück, aber lange sollte es nicht mehr dauern. Ich kann dich ja später noch einmal anfunken, sobald ich weiß, was die beiden herausgefunden haben.“
Torx nickte. „Ich bin zumindest schon mal erleichtert darüber, dass endlich wieder etwas voran geht. Die letzten paar Tage waren wirklich wie verhext!“
„Das kannst du laut sagen!“ Gruth machte ein ernstes Gesicht. Die Entdeckung, dass ihre Raumstation schon wer weiß wie lange von der Kosmopol observiert wurde, war ein ziemlicher Schock gewesen. Und ihr Versuch, das Kosmopol-Schiff unauffällig aus dem Weg zu räumen, war vollkommen nach hinten losgegangen: Es hatte nach Anbis 2 fliehen können und als sie es endlich eingeholt und abgeschossen hatten, war es auf die Stadt gestürzt! Ihr Versuch, so wenig Aufmerksamkeit zu erregen wie möglich, war damit grandios gescheitert. Aber wenigstens waren jetzt alle Beweise, die die Kosmopol über sie gesammelt hatte, endgültig vernichtet.
„Die ganzen Toten könnten noch unser größtes Problem werden“, knurrte Torx. „Die haben ganz schön viel Wirbel verursacht, den wir gerade jetzt überhaupt nicht brauchen können. Du kannst dir sicher vorstellen, wie unser.... Vertragspartner auf die Katastrophe reagiert hat! Fünfmal hat er mich in den letzten Stunden schon angefunkt! Der Kerl ist völlig am Ende!“
„Ich hab so etwas auch schon erwartet, Boss. Das ist ein einfacher Politiker, der im Gegensatz zu uns keine Erfahrung darin hat, sich die Hände schmutzig zu machen. Wahrscheinlich hat er sich bisher eingebildet, das alles könnte irgendwie sauber und ohne Blutvergießen über die Bühne gebracht werden. Die Illusion ist natürlich seit heute Morgen geplatzt.“
„Es war ein Unfall!“ erwiderte Torx trotzig. „Niemand hätte vorhersagen können, dass so etwas passiert! Das hab ich auch unserem Vertragspartner mehrmals einzureden versucht, aber der Typ hört mir gar nicht richtig zu, so aufgebracht ist er! Er hat sogar verlangt, dass wir die ganze Aktion abbrechen müssen! Und zwar auf der Stelle!“
„Ich verstehe.“
„Ach was, gar nichts verstehst du!“ rief Torx aufgebracht.
Na toll, eigentlich wollte ich ihn doch etwas aufheitern. Jetzt habe ich ihn nur noch wütender gemacht!
„Wir können jetzt nicht aufhören!“ brüllte Torx. „Wir haben schon viel zu viel in die ganze Sache investiert! Ich hab ihm hundertmal zu erklären versucht: Wenn wir jetzt aufhören, waren die ganzen Toten völlig umsonst. Und wenn wir einfach alles abblasen, machen wir sie auch nicht wieder lebendig! Das einzig Sinnvolle, das wir im Moment tun können, ist dafür zu sorgen, dass wir die Übernahme so schnell wie möglich hinter uns bringen! Wir können unser Ziel immer noch erreichen! Aber nur, wenn wir uns jetzt alle verdammt noch mal zusammenreißen.“
„Boss, beruhig dich!“ versuchte Gruth ihn zu beschwichtigen. „Ich bin sicher, wenn er ein bisschen darüber geschlafen hat, wird unser Vertragspartner sich wieder fangen. Und wenn er dich das nächste Mal kontaktiert, kannst du ihm auch gleich die gute Nachricht mitteilen: Niemand kann mehr nachweisen, dass wir irgendetwas mit diesem Absturz zu tun hatten! Das Raumschiff ist vernichtet! Die Kosmopol-Schnüffler sind aus dem Weg geschafft! Und wenn wir jetzt noch unsere kleine Deserteurin auftreiben, dann kann doch überhaupt nichts mehr schief laufen!“
„Ja, das stimmt“, gab Torx schon etwas ruhiger zu. „Am besten funke ich unseren Vertragspartner gleich selber an! Rede ihm ein bisschen Mut zu, schmiere ihm etwas Honig ums Maul.... Typen wie der werden dabei immer schwach. Das dürften wir in den Griff bekommen.“
„Das ist die richtige Einstellung, Boss. Also, wenn es etwas Neues gibt, gebe ich noch einmal Bescheid. Und sonst – bleibt alles beim Alten?“
„Na sicher“, bestätigte Torx. „Wir ziehen es durch, wie wir es geplant haben. Dieser Absturz ist zwar eine schlimme Sache, aber er ändert eigentlich nicht viel für uns. Wir sprechen uns dann später wieder, hoffe ich.“
„Bis dann, Boss.“
Gruth deaktivierte die Verbindung und lehnte sich wieder in seinen Sessel zurück. Damit hätten wir das auch erledigt, dachte er beruhigt.
Jetzt musste er nur noch warten, bis seine beiden Kolleginnen von ihrem Erkundungstrip zurück kamen. Gruth hatte Chet und Yaan, die Torx ihm auf diese Mission mitgegeben hatte, losgeschickt, damit sie sich in den Bars und Kneipen im Raumhafenbereich und in der Innenstadt von Anbis City mal ein bisschen umhörten.
Eigentlich hatte Gruth die Suche nach Nylla komplett in die eigene Hand nehmen wollen. Er gab sich die Schuld daran, dass sie aus der Basis hatte fliehen können. Das war seine offene Angelegenheit und dass noch jemand anderes da hineingezogen wurde, war ihm gar nicht recht.
Aber nach einigem Überlegen hatte er es doch für besser gehalten, wenn er selbst den Part mit der Bombe übernahm. Trotz seiner persönlichen Verwicklung in die Nylla-Sache hatte er sich eingestehen müssen, dass die Vernichtung der Kosmopol-Beweise die erheblich wichtigere und kritischere Mission war. Nicht dass er Chet und Yaan misstraute oder ihre Fähigkeiten nicht schätzte – sonst wären sie kaum Mitglieder von Torx‘ Sicherheitstruppe. Aber die Person, auf die er sich mit Abstand am meisten verlassen konnte, war nun einmal er selbst.
Außerdem wusste er natürlich, dass er auf die meisten Menschen einschüchternd und unnahbar wirkte. Zwei attraktive und von Natur aus gesellige Frauen konnten irgendwelchen Fremden in einer Bar wesentlich leichter Informationen entlocken als er.
Doch während er seinen Auftrag bereits hinter sich gebracht hatte, brauchten Chet und Yaan für ihre Erkundungen wohl etwas länger. Gruth beschloss daher, die Wartezeit sinnvoll zu überbrücken und die Nachrichtenlage in Anbis City im Auge zu behalten. Also vertiefte er sich in seinen Computer und hoffte, dass seine beiden Kolleginnen nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen würden.
Das Büro von Kheilo und Alsth befand sich in einem der obersten Stockwerke im Hauptturm der Polizeizentrale, der sämtliche anderen Wolkenkratzer im Sektor G2 an Höhe überragte. So hatte man durch die Fensterfront, vor der ihre beiden Schreibtische standen, einen wunderbaren Ausblick über die Stadt.
Alsth war im Moment alleine im Büro und wartete auf Kheilos Rückkehr. Seine Gedanken kreisten immer noch um den Schockmoment vor ein paar Stunden. Viel hätte nicht gefehlt und es hätte an einem Vormittag gleich zwei große Tragödien gegeben.
Eine Bombe.... Da war eine Bombe....
Alsth wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er von draußen die zischenden Lifttüren und die Schritte von mindestens zwei Personen hörte, die sich dem Büro näherten. Gut, Kheilo war offenbar zurück. Und er hatte ihren Gast dabei.... Alsth stand schon mal von seinem Schreibtisch auf und machte ein paar Schritte auf die Tür zu, um den Neuankömmling gleich begrüßen zu können. Ich hoffe wirklich, dieser Agent ist kein allzu großer Stinkstiefel....
„Bitte, nach Ihnen“, hörte er Kheilos Stimme durch die Tür. Im nächsten Moment ging sie auf und eine Frau betrat das Büro.
Sie war die Seriösität in Person – das war Alsths allererster Eindruck von ihr. Sie musste wohl etwas jünger als Kheilo sein, strahlte aber ein ähnlich hohes Maß an Erfahrung und Selbstkontrolle aus. Ihre Körperhaltung war kerzengerade, ihr schlichter blauer Anzug saß absolut korrekt und sah wie neu aus, ihr kurzes, dunkelrotes Haar wirkte so, als wäre jede Strähne an genau der vorgesehenen Stelle. Ihre strengen Augen hatten Alsth sofort einer genauen, analysierenden Prüfung unterzogen. Und irgendwie hatte er dabei das Gefühl, als hätte sie ihn bereits nach Sekundenbruchteilen in ein exakt differenziertes Persönlichkeits-Schema eingetragen.
Kurz darauf wurde Alsth bewusst, dass er gerade eben genau dasselbe mit ihr getan hatte.
„Das ist Kommissar Alsth, mein Partner!“ sagte Kheilo, während er der Kosmopol-Agentin ins Büro folgte.
Dadurch erinnerte Alsth sich wieder an seine Manieren und streckte ihr schnell die Hand entgegen. „Guten Tag und willkommen in Anbis City“, begrüßte er sie und versuchte dabei, ein möglichst freundliches Gesicht hinzubekommen.
Sie nickte kurz. „Schön. Mein Name ist Vlorah und den Rest kennen Sie bereits, schätze ich mal.“ Dann trat sie an ihm vorbei und begann damit, das Büro einem prüfenden Blick zu unterziehen. Alsth sah ratlos auf seine ausgestreckte Hand hinunter, die sie vollkommen ignoriert hatte, und ließ sie langsam wieder sinken.
„Wie ich sehe, haben Sie nur zwei Schreibtische hier stehen“, wandte Vlorah sich wieder Kheilo zu. „Das wird etwas umständlich sein, bei drei Personen. Wir sollten das so schnell wie möglich ändern.“
„Das.... wird kein Problem sein.“ Kheilo nutzte einen Augenblick, in dem Vlorah die Zimmereinrichtung begutachtete, um Alsth einen vielsagenden Blick zuzuwerfen. „Alsth und ich werden uns einen Schreibtisch teilen.“
„Wie Sie meinen.“ Vlorah näherte sich dem Fenster und ließ ihre Augen über die Stadt schweifen.
Alsth erwiderte Kheilos Blick und für ein paar Sekunden fand ein stummes Duell zwischen ihnen statt, wer den nächsten Annäherungsversuch starten sollte. Dann beschloss Alsth, es noch einmal zu versuchen, und trat neben Vlorah ans Fenster.
„Ja, dieser Ausblick beeindruckt jeden, wenn er zum ersten Mal hier ist“, sagte er, während er sich um ein möglichst gewinnendes Grinsen bemühte.
Vlorah sah ihn nicht an und gab zunächst auch keine Antwort. Erst als Alsth schon glaubte, sie wolle ihn vollständig ignorieren, sagte sie: „Die Kosmopol-Zentrale auf Borla befindet sich im am dichtesten besiedelten Bereich des Planeten. Nur an besonders klaren Tagen kann man von meinem Büro aus bis zum Boden runter sehen. Beeindruckend wäre also nicht das Wort, das ich für diesen Ausblick gebrauchen würde.“
„Oh....“ Alsth schlug sich innerlich gegen die Stirn.
„Nochmal Entschuldigung, dass wir Sie vorhin nicht vom Raumhafen abgeholt haben“, kam Kheilo ihm dann zur Rettung. „Aber Sie haben ja schon gehört, uns ist ein bisschen was dazwischen gekommen. Und Sie sind ja, wie ich sehe, auch sehr gut ohne uns zurecht gekommen.“
„Das bin ich.“ Vlorah nickte kurz. „Und keine Sorge, ich verstehe schon, warum Sie nach diesem erneuten Zwischenfall Ihren Zeitplan ändern mussten. Ich habe schon im Shuttle davon erfahren und mich sofort nach unserer Ankunft genauestens informiert.“
Alsth musterte sie ratlos und überlegte, ob er ihr noch genauer erläutern sollte, was nach der Explosion an der Absturzstelle alles los war und wie sie noch ein paar Stunden in die Aufräumarbeiten eingebunden gewesen waren und aufgeregte Fragen von Kamerateams und verschiedenen Amtsträgern, die an der Absturzstelle aufgetaucht waren, hatten beantworten müssen.
Doch gerade, als er den Mund aufmachen wollte, drehte Vlorah sich vom Fenster weg und sah Kheilo und ihn misstrauisch an. „Was ich dagegen nicht ganz verstehe, ist, was Sie überhaupt erst in der Zella gesucht haben. Man sagt, dass zwei Kommissare die Bombe entdeckt haben. Ich nehme einmal stark an, dass Sie das waren. Hatten Sie irgendwelche Gründe, warum Sie das Schiff vor meiner Ankunft betreten haben?“
Oh oh...., dachte Alsth. Jetzt beginnt der Ärger....
„Na ja, das ist bei uns Standardprozedur“, erwiderte Kheilo vorsichtig. „Zuerst wird immer der Tatort inspiziert.“
Vlorah tat ihm natürlich nicht den Gefallen, auf diese Ausflüchte hereinzufallen. Sie verschränkte missbilligend die Arme vor der Brust. „Ich hätte es wesentlich besser gefunden, wenn Sie mit Ihren Ermittlungen so lange gewartet hätten, bis ich hier eingetroffen bin. Schließlich sollten wir ja bei diesem Fall zusammenarbeiten. Oder haben Sie etwa andere Anweisungen erhalten?“
„Nein, nein....“, Kheilo wollte sich noch nicht geschlagen geben. „Aber wir haben einfach gedacht, wir erledigen das, bevor Sie da sind, und ersparen uns damit ein bisschen Zeit und Arbeit.“
„Die Zella war Eigentum der Kosmopol.“ Vlorah ließ sich nicht beirren. „Es ist fragwürdig, ob Sie überhaupt berechtigt waren, ohne mein Einverständnis dieses Raumschiff zu inspizieren. Wenn ich die Situation richtig einschätze, haben Sie dabei sogar versucht, Daten aus dem Speicherkern herunterzuladen. Dazu waren Sie ebenfalls nicht berechtigt.“
„Jetzt hören Sie mal“, erwiderte Alsth scharf. Er ahnte zwar, dass Kheilos ruhigere Gesprächstaktik wahrscheinlich erfolgversprechender wäre, aber diese Agentin ging ihm nun mal zunehmend auf die Nerven. „Wenn wir die Bombe da drinnen nicht rechtzeitig entdeckt hätten, wären wahrscheinlich fast alle unsere Leute von der Spurensicherung draufgegangen!“
„Und wir können sicherlich von Glück reden, dass Sie noch rechtzeitig reagieren konnten“, gab Vlorah zu. „Trotzdem haben Sie ordnungswidrig gehandelt, indem Sie eigenmächtig das Amtsgeheimnis der Kosmopol gebrochen haben. Ist Ihnen klar, dass Sie eine Menge Schwierigkeiten bekommen könnten, wenn ich das an meine Vorgesetzten weiterleite?“
Alsth biss sich auf die Zunge. Alle Antworten, die ihm darauf einfielen, würden ihm vermutlich ein Disziplinarverfahren einbringen – deswegen zwang er sich dazu, gar nichts zu sagen. Auch Kheilo schwieg und blickte Vlorah nur schmallippig an.
Sie blieb jedoch vollkommen ungerührt. „Außerdem würde ich gerne wissen, wie eine Bombe mit einer solchen Zerstörungskraft unbemerkt an mehreren Dutzend Polizeikräften vorbei in einen abgesperrten Bereich kommen konnte und dort erst entdeckt wurde, als es schon zu spät war. Und warum nach der Entdeckung nicht der geringste Versuch unternommen wurde, die Bombe zu entschärfen.“
„Wir sind keine Bombenspezialisten“, erklärte Kheilo geduldig. „Und wir hatten auch keinen vor Ort – es war schließlich nur ein Raumschiffwrack. Wir hätten eventuell noch etwas länger in der Zella bleiben und die Bombe grob analysieren können. Aber die Erfolgsaussichten waren extrem gering. Und jedes weitere Zögern hätte wahrscheinlich unser Leben und das von zahlreichen Leuten der Spurensicherung gekostet.“
Alsth war wieder einmal sehr beeindruckt davon, wie gut sich sein Partner unter Kontrolle hatte. Am Zucken seiner Stirnfalten konnte Alsth gut erkennen, dass Kheilo sich mindestens so sehr über das Verhalten dieser Agentin ärgerte wie er selbst. Trotzdem blieb er ruhig und sachlich. Wie schaffte er das bloß immer?
„Das können Sie nicht sicher sagen“, fuhr Vlorah hartnäckig fort. „Haben Sie überhaupt nachgesehen, ob die Bombe einen simplen Aus-Schalter hat? Oder einen ablesbaren Countdown? Womöglich wäre noch genug Zeit gewesen, um wenigstens einen Teil der Daten zu retten. Durch Ihr voreiliges Verhalten wurden wertvolle Informationen und Ergebnisse wochenlanger Ermittlungen auf einen Schlag vernichtet.“
„Eben haben Sie sich noch darüber beklagt, dass wir die Daten bergen wollten“, bemerkte Alsth bissig. „Sie sollten sich zumindest mal entscheiden, weswegen Sie uns hier zusammenstauchen wollen.“
„Das ist wohl kaum der passende Zeitpunkt für Spitzfindigkeiten“, erwiderte Vlorah. „Sie wissen genau, dass diese Daten für unsere Arbeit von entscheidender Bedeutung gewesen wären. Da Sie ohnehin vorhatten, gegen die Regeln zu verstoßen, hätten Sie im entscheidenden Moment wenigstens etwas Geistesgegenwart aufbringen und sich nützlich machen können. Diese Datenbank enthielt Informationen über diejenigen, die für diesen Vorfall verantwortlich sind. Jetzt müssen wir stattdessen wieder ganz bei Null anfangen!“
Kheilo seufzte. „Hören Sie, ich kann ja verstehen, dass es Ihnen um diese Daten und Ergebnisse leid tut. Aber Sie müssen auch verstehen, dass wir uns in dieser Situation gar nicht anders verhalten konnten. Unsere oberste Priorität musste es sein, die Leben der Menschen in der Nähe zu schützen. Dafür machen wir diesen Job – und Sie auch, hoffe ich doch.“ Er machte einen Schritt auf Vlorah zu und sah sie freundlich, aber bestimmt an. „Wenn Sie noch einmal kurz durchatmen und in sich gehen, wird Ihnen sicher klar werden, dass sie in dem Moment genau so gehandelt hätten.“
Vlorah antwortete nicht sofort. Sie starrte wieder aus dem Fenster und schien über irgendetwas nachzudenken. Alsth nutzte den Moment, um einmal richtig durchzuatmen, und wappnete sich schon für ihre saftige Retourkutsche.
„Es tut mir leid“, sagte Vlorah schließlich mit dem Rücken zu ihnen. Alsth hob erstaunt die Augenbrauen. Das waren höchstwahrscheinlich genau die vier Worte, die er am wenigsten erwartet hätte.
Vlorah drehte sich wieder um und ihre Gesichtszüge waren nun deutlich weniger streng und angespannt als in den Minuten, seit sie das Büro betreten hatte. „Sie müssen wissen: Ich kannte die Kosmopol-Agenten, die bei dem Absturz gestorben sind.... Jehnir und Khisall, so hießen die beiden. Ich habe schon sehr oft und auch sehr gern mit ihnen gearbeitet. Sie waren gute Agenten. Außerordentlich gute. Doch jetzt.... sind sie tot. Und ich bin einfach.... immer noch ein bisschen.... durcheinander.“ Sie seufzte heftig.
Alsth schluckte. Jetzt kam er sich doch reichlich dumm vor. Er hatte überhaupt nicht mehr an diese beiden Kosmopol-Agenten gedacht und dass Agent Vlorah auch eine Verbindung zu ihnen haben könnte. Und dass ihre schlechte Laune vielleicht verständliche Gründe haben könnte! Ich kann nur von Glück sagen, dass ich bis jetzt den Mund gehalten habe, dachte er ein bisschen erleichtert. Gleichzeitig musste er aber zugeben, dass er ein paar Vorurteile gehabt hatte, was Vlorah betraf, und sich wohl etwas vorschnell eine Meinung von ihr gebildet hatte.
Auch Kheilo wirkte nun etwas betreten. „Das.... geht schon in Ordnung“, sagte er. „Wir können gut verstehen, dass Sie gerade etwas durch den Wind sind.“ Er blickte kurz zu Alsth hinüber. „Und wir beide hätten wohl von Anfang an etwas nachsichtiger reagieren können. Vergessen wir das ganze einfach und fangen noch einmal von vorne an.“
Vlorah ließ sich noch einmal ein paar Sekunden Zeit, um durchzuatmen. Dann fasste sie sich wieder, straffte ihre Schultern und auf ihrem Gesicht erschien wieder der gewohnt sachliche, disziplinierte Ausdruck. Alsth konnte nicht anders, als diese hohe Willenskraft zu bewundern. Für jemanden in ihrer Situation hatte sie sich eigentlich sogar verdammt gut im Griff!
„Ich stimme Ihnen zu“, sagte sie mit fester Stimme. „Es wäre wohl besser, wenn wir uns jetzt unserer Arbeit zuwenden. Schließlich haben wir bereits genug Zeit verloren.“
Sie ging zu Kheilos Schreibtisch hinüber, der im Vergleich zu dem von Alsth erheblich aufgeräumter aussah, und legte den kleinen Aktenkoffer dort ab, den sie bisher in einer Hand gehalten hatte. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht....“
„Nein, bitte.“ Kheilo machte eine einladende Geste.
Vlorah nickte, öffnete den Koffer und nahm ihren Computer heraus. „Also, womit möchten die Herren gerne beginnen?“
„Das ist eine sehr gute Frage“, erwiderte Kheilo, während er mit Alsth zu dessen Schreibtisch hinüber ging. Alsth zog ihm einen Stuhl heran und sie nahmen alle drei Platz. „Wir glauben nämlich, wir haben da schon eine erste heiße Spur....“
Nach einigen Stunden ergebnisloser Warterei in seinem Shuttle nagte Gruth so langsam an den letzten Resten seiner Geduld.
Seine beiden Kolleginnen ließen sich mächtig Zeit! Es war jetzt schon später Nachmittag, die beiden waren immer noch nicht zurück und hatten sich auch kein einziges Mal bei ihm gemeldet.
Gruth hatte bereits sämtliche Newsseiten und Holosender abgeklappert, er hatte sich durch alle dümmlichen Kommentare von irgendwelchen Promis, die den Absturz betrafen, gekämpft – er hatte sogar in Erwägung gezogen, sich die Stadtratsdebatte zu diesem Thema anzusehen! Gruth war gerade im Begriff, auf die Aufzeichnung dieses Hochleistungs-Schlafmittels zuzugreifen – als endlich von draußen der Türöffnungsmechanismus der Shuttleluke betätigt wurde!
Na endlich!
Gruth deaktivierte erleichtert den Computer, sprang auf und eilte zur sich öffnenden Luke hinüber, um die beiden Frauen zu empfangen.
„Wo habt ihr denn so lange....“, begann er.
In diesem Moment fiel ein Körper durch die halb offene Luke.
Gruth hatte gar keine Zeit sich zu erschrecken. Er verlagerte schnell sein Gewicht, um nicht nach hinten zu taumeln, und hielt den Körper instinktiv fest. Erst nach einigen Sekunden erkannte er, dass Yaan diejenige war, die gerade in seinen Armen gelandet war – und ihr ersticktes Ächzen verriet ihm, dass sie zumindest noch am Leben war.
Gruth hielt seine Kollegin mit einiger Mühe in aufrechter Position, während er hastig festzustellen versuchte, wie schlimm Yaans Zustand war und ob auch jetzt noch eine Gefahr für sie bestand – als draußen direkt vor dem Shuttle jemand schrill zu lachen begann. Und Gruth traute seinen Augen und Ohren nicht, als der Körper in seinen Armen plötzlich erzitterte und ebenfalls in einen Lachanfall ausbrach.
„Was soll denn das jetzt?“ murrte Gruth verwundert. „Habt ihr den Verstand verloren?“
Chet trat ins Shuttle und grinste Gruth fröhlich mitten ins Gesicht. „Was ist denn, Großer, verstehst du denn kein bisschen Spaß?“ Sie lachte wieder schrill und schlug dann Yaan auf die Schulter, die sich von selber wieder aufrichtete und sofort ins Gelächter einstieg.
Die beiden umarmten sich überschwänglich und zeigten Gruth ihre schadenfrohen Gesichter, der im Moment immer noch nicht viel mehr tun konnte, als dämlich aus der Wäsche zu gucken.
„Spaß?!“ wiederholte er ungläubig. „Könnt ihr jetzt mit diesem dummen Gelächter aufhören? Ich warte hier schon seit heute Mittag auf euch und im Moment ist meine Laune nicht mehr ganz so gut, müsst ihr wissen.“
Chet trat zur Luke hinüber und betätigte den Schließmechanismus. Yaan ließ sich inzwischen auf den Sessel fallen und nutzte diese Gelegenheit, um ihrem Lachanfall völlig freien Lauf zu lassen. Und Gruth fand, dass ihm diese Situation immer mehr auf die Nerven ging.
„Das tut uns leid, dass du hier drinnen versauern musstest“, erwiderte Chet grinsend. „Yaan und ich haben uns zumindest sehr gut amüsiert, nicht wahr?“
Yaan brachte zwischen zwei stärkeren Phasen ihres Lachanfalls etwas heraus, was Gruth zwar nicht genau verstand, was sich aber ziemlich nach einer Bestätigung anhörte.
„Das könnten wir eigentlich öfters machen, solche....“ Chet blickte Gruth spöttisch an. „....wie nanntest du es? Erkundungen?“ Das letzte Wort brachte sie kaum zu Ende, denn wieder folgte ein heftiger Lachanfall, in den Yaan natürlich wieder mit Freude einstimmte.
„Wartet mal....“ Gruth kniff misstrauisch die Augen zusammen. „Ihr seid betrunken!“
„Betrunken? Wir? So ein Unsinn!“ Allgemeines Gelächter. „Hey, Yaan, eigentlich könnten wir doch gleich wieder gehen. Und den Dicken hier nehmen wir diesmal mit. Das wird sicher unheimlich witzig!“
„Ihr beide.... seid stockbesoffen!“ Gruth schnaufte heftig. „Aber das hätte ich mir natürlich denken können, ich Idiot! Wie viele verschiedene Bars und Spelunken habt ihr heute besucht? Zwanzig? Dreißig?“
„Hey, du hast uns gesagt, wir sollen uns im Untergrund nach deiner kleinen Ausreißerin umhören. Und am meisten erfährt man in so einer Stadt nun einmal in den Kneipengassen um den Raumhafen herum. Wir haben uns nur an den Auftrag gehalten.“
Gruth spürte, wie ihm die Galle hochstieg. „Euer Auftrag war, Nylla zu suchen und dabei nicht die Gewinnbilanz jeder Kaschemme im Raumhafenviertel aufzuhübschen!“
„Aber mein Großer, wir können uns doch nicht in irgendeine Bar setzen, ohne etwas zu bestellen“, erwiderte Chet und wedelte dabei spöttisch-tadelig mit ihrem Zeigefinger vor Gruths Gesicht herum. „Das wäre doch reichlich unhöflich. Ich weiß, du würdest das natürlich ohne zu zögern machen. Für unseren Gruth ist Höflichkeit ja eine Form von Betrug.“ Gelächter. „Hör zu, es ist nun einmal üblich, dass man in einer Bar etwas bestellt. Wir hatten quasi gar keine andere Wahl.“
„Na gut. Also, wenn ich das richtig kombiniere, habt ihr die letzten Stunden damit zugebracht, in eine Bar nach der anderen zu marschieren, euch die Kante zu geben und dann weiterzutaumeln, zur nächsten Bar....“
„Weißt du, Gruth, so wie du das ausdrückst, ist das.... genau richtig!“ Noch mehr Gelächter.
„Und habt ihr dabei wenigstens ab und zu mal daran gedacht, eurem eigentlichen Auftrag nachzugehen!?“
„Auftrag?“ Chet legte den Kopf schief und sah Gruth mit Engelsaugen an. „Welcher Auftrag?“
Wenn in diesem Moment sein Kopf explodiert wäre, hätte das Gruth nicht weiter gewundert.
Anscheinend wurde auch Chet bewusst, dass sie jetzt vielleicht eine Spur zu weit gegangen war, denn zum ersten Mal kehrte ein bisschen Ernsthaftigkeit in ihre Miene zurück. „Jetzt reg dich doch nicht so auf, Großer, wir haben ja eine heiße Spur für dich gefunden. Zuerst haben wir wie gesagt die ganzen Kneipen hier im Raumhafenbereich erkundet und überall nach deiner kleinen Freundin gefragt. Dann hat uns aber so ein süßer Typ erzählt, dass es in der Innenstadt einen Bereich gibt, der als die Partysektoren bekannt ist. Und da haben wir uns gedacht....“
Chet bekam plötzlich Schluckauf. Sie fasste sich an die Brust, um kurz nach Luft zu schnappen.
„Und da haben wir uns gedacht....“ Chet hickste erneut, überlegte noch einmal – und dann schien es, als wäre ihr kurzer Anflug von Klarheit wieder vorbei. „Die Jungs hier in Anbis City sind aber auch der Hammer!“ begann sie deshalb. „Wir beide sind mindestens fünf Mal von so unheimlich netten Typen eingeladen worden! Dieses Stadtvolk hier ist aufgeschlossen, das glaubst du gar nicht! Die sind alle sehr schnell damit einverstanden....“ Chet hickste. „.... so ein bisschen.... erkundet zu werden. Nein, ganz ausführlich erkundet.“ Sie kicherte und Yaan stieg sofort mit ein.
Schon seit einiger Zeit spürte Gruth so ein bedenkliches Pochen an seiner Schläfe. Doch jetzt war der Augenblick erreicht, an dem er sich so langsam Sorgen um seine Gesundheit machte. „Chet....“, sagte er extrem langsam und nachdrücklich. „Die.... Spur....“
Chet blinzelte „Spur?“
Ganz ruhig bleiben, Gruth. Ganz ruhig. „Die Spur zu Nylla! Gerade eben sagtest du, ihr hättet eine gefunden. Und ich würde jetzt wirklich wahnsinnig gern wissen, was ihr herausgefunden habt. Also?“
„Tja, was haben wir herausgefunden?“ Chet dachte kurz nach, was einige Zeit in Anspruch nahm, obwohl Gruth irgendwie den Eindruck hatte, als würde sie nur so tun. „Tja, genau genommen....“ Chets Augen leuchteten fröhlich. „Nichts!“
Das war es gewesen. Gruth lief rot an. Jeder Versuch, ruhig und geduldig zu bleiben, war in diesem Moment zwecklos geworden. „Nichts?!!“
„Na ja, nicht unbedingt gar nichts“, korrigierte sich Chet. „Nur nicht so.... viel.... Fast nichts, würde ich sagen.“
„Nichts!“ stammelte Gruth perplex. „Nichts....“
„Also, da war so ein Typ, der hat geglaubt, er hätte so jemanden wie Nylla schon mal gesehen.“
„Wirklich?“ Gruth packte Chet plötzlich am Kragen, was ihr aber nicht besonders viel auszumachen schien. „Hat er sie beschreiben können?“
„Eigentlich hat er überhaupt nichts über Nylla gewusst....“
„Was!?“ Gruth begann Chet heftig durchzuschütteln, was bei Gruths Kraft normalerweise jeden zumindest aus der Fassung gebracht, wenn nicht sogar extrem eingeschüchtert hätte. Chet zeigte sich aber wenig beeindruckt.
„Jetzt lass mich doch einmal ausreden, du grober Kerl! Nylla kannte er nicht, das ist wahr.... aber ihr Raumschiff! Die.... Lan.... Lan....“
„Landario?“ Gruth ließ Chets Kleidung los, als er bemerkte, dass sie bereits leicht gerissen war.
„Landario, richtig!“ freute sich Chet. Dann wurde sie nachdenklich. „Er kannte ihren Schiffstyp und Hersteller.... Oder? Hey, Yaan! Was hat dieser Typ gesagt? Über das Schiff!“
„Welcher Typ? Der mit diesem unheimlich süßen....“
„Ja, der! Er sagte doch, er hat kürzlich eine Rentio F-Soundso gesehen. Das ist doch die Landario, nicht wahr?“
Yaan tat auch so, als würde sie nachdenken wollen. „Ja, genau, Landario. So heißt es.... Der hatte einen Hintern, ich sag’s dir! Wie konnten wir den nur gehen lassen? Dabei....“
„Bitte, erspart mir die Einzelheiten!“ fuhr Gruth dazwischen. „Also, dieser Kerl hat Nyllas Raumschiff gekannt? Eine Rentio F50 von Alegan? Hat er das genau so gesagt?“
„Keine Ahnung. Auf das, was er gesagt hat, habe ich nicht so geachtet. Yaan, weißt du es noch?“
Yann schreckte auf. „Äh.... was?“
„Vergiss es, Yaan“, sagte Gruth schnell. „Also, Chet, nur damit ich das richtig verstanden habe: Da war jemand, der euch wirklich nützliche Informationen hätte geben können, und ihr habt überhaupt nicht nachgehakt? Dieser Typ wusste, wo Nyllas Raumschiff ist, und ihr habt euch nur für seinen.... verfluchten.... Hintern interessiert?!“
„Jetzt beruhige dich doch mal! Wir haben alles unter Kontrolle!“
„Ja, das sehe ich!“ Gruth wollte wieder nach Chets Kragen packen, überlegte es sich dann aber doch und beschränkte sich auf eine drohende Bewegung mit der Faust. „Ich glaube es nicht! Ihr hattet die Spur in greifbarer Nähe und habt sie euch einfach durch die Lappen gehen lassen! Diesen Kerl finden wir doch nie wieder!“
„Du irrst dich, Großer!“ Chet schmunzelte heimtückisch. Dann fischte sie etwas aus ihrem Ausschnitt. „Ich hab hier nämlich seine Adresse!“ Sie faltete ein kleines Stück Papier auf und wedelte damit vor Gruth herum.
„Du hast....“ Gruth wusste plötzlich nicht, was er in dieser Situation anderes tun sollte, als Chet zu packen und sie kurz an sich zu drücken. Schon im selben Moment kam er sich aber ziemlich dämlich vor, nicht zuletzt weil er selbst eigentlich keinen unnötigen Körperkontakt mochte. Er ließ so hastig wieder los, dass er Chet geradezu von sich wegstieß und sie ein Stück zurück torkelte.
Schnell hielt er sie fest, damit sie nicht umfiel, und fischte ihr dabei den Zettel aus der Hand. „Ich frage gar nicht, warum euch dieser Idiot seine Adresse gegeben hat, aber ihr Mädels seid einfach großartig! Hört zu, ihr....“
Gruth stockte kurz, als er wieder zu Chet aufblickte. Sie sah ihn mit so einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an....
Doch dann schüttelte er schnell den Kopf und sprach weiter: „Ihr.... bleibt jetzt hier, während ich den Kerl besuche und ihn ein bisschen ausfrage. Ihr rührt euch nicht von der Stelle, bis ich wieder zurück bin! Heute keine feuchtfröhlichen Ausflüge mehr, haben wir uns verstanden?“
Chet nickte schnell und wandte verlegen den Blick ab. Gruth zögerte noch kurz, dann drehte er sich aber zur Luke um.
„Hey, Gruth, ich muss dir noch was Wichtiges sagen!“ rief Yaan in diesem Moment.
Gruth blickte sich genervt um. „Was denn noch? Ich hab es eilig!“
Yaan richtete sich im Sessel auf. „Auf dem großen Platz vor dem Raumhafen-Hauptgebäude.... da hat irgend so ein Typ vorhin ein ziemlich hässliches Bild von dir herumgezeigt!“ sagte sie mit vollem Ernst.
„Alles klar“, brummte Gruth trocken. „Soll ich dir einen Tipp geben: Leg dich jetzt ein bisschen schlafen.“
Er öffnete die Luke.
„Nein, warte, sie hat recht!“ rief Chet. „Da hat jemand....“
„Weißt du, was ich mit dir mache, wenn du jetzt nicht sofort still bist?“ flüsterte Gruth ohne sich umzudrehen.
„Nein....“
„Gut.“
Dann war Gruth aus dem Shuttle.
„Das Gesicht des Bombenlegers“, sagte Kheilo. „Momentan wohl unsere einzige verbliebene Spur.“
An seiner Stimme und seiner Mimik wies nichts mehr auf die kurze Auseinandersetzung hin, die sie gerade eben noch mit Agent Vlorah gehabt hatten. Er wirkte wieder ganz so wie immer, wenn er an einem Fall arbeitete.
„Ich nehme an, Sie haben bereits eine Fahndung nach ihm in die Wege geleitet?“ Auch Vlorah wirkte wieder völlig professionell, als wäre überhaupt nichts passiert. Sie hatte sich ein bisschen auf Kheilos Schreibtisch eingerichtet, auch wenn sie außer ihrem Computer nicht allzu viel dabei zu haben schien.
Alsth versuchte natürlich, es den beiden möglichst gleich zu tun – obwohl es ihm üblicherweise viel schwerer fiel, seine Gefühle so einfach herunterzuspielen. „Genau, ein Phantombild von ihm ist schon raus. Kheilo und ich haben es selbst erstellt. Wir haben den Kerl zwar nur kurz gesehen, aber die Erinnerung war noch relativ frisch, also dürfte es halbwegs detailgetreu sein.... Wenn Sie Ihren Computer vielleicht an meinen koppeln könnten?“
Vlorah tippte kurz auf die Tastfläche ihres Computers und nickte Alsth dann zu. Dieser rief daraufhin ein dreidimensionales Portrait von einem Mann auf. Vlorah sollte es nun auch auf ihrem Bildschirm sehen. Es war relativ detailliert, doch an den unnatürlichen Proportionen und leblosen Augen konnte man gut erkennen, dass es nur computergeneriert war „Es ist vielleicht künstlerisch nicht so perfekt, aber Kheilo und ich sind leider keine Animationsspezialisten.“
„Und das ist also der Tatverdächtige, mit dem Sie an der Absturzstelle zusammengetroffen sind?“ Vlorah verzog leicht die Mundwinkel. „Falls er wirklich so aussieht wie auf diesem Bild, müsste es eigentlich ein Leichtes sein, ihn zu finden. So jemanden kann man wohl nicht so einfach übersehen.“
Wenn sie dabei nicht wie gewohnt völlig ernst und ausdruckslos geklungen hätte, hätte Alsth fast vermutet, dass sie tatsächlich einen kleinen Scherz gemacht hatte. Vielleicht machte sie sich aber auch wirklich nur Gedanken über ihren Fahndungserfolg, Alsth war sich nicht so sicher.
„Wir haben uns entschieden, das Phantombild nicht an die Medien zu geben“, fuhr Kheilo fort. „Eine Fahndung im ganz großen Stil würde der Gesuchte auf jeden Fall mitbekommen. Er würde wissen, dass wir ihm auf der Spur sind. Und zusehen, dass er schleunigst aus Anbis City verschwindet. Deswegen haben wir uns für die etwas subtilere Lösung entschieden.“
„Eine Umfrage auf der Straße?“ vermutete Vlorah.
„Richtig. Wir haben ein paar unserer Leute mit dem Bild in der Innenstadt, am Raumhafen und an anderen wichtigen öffentlichen Plätzen in der Stadt postiert. Mit etwas Glück können wir unseren Verdächtigen so aufspüren, ohne ihn dabei gleichzeitig zu vertreiben.“
„Ja, das war sicherlich eine angemessene Vorgehensweise“, urteilte Vlorah. „Und haben Sie schon Ergebnisse dieser Umfrage vorliegen?“
Alsth zuckte mit den Achseln. „Na ja.... Die läuft noch nicht mal eine Stunde. Unsere Leute pflegen alles zwar immer sofort in die Datenbank ein, aber....“
„Also gibt es schon etwas, das wir uns ansehen können“, schlussfolgerte Vlorah prompt.
Zuerst war Alsth etwas perplex, aber nur eine Sekunde lang. „Klar....“, sagte er leicht trotzig. „Wenn Sie wollen, können wir schon mal einen Blick drauf werfen. Einen Moment....“ Kurz darauf erschienen eine Reihe von Tabellen und Grafiken auf ihren Bildschirmen. „Hier, bitte. Alle....“ Er las kurz nach. „.... 561 bisher aufgenommenen Aussagen.“
„Das sind natürlich noch die reinen Rohdaten“, erklärte Kheilo schnell. „Sie wurden bisher nicht weiter ausgewertet, deswegen sieht das alles noch recht chaotisch aus....“
„Das war mir schon klar.“ Vlorah war bereits total in ihren Bildschirm vertieft. Es sah fast so aus, als könnte sie aus dem völlig ungeordneten und strukturlosen Datenwust tatsächlich irgendetwas Brauchbares herauslesen.
„Ähm....“, begann Alsth, nachdem er ihr ein paar Sekunden ratlos zugesehen hatte. „Ihnen ist schon klar, dass das allermeiste davon nur Müll ist. Diese Leute haben wahrscheinlich nur jemanden gesehen, der dem Phantombild zufällig ähnlich sieht, oder jemanden angeschwärzt, dem sie schon immer mal eins auswischen wollten. Oder es waren irgendwelche notorischen Wichtigtuer oder diese typischen Rentner, die von Natur aus jede Frage mit Ja beantworten. Und selbst wenn es der Richtige war, der gesehen wurde, heißt das noch lange nicht, dass die Aussage uns auch weiterbringt.“
Vlorah sah kurz auf, um Alsth einen verdrießlichen Blick zuzuwerfen. „Vielen Dank, die Grundlagen der Zeugenbefragung sind mir geläufig.“ Sie tippte auf Ihren Bildschirm. „Sagen Sie – wurde der Raumhafen bei dieser Befragung besonders bevorzugt?“
„Nein.... eigentlich nicht“, erwiderte Kheilo. „Ich meine, natürlich ist er einer der wichtigsten öffentlichen Plätze der Stadt, deswegen war er auch einer der Befragungsorte. Aber wir haben jetzt nicht entschieden mehr Leute hingeschickt oder intensiver nachgefragt im Vergleich zu den anderen Plätzen. Wieso, worauf wollen Sie hinaus?“
Vlorah machte schmale Lippen. „Wäre es möglich, die Orte der Aussagen auf einem Stadtplan darzustellen?“
Alsth brauchte nur zwei Sekunden, um der Bitte nachzukommen. „Klar, aber wozu....“ Dann sahen er und Kheilo es auch.
Die Punktewolke am Raumhafen war auf dem Stadtplan eindeutig die größte und dichteste. Das hieß, dort waren mit Abstand die meisten Aussagen eingegangen. Und offenbar hatte Vlorah genau das schon erkannt, nachdem sie die Daten in der ungeordneten Tabellenform für wenige Sekunden studiert hatte. Alsth war jetzt ein bisschen beeindruckt, wie er zugeben musste.
„Wenn ich das richtig sehe, wurden am Raumhafen mehr als doppelt so viele Aussagen aufgenommen wie an allen anderen Befragungsorten“, sprach Vlorah es aus. „Und wenn die Fahndung vernünftig geplant wurde – wovon ich zu Ihren Gunsten einfach mal ausgehe – dann kann es nur einen Grund für diese grobe Unregelmäßigkeit geben.“
Ein Schmunzeln erschien in Kheilos Mundwinkeln. „Unser Verdächtige war vor Kurzem wirklich dort!“
„Und war dabei nicht sehr unauffällig“, ergänzte Alsth amüsiert. „Kein Wunder, bei der Statur.“
„Na gut, aber wenn er sich am Raumhafen aufhält, sind das nicht unbedingt gute Neuigkeiten.“ Kheilos Miene hatte sich schon wieder etwas verdunkelt. „Das kann nämlich nur bedeuten, dass er den Planeten schon verlassen will.“
„Das ist einleuchtend“, stimmte Vlorah zu. „Und damit hat sich unser Zeitdruck gerade massiv erhöht. Wir sollten auf der Stelle den Raumhafen kontaktieren und eine Abflugsperre verhängen, außerdem müssen wir das Sicherheitspersonal anweisen, jede verdächtige Person in Gewahrsam....“
„Moment, Moment“, unterbrach Kheilo sie. „Ich weiß nicht, ob Sie sich das vorstellen können, aber der Raumhafen von Anbis City ist riesig! Das Landefeld erstreckt sich über volle vier Sektoren der Stadt! Wenn wir das komplett durchsuchen wollten, würde das Tage dauern! Und wir können nicht den gesamten Raumhafenbetrieb so lange lahmlegen. Wenn das was werden soll, werden wir es noch irgendwie eingrenzen müssen.“
Vlorah strich sich nachdenklich übers Kinn. „Wir können zunächst davon ausgehen, dass er keinen öffentlichen Flug buchen wird. Viel zu viel Überwachung und Fremdbestimmung für jemanden von seinem Schlag.“
„Also hat er ein eigenes Raumschiff irgendwo auf dem Landefeld stehen“, schlussfolgerte Kheilo. „Wahrscheinlich ein kleineres Schiff für nicht mehr als fünf Personen.... Ohne Bewaffnung, um nicht aufzufallen.... Mit gefälschter oder gestohlener ID....“
„Na schön, aber das sind wahrscheinlich immer noch Hunderte von Raumschiffen!“ Alsth trommelte genervt mit den Fingern auf dem Tisch herum. „Zu blöd, dass wir wirklich null Daten über den Angreifer der Zella haben. Dann wüssten wir zumindest, welche Art von Schiffen diese Typen benutzen, das wäre ein guter Anhaltspunkt gewesen....“
Vlorah horchte auf. „Ein interessanter Ansatz.... Und vielleicht auch erfolgsversprechend! Können wir von hier aus auf die Betriebslogs des Raumhafens zugreifen?“
„Ja, schon....“, erwiderte Alsth. „Aber was soll das bringen? Wie gesagt, wir haben nun mal kein Vergleichsmuster....“
„Sie vielleicht nicht – aber ich. Die Kosmopol hat mir einige Informationen mitgegeben, die uns hier weiterhelfen könnten: Verdächtige Schiffsgrößen, Bauformen, Zulassungscodes und andere Merkmale, die mit unserem Fall in Verbindung stehen. Ich muss sie nur mit den Schiffen vergleichen, die in den letzten Tagen hier eingetroffen sind. Deswegen möchte ich, dass Sie für mich auf diese Logs zugreifen.“
„Warten Sie mal.“ Kheilo zog die Augenbrauen ein. „Sie haben also schon Informationen über die Täter? Das ist aber interessant. Wann hatten Sie eigentlich vorgehabt, uns das mitzuteilen?“
Alsth musste sich ein Grinsen verkneifen. Es war wohl nur eine Frage der Zeit gewesen, bis dieses Thema aufkommen würde. Heute Vormittag hatten sie noch genau darüber geredet....
Vlorah druckste kurz herum und erwiderte dann: „Wie ich gerade sagte, habe ich diese Infos von der Kosmopol bekommen. Sie sind geheim. Genau darauf hat mich mein Direktor vor meiner Abreise ausdrücklich hingewiesen. Ich darf mit Ihnen keine Informationen teilen, die laufende Kosmopol-Ermittlungen betreffen, außer wenn es absolut notwendig ist. Ich hoffe, Sie verstehen das.“
„Also, wenn ich ehrlich bin – verstehe ich es nicht“, brummte Kheilo. „Wir rätseln hier schon den ganzen Tag herum, wer diese ominösen Angreifer sein könnten – und jetzt kommen Sie und sagen uns ganz beiläufig, dass Sie es schon wissen?“
„Das würde ich nun nicht sagen. Die Kosmopol hat zwar ein Täterprofil, das aber alles andere als vollständig, geschweige denn beweiskräftig ist. Sonst wäre die Überwachungsmission von vornherein gar nicht nötig gewesen....“
„Na gut, aber das ist trotzdem wesentlich mehr, als wir haben“, unterbrach Kheilo sie. „Und Sie sagen uns jetzt, dass wir gar nichts davon wissen dürfen? Verraten Sie mir doch, wie unsere Zusammenarbeit so funktionieren soll. Einerseits sollen wir gemeinsam ermitteln, andererseits dürfen Sie uns in Ihre Ermittlungen nicht einweihen. Wenn Sie mich fragen, für mich ergibt das überhaupt keinen Sinn.“
Alsth nickte zustimmend. Gleichzeitig überraschte ihn Vlorahs Standpunkt aber kein bisschen. Kheilo hatte natürlich Recht, aber irgendwie war es doch von Anfang an klar gewesen, dass man mit der Kosmopol nicht vernünftig arbeiten konnte.
„Sie müssen einfach verstehen, dass so eine Art der Zusammenarbeit für die Kosmopol sehr unüblich ist“, erklärte Vlorah ruhig. „Meine Direktoren haben das nur sehr widerwillig akzeptiert – und aus ihrer Sicht auch nur aus reiner Kulanz. Eigentlich wäre dieser Fall ganz klar allein im Zuständigkeitsbereich der Kosmopol....“
„Da kann man auch anderer Meinung sein“, unterbrach Kheilo sie. „Aber darum geht es gar nicht! Es geht um die Frage, wie diese Zusammenarbeit so funktionieren soll.“
„Um ganz ehrlich zu sein, das weiß ich im Moment auch noch nicht.“ Vlorah hob kapitulierend die Hände. „Natürlich verstehe ich Ihren Standpunkt und kann ihn gut nachvollziehen. Mir kommen meine Befehle ja auch äußerst widersprüchlich vor. Aber bis auf weiteres ist das leider die Situation, mit der wir zurechtkommen müssen. Deswegen müssen Sie beide und ich nun einfach einen sinnvollen Weg finden, wie wir in der Praxis damit umgehen.“
„Und wie?“ knurrte Kheilo. „Wollen Sie uns jedes Mal vor die Tür schicken, wenn Sie irgendwelche heiligen Geheimnisse von der Kosmopol zu Rate ziehen wollen?“
Vlorah zuckte mit den Achseln. „Im Moment ist die Entscheidung für mich sehr leicht: Ich brauche Ihre Hilfe, um die Schiffslogs des Raumhafens zu durchsuchen. Dafür benötigen Sie im Gegenzug meine Infos über das Schiff, nach dem wir suchen müssen. Anders kämen wir keinen Schritt weiter. Und vielleicht ist das generell ein guter Kompromiss: Sobald ich feststelle, dass Ihnen irgendwelche Infos fehlen, ohne die wir nicht weiterkommen, weihe ich Sie ein – aber eben nur so weit wie erforderlich. Wäre das für Sie in Ordnung?“
Klingt irgendwie vernünftig, dachte Alsth. Zumindest war Vlorah ihnen gegenüber ein bisschen entgegenkommend. Das hatte er nicht unbedingt erwartet, als er erfahren hatte, dass sie mit einem Kosmopol-Agenten zusammenarbeiten mussten.
Gleichzeitig sah er Kheilo deutlich dessen Unzufriedenheit an. Sein älterer Kollege war es einfach nicht gewohnt, so im Unklaren gelassen zu werden – er hatte immer gerne einen möglichst vollständigen Überblick. Aber Alsth selbst fand inzwischen, dass es sie weitaus schlimmer hätte treffen können – irgendwie mochte er Vlorahs kühle, sachliche Art sogar ein bisschen.
„Hey, Kheilo, können wir Agent Vlorah jetzt nicht erst einmal machen lassen und uns anschauen, was sie vorhat?“ fragte er daher schnell. „Mich würde jetzt schon brennend interessieren, was das für ein Schiff sein könnte.“
Kheilo machte schmale Lippen und starrte eine Weile nachdenklich auf Alsths Bildschirm. Dann seufzte er. „Na gut, ich muss gestehen, ich würde auch gerne wissen, was Sie herausfinden können“, gestand er dann. „Okay, machen wir erst einmal so weiter. Vielleicht finden wir ja während unserer Arbeit eine vernünftige Lösung.“
„Vielen Dank.“ Vlorah nickte ihm zu und zum ersten Mal erschien so etwas wie ein Lächeln auf ihren Lippen.
Die Adresse auf dem Zettel führte Gruth in den Sektor J6 von Anbis City. Der Sektor war nicht weit vom Stadtzentrum entfernt und geprägt von zigstöckigen Hochhäusern, überwiegend mit größeren Apartments darin. Hier lebten meistens junge Singles mit höherbezahlten Jobs. Sieht Chet ziemlich ähnlich, sich einen davon aufzureißen, dachte Gruth grimmig.
Er sah noch einmal auf Chets Zettel, als er die Metrostation verließ. Auf diesem stand das Wort „Elos“ – wahrscheinlich der Name von Chets Auserwähltem – und eine Adresse, die von der Station nicht weit entfernt war. Gruth lief die paar Schritte, fuhr anschließend in einem Lift fast bis zum obersten Stockwerk eines der Hochhäuser hinauf und stand kurz darauf vor der gesuchten Tür.
Er hatte schon den Türmelder betätigt, als ihm bewusst wurde, dass er sich noch gar keine richtige Strategie zurechtgelegt hatte. Falls dieser Elos zu Hause war, würde Gruth nun wohl improvisieren müssen. Nicht unbedingt seine Stärke – aber es war jetzt nicht mehr zu ändern.
Drinnen regte sich auch schon etwas, schnelle Schritte, denen ein kurzer Ruf folgte, der in etwa wie Herein! klang.
Die Tür ging selbständig auf – eine automatische Spracherkennung – und vor Gruth stand ein etwa dreißigjähriger, schlaksiger Mann, der einen fein herausgeputzten roten Anzug trug und seine Haare anscheinend in einem Bottich Gel getränkt hatte. Sein Gesichtsausdruck verriet Gruth, dass er wohl auf jemanden gewartet hatte und nun sehr enttäuscht war, dass Gruth ganz offensichtlich nicht diese Person war.
„Hallo, Elos!“ grüßte Gruth schnell, bevor dieser etwas sagen konnte. „Darf ich rein kommen?“ Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern trat sofort in die Wohnung.
„Wer.... sind Sie?“ brachte Elos verwirrt hervor. „Was wollen Sie hier?“
„Haben Sie jemand anderen erwartet?“
„Ich.... hatte ein Date. Sie müsste eigentlich jeden Moment.... Aber was geht Sie das überhaupt an?“ Elos schien immer noch bemüht zu sein, seine Fassung wiederzufinden. „Ich kenne Sie nicht! Wollen Sie mir irgendwas andrehen? Ich kaufe nichts!“
„Und ich verkaufe auch nichts“, brummte Gruth. Dabei holte er Chets Zettel aus der Tasche und schwenkte ihn vor Elos’ Gesicht herum. „Kommt Ihnen das vielleicht bekannt vor?“
Elos spitzte die Lippen und warf einen vorsichtigen Blick auf den Zettel. „Ja, natürlich!“ erwiderte er verblüfft. „Den hab ich doch eben vorhin so einem scharfen Mädel in einer Bar mitgegeben. Mann, das war ein ganz schön heißes Teil! Aber woher haben Sie....“ Plötzlich hielt Elos inne. Seine Augen weiteten sich, während ihm vor Schreck fast sämtliche Farbe aus dem Gesicht wich. Er machte sofort hastig einen Schritt zurück und, als ihm das noch nicht reichte, einen zweiten.
Was ist denn jetzt los? fragte sich Gruth, während Elos ihn panisch ansah und immer weiter zurück stolperte. „Gibt es ein Problem?“ fragte er laut.
Elos stand plötzlich der Schweiß auf der Stirn – oder schmolz ihm nur das Haargel auf der heißen Kopfhaut? Er zwang ein gequältes Lächeln auf sein Gesicht und machte eine hektische, beschwichtigende Geste mit beiden Händen.
„Hey, mein Freund“, stammelte er zittrig. „Das.... das wusste ich nicht! Ich schwöre es! Wenn ich geahnt hätte, dass dieses Mädel schon vergeben ist, hätte ich mich niemals an sie heran gemacht! Eigentlich.... will ich auch gar nichts von ihr.... Sie müssen mir glauben, ich würde Ihre Freundin niemals anrühren. Ganz ehrlich!“
„Aber....“ Chet ist nicht meine Freundin, hatte Gruth sagen wollen. Aber er bremste sich noch einmal, als ihm eine Idee kam.
Warum sollte er dieses Missverständnis aufklären? Wenn er es geschickt anstellte, konnte er es womöglich zu seinem Vorteil nutzen!
„Wissen Sie was?“ sagte Gruth schließlich und blickte den ängstlichen Elos drohend an. „Eigentlich sollte ich Ihnen ja eine ordentliche Abreibung verpassen. Verdient hätten Sie es, so dreist, wie sie auf meinen.... Goldengel abgefahren sind. Andererseits.... könnte ich es mir vielleicht überlegen, Sie noch einmal davonkommen zu lassen!“
Elos schnappte aufgeregt nach Luft, als er auf einmal eine kleine Chance witterte, ohne gebrochene Knochen oder eine blutige Nase aus dieser Sache herauszukommen. „Wirklich!?“
„Vielleicht. Dafür müssen Sie aber irgendeine Entschädigung anbieten. Und zwar eine brauchbare. Sonst sehe ich für Sie keinen Ausweg mehr.“ Dabei baute sich Gruth zu seiner vollen Körpergröße vor Elos auf – er wusste genau, wie einschüchternd er auf andere wirken konnte.
„Ich.... ich mache alles, was Sie wollen!“ beteuerte Elos sofort.
„Na gut, passen Sie auf: Sie haben meiner.... äh, Herzdame doch von einem Raumschiff erzählt. Einer kleinen Rentio, die einer jungen Frau gehört.“
„Ja, ich.... erinnere mich!“ Elos wischte sich nervös über die Stirn. „Ihre Freundin hat mir erzählt, dass sie so ein Raumschiff sucht. Und da hat sofort was bei mir geklingelt. Ich.... ähm.... ein Kumpel von mir hat so ein ähnliches Schiff vor kurzem mal aus der Nähe gesehen. Eine Rentio F50 von Alegan. Und ich bin mir ziemlich sicher.... also, mein Kumpel hat auch gehört, dass die Besitzerin eine junge Frau war. Und angeblich, ähm.... na ja.... rattenscharf, aber das kann ich nicht beurteilen!“ fügte Elos noch hastig hinzu.
Gruth grinste. Das muss sie einfach sein.... Nylla, ich bin dir wieder auf der Spur! „Wenn Sie mir sagen, wo ich dieses Schiff finden kann, dann bin ich vielleicht gnädig mit Ihnen. Na, wie sieht es aus?“
Elos wirkte total verwirrt. Sicherlich fragte er sich, warum Chet und Gruth so dringend nach diesem Raumschiff suchten und was daran so wichtig war, dass er damit durchkommen könnte, die falsche Frau angebaggert zu haben. Aber er wäre ein noch größerer Idiot, als er ohnehin schon war, wenn er diesen Ausweg nicht nutzen würde.
„Mein.... Kumpel hatte vor ein paar Tagen ein paar Geschäfte mit einem.... na ja.... Gesetzlosen am Laufen“, erklärte er. „Und dabei ist ihm dieses Raumschiff aufgefallen. Es stand nämlich ziemlich mutterseelenallein draußen in der Savanne im Norden. In der Nähe von dieser verlassenen Kaserne. Sie wissen, wovon ich rede?“
„Ehrlich gesagt, nein!“ erwiderte Gruth. „Was für eine Kaserne?“
„Kommen Sie, davon müssten Sie aber schon gehört haben! Nördlich von Anbis City steht immer noch diese alte Kaserne, die im Krieg gebaut wurde. Sie wissen schon, von damals, als das Anbis-System am Rand der Grenzzone war.“
„Ja, den geschichtlichen Bezug kenne ich“, drängte Gruth. „Sagen Sie mir endlich, was ich wissen will, bevor ich doch noch die Geduld verliere!“
Elos schreckte auf. „Ja! Natürlich! Sofort! Also, diese Kaserne soll wohl noch relativ gut erhalten sein – hab ich gehört, ich war nämlich noch nie dort.... Und sie wird inzwischen als eine Art.... Hauptquartier von einer Gruppe von Gesetzlosen genutzt. Das sind alle möglichen schrägen Typen, die außerhalb der Gesellschaft leben und die sich überall herumtreiben und ihren krummen Geschäften nachgehen.“
Gruth nickte langsam. „Ich glaube, jetzt erinnere ich mich.... Davon hab ich tatsächlich schon mal gehört....“
Vor ein paar Jahren hatte Torx mal diesen einen Schmuggelauftrag angenommen. Er war relativ klein gewesen, kaum der Rede wert im Vergleich zu den meisten anderen von Torx‘ Geschäften. Und Gruth wusste auch gar nicht mehr, um welche Ware es dabei gegangen war. Der Auftrag war nur deswegen bei ihm hängen geblieben, weil die Empfänger der Ware von Anbis 2 stammten. Genauer gesagt, von irgendwoher außerhalb von Anbis City.
Eigentlich gab es außer Torx‘ Organisation keine Schmuggelaktivitäten im Anbis-System und Gruth hatte sich schon gefragt, ob sie gegen diese mögliche Konkurrenz vorgehen sollten, bevor sie wachsen konnte. Aber anscheinend hatte Torx keine Gefahr von ihnen ausgehen sehen – offenbar waren sie bestenfalls lokale Kleinkriminelle.
Natürlich sollte Gruth lieber nichts davon Elos erzählen.
„Schön, jetzt wissen wir also, da gibt es diese Kaserne voller Gesetzloser“, sagte er stattdessen. „Und in der Nähe hat Ihr.... Kumpel dieses Raumschiff entdeckt?“
Elos nickte eifrig. „Eigentlich können diese Typen sich keine Raumschiffe leisten. Das sind nur ein Haufen einfache Schrottsammler und Penner. Also hat er sich ein bisschen bei denen umgehört. Dieses Raumschiff soll wohl erst seit kurzem bei der Kaserne herumstehen und so einem Mädel gehören. Das ist bei den Gesetzlosen untergetaucht, weil es irgendwelchen Ärger hat.“
Das ergibt Sinn, dachte Gruth. Es war ein gutes Versteck, denn wer sollte sie dort schon finden? Diese Gesetzlosen hatten weder mit dem normalen Stadtvolk viel zu tun noch mit Torx‘ Untergrund-Netzwerk und diese alte Kaserne war ein nahezu vollkommen abgeschiedener Ort – deswegen war sie dort fast unmöglich aufzuspüren. Es war reines Glück, dass er – oder vielmehr Chet – zufällig jemanden aufgespürt hatte, der tatsächlich etwas mit diesen Gesetzlosen zu tun hatte.
„Und diese junge Frau?“ hakte Gruth weiter nach. „Wo hält sie sich auf? Bei ihrem Schiff? Oder in dieser Kaserne?“
Elos verzog das Gesicht. „Keine Ahnung.... mein Kumpel hat da nicht weiter nachgehakt.... Tut mir leid, ich kann Ihnen wirklich nichts über die Kleine sagen.“ Er bemühte sich um ein vorsichtiges Lächeln. „Aber sind Sie nicht vielleicht auch so zufrieden? Ich hab Ihnen jetzt schon so viel erzählt....“
Gruth überlegte schnell. Zumindest wusste er schon mal, wo er Nyllas Raumschiff fand. Und er ging jede Wette darauf ein, dass Nylla sich ganz in der Nähe aufhielt. Auf keinen Fall würde sie ihr geliebtes Raumschiff lange unbeaufsichtigt lassen. Gruth wusste genau, wie sie und andere Schmuggler von ihrem Schlag gestrickt waren, schließlich hatte er jeden Tag mit ihnen zu tun.
Er sah abschätzig auf Elos herab. Dieser Kerl ist zwar ein Idiot, aber er war trotzdem sehr nützlich. Gruth dachte noch kurz daran, Elos vielleicht besser loszuwerden, weil dieser nun ein bisschen was über ihn und Chet wusste. Aber dann entschied er, dass es größere Aufmerksamkeit erregen würde, wenn Elos plötzlich verschwand.
„In Ordnung“, brummte Gruth daher. „Ich verschone Sie.“
Elos platzte beinahe vor Erleichterung. „Oh danke, danke, Sie sind sooo ein freundlicher Mann, ich kann gar nicht sagen....“
Gruth drehte sich schnell um, da er ganz plötzlich den Drang verspürte, den Kerl doch noch zu verprügeln. „Schönen Tag noch.“
„Oh.... ja.... Ihnen auch....“, keuchte Elos, während Gruth auf die Wohnungstür zumarschierte. „Darf ich Ihnen vielleicht noch eine Sache sagen?“
Gruth blieb stehen und drehte sich noch einmal um. „Wenn Sie es nicht lassen können....“
„Wissen Sie, Sie haben ein verdammtes Glück, mit so einer beeindruckenden Frau zusammen zu sein!“ Elos nickte anerkennend und strahlte übers ganze Gesicht.
„Ja, da haben Sie recht“, erwiderte Gruth trocken. „Ich bin ein echter Glückspilz.“ Und in gewisser Weise meinte er das sogar ehrlich.
Epsode 3: Der Unterschlupf
„Nein“, sagte Nylla.
Sie lag auf dem Rücken und halb in den Eingeweiden ihres Raumschiffs. Deswegen konnte sie ihrem Gesprächspartner gerade nicht in die Augen sehen. Sie hoffte aber, genug Nachdruck in ihre Stimme gelegt zu haben, um ihm die Endgültigkeit ihrer Entscheidung klarzumachen.
Zu ihrem größten Bedauern war ihre Hoffnung vergebens.
„Bitte, Nylla!“ ertönte eine geradezu herzzerreißend flehentliche Stimme aus Richtung der geöffneten Frachtrampe. „Nur noch dieses Mal!“
Nylla seufzte. Eigentlich konnte sie diese Art von Ablenkung im Moment überhaupt nicht gebrauchen. Sie hantierte gerade mit einem selbstgebastelten Werkzeug an den Energieleitungen der Landario herum, was sowohl ziemlich knifflig als auch nicht ungefährlich war. Daher hätte sie dieser Arbeit eigentlich gerne ihre volle Konzentration gewidmet.
Leider schien diese Nervensäge da draußen, Lever war sein Name, ihr diesen Gefallen nicht tun zu wollen.
„Jetzt komm schon, Nylla! Ich verspreche dir, dass ich dann nie wieder etwas von dir verlangen werde!“
„Lass mich kurz nachdenken....“, erwiderte sie. „Irgendwoher kenne ich diesen Satz. Warte mal.... hast du den nicht schon einmal zu mir gesagt? Richtig, das warst du! Beim letzten Mal, als ich dir Geld geliehen habe. Das ist doch ein komischer Zufall, oder nicht?“
„Hey....“ Lever stockte, weil er zuerst nicht wusste, was er darauf erwidern sollte. Dann brummte er: „Okay, das hab ich gesagt.... Und ich hab es auch wirklich so gemeint. Aber ich hatte ja keine Ahnung, dass es diesen unglücklichen Zwischenfall geben würde!“
„Oh, dieser unglückliche Zwischenfall!“ wiederholte Nylla weinerlich. „Soll ich dir was sagen? Dein Gleiter hat schon so alt und rostig ausgesehen, dass es ein Wunder war, dass er überhaupt so lange gehalten hat! Ich hätte eigentlich erwartet, dass die Kiste sofort in sich zusammen fällt, wenn du dich nur dagegen lehnst.“
„Ach Quatsch, ein paar Gebrauchsspuren sind ganz normal“, erwiderte Lever trotzig. „Der Gleiter ist eigentlich noch sehr gut in Schuss – ihm fehlt nur ein neuer Lichtgenerator! Und der kostet eben ein bisschen Geld! Nylla, ich bin ohne meinen Gleiter aufgeschmissen! Das kannst du doch nicht mit mir machen!“
Nylla grummelte. Aber sie musste einsehen, dass es gerade keinen Sinn hatte, mit ihrer Arbeit an der Energieverteilung der Landario weiterzumachen. Deshalb legte sie ihr Werkzeug zur Seite, wischte sich erschöpft über die Stirn und begann langsam aus dem Schiffsinneren heraus zu rutschen.
Was hätte sie jetzt dafür gegeben, die Klimaanlage ihres Schiffes einschalten zu können! Diese Hitze auf Anbis 2 war wirklich unerträglich! Sie arbeitete schon den ganzen Tag an ihrem Schiff, genau wie den ganzen Tag gestern.... und vorgestern.... und den Tag davor.... Die Treffer bei ihrer Flucht von Torx‘ Station hatten ihr Schiff übel zugerichtet und Nylla würde ihr ganzes Reparaturgeschick brauchen, um es wieder hyperraumfähig zu machen. Etwas kühle Luft hätte ihr sicherlich gut getan, aber sie durfte die kostbare Energie der Landario, die sie irgendwann brauchen würde, um aus diesem verdammten System zu verschwinden, nicht auf diese Weise verschwenden. Also musste sie die Hitze wohl oder übel über sich ergehen lassen.
Und nun kam ihr auch noch dieser Lever ständig in die Quere. Er stand da wie ein Häufchen Elend auf ihrer Frachtrampe und sah ihr dabei zu, wie sie sich mühsam wieder aus dem engen Wartungszugang der Landario herauswand.
Der Gesetzlose hatte offenbar beschlossen, es zu seiner neuen Lebensaufgabe zu machen, ihr auf die Nerven zu gehen! Sie bereute es inzwischen, dass sie ihn nicht gleich beim ersten Mal verjagt hatte, als er sich Geld von ihr leihen wollte. Denn jetzt tauchte er fast jeden zweiten Tag auf, um bei ihr zu betteln. Und das schlimmste an der ganzen Sache – war seine Jacke!
Nylla hatte keine Ahnung, was an dieser ausgewetzten schwarzen Lederjacke so wichtig für Lever war, aber er trug sie ständig! Nylla hatte ihn noch nie ohne dieses Ding gesehen und auch jetzt war sein massiger Oberkörper gut darin eingepackt. Es ging zwar schon auf den Abend zu, aber so schnell wich die Hitze hier draußen in der Savanne nicht zurück – erst nach Sonnenuntergang wurde es deutlich kühler.
Nylla selber hatte ihre Kleidung bereits auf das Allernötigste beschränkt und schwitzte trotzdem wie verrückt. Ihre Haare klebten ihr im Nacken und auf der Stirn, ihre Haut schien zu kochen und ihr Gehirn fühlte sich nur noch wie eine geschmolzene, homogene Brühe an. Und dieser Lever stand da vor ihr, mit seiner leicht vornüber gebeugten Körperhaltung, seinen fettigen, schwarzen Haaren, die ihm halb über die Augen hingen, und dieser dicken, klobigen Lederjacke – und tat so, als wäre es das selbstverständlichste auf der Welt! Als wäre es ganz normal, in dieser Affenhitze herumzumarschieren und sich zu denken: „Och, wie gut, dass ich heute meine Jacke angezogen habe!“ Dazu schleppte er auch immer so eine komische schwarze Tragetasche in einer Hand mit sich herum und schien sie, genau wie die Jacke, wenn überhaupt nur zum Schlafen abzulegen. Sein Anblick war für Nylla fast nicht zu ertragen!
„Lever, ich bin erst seit drei Wochen hier und du tust schon so, als wäre ich deine Privatbank!“ murrte sie. „Wie wäre es, wenn du deinen faulen Hintern mal in Bewegung setzt und selber für deinen Unterhalt sorgst, anstatt mich ständig anzupumpen?“
„Das würde ich ja tun“, erwiderte Lever. „Wenn mein blöder Gleiter nicht kaputt wäre! Ich komme ja ohne das Ding nicht vom Fleck! Wie soll ich da Geschäfte abwickeln?“
„Wie hast du es den bisher gemacht? Ich meine, du bist ja schon ständig bei mir auf der Matte gestanden, als dein verdammter Gleiter noch funktioniert hat....“
Nylla fiel plötzlich auf, dass ihre Hände vollgeschmiert waren mit irgendeiner schwarzen Pampe. Da hatte sie wohl irgendwann während der Reparatur die falsche Stelle angefasst. Diese Entdeckung sorgte nicht gerade dafür, dass ihre Laune sich verbesserte – schließlich konnte sie sich noch recht gut daran erinnern, dass sie sich gerade eben mit besagten Händen übers Gesicht gewischt hatte.
Es half auch überhaupt nicht, dass sie mit ihrer Reparatur nicht wirklich Fortschritte machte. Ihr fehlten einfach die richtigen Werkzeuge und Ersatzteile! Diese Gesetzlosen waren zwar eine nette Gemeinschaft und sie boten aufgrund ihrer Isolation von der restlichen Welt einen guten, halbwegs sicheren Unterschlupf für Nylla. Und sie waren zum großen Teil Schrotthändler, deswegen hatte Nylla gehofft, bei ihnen auch das Nötigste für die Reparatur der Landario bekommen zu können. Doch ein Raumschiff wie ihres überstieg leider etwas das Hightech-Niveau, auf dem diese Gesetzlosen sich üblicherweise bewegten.
Nylla hatte durchaus Sympathien für diese kleine Gemeinschaft. Es waren irgendwas zwischen zwei- und dreihundert Leuten, die hier in der Savanne außerhalb von Anbis City ihre eigene Lebensgrundlage aufgebaut hatten. Diese alte, verlassene Kaserne ganz in der Nähe diente ihnen dabei als Zentrale, als Treffpunkt und zum Teil auch als Dach über dem Kopf. Sie hielten sich hier eigenständig über Wasser, indem sie Schrott sammelten, zusammenflickten, weiterverkauften oder untereinander tauschten. Und das schien auch zu Nyllas Überraschung recht gut zu funktionieren – vorausgesetzt, man wollte nicht gerade einen Hyperantrieb reparieren.
Trotzdem bewunderte Nylla sie für den Mut und die Entschlossenheit, hier abseits der modernen Gesellschaft ihr eigenes Ding durchzuziehen. Wenn es nicht zu riskant gewesen wäre, im Anbis-System zu bleiben, hätte sie durchaus überlegt, sich den Gesetzlosen für eine Weile anzuschließen.
Obwohl.... Wenn sie diesen Kerl da auf ihrer Frachtrampe ansah, war sich Nylla doch nicht so sicher, ob sie das hier nervlich lange aushalten könnte....
„Ich hatte nur ein bisschen Pech“, mümmelte Lever mit seiner melodischen, beinahe quietschig klingenden Stimme, die sehr gut zu seinem etwas dümmlichen Gesichtsausdruck passte. „Pech, ja, das hatte ich! Aber du weißt ja gar nicht, was Pech ist, habe ich recht?“
Nylla ließ für einen Moment die letzten paar Wochen Revue passieren. In diesen war sie beschossen, KO geschlagen und beinahe aus einer Luftschleuse geworfen worden, hatte aus ihrem Zuhause flüchten und auf dem heißesten bewohnbaren Planeten der Gegend untertauchen müssen. Seither versuchte sie vergeblich, ihren verschmorten Hyperantrieb wieder in Gang zu kriegen, irgendwie über die Runden zu kommen und dabei immer vor Torx’ Leuten auf der Hut zu sein, die jeden Moment auftauchen konnten, um ihr den Rest zu geben. Ihr gedanklicher Rückblick endete in der Gegenwart, in der sie völlig dreckig, verschwitzt und müde auf dem Boden ihres kaputten Raumschiffs saß und den Bettelversuchen eines unbeholfenen Einfaltspinsels zuhören musste, der ihr auch noch ihre letzten paar Groschen abzwacken wollte.
„Du hast völlig recht“, sagte sie dann ruhig. „Ich bin ein Glückskind.“
„Nicht wahr?“ Lever ahnte natürlich nichts von ihren Gedanken. „Ich kenne Mädels wie dich. Du musst nur einmal mit den Augen klimpern und schon wird dir alles, was du brauchst, hinterher geschmissen. Wenn ich so aussehen würde wie du, wäre ich auch nicht darauf angewiesen, bei jemandem zu schnorren. Aber schau mich an: Ich bin ein plumper Fleischklops!“
„Was den letzten Punkt angeht, kann ich dir nicht widersprechen,“ murmelte Nylla. Und laut fügte sie hinzu: „Hör mal, Lever, ich bin doch sicher nicht die einzige Seele in dieser Gegend, die du anpumpen kannst. Was ist denn mit deinen ganzen Gesetzlosen-Kumpels?“
„Die meisten von denen sind selbst ständig pleite“, erwiderte Lever missmutig. „Und die verdammte Schlange will mir auch nicht mehr helfen!“
Jetzt war Nylla etwas verwirrt. Wovon faselte Lever da jetzt schon wieder. „Ähm.... die Schlange!?“
Lever nickte hastig. „Natürlich. Sag bloß, du hast in den Wochen, seit du hier bist, noch nichts von der Schlange gehört.“
„Stell dir vor, nein.“ Nylla zuckte mit den Achseln. „Ich dachte, auf diesem Planeten gibt es keine Tiere.“
Lever fasste sich an die Stirn, als könnte er ihre Unwissenheit gar nicht fassen. „Nein, Nylla.... Die Schlange ist unsere zentrale Anlaufstelle. Da gehen wir hin, wenn wir was zum Verscherbeln haben oder was Bestimmtes brauchen. Die leiern das dann an oder haben vielleicht schon einen guten Tipp für uns, an wen wir uns wenden können. Dann müssen wir nicht jeden Gesetzlosen einzeln fragen. Die Leute von der Schlange wissen nämlich genau über alles Bescheid, was in und um diese Kaserne so vorgeht!“
„Okay.... und warum Schlange?“
Lever hob die Hände, als wäre die Antwort völlig offensichtlich. „Weil sich vor ihrer Tür im Lauf des Tags immer eine längere Warteschlange bildet. Deswegen sagen wir inzwischen einfach ‚Ich geh zur Schlange‘!“
„Ah.“ Nylla starrte mit leerem Blick in die Luft. „Irgendwie einleuchtend....“
„Und wenn wir mal Not am Mann haben, helfen sie uns auch normalerweise mit ein paar Groschen aus. Aber stell dir vor, mir wollen sie einfach nichts mehr geben!“
„Nein!!“ Nylla glaubte, den Schock in ihrer Stimme und ihrem Gesichtsausdruck ziemlich überzeugend zu schauspielern. „Nicht möglich!!“
Bei Lever schien es schon mal zu funktionieren. „Wenn ich es dir doch sage! Letztes Mal hätten sie mich sogar fast rausgeworfen!“
Nylla musste plötzlich grinsen. Die Vorstellung, jemand wäre in der Lage, Lever zu werfen, war einfach zu absurd!
„Ich wüsste nicht, was daran so lustig ist!“ murrte Lever. „Wenn ich es mir mit der Schlange nicht versaut hätte, müsste ich überhaupt nicht bei dir schnorren! Glaubst du, mir macht das Spaß? Ich würde auch lieber etwas ganz anderes machen, als vor dir auf den Knien herumzurutschen! Aber es geht nicht anders! Diese Kohle ist für mich lebenswichtig, das musst du mir glauben.“
„Lever....“, sagte Nylla ruhig und nahm sich alle Zeit der Welt, um auf die Beine zu kommen. „Pass mal auf....“ Sie kam zu ihm auf die Frachtrampe, legte einen Arm um seine Schulter und brachte ihn freundlich aber bestimmt dazu, auf der Rampe Platz zu nehmen. Sie setzte sich neben ihn und behielt dabei ihre Hand auf seiner Schulter. „Jetzt wollen wir doch einmal ganz genau klären, wohin dein ganzes schönes Geld immer verschwindet, sodass du armer Kerl immer und immer wieder dazu verdammt bist, bei der lieben Nylla zu buckeln.“
„Äh, Nylla, aber....“, begann Lever.
Sie unterbrach ihn sofort. „Nehmen wir doch als Beispiel die ersten 20 G, die ich dir in meiner unendlichen Güte gegeben habe und die du so verdammt dringend gebraucht hast. Warum erzählst du mir nicht mal, was du damit angestellt hast?“
„Ich.... hab mich mit dem Nötigsten versorgt. Was zum Futtern..... Aber was spielt das für eine Rolle? Denkst du, ich würde Geld von dir verlangen, wenn es nicht wirklich nötig wäre? Vertraust du mir etwa nicht?“
„War das eine rhetorische Frage?“
„Was ist eine re-tor....“
„Nicht so wichtig. Du hast also die ersten 20 G für Essen ausgegeben? Gut. Damit müsste sogar so jemand wie du mindestens zwei Wochen lang leben können. Das heißt, die nächsten 30 G von mir hast du für etwas ganz anderes gebraucht. Hab ich das richtig erfasst?“
„Ja, schon....“ Lever zögerte.
„Na?“ drängte Nylla. „Willst du mir nicht sagen, wofür die waren?“
„Medizin!“ platzte Lever heraus. „Ich habe dringend Medizin gebraucht.“
„Tatsächlich? Mir ist gar nicht aufgefallen, dass du krank warst. Und? Geht es dir jetzt wieder besser? Hat diese Wundermedizin für läppische 30 G etwas geholfen?“
„J-ja.... Mir geht es schon wieder viel besser....“
„Das freut mich zu hören. Das heißt also, du bist jetzt satt und gesund. Nur hast du jetzt natürlich dieses dumme, dumme Problem mit deinem Gleiter! Ich trau mich fast gar nicht zu fragen: Wie viel, glaubst du, wird dich das wieder kosten?“
Lever schnaufte. „Nochmal 30 G! Mindestens!“
„Und so lange du keinen Gleiter hast, bist du nicht mobil und kannst keine Geschäfte mehr machen. Da steckst du aber in einem ziemlichen Dilemma!“
Lever nickte traurig.
„Aber weißt du was? Mir ist gerade die Lösung für dein Problem eingefallen! Du musst überhaupt nicht mehr schnorren, wenn du es geschickt anstellst! Pass auf: Du nimmst jetzt erst mal deine ganzen gehorteten Lebensmittel. Daraus zauberst du ein paar leckere Snacks und verkaufst sie drüben in der Kaserne. Mindestens 10 G kannst du dafür locker bekommen, oder was meinst du?“
„Aber dann hab ich ja nichts mehr zu essen!“ jammerte Lever. „Außerdem: Ich brauch mindestens 30 G! Hast du das schon wieder vergessen?“
„Nein, nein. Warte doch mal! Das war ja nur der erste Schritt! Als nächstes verkaufst du die Reste von deiner 30-G-Medizin. Ich glaube nämlich nicht, dass du die ganz aufgebraucht hast, denn du warst ja blitzschnell wieder gesund. Und vielleicht findest du ja jemanden, der eine ähnliche Krankheit hat. Du weißt ja, Krankheiten, die man einem nicht anmerkt, für die man aber so eine schweineteure Medizin braucht, sind sehr häufig. Selbst wenn du einen ordentlichen Rabatt anbietest, verdienst du damit nochmal mindestens 10 G!“
„Also, Nylla, ganz ehrlich, irgendwie hab ich das Gefühl, dass du das alles überhaupt nicht ernst nimmst. Hier geht es um meine Lebensgrundlage, Nylla! Das ist gar nichts zum Spaßen!“
Nylla stemmte entrüstet ihre Fäuste in die Seiten. „Lever, ich würde mich doch niemals über dich lustig machen! Wie kannst du das auch nur denken?“
Lever machte den Mund auf. Nach ein paar Sekunden klappte er ihn wieder zu und wirkte dabei relativ ratlos.
„Also, jetzt hast du schon mal 20 G. Und wenn du jetzt noch diese hässliche Jacke verkaufst, mit der du in dieser Hitze sowieso nichts anfangen kannst, und deine komische Tragetasche auch noch, dann müsstest du damit doch bestimmt genug Geld zusammen haben, um dir einen nagelneuen Lichtgenerator kaufen zu können. Und wenn dein Gleiter dann erst mal wieder läuft, dann kannst du auch innerhalb kürzester Zeit die Dinge, die du verkauft hast, wieder zurückverdienen! Na, was sagst du dazu? Bin ich nicht brilliant?“
Lever sah erwartungsgemäß nicht so aus, als hätte ihn die unbändige Euphorie gepackt. „Na ja.... Ich weiß nicht so recht....“, brachte er hervor.
„Ach komm, das schaffst du schon. Ich hab vollstes Vertrauen in dich!“ Nylla klopfte Lever noch einmal auf die Schulter. „Am besten fängst du heute Abend noch damit an!“
Sie stand auf und half Lever, ebenfalls auf die Beine zu kommen.
„Aber Nylla....“
„Nein, Lever, kein Aber. Ich will hören: ‚Jawohl, Nylla, eine fantastische Idee! Ich leg sofort los und lass dich jetzt in Ruhe mit deiner Arbeit weitermachen!‘ Na los, Abmarsch!“
Sie schob Lever von ihrer Frachtrampe herunter, was ihr keine große Mühe bereitete, weil der Gesetzlose sich nur halbherzig dagegen wehrte. Offensichtlich waren ihm momentan die Argumente ausgegangen.
„Also dann, viel Glück, mein Lieber!“ rief sie, während sie rückwärts die Rampe wieder hochlief.
Lever war vor der Rampe stehen geblieben und sah missmutig zu ihr hoch. Nylla baute sich mit verschränkten Armen am Ausgang ihres Frachtraums auf, erwiderte Levers Blick entschlossen und tippte sich dabei erwartungsvoll auf den Oberarm.
Schließlich drehte Lever sich langsam um und stapfte wie ein begossener Pudel davon. Nylla atmete auf. Endlich bin ich den los....
Sie beschloss, erst einmal die Pampe von ihren Händen und ihrem Gesicht zu entfernen und sich dann wieder an die Arbeit zu machen. Fast sehnsüchtig blickte sie zu ihrem Waschbecken hinüber, das sie natürlich nicht benutzen konnte, weil auch der Wassersynthetisierer der Landario ausgeschaltet war. Stattdessen lief sie ins Frontsegment ihres Schiffs hinüber und suchte aus einer der vielen Schubladen einen alten Lappen raus. Sie wollte sich gerade damit die Hände abwischen, als sie überrascht feststellte, dass ihre rechte Hand schon fast sauber war.
Als ihr einen Augenblick später einfiel, woran das lag, musste sie kichern. Sie wäre zu gern dabei, wenn Lever irgendwann bemerkte, dass seine wertvolle Jacke im hinteren Schulterbereich einen handgroßen Schmutzfleck hatte....
Plötzlich hörte sie ein leises Geräusch aus dem Frachtbereich der Landario. Sie hielt inne und horchte auf. Hatte sie etwa einen Eindringling in ihrem Schiff?
Im nächsten Moment wurde es ihr klar: Lever! Der Mistkerl war nach ein paar Schritten umgekehrt und zurückgekommen. Nachdem sie ihm freiwillig kein Geld geben wollte, versuchte er nun sie zu beklauen!
Sie schnaubte verärgert aus, warf ihren Lappen in eine Ecke, eilte durch die Tür in den hinteren Teil des Raumschiffs und brüllte: „Du dummer, verfressener Schwachkopf, was denkst du dir....“
Nylla blieb wie erstarrt stehen. Die restlichen Worte blieben ihr im Hals stecken.
Sie hatte tatsächlich einen Eindringling in ihrem Schiff. Er stand mitten im Frachtraum, hatte sich zu seiner vollen Größe aufgebaut und sah Nylla mit einem überlegenen Lächeln auf den Lippen an.
Aber Lever war es nicht.
„Hallo, Nylla“, sagte Gruth, während er langsam seine Waffe auf sie richtete. „Hast du jemand anderen erwartet?“
Gruth war etwa 20 Minuten lang mit seinem Gleiter durch die Savanne geflitzt, als ein größeres, militärisch wirkendes Gebäude am Horizont aufgetaucht war.
Den Gleiter hatte er sich bei einem Verleih am nördlichen Stadtrand von Anbis City gemietet. Und die Koordinaten dieses Gesetzlosen-Unterschlupfs, von dem Elos ihm erzählt hatte, hatte er sich aus dem Komnetz besorgt und auf ein Notepad geladen. Offensichtlich waren die Koordinaten korrekt gewesen, denn sie hatten ihn direkt zu dieser alten Kaserne geführt.
Gruth flog etwas langsamer und sah sich das Gebäude genauer an. Es bestand vollständig aus kleinen, grauen Ziegeln, hatte eine quadratische Grundfläche und vier Aussichtstürme an den Ecken. An den Außenmauern gab es nur kleine Sichtfenster in weiten Abständen voneinander. Gruth steuerte gerade genau auf ein großes Tor in der Mitte der Südflanke zu.
Das Tor stand offen und Gruth erkannte beim Näherkommen ein paar Gestalten, die in der Nähe herumlungerten. Er hatte kein großes Interesse daran, unnötig die Aufmerksamkeit dieser Gesetzlosen zu erregen. Außerdem glaubte er ohnehin nicht, dass Nylla ihr Raumschiff direkt in der Kaserne abgestellt hatte. So wie er sie einschätzte, würde sie es eher irgendwo außerhalb in der Nähe geparkt haben. Also lenkte er den Gleiter in eine Kurve, sodass er einen weiten Bogen um die Kaserne fliegen konnte. Wenn er so nach und nach die Gegend absuchte, würde er Nyllas Schiff früher oder später finden, da war er sich absolut sicher.
Und wo Nyllas Schiff war, da konnte Nylla selbst auch nicht weit sein.
Gruth erinnerte sich noch gut an den Tag, als Torx ihr das Geld für dieses Schiff zur Verfügung gestellt hatte. Nylla hatte damals schon erste eigene Aufträge erledigt und sich als äußerst talentierte Schmugglerin erwiesen. Dabei konnte sie zu der Zeit höchstens vierzehn Jahre alt gewesen sein, vielleicht sogar noch jünger.
Schon damals hatte sie sich bemüht, ganz souverän und erwachsen zu wirken. Trotzdem hatte man ihr die unbändige kindliche Freude deutlich angemerkt, als sie erfuhr, dass sie ihr erstes eigenes Schiff bekommen würde. Gruth hatte das Gefühl gehabt, dass sie am liebsten wild jubelnd in Torx‘ Büro herumgehüpft wäre. Ihre grünen Augen hatten so sehr geleuchtet und hatten wirklich etwas in Gruth bewegt, so ein Gefühl wie....
Aber Gruth schüttelte schnell den Kopf. Gleich würde er vor ihr stehen und ihr Leben beenden, da war gerade so eine Erinnerung denkbar fehl am Platz. Nylla hatte Torx verraten und war wegen dem, was sie wusste, ein zu großes Sicherheitsrisiko. Außerdem hatte sie Gruth durch ihre Flucht wie einen Stümper dastehen lassen. Ihr Tod war unvermeidbar.
Gruth konzentrierte sich wieder auf die Vorfreude, seinen Auftrag in Kürze abzuschließen, und suchte weiter die Gegend um die Kaserne ab. Und er musste nicht lange suchen: Schon beim ersten Umfliegen tauchte vor ihm ein vertrautes Schiffsprofil zwischen den hohen Grashalmen auf: Nyllas kleines Ein-Mann-Raumschiff – Landario hatte sie es genannt.
Im Bereich um das Schiff war das Gras plattgedrückt, außerdem führte ein schmaler Pfad von dem Raumschiff auf die Kaserne zu. Gruth hielt in ausreichendem Abstand neben dem Pfad an und ließ den Gleiter ins Gras hinabsinken – so war das Ding unmöglich zu entdecken, wenn man nicht gerade drüber stolperte. Dann begann er durchs hohe Gras auf die Landario zuzuschleichen.
Als er näher kam, hörte Gruth durch das Rauschen der Savanne erst leise, dann immer deutlicher zwei verschiedene Stimmen. Eine klang nach einer jungen Frau und Gruth war sich sicher, dass er sie als Nyllas Stimme erkannte. Wem die zweite Stimme gehörte, entdeckte er erst, als er noch etwas näher rangekommen war: Einem breiten, bulligen Kerl, der auf Nyllas Frachtrampe stand, offenbar einer dieser Gesetzlosen. Aus irgendeinem Grund trug der Kerl in dieser Hitze eine Jacke – Gruth selbst war schon durch den kurzen Marsch durch die Savanne schweißgebadet.
Er kauerte sich ins Gras und hörte eine Weile zu. Schnell wurde ihm klar, dass der Gesetzlose wohl keine große Leuchte war und Nylla ihn da gerade ordentlich auf die Schippe nahm. Gegen seinen Willen musste Gruth schmunzeln.
Dieses Gespräch erinnerte ihn an unzählige Momente, die er über die Jahre mit Nylla erlebt hatte. Sie hatten auf Torx‘ Raumstation einen gemeinsamen Aufenthalts- und Speiseraum für die Schmuggler und Gruth saß dort ganz gerne etwas abseits in einer Ecke und hörte den Gesprächen der Versammelten zu. Und sehr oft war Nylla es gewesen, die sich dabei am meisten bemerkbar gemacht hatte.
Entweder hatte sie einen der anderen Schmuggler auf den Arm genommen oder eine neue Story von einem ihrer Schmuggelflüge zum Besten gegeben oder einfach mit ihren Kollegen herumgewitzelt. Sie mochte es, wenn sie im Mittelpunkt stand und viele Personen ihr zuhörten. Und obwohl sie noch so jung war, hatten die anderen Schmuggler sie vollkommen als ihresgleichen akzeptiert und hohe Achtung für ihre Fähigkeiten als Schmugglerin gehabt.
Ja, selbst mit Torx hatte sie sich manchmal einen geradezu kumpelhaften Umgang erlaubt. Als Torx‘ Leibwächter war Gruth natürlich bei den meisten ihrer Missionsbesprechungen dabei gewesen. Nylla hatte nie so einfach vor ihrem Boss klein beigegeben und war gelegentlich sogar so trotzig und vorlaut geworden, dass selbst Gruth etwas ins Schwitzen gekommen war. Torx war sonst ziemlich leicht auf die Palme zu bringen – aber von Nylla hatte er sich das aus irgendeinem Grund gefallen lassen. Vielleicht war er aufgrund ihres jugendlichen Leichtsinns nachsichtiger gewesen oder er hatte einfach ihr enormes Potential erkannt, sodass er sie nicht zu sehr in die Schranken weisen wollte.
Zumindest nicht bis zu dem Zeitpunkt, als sie ihn so übel hintergangen hatte.
Endlich war das Gespräch zwischen Nylla und dem Gesetzlosen beendet und dieser schlurfte anscheinend nicht ganz zufrieden davon. Gruth wartete in seinem Versteck, bis der Kerl sich vom Schiff entfernt hatte. Er sah keinen Grund, noch einen Unbeteiligten in diese Sache hineinzuziehen.
Als der Gesetzlose dann eindeutig außer Sicht- und Hörweite war, setzte Gruth sich in Bewegung und kämpfte sich durch das Gras auf den plattgetretenen Bereich um das Schiff zu. Er zog seine N-Waffe vom Gürtel und entsicherte sie schon mal. Nylla war wohl nach dem Gespräch wieder in ihr Schiff hineingegangen. Es war Gruth ganz recht, sie drinnen erledigen zu können, wo der Schuss hoffentlich nicht bis zur Kaserne zu hören sein würde.
Langsam schlich er auf die heruntergefahrene Frachtrampe zu. Er blickte in den kleinen Frachtraum, der leer war. Nylla musste im Vordersegment sein. Er versuchte die Rampe möglichst lautlos zu betreten. Ganz konnte er aber nicht vermeiden, dass jeder Schritt ein leises Geräusch erzeugte.
Das reichte offenbar schon: Die Verbindungstür zum Vordersegment sprang auf und Nylla stürmte in den Frachtraum.
„Du dummer, verfressener Schwachkopf, was denkst du dir....“ Sie erstarrte.
Gruth hob seine Waffe und zielte auf ihre Stirn.
„Hast du jemand anderen erwartet?“
Nyllas Augen starrten entsetzt auf die Waffenmündung. Gruth hatte sie total auf dem falschen Fuß erwischt: Völlig ungeschützt und genau vor seiner Nase stand sie da und traute sich keine Regung mehr. Es war fast schon zu einfach.
Jetzt musste er nur noch abdrücken.
Nylla wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis ihr klar wurde, dass sie noch lebte. Und sie wusste auch nicht genau wieso.
Irgendwie schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Sie stand immer noch wie erstarrt in ihrem Frachtraum. Vor ihr war Gruth, zielte mit seiner N-Waffe auf sie und hatte den Finger auf den Abzug gelegt.
Aber er drückte nicht ab. Fast als wäre auch er zu Stein erstarrt.
Sofort begann Nyllas Gehirn instinktiv nach Möglichkeiten zu suchen, wie sie aus dieser scheinbar aussichtslosen Situation noch herauskommen konnte. Doch sie kannte Gruth. Sie wusste, er ließ nie auch nur für einen Sekundenbruchteil in seiner Aufmerksamkeit nach. Er behielt sie unablässig im Auge und würde jede noch so kleine Regung von ihr bemerken.
Nylla hätte sich natürlich aus Ärger über ihre ungestüme Nachlässigkeit am liebsten die Zunge abgebissen, aber es half alles nichts. Ihr Leben lag in Gruths Hand und er allein entschied nun über den Zeitpunkt, an dem es zu Ende war. Er musste nur noch abdrücken.
Aber aus irgendeinem Grund tat er es nicht. Warum tat er es nicht?
„Äh.... Hallo Gruth“, sagte Nylla schließlich, als nach einer weiteren gefühlten Ewigkeit immer noch nichts passiert war. „Falls du es vergessen hast: Dieses Ding da unter deinem rechten Zeigefinger – das musst du drücken.“
In Gruths Gesicht regte sich irgendwas, aber sonst blieb er immer noch bewegungslos. Weitere endlos erscheinende Sekunden verstrichen.
Dann wedelte Gruth kurz mit der Waffe und deutete hinter sich. „Na los. Abmarsch! Wir verschwinden hier!“
Was soll das jetzt? Nylla wusste nicht, ob sie erleichtert sein sollte, dass ihr Tod sich anscheinend noch hinauszögerte, oder ob es ihr lieber gewesen wäre, wenn sie es einfach schnell hinter sich hätte. Eigentlich war Gruth doch für seine stoische Effizienz bekannt, nicht für eine sadistische Ader.
Aber sie sagte erst mal nichts mehr. Stattdessen ließ sie sich von Gruth aus ihrem Schiff herausdelegieren. Er führte sie vor sich her den schmalen Feldweg entlang. Nylla spürte seine Waffe in ihrem Rücken wie ein hässliches Ziehen. Sie konnte sich immer noch keinen Reim darauf machen, was er vorhatte, aber vielleicht gab es ihr doch noch die Gelegenheit, einen Fluchtversuch zu starten.
Doch Gruth war und blieb ein Meister seines Fachs. Er behielt immer den perfekten Abstand von ihr: Nah genug, sodass sie keine Chance hatte, sich blitzschnell aus der Schusslinie zu hechten. Weit genug, dass sie sich nicht überraschend umdrehen und ihm die Waffe aus der Hand schlagen konnte.
„Jetzt hier lang!“ knurrte Gruth nach einer Weile und deutete nach links auf das hohe Gras.
Nylla reckte den Kopf und entdeckte einen Gleiter, der ein paar Meter vom Pfad entfernt abgestellt war. Gruth nutzte den Moment, um mit seiner Waffe näher an Nylla heran zu kommen. Er berührte mit der Mündung ihren Rücken zwischen den Schulterblättern.
„Wenn du irgendwas versuchst, bist du tot.“
Er reichte ihr eine Codekarte und sie verstand sofort, näherte sich dem Gleiter und entsperrte ihn, indem sie die Karte an das Scannerfeld hielt. Währenddessen klebte Gruth ihr immer schön im Rücken.
„Steig ein!“
Nylla setzte einen Fuß auf den Rand des Einstiegs – doch dann hielt sie inne. Was mache ich hier eigentlich? Ganz langsam begann sie sich umzudrehen.
„Lass das!“ fauchte Gruth. „Steig jetzt ein, hab ich gesagt!“
Nyllas Herz pochte, doch sie drehte sich weiter, bis sie genau auf Gruths Waffenmündung starrte, die wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht gähnte. Wenn er jetzt feuerte, würde sie es nicht einmal merken, bevor sie tot war. Doch Gruth feuerte immer noch nicht. Alles, was er tat, war die Waffe noch fester zu greifen. Sie zitterte ihm regelrecht in der Hand.
„Ich will ja nicht meckern, aber ich hätte da doch eine kleine Frage“, sagte Nylla. Sie war selbst überrascht darüber, wie entspannt ihre Stimme klang. „Wozu das hier? Ich meine, du willst mich doch nur umbringen, oder nicht? Warum drückst du jetzt nicht einfach ab und die Sache ist erledigt? Versteh mich nicht falsch, ich bin nicht besonders scharf darauf abzukratzen, aber ich frage mich doch, was du eigentlich vorhast!“
Gruth schnaubte. „Das hat dich nicht zu interessieren! Du tust jetzt, was ich dir sage!“
Nylla blieb ungerührt stehen und legte nur den Kopf schief. „Aber weißt du, irgendwie interessiert es mich doch. Schließlich geht es hier um mein Leben. Da kann man doch wohl verstehen, dass mir das nicht ganz so unwichtig ist.“
„Du hast hier aber keine Fragen zu stellen!“ Gruth stieg nun wirklich die Zornesröte ins Gesicht. Er drückte die Waffenmündung gegen Nyllas Stirn und schob sie regelrecht nach hinten. „Steig! Jetzt! Ein!“
„Ja, ja, ist ja schon gut.“ Nylla stieg rückwärts in den Gleiter – hätte sie das nicht getan, wäre sie wahrscheinlich rücklings hineingefallen. „Ich will dir ja nicht den Arbeitstag vermiesen.“
Gruth drängte sich neben sie auf den Sitz und hielt ihr weiter die Waffe an den Kopf. „Du fährst. Das Ziel ist schon markiert. Los jetzt!“
Nylla sah auf die Anzeige und erkannte, dass darauf ein Punkt blinkte, der als „Anbis City Raumhafen“ beschriftet war. „Ist das dein Ernst, du willst mich erst vom Planeten schaffen, bevor zu mich abmurkst? Was für ein bescheuerter, überkomplizierter Schurkenplan ist das denn?“
„Fahr jetzt!!“
„Ist ja gut!“ Nylla startete den Motor, beschleunigte den Gleiter und lenkte ihn in die Richtung, die der Navigator ihr anzeigte. Sie erreichten schnell eine ordentliche Fluggeschwindigkeit und die Savanne unter ihnen war bald nur mehr als eine grüne Suppe zu erkennen. Die Grashalme teilten sich vor dem Gleiter und bildeten hinter ihnen so etwas wie eine Fahrspur – es sah fast aus, als würden sie über einen grünen Ozean segeln.
In jeder anderen Situation hätte Nylla die Geschwindigkeit und die Landschaft um sie herum genossen. Doch leider schwebte sie immer noch in akuter Lebensgefahr. Sie musste weiter versuchen, Gruth irgendwie zu bearbeiten.
„Im Ernst, Gruth“, fuhr sie fort. „Du musst ja wohl zugeben, dass das, was du hier abziehst, nicht den geringsten Sinn ergibt. Je länger ich lebe, desto mehr kann irgendwas schiefgehen. Warum geht ein Profi wie du so ein Risiko ein?“
Gruth knurrte missmutig. „Ich will nur kein Aufsehen erregen, das ist alles! Es ist besser, wenn niemand deine Leiche finden kann.“
„Ach komm! Schau dich hier doch einmal um! Keine Menschenseele, so weit das Auge reicht! Nur Savanne und noch mehr Savanne! Wenn du mich einfach hier irgendwo mitten in diesem Grünzeug zurücklässt, wer soll mich hier jemals finden?“
„Ich bevorzuge trotzdem immer noch den weiten Weltraum“, erwiderte Gruth. „Dort draußen wird dich garantiert niemand mehr finden und wenn doch, kann es niemand mit Torx in Verbindung bringen. Das ist die sicherste Vorgehensweise.“
„Und deswegen willst du mich erst mal irgendwie durch den Raumhafen schleusen und riskieren, dass ich mich doch noch aus dem Staub machen könnte? So ein Unsinn! Warum sagst du mir nicht einfach, was du und Torx für einen kranken Plan ausgeheckt haben? Irgendetwas habt ihr mit mir vor, da bin ich mir absolut sicher. Sonst würdest du niemals so einen Zirkus veranstalten! Na mach schon, raus mit der Sprache!“
Gruth schnaubte wütend. Er drückte ihr die Waffenmündung so fest in den Nacken, dass dort garantiert ein Abdruck zurückbleiben würde. „Ich hab dir gesagt, was ich vorhabe. Wenn du mir nicht glaubst, dann ist das wirklich dein eigenes Problem. Du hättest dir überlegen sollen, wie du sterben willst, bevor du beschlossen hast, Torx auszuspionieren. Dann wäre dir und mir so einiges an Ärger erspart geblieben. Und jetzt halt den Mund und pass auf, wo du hinfährst!“
Nylla machte schmale Lippen. Es war wohl doch besser, Gruth erst mal nicht weiter zu reizen, sonst erledigte er sie doch noch hier und jetzt. Nur leider wusste sie nun immer noch nicht, was hier im Busch war. Hatte Gruth wirklich den Befehl von Torx, sie nicht sofort zu töten? Hatte der alte Spinner noch irgendwas mit ihr vor abgesehen von ihrem Ableben?
Aus irgendeinem Grund bezweifelte Nylla das. Sie wusste nicht genau, wieso, aber sie hatte das Gefühl, dass Torx gar nichts davon wusste, was hier gerade passierte. Irgendwie spürte sie, dass Gruth im Moment völlig im Alleingang handelte.
Sie hatte nur nicht die geringste Ahnung wieso....
Gruth war sich vollkommen im Klaren darüber, dass sein gegenwärtiges Verhalten überhaupt keinen Sinn ergab.
Dabei wäre es so einfach gewesen. Zielen. Abdrücken. Fertig. In einer Sekunde wäre sein Auftrag erledigt gewesen und alle Probleme, die ihn und Torx in den letzten Wochen geplagt hatten, wären Vergangenheit gewesen. Er hätte Nyllas Leiche nur noch irgendwo im Gras verschwinden lassen können.
Doch stattdessen war sie immer noch sehr lebendig. Sie steuerte den Gleiter auf den Stadtrand von Anbis City zu, der jetzt schon deutlich vor ihnen zu erkennen war. Und Gruth hatte immer noch keine Ahnung, was er tun sollte, wenn sie ihr Ziel erreichten.
Auf dem Weg waren immer wieder zahlreiche Erinnerungsfetzen in seinem Kopf aufgeblitzt. Verschiedene Augenblicke in den letzten zehn Jahren, in denen Nylla ihm über den Weg gelaufen war. Sie hatten nie besonders viel direkten Kontakt gehabt, von kurzen, rein funktionellen Wortwechseln abgesehen. Trotzdem waren ihm eine Menge Momente eingefallen. Die vielen Besprechungen mit Torx, ihre Auftritte im Mannschaftsraum, kurze Begegnungen in den Gängen der Station oder im Fitnessbereich.
Er hatte versucht, sich an sein erstes Aufeinandertreffen mit ihr zu erinnern. Da musste Nylla noch ein ganz kleines Mädchen gewesen sein. Höchstens vier Jahre alt. Damals war sie noch immer mit ihrem Vater unterwegs gewesen. Gruth erinnerte sich, dass die beiden immer unzertrennlich gewesen waren – bis Nyllas Vater dann plötzlich von einem auf den anderen Tag weg gewesen war. Gruth wusste so gut wie nichts darüber, was damals vorgefallen war und wohin er verschwunden war, aber ab dann war Nylla auf sich allein gestellt gewesen.
Daraufhin hatte Gruth es einfach genossen, Nylla dabei zuzusehen, wie sie langsam aufgewachsen war und unfassbar schnell eine selbständige und vollwertige Schmugglerin geworden war. Sie strotzte nur so vor Energie und Lebendigkeit. Es war ihm bis heute nie so wirklich bewusst gewesen, aber Gruth hatte sich immer gefreut, wenn er ihre helle Stimme gehört und ihre ausdrucksstarken grünen Augen gesehen hatte.
Und beides führte ihn zu ihrer letzten Begegnung zurück, als sie in ihren Frachtraum gestürmt kam und er seine Waffe auf sie gerichtet hatte. Eigentlich hatte er schon in dem Moment gewusst, dass er niemals würde abdrücken können.
Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als der Gleiter plötzlich langsamer wurde und seine Richtung änderte. Erschrocken sah er auf und stellte fest, dass sie in Anbis City angekommen waren.
In der Stadt waren Gleiter natürlich nicht erlaubt, aber der Raumhafen befand sich am Rand der Stadt und er hatte einen eigenen großen Gleiter-Abstellplatz. Nylla steuerte den Gleiter durch die Reihen und brachte ihn in einer Parklücke zum Stillstand. Dann drehte sie sich zu Gruth um und starrte ihn mit einem teils trotzigen, teils fragenden Blick an.
„Das war ein lustiger Ausflug, Onkel Gruth. Und was unternehmen wir als nächstes?“
Für einige quälende Sekunden wusste Gruth nicht mehr weiter. Eigentlich hatte er bis zu ihrer Ankunft eine Entscheidung treffen wollen, was er jetzt tun würde – aber er wusste es immer noch nicht.
Dabei war die Lage doch eindeutig. Es blieb ihm überhaupt keine Wahl: Er musste Nylla töten. Aber er würde es nicht mit dieser Waffe in seiner Hand tun können. Er würde nicht in diese leuchtenden grünen Augen sehen und den Abzug drücken können, beim besten Willen nicht.
Wenn er sie in die Luftschleuse seines Shuttles steckte, würde er nicht zusehen müssen, wie sie starb. Er musste nur einen Knopf drücken, aber das traute er sich noch zu. Dann war die Sache erledigt und er konnte mit einem schlechten Geschmack im Mund, aber mit erfülltem Auftrag zu Torx zurückkehren und ihm Bericht erstatten.
Ja, so würde er es machen! Das war der richtige Ausweg!
Er stupste Nylla mit der Waffe an und knurrte: „Okay, jetzt steigen wir aus und gehen schön langsam und ohne Stress zum Landefeld hinüber. Ich werde meine Knarre hier in der Tasche haben, immer griffbereit, also machst du besser keine Dummheiten. Alles klar?“
„Sonnenklar, Gruth!“ erwiderte Nylla. „Was krieg ich denn für meine Dienste als Chauffeur?“
„Du darfst noch ein paar Minuten länger leben“, erwiderte Gruth und war fast erleichtert darüber, dass es ihm gelang, den Vorhang der Gleichgültigkeit zu bewahren.
„Na toll. Und es gibt nicht einmal Trinkgeld....“ Nylla öffnete die Tür und die beiden stiegen aus.
Es war noch ein gutes Stück zu laufen für sie, denn das Landefeld war groß und erstreckte sich über vier Sektoren der Stadt. Und solange man sich im Bereich der Privatstellplätze aufhielt, konnte man sich hier völlig frei bewegen. Es gab keine Kontrollen oder Begrenzungen, nur an vereinzelten wichtigen Stellen waren Angestellte der Raumhafen-Security postiert. Aber Gruth behielt seine Waffe verborgen und blieb mit Nylla in den für Fußgänger gekennzeichneten Zonen. Nylla verhielt sich zu Gruths Erleichterung nicht widerspenstig, sondern lief brav neben ihm her. Daher sahen die beiden nicht verdächtiger aus als jede andere Person, die sich auf dem Landefeld herumtrieb.
Es war inzwischen kurz vor Sonnenuntergang, aber immer noch irrsinnig heiß. Die Sonne hatte den ganzen Tag auf diese riesige, weite Betonfläche gebrannt und sie in einen gigantischen Backofen verwandelt. Gruth wischte sich schnaufend über die Stirn und freute sich auf sein klimatisiertes Shuttle, das sie bald erreichen würden. Eigentlich müsste er es sogar jeden Moment sehen können. Er reckte den Kopf und versuchte es zwischen den zahlreichen Raumschiffen von sehr unterschiedlicher Größe und Form auszumachen. Hier irgendwo musste es doch sein....
Plötzlich schreckte Gruth innerlich auf. Da war eine verdächtige Bewegung in seinen Augenwinkeln....
„Stehen bleiben!“ erklang von hinten eine laute, energische Stimme. „Polizei! Sie sind verhaftet!“
Und dann ging alles sehr schnell....
Alsth nickte dem Secu, der den Zugang zum Landefeld bewachte, kurz zu, packte dann seinen Polizeiausweis wieder ein und bemühte sich, Kheilo einzuholen.
Die beiden waren zusammen mit Vlorah vor ein paar Minuten am Raumhafen angekommen und hatten sich dann von der Kosmopol-Agentin getrennt. Vlorah hatte sich bereit erklärt, bei der Raumhafensicherheit vorbeizusehen und die geplante Aktion bei denen anzukündigen. Sie hatte unbedingt alleine dort hingehen wollen, wahrscheinlich wieder aufgrund irgendwelcher Kosmopol-Geheimniskrämereien, also hatten Kheilo und Alsth beschlossen, schon einmal vorzugehen und auf dem Landefeld zu warten.
„Hey, nicht so schnell!“ rief Alsth, als er seinen Kollegen fast wieder erreicht hatte. „Wir müssen sowieso noch auf unsere Babysitterin warten. Oder sollen wir uns das Schiff sofort vorknöpfen, ohne Vlorah?“
„Nein, das lassen wir dieses Mal besser“, entschied Kheilo und verlangsamte sofort seinen Schritt. „Das würde nur wieder ihren Ärger provozieren und bringen würde es uns wenig. Ich hab keine große Lust, mich ständig mit ihr herumzustreiten.“
„Wieso denn, die erste Runde war doch ganz lustig....“, murmelte Alsth. „Sag mal, hast du dir gemerkt, auf welchem Feld unser gesuchtes Schiff steht? Ich glaube, ich hab die Nummer schon wieder vergessen.“
„Dort drüben irgendwo.“ Kheilo wies in eine unbestimmte Richtung. „Vlorah wird es sicherlich erkennen, wenn sie es sieht. Anscheinend kennt sie diesen Schiffstyp recht genau.“
„Zumindest weiß sie mehr als wir.“ Alsth kratzte sich am Kopf. „Du bist mit dieser ganzen Situation nicht so ganz glücklich, oder?“
Kheilo schnaubte. „Ich möchte einfach, dass wir unsere Arbeit vernünftig machen können. Und das können wir nur, wenn wir die Informationen, die wir brauchen, auch dann bekommen, wenn wir sie brauchen. Und nicht erst hinterher.“
„Na ja.... vielleicht brauchen wir Vlorahs Informationen schon bald gar nicht mehr.“ Alsth zuckte mit den Achseln. „Wenn wir nämlich gleich diesen Kerl von der Absturzstelle schnappen, dann kann uns der ja vielleicht alles erzählen. Und in seinem Schiff könnten wir auch ein paar Anhaltspunkte finden, wenn wir es durchsuchen.“
„Falls uns die Kosmopol nicht wieder aussperrt. Außerdem: Findest du es nicht albern, dass wir diese Dinge selber herausfinden müssen, während wir gleichzeitig mit jemandem zusammenarbeiten, der das alles schon weiß?“
„Total albern. Aber so sind diese Kosmopol-Aktenschieber nun mal. Die würden sich lieber die Haare einzeln rausreißen lassen als irgendetwas Internes auszuplaudern, das weißt du doch! Im Vergleich dazu ist Agent Vlorah doch ziemlich handzahm.“
„Sag mal, Alsth?“ Kheilo blickte ihn verwundert an. „Du verteidigst eine Kosmopol-Agentin? Was hast du denn? Ich dachte, du magst die Kosmopol nicht!“
„Ich mag die Art nicht, wie die sich überall einmischen“, erklärte Alsth. „Und ich mag ihre Heimlichtuerei nicht. Aber genau deswegen war ich ja so überrascht, dass Vlorah sogar kompromissbereit war. Sie hat doch ein paar sehr vernünftige Dinge gesagt, oder nicht? Sie war zwar etwas schlecht gelaunt, aber dafür hat sie ja auch einen guten Grund. Es muss ein ziemlicher Schock gewesen sein, vom Tod ihrer beiden Kollegen zu erfahren.“
Sie blieben im Schatten eines größeren Transportraumschiffs stehen, um hier einigermaßen geschützt von der Hitze auf Vlorah zu warten.
Kheilo ließ seinen Blick über das Landefeld schweifen und sprach weiter: „Das sehe ich ja alles ein. Aber trotzdem sollte sie doch als Profi etwas mehr Entgegenkommen zeigen und das tun, was für unsere Ermittlungen am besten ist. Dann hätten wir auch größere Chancen diejenigen zu finden, die für den Tod ihrer Kollegen verantwortlich sind.“
„Ist das nicht komisch?“ fragte Alsth. „Heute früh warst du noch ganz begeistert wegen dieser Zusammenarbeit mit der Kosmopol. Dagegen war ich ziemlich skeptisch. Und jetzt ist es anscheinend genau umgekehrt.“
Kheilo zeigte ein schwaches Lächeln, während er irgendetwas in einiger Entfernung beobachtete. „Also, na ja, ich würde jetzt nicht sagen, dass ich begeistert....“ Plötzlich stockte er.
„Was hast du denn?“ fragte Alsth verwundert und versuchte Kheilos entgeistertem Blick zu folgen.
„Verdammt....“, knurrte Kheilo. „Alsth, siehst du die beiden Personen, die da hinten entlang marschieren?“
„Wo?“ Alsth reckte den Hals und forschte zwischen den ruhenden Raumschiffen nach irgendeiner Bewegung „Kannst du mir nicht ungefähr sagen, wo ich suchen muss....?“
Dann sah er sie auch.
Es waren zwei Personen, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten. Ein Mann und eine Frau. Die Frau sah ziemlich jung aus und machte einen eher zierlichen Eindruck. Das lag aber vielleicht auch daran, dass sie neben der breiten Statur ihres Begleiters fast unterging. Der Mann wirkte wie ein wandelnder Felsbrocken! Und obwohl er ziemlich weit weg war und ihnen eher mit dem Rücken zugewandt war, erkannte Alsth ihn sofort wieder!
„Das gibt es ja nicht!“ zischte er in Kheilos Richtung. „Da läuft der uns doch tatsächlich einfach über den Weg!“
„Anscheinend will er zu seinem Shuttle“, flüsterte Kheilo. „Und wie es aussieht, hat er noch eine Komplizin dabei! Alsth, ich denke, wir sollten schleunigst etwas unternehmen!“
„Auf jeden Fall sollten wir nicht hier stehen bleiben und ihnen nur freundlich zuwinken“, erwiderte Alsth.
„Wir dürfen nicht zulassen, dass sie ihr Shuttle erreichen. Am Ende heben sie sofort ab und entwischen uns vor der Nase! Ich denke, das wird auch Vlorah verstehen, wenn sie nachher hier auftaucht. Okay, Alsth, es geht los. Schnappen wir uns die beiden!“
Kheilo griff nach seiner R-Waffe und zückte sie. Alsth tat es ihm gleich, wohl wissend, dass er im Falle des Falles ohnehin derjenige sein würde, der sie benutzen würde. Er war der weitaus bessere Schütze und Kheilo mochte Schusswaffen nicht.
Ihre beiden Ziele waren inzwischen hinter einem größeren Raumschiff verschwunden, aber das war Alsth nur recht. So würden sie Kheilo und ihn nicht entdecken können, während sie trotzdem genau wussten, wo ihre Ziele waren. Sie schlichen um das Schiff herum, in dessen Nähe sie bis jetzt gestanden hatten, und trennten sich dann. Alsth schlich sich voran, so schnell er konnte, um seitlich zu ihren Zielen aufzuschließen, und nahm dafür auch das Risiko in Kauf, die Sicherheitszonen des Landefelds zu verlassen. Er wusste auch ohne Blickkontakt mit Kheilo, wie dieser sich ungefähr bewegen würde.
Zwei Raumschiffe trennten ihn noch von den beiden Zielpersonen. Er lugte vorsichtig aus einiger Entfernung um die Antriebsdüse eines Atmosphärengleiters herum und sah gerade noch, wie der Hüne und seine Komplizin hinter dem nächsten größeren Brummer verschwanden. Gleichzeitig machte er Kheilo aus, der gezielt an der Flanke einer protzigen Yacht entlangschlich. Sein Kollege würde sich den beiden von hinten nähern. Also sollte Alsth möglichst versuchen, noch ein Stück weiter vorzurücken. Er hechtete los, um das große Schiff herum, und blieb in dessen Schatten stehen, um auf Kheilos Einsatz zu warten. Er ging in die Hocke und versuchte sich nicht zu rühren, als die beiden Verdächtigen vor ihm auftauchten und gefährlich nahe an ihm vorbeimarschieren wollten.
Genau in diesem Moment schien der Hüne etwas zu bemerken und stoppte abrupt.
Alsth hörte Kheilos laute Stimme: „Stehen bleiben! Polizei! Sie sind verhaftet!“
Er reagierte sofort. Als der Hüne nach vorne flüchten wollte, sprang er ihm vor die Nase und hielt ihm die R-Waffe entgegen. „Sie hören besser auf meinen Kollegen!“ rief er und unterlegte seine Forderung mit einer entschlossenen Mimik.
Der Hüne blieb stehen und hob die Hände. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen war er alles andere als glücklich über diese neue Entwicklung.
Auch seine Komplizin war stehen geblieben und hatte sofort eine verteidigende Haltung eingenommen. Doch ihre Miene irritierte Alsth ein wenig. Irgendwie sah sie so aus, als würde sie sich über etwas amüsieren. In ihren Augen glitzerte etwas, was Alsth nicht so richtig einordnen konnte. Das und ihre sofort auffällige Attraktivität hätten ihn beinahe kurz aus der Fassung gebracht – aber der Profi in ihm konnte das gerade noch verhindern.
Kheilo, der hinter den beiden stand, nickte Alsth zufrieden zu. Auch er war voll konzentriert.
„Guten Tag, die Herrschaften“, sagte er zu den beiden und machte dabei langsam ein paar Schritte auf sie zu. „Ich darf Sie darüber informieren....“
Weiter kam er nicht.
In einem Moment war Alsth sich noch absolut sicher, dass Kheilo und er alles voll unter Kontrolle hatten – und im nächsten passierte etwas, womit er nie im Leben gerechnet hatte.
Das Mädchen setzte sich blitzschnell in Bewegung und trat ihrem Komplizen mit voller Wucht in die Kniekehlen!
Alsth wusste zuerst gar nicht, was los war, als der Hüne plötzlich einknickte – und laut aufschrie, als seine Knie mit voller Wucht auf den Betonboden knallten. Aus reinem Instinkt machte Alsth sofort einen Satz auf ihn zu – und musste sich dann vor dessen langen Armen retten, die wild in der Luft herumfuchtelten. Hinter ihm konnte Kheilo gerade noch verhindern, dass ihm der Hüne versehentlich die Waffe aus der Hand schlug. Für einen Moment wusste Alsth nicht, ob er schießen oder zu Hilfe eilen sollte....
Dann bemerkte er aber, dass die junge Frau sofort nach ihrer Attacke losgerannt war und sich offenbar aus dem Staub machen wollte.
In Sekundenbruchteilen gelang es Alsth, die Situation neu zu bewerten. Aus irgendeinem Grund hatte die Frau sich gegen ihren Begleiter gewandt! Sie nutzte ihn als Ablenkung, um alleine zu entkommen!
Er riss die Waffe herum. Kheilo war noch abgelenkt, das hier musste er selbst machen. In seiner Ausbildung hatte er das tausendfach geübt. Und er war immer der beste Schütze seiner Einheit gewesen. Das hier war für ihn totale Routine. Er zielte, drückte ab....
.....und verschoss!
Alsth schnappte erstaunt nach Luft. Er hätte sie eigentlich treffen müssen – aber in exakt dem Moment, in dem er geschossen hatte, hatte sie sich blitzschnell geduckt! Fast so, als hätte sie vorausgeahnt.... oder gespürt.... wann genau er schießen würde! Aber das konnte doch gar nicht sein.... oder!?
Doch er hatte jetzt keine Zeit, lang nachzugrübeln. Das Mädchen war durch ihr Ausweichmanöver nicht langsamer geworden – sie hatte daraus eher Schwung mitgenommen und steuerte auf das nächstgelegene Raumschiff zu. Offenbar wollte sie es als Deckung nutzen. Das durfte er nicht zulassen....
Alsth kam aber überhaupt nicht dazu, einen zweiten Schuss anzusetzen – denn plötzlich tauchte der Hüne vor ihm auf!
Er hatte sich erstaunlich schnell wieder aufgerappelt und nahm die Verfolgung seiner Begleiterin auf. Das Dumme war dabei, dass er direkt in Alsths Schussbahn lief und ihm den Weg versperrte.
Glücklicherweise bot er dadurch ein perfektes Ziel. Alsth drückte erneut ab. Diesen Riesen konnte er unmöglich verfehlen. Er traf ihn direkt zwischen den Schulterblättern. Wie im Lehrbuch.
Und trotzdem vollkommen wirkungslos.
Die Strahlstärke einer Polizeiwaffe vom Typ R war im Allgemeinen so justiert, dass ein normaler Mensch auf der Stelle bewusstlos wurde. Es gab eine strenge Sicherheitsbegrenzung, um einem schwächeren Menschen auf keinen Fall einen bleibenden Schaden zuzufügen. Aber selbst die kräftigsten, massigsten Personen machte so ein Treffer umgehend benommen und bewegungsunfähig. Normalerweise.
Doch der Hüne rannte einfach weiter! Er torkelte zwar kurz und wäre fast gestolpert, als ihn die Wucht des Energiestrahls im Rücken traf, aber hielt sich hartnäckig auf den Beinen! Dieser Kerl musste ein unvorstellbar hohes Maß an Selbstbeherrschung haben, denn Alsth bezweifelte, dass er seine Beine noch spüren konnte und wirklich wusste, was er gerade damit anstellte. Was zum Teufel sind das für Leute?
Zweimal hintereinander auf jemanden zu schießen war eigentlich strengstens verboten, trotzdem überlegte Alsth schon, ob er genau das tun sollte.... aber dann begann der Hüne doch zu straucheln und langsamer zu werden.
Und nach ein paar weiteren Schritten brach er endlich zusammen. Die Betäubung hatte sich letztlich doch durchgesetzt! Der Hüne blieb auf dem Boden liegen und rührte sich nicht mehr.
Aber es war schon zu spät. Die junge Frau war hinter dem Raumschiff verschwunden und damit auch aus Alsths Schusslinie.
„Verflucht!“ Kheilo, der alles mit angesehen hatte, kam auf Alsth zu geeilt. „Wir dürfen nicht zulassen dass sie uns entwischt! Ich bleibe hier, warte auf Vlorah und passe auf diesen Kerl auf. Und du verfolgst sie! Mach schnell!“
„Alles klar!“ Alsth verlor keine Zeit. Er stürmte in die Richtung, in der das Mädchen verschwunden war.
Seinen Finger behielt er schon einmal dicht über dem Abzug. Nochmal würde er sie sicherlich nicht verfehlen!
Joni, die Sicherheitschefin des Raumhafens von Anbis City, sah Vlorah verärgert an.
„Und? Wo sind jetzt Ihre Polizisten?“ fragte sie herausfordernd, während sie demonstrativ ihren Blick über das Landefeld streifen ließ.
Vlorah seufzte innerlich und fragte sich, ob es nur Zufall war oder an der speziellen Luft des Planeten lag, dass offenbar alle Einwohner von Anbis City so begriffsstutzig waren.
Dabei sah Joni eigentlich nicht besonders dämlich aus, obwohl sie doch für einen kommandierenden Posten wie den einer Sicherheitschefin etwas zu jung wirkte. Die drei Secus, die sie und Vlorah aufs Landefeld begleiteten, waren alle deutlich älter.
Natürlich war es nicht ausgeschlossen, dass auch jüngere Menschen eine gute Figur in einer Führungsrolle machen konnten. Und Joni wirkte jedenfalls so, als würde sie in ihrem Job aufgehen. Zumindest hatte sie schon einmal eine Eigenschaft, die für Sicherheitschefs unbedingt erforderlich war: Sie nervte.
„Sie haben gesagt, dass sie auf dem Landefeld warten würden. Sie haben aber nicht gesagt, wo“, erklärte Vlorah ungeduldig. „Ich bin sicher, dass wir bald auf sie stoßen werden, wenn wir uns zum Shuttle begeben. Wenn sie nicht bis dahin schon verhungert sind.“
„Wenn es Ihnen hier zu langsam voran geht, dann tut mir das leid, aber Sie müssen verstehen, dass nicht jeden Tag eine Kosmopol-Agentin bei uns reinschneit und eine Raumschiffdurchsuchung ankündigt“, erwiderte Joni. „Erstens brauchen wir für sowas eine Genehmigung und zweitens sind wir dafür eigentlich selbst zuständig. Nicht irgendwelche Polizisten – und schon gar nicht die Kosmopol!“
Vlorah blickte nacheinander Joni und die drei Secus an, die sie begleiteten, drehte sich dann um und marschierte einfach los. „Ja, das ist mir inzwischen bekannt, Sie haben es ja mittlerweile oft genug wiederholt“, sagte sie, ohne die Stimme zu heben. „Und ich kann es Ihnen gerne noch einmal erklären: Ich will diese Durchsuchung trotzdem vornehmen. Es geht hier nicht nur darum, den Tod von über zwanzig Menschen aufzuklären, sondern auch um eine sehr wichtige Kosmopol-Ermittlung, die womöglich sehr viel mehr Menschenleben retten könnte. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, um über irgendwelche rechtlichen Details herumzudiskutieren. Also entweder, Sie und Ihr Sicherheitsteam unterstützen uns dabei, oder eben nicht. Um offen zu sein: Es ist mir egal.“
„Bleiben Sie stehen“, forderte Joni und hetzte hinter Vlorah her. Die drei Secus folgten ihr sofort. „Das geht so nicht! Dort, wo Sie herkommen, können Sie vielleicht einfach überall reinmarschieren, Ihren tollen Kosmopol-Ausweis vorzeigen und sich dann alles erlauben. In Anbis City läuft das aber ein bisschen anders! Haben Sie mich gehört? Ich werde hier keine externe Untersuchung erlauben, bevor Sie mir nicht haargenau erklärt haben, was Sache ist!“
Vlorah verkniff sich einen bissigen Kommentar – nicht unbedingt, um Joni zu schonen, sondern eher, weil solche Worte nicht unbedingt gut aus dem Mund einer Kosmopol-Agentin geklungen hätten. Sie dachte aber gar nicht daran, ihren Schritt zu verlangsamen. Sie wusste ungefähr, wo das gesuchte Shuttle lag, und sie würde auch sehr gut alleine hinfinden, wenn es sein musste.
„Jetzt bleiben Sie doch mal für ein paar Sekunden stehen!“ forderte Joni. „Wissen Sie eigentlich, dass ich die Vollmacht habe, Sie auf der Stelle in Gewahrsam zu nehmen? Wenn nötig auch mit Gewalt!“
„Nein, das wusste ich bis jetzt nicht, aber es erscheint mir glaubwürdig“, erwiderte Vlorah völlig unbeeindruckt. Sie wurde auch kein bisschen langsamer, sondern eilte unbeirrt weiter zwischen den abgestellten Raumschiffen hindurch, während die kleine Gruppe Secus ihr auf den Fersen blieb.
„Ich bin aber wirklich nahe daran, davon Gebrauch zu machen!“ rief Joni aufgebracht. „Wenn Sie jetzt nicht auf der Stelle....“
Vlorah blieb stehen. Und zwar so abrupt, dass Joni und die drei Secus fast in sie reingerannt wären.
Aber nicht Jonis Drohung hatte für ihren plötzlichen Stopp gesorgt. Sondern die Szene, die sie in diesem Moment entdeckt hatte:
In einiger Entfernung vor ihr stand Kommissar Kheilo. Er hatte sie bereits bemerkt und winkte sie energisch zu sich. Von seinem Kollegen Alsth fehlte jede Spur.
Dafür lag neben Kheilo eine reglose Gestalt, die sogar im Liegen noch einen ziemlich gewaltigen Eindruck machte. Ein regelrechter Hüne – dessen Gesicht Vlorah irgendwie bekannt vorkam....
„Was ist denn hier los?“ schnaufte Joni hinter ihr.
„Das wüsste ich auch gerne“, murmelte Vlorah, dann setzte sie sich umso schneller wieder in Bewegung und rannte auf Kheilo zu.
„Na endlich!“ rief ihr dieser auf halbem Weg zu. „Sie haben sich aber Zeit gelassen!“
Vlorah erreichte Kheilo und blickte abwechselnd ihn und den auf dem Boden liegenden Bewusstlosen an. „Darf ich erfahren, was hier vor sich geht, Kommissar? Wenn mich nicht alles täuscht, dann ist das der Gesuchte von Ihrem Phantombild....“
„Richtig!“ Kheilo nickte schnell. „Der Kerl ist uns hier draußen einfach vor die Füße gelaufen. Er hatte eine junge Frau dabei, von der wir anfangs dachten, es wäre seine Komplizin. Alsth und ich haben uns entschlossen, die beiden sofort zu stellen und in Gewahrsam zu nehmen. Ich will mich jetzt nicht mit den Einzelheiten aufhalten, aber die Sache ist nicht so gelaufen, wie wir uns das gedacht haben.“
Vlorah sah zu Kheilos Füßen herab. „Für mich sieht es aber so aus, als hätten wir erreicht, weswegen wir hergekommen sind....“
Kheilo murrte. „Ja, okay – den hier konnten wir aufhalten, aber seine Begleiterin ist uns entwischt. Das war vor ungefähr fünf Minuten. Alsth versucht gerade, sie zu verfolgen. Tut mir leid, dass wir nicht auf Sie gewartet haben.“
„Kein Problem. Haben Sie ihn mit Ihrer R-Waffe beschossen?“
„Alsth war es“, stellte Kheilo richtig.
„Gut, dann dürfen wir davon ausgehen, dass er die nächste halbe Stunde in diesem Zustand bleibt. Gibt es sonst noch irgendetwas, was ich wissen sollte?“
„Nur, dass wir die junge Frau falsch eingeschätzt haben. Sie ist wohl doch nicht seine Komplizin, denn sie hat uns als Ablenkung genutzt, um ihn anzugreifen. Anschließend hat sie sich aus dem Staub gemacht.“
„Interessant. Denken Sie, dass Ihr Kollege sie einholen wird?“
„Er wird zumindest nicht so leicht aufgeben.“
„Gut, dann würde ich vorschlagen, wir widmen uns sofort dem Schiff, wie wir es ursprünglich vorhatten. Wenn diese Frau keine Komplizin war, dann hat unser Freund hier vielleicht noch Verstärkung in seinem Raumschiff. Ganz zu schweigen von den Informationen, die wir dort sicherstellen könnten.“
„Einverstanden!“ sagte Kheilo sofort. „Gehen wir!“
„Einen Moment“, meldete sich Joni zu Wort. „Je mehr ich erfahre, desto verwirrter bin ich. Würden Sie mir endlich mal erklären....“
„Sie bleiben hier und bringen unseren Verdächtigen am besten an einen sicheren Ort“, unterbrach Vlorah sie. „Damit er außer Gefecht ist, wenn er aufwacht. Und geben Sie bei der Gelegenheit gleich Sicherheitsalarm. Es ist besser, wenn nicht nur Kommissar Alsth nach der Entflohenen sucht, sondern Ihre gesamte Sicherheitsmannschaft.“
„Das kommt überhaupt nicht in Frage!“ keifte Joni, als Kheilo und Vlorah sich schon aus dem Staub machen wollten. „Sie ziehen hier auf keinen Fall alleine los und stürmen ein Raumschiff! Ich werde Sie begleiten! Meine Leute“, sie wies auf die anderen Secus, „kümmern sich um diesen Kerl!“
„Joni, es wäre wirklich besser, wenn....“, begann Vlorah.
„Nein! Wenn hier jemand unbefugt ein Raumschiff betritt, das auf meinem Raumhafen gelandet ist, dann bin das immer noch ich! Und den Sicherheitsalarm werde ich auf dem Weg anordnen!“
„Warum nehmen wir ihre Unterstützung nicht an?“ mischte sich Kheilo ein, höchstwahrscheinlich, um keine weiteren Verzögerungen hinnehmen zu müssen. „Zu dritt sind wir vielleicht im Vorteil!“
„Na gut.“ Vlorah gab sich geschlagen und machte dann eine drängende Handbewegung. „Halten wir uns nicht mehr unnötig auf! Gehen wir!“
Der Kommissar, die Kosmopol-Agentin und die Sicherheitschefin stürmten los und ließen die drei Secus bei dem Bewusstlosen zurück.
Nylla legte gerade eine kurze Verschnaufpause ein, als der Alarm losging.
Sie seufzte – natürlich wusste sie, wem dieser Alarm galt. Wahrscheinlich hallte er über den gesamten Raumhafen, denn sie war inzwischen schon ein ganz schönes Stück gelaufen und war jetzt in einem Bereich, wo die Landeflächen ganz andere Nummern und die Markierungen eine andere Farbe hatten. Deswegen hatte sie schon gehofft, etwas langsamer machen und kurz durchschnaufen zu können – doch die Sirene machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Denn nun war endgültig die gesamte Belegschaft des Raumhafens hinter ihr her.
Es war immer noch höllisch heiß auf dem Landefeld. Die Sonne berührte zwar schon den Horizont und würde in den nächsten Minuten untergehen. Aber im Lauf des Tages hatte sich eine Affenhitze über der weiten Betonfläche aufgebaut, die sich auch jetzt noch hartnäckig hielt. Nylla, die ein Leben in klimatisierten Raumschiffen und Raumstationen gewohnt war, kam damit nur schwer zurecht. Sie schwitzte wie verrückt und war vom Rennen schon viel erschöpfter, als sie normalerweise sein sollte.
Diese kurze Pause war einfach notwendig gewesen. Aber nun, nachdem der Alarm ausgelöst worden war, wäre jede weitere Verzögerung viel zu riskant. Also machte sie sich fluchend wieder auf und eilte weiter. Wenigstens sorgte die tiefe Sonne dafür, dass die abgestellten Raumschiffe lange Schatten warfen, in denen sie sich ein bisschen verstecken konnte.
Eigentlich konnte sie sich wirklich nicht beschweren. Sie hatte gerade unwahrscheinliches Glück gehabt. Wenn sie erst einmal in Gruths Raumschiff gewesen wäre, wäre endgültig jede Hoffnung, den Tag zu überleben, dahin gewesen. Sie hatte auch auf dem Landefeld nicht aufgehört, nach der letzten kleinen Fluchtmöglichkeit Ausschau zu halten – doch Gruth wurde einfach zu keiner Sekunde unachtsam und ihr wollte beim besten Willen kein erfolgversprechender Fluchtplan einfallen.
Doch dann waren plötzlich diese beiden Polizisten aufgetaucht. Anscheinend waren sie hinter Gruth her gewesen. Nylla hatte keine Ahnung, wie sie ihn gefunden hatten und warum gerade in diesem Moment – aber es war die letzte Chance gewesen, auf die sie die ganze Zeit gewartet hatte! Und es hatte funktioniert – sie war Gruth los geworden!
Nylla schleppte sich immer weiter über die nicht enden wollende Betonfläche. Ihr Verhalten und ihr Erscheinungsbild waren bestimmt nicht gerade unauffällig, aber daran konnte sie jetzt nun mal nichts ändern. Zum Glück waren nicht mehr allzu viele andere Leute auf dem Landefeld unterwegs und die wenigen, die sie sehen konnte, schienen sie nicht weiter zu beachten. Der Alarm kam ihr da sogar entgegen, denn er lenkte die Leute eher von ihr ab. Dass ein einzelnes, verschwitztes, herumrennendes Mädchen ausgerechnet der Grund dafür war, musste ihnen schließlich erst einmal in den Sinn kommen. So schöpfte Nylla neue Hoffnung, dass ihre Quälerei vielleicht nicht umsonst sein würde....
Doch die Hoffnung schwand augenblicklich wieder, als Nylla plötzlich auf eine Absperrung traf. Ein hoher Zaun aus Gitterdraht versperrte ihr den Weg. Er war zu hoch und zu engmaschig zum Überklettern und verlief, so weit Nylla sehen konnte, in beide Richtungen. Und hinter dem Zaun erblickte sie genau dasselbe wie davor: Ein endloses Betonfeld voller geparkter Raumschiffe!
Nylla knirschte ordentlich mit den Zähnen. Sie konnte eigentlich gar nichts anderes tun, als in irgendeiner Richtung an diesem Zaun entlangzumarschieren und zu hoffen, dass irgendwo ein Durchgang war. Natürlich würde dieser Durchgang mit ziemlicher Sicherheit bewacht sein. Aber es half alles nichts....
Eine Minute und gefühlte zwei Liter Schweiß später bestätigte sich ihr Verdacht: Eine Sicherheitsschleuse, die den Zaun unterbrach, kam in Sichtweite. Ein Secu stand davor und wirkte leider nur allzu wachsam. Nylla schlich so nahe an die Schleuse heran, wie sie riskieren konnte, und versteckte sich dort hinter einer Aufladestation. Jetzt war wieder Einfallsreichtum gefragt – oder Geduld. Für beides war es ihrem Verstand immer noch entschieden zu heiß....
Komm schon, Nylla, du bist schon so weit gekommen! Irgendwie musste sie doch wohl diesen einen blöden Secu überwinden können....
„Wen haben wir denn da?“ erklang plötzlich hinter ihr eine forsche Stimme.
Die junge Schmugglerin fuhr erschrocken herum – und blickte in das selbstgefällige Gesicht einer ziemlich robust gebauten Frau. Sie trug dieselbe Uniform wie der Secu vorne am Tor. Und sie hatte eine Waffe in der Hand, die in etwa so aussah wie die Waffen der Polizisten von vorhin. Nylla hatte keine Ahnung, wie dieses Ungetüm sich so lautlos an sie anschleichen konnte. Das passierte ihr in letzter Zeit beunruhigend oft....
„Ja, jetzt bin ich mir sicher“, knurrte die Secu, nachdem sie Nylla kurz gemustert hatte. „Sie sind die Gesuchte! Sehr schön, dann können wir ja diesen nervigen Alarm wieder abschalten.“
„Wovon sprechen Sie?“ fragte Nylla scheinheilig. „Die Gesuchte? Hab ich etwa was gewonnen.... als millionste Passagierin vielleicht?!“
„Jetzt tun Sie mal nicht so! Ich hab Ihre Beschreibung gerade eben erhalten. Sie sind hier vor kurzem ein paar Polizisten entwischt. Und jetzt wollten Sie an der Absperrung da vorn vorbeikommen. Tja, hat wohl leider nicht geklappt.“
In diesem Moment wurde der Secu am Tor auf die beiden aufmerksam.
„Hey, gibt es irgendein Problem?“ rief er herüber.
„Nein, jetzt nicht mehr!“ gab die dicke Secu zurück. „Ich hab gerade die gesuchte Entflohene erwischt!“
Einen Moment sah sie dabei zu ihrem Kollegen hinüber, um ihm zu signalisieren, dass alles in Ordnung war.
Einen Moment zu viel.
Nylla riss blitzschnell ihren gestreckten Fuß hoch. Die Fußspitze traf die Waffe in der Hand der Secu – mit solcher Wucht, dass das Ding steil nach oben geschleudert wurde.
Die Secu stieß einen überraschten Schrei aus. Sie riss ihre Arme in die Höhe und versuchte, ihre Waffe wieder aus der Luft zu fischen. Doch das war ein Fehler – stattdessen hätte sie lieber auf Nylla aufpassen sollen.
Diese ließ sich nicht zweimal bitten. Und rammte ihren Fuß mit aller Kraft gegen den Bauch ihrer Gegnerin.
Die Secu wusste gar nicht, wie ihr geschah. Sie taumelte rückwärts, während Nylla ihren Bauch geradezu als Sprungbrett benutzte! Nylla schoss hoch in die Luft und bekam die Waffe zu fassen, die gerade von ihrem Ausflug in luftige Höhen zurückkehrte. Noch während sie im Sprung war, ertastete sie den Abzug, zielte und schoss auf ihre Gegnerin. Die Secu fiel bewusstlos nach hinten um – und verursachte dabei einen ganz schönen Rumms.
Nylla landete in der Hocke und wollte sich sofort wieder aufrichten – als von hinten ein Energiestrahl in gefährlicher Nähe über sie hinweg zischte! Das war der Secu am Tor! Sofort zog Nylla ihren Kopf wieder ein und suchte nach Schutz. Zum Glück war sie immer noch in unmittelbarer Nähe der Aufladestation, hinter der sie sich gerade eben schon versteckt hatte. Ein kurzer, schneller Satz genügte, um sich wieder dahinter in Sicherheit zu bringen. Keinen Moment zu früh, denn ein weiterer Energiestrahl durchsengte die Luft in ihrer Nähe und traf die Seite der Aufladestation.
„Kommen Sie da raus – sofort!“ brüllte der Secu.
Nylla hörte schon seine näherkommenden Schritte. Allzu lange würde diese Deckung also keinen Schutz mehr bieten. Sie musste schnellstens irgendwas tun....
„Kommen Sie nicht näher!“ brüllte sie kurzentschlossen. „Ich hab eine Bombe!“
Und nur einen Moment später schoss sie mit einem Hechtsprung aus ihrer Deckung. Sie nahm sich keine Zeit zum Zielen, sondern schätzte die Richtung, in die sie feuern musste – und sie schätzte tatsächlich richtig! Der Secu war durch Nyllas Bluff wie angewurzelt stehen geblieben und zwar an genau der Stelle, wo sie ihn vermutet hatte. Der Energiestrahl traf ihn mitten in der Brust! Sofort klappte er ächzend zusammen und blieb genau so reglos liegen wie seine Kollegin.
Nylla rollte sich ab und kam in der Hocke zum Halten. Sie stieß einen kurzen Juchzer des Triumpfes aus und reckte ihre Faust in die Höhe – und dann kippte sie einfach um!
Das war zu viel auf einmal gewesen! Die ungewohnte Hitze, der minutenlange Spurt über das Landefeld und die Belastungsspitze der letzten paar Sekunden forderten nun ihren Tribut. Nylla blieb heiser atmend auf dem Betonboden liegen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich so schnell, dass die Luft kaum hinterher kam, und vor ihren Augen drehte sich alles. Eine ganze Weile blieb Nylla nichts anderes übrig, als matt und erschöpft dazuliegen. Erst allmählich merkte sie, wie ihr Körper sich wieder erholte.
Irgendwann kam Nylla dann wieder auf ihre Beine, zuerst etwas wackelig, aber nach ein paar weiteren Sekunden hatte sie wieder festen Stand und blickte auf die beiden bewusstlosen Secus hinunter. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und versuchte den Schweiß aus ihren Augen zu bekommen. Dann machte sie sich wieder auf den Weg, durch das nun unbewachte Tor und hinein in den nächsten Raumhafensektor. Die R-Waffe, die sie gerade erbeutet hatte, behielt sie schussbereit in der Hand. Die sollte ihre endgültige Flucht von dieser verdammten Betonhölle hoffentlich erleichtern.
Sie konnte nicht wissen, dass sie genau in diesem Moment entdeckt wurde. Und zwar von Kommissar Alsth.
Dieser war ihrer ungefähren Fluchtrichtung gefolgt und hatte erst wieder eine Spur von ihr finden müssen. Und entfernte Geräusche von Schüssen hatten ihn zurück auf ihre Fährte gebracht.
Nun entdeckte er das offene Tor und die beiden Secus, die bewusstlos davor lagen. Er erkannte die Waffe in Nyllas Händen und musste sich den Rest nur noch zusammenreimen.
Wer ist dieses Mädchen? fragte er sich erneut verblüfft – und freute sich gleichzeitig ungemein darauf, es nun mit ihr aufzunehmen....
Episode 4: Alarm am Raumhafen
Gellend hallte die Alarmsirene über den Raumhafen von Anbis City.
Sie begleitete Kheilo, Vlorah und Joni auf dem Weg zu dem abgestellten Schiff, das die drei sich mal genauestens ansehen wollten.
Woanders auf diesem riesigen Landefeld trieb sie Nylla bei ihrer Flucht an und gab ihr einen guten Grund, trotz ihrer Erschöpfung immer weiter zu rennen. Gleichzeitig half sie Alsth dabei, Nylla auf den Fersen zu bleiben ohne befürchten zu müssen, dass diese seine Schritte hörte.
Und auch die drei Secus, die gerade mit vereinten Kräften den bewusstlosen Gruth durch die Gegend trugen, hörten ihr stetiges Heulen. Doch das nahmen die drei im Augenblick kaum wahr – denn sie hatten gerade ganz andere Sorgen:
„Mann, der Kerl hat ordentlich Pfunde auf den Rippen!“ ächzte einer von ihnen, der kleinere der beiden Männer.
Er und sein etwas höher gewachsener Kollege trugen Gruth an je einer Schulter, während ihre Kollegin ihn an den Beinen hielt.
„Können wir vielleicht eine kleine Pause machen? Meine Arme tun mir langsam weh!“
„Was muss ich da hören?“ erwiderte der zweite Secu schnaufend. „Hast du etwa keine Kondition?“
„Hey, ich bin Security und kein Möbelpacker! Außerdem pfeifst du auch schon auf dem letzten Loch!“
„Passt auf, dass ihr nicht zu tief runter kommt!“ keuchte die dritte Secu. „Sein Kopf streift ja fast schon auf dem Fußboden!“
„Na und? Der Typ ist doch eh bewusstlos....“
„Ich finde es unmöglich, dass die Chefin uns abbestellt, um diesen riesigen Kerl durch die Gegend zu schleppen!“ murrte der Kleinere. „Wozu haben wir denn hier die Gepäckwägen?“
„Wo sollen wir ihn überhaupt hintragen? Diese komische Kosmopol-Frau hat nur gesagt an einen sicheren Ort. Was versteht die wohl unter einem sicheren Ort?“
„Ich denke, dass der Wartungsraum drüben beim Eingang ausreichen wird. Dort können wir ihn einsperren, falls er aufwacht und....“
„.... und er ist nicht allzu weit weg.“
„Aber jetzt machen wir erst mal eine Pause! Wenn ich meine Arme nicht mal kurz ausschütteln kann, werde ich diesen Kerl nämlich gleich fallen lassen müssen.“
„Also gut. Aber nur für einen Moment!“
Sie legten Gruth – halbwegs behutsam – auf dem Betonboden ab und atmeten dann alle drei erleichtert aus. Der Kleinere wischte sich den Schweiß von der Stirn, während der Größere die Arme auf die Knie stemmte und die Frau sich mit ihrem Kragen Luft zufächerte. Dann blickten sie alle zusammen forschend auf den bewusstlosen Hünen herunter, der da in ihrer Mitte lag.
„Was das wohl für ein Typ ist? Sicher irgendein gefährlicher Gangster“, vermutete der Größere.
„Du hast doch gehört, dass Joni und diese Agentin vom Absturz von heute Früh gesprochen haben“, erinnerte ihn seine Kollegin. „Wer weiß, vielleicht ist das sogar der Kerl, der die ganzen Leute auf dem Gewissen hat. Würde ich ihm irgendwie zutrauen, wenn ich ihn mir so anschaue....“
„Ich glaube eher, der ist mehr fürs.... Grobe zuständig, so wie er gebaut ist. Eher ein Schlägertyp als ein Raumschiffpilot“, vermutete der Kleinere.
„Ach was!“ erwiderte die Secu sofort. „Nur weil er groß und stark aussieht, heißt das noch lange nicht, dass er Matsch in der Birne hat.“
„Was du natürlich aus eigener Erfahrung sagen kannst, nicht wahr?“
„Fängst du schon wieder damit an? Ich hatte nichts mit diesem Kellner, warum glaubst du mir das nicht?“
„Weil er mir ein bisschen was anderes erzählt hat....“
„Ach nö, Leute!“ mischte sich der Größere ein. „Das haben wir jetzt doch schon hundert Mal durchgekaut!“
„Schon gut, ich bin ja schon still. Auf jeden Fall bin ich höllisch froh darüber, dass dieser Kerl hier noch die nächsten zwanzig Minuten keinen Mucks von sich geben kann. Mit dem möchte ich mich nämlich nicht unbedingt anlegen.“
„Stimmt!“ Die Secu lachte. „Gott sei Dank ist er gerade bewusstlos und kann uns nicht an den Kragen gehen....“
In diesem Moment schlug Gruth die Augen auf.
Blitzschnell erkannte er die Situation, holte mit den Beinen Schwung und landete in der Hocke. Er ließ den drei Secus nicht einmal genug Zeit sich zu erschrecken, bevor er auch schon auf sie losging.
Die weibliche Secu hatte das Pech, genau vor ihm zu stehen. Gruth sprang aus der Hocke direkt auf sie zu. Sie krisch auf und taumelte ein Stück zurück, doch Gruth bekam einen ihrer Unterarme zu fassen und zog sie völlig mühelos zu sich heran. Dann packte er sie an der Schulter und riss sie mit sich herum, um sich ihren beiden Kollegen zuwenden zu können.
„Lassen Sie sie los!“ brüllte der größere der beiden.
Sie waren schon dabei, ihre Waffen zu ziehen – herkömmliche Typ-R-Betäubungswaffen, wie Gruth erkannte. Das bedeutete, dass sie ohne Sorge abdrücken konnten, ohne ihre Kollegin dadurch ernsthaft zu gefährden.
Schnell zog Gruth die Secu noch dichter zu sich, um ihren Körper quasi als Schild zu nutzen. Im nächsten Moment feuerte der größere Secu auch schon und traf den Oberkörper seiner Kollegin.
Die Lähmung setzte bei ihr augenblicklich ein und ließ ihren Körper schwer wie ein nasser Sack werden. Das zwang Gruth zu einer schnellen Handlung: Er schleuderte sie mit der gesamten Kraft seiner Armmuskeln nach vorne auf den größeren Secu zu.
Dieser schrie irgendetwas Unverständliches und schien sich nicht sofort entscheiden zu können, ob er denn nun versuchen sollte auszuweichen oder seine Kollegin aufzufangen. Dann prallten die beiden auch schon zusammen und stürzten gemeinsam zu Boden.
Sofort wandte Gruth sich dem verbleibenden Secu zu. Dieser hatte bereits seine R-Waffe auf Gruth gerichtet. Er bewegte seinen Finger zum Feuerknopf, blickte in Gruths Richtung – und erstarrte, als dieser mit voller Geschwindigkeit auf ihn zugestürmt kam. Wahrscheinlich hätte er Gruth noch problemlos rechtzeitig ausschalten können, hätte er in dieser Situation die Ruhe bewahrt. Doch der Anblick dieses rasend schnell näher kommenden Zwei-Meter-Kleiderschranks versetzte ihn offenbar so in Panik, dass er für einen Moment wie erstarrt war.
Mehr als genug Zeit für Gruth. Ohne die geringste Mühe packte er den Arm, mit dem der Secu die Waffe hielt, drehte ihn blitzartig herum – was ein hässliches Geräusch in dessen Schultergelenk erzeugte – und schlang seine Pranke um Waffe und Hand des Secus. Dadurch wurde der Abzug ausgelöst und ein Energiestrahl fuhr dem Secu aus nächster Nähe in die Brust.
Als er bewusstlos zusammenklappte, lockerte Gruth seinen Griff und behielt nur die R-Waffe in der Hand. Damit schoss er kurzerhand auf den hochgewachsenen Secu, bevor dieser Zeit hatte sich wieder aufzurappeln.
Innerhalb weniger Sekunden hatte Gruth damit die Situation umgedreht: Nun waren es die drei Secus, die reglos auf dem Boden lagen, und er war es, der aufrecht dastand und zu ihnen herabblickte.
„Sehr schlechte Ausbildung“, brummte er mürrisch. „Überhaupt keine Praxiserfahrung. Das war viel zu einfach, Leute!“ Er schüttelte betreten den Kopf. „Und so etwas schimpft sich nun Sicherheitsdienst!“
Er steckte die R-Waffe an seinen Gürtel und suchte die bewusstlosen Secus kurz nach seiner eigenen Waffe ab. Tatsächlich hatte der kleinere Secu sie beschlagnahmt. Gruth nahm sie wieder an sich, behielt aber auch die erbeutete Betäubungswaffe. Wer weiß, vielleicht konnte er aus irgendeinem Grund sowohl eine tödliche als auch eine nicht-tödliche Waffe noch gebrauchen.
Dann sah er sich um. Das Landefeld verschwand langsam im Dunkeln, da die Sonne inzwischen so gut wie untergegangen war. In der Nähe konnte Gruth niemanden entdecken, der diesen kurzen Kampf vielleicht bemerkt hatte. Ein Alarm hallte über den Raumhafen. Der musste wohl Nylla gelten – das war eine gute Nachricht. Denn es hieß, dass man sie noch nicht geschnappt hatte.
Doch wie sollte Gruth sie auf diesem riesigen Betonfeld wiederfinden – und das vor allen Polizisten und Secus, die hier unterwegs waren? Sie konnte in so ziemlich jede Richtung geflüchtet sein. Gruth konnte sich zwar vorstellen, dass sie zu dem Gleiterparkplatz unterwegs war, von dem sie gekommen waren. Aber genauso gut konnte sie einen anderen, weniger offensichtlichen Fluchtweg gewählt haben.
Es wäre gut, wenn ich einen besseren Überblick über dieses Landefeld hätte, dachte er. Von einem höheren Blickwinkel aus. Dann könnte ich sie viel leichter finden.
Gruth nickte nachdenklich. Ja, das war die richtige Vorgehensweise. Er sah sich die Raumschiffe in der Nähe genauer an und tatsächlich erkannte er mehrere wieder, die er schon zuvor beim Weg von und zu seinem Shuttle gesehen hatte. Diese drei Secus hatten ihn offenbar nicht allzu weit getragen, bevor er wieder zu Bewusstsein gekommen war. Anscheinend war er wesentlich früher aufgewacht, als sie erwartet hatten....
Jedenfalls war sein Shuttle nicht weit weg und problemlos wiederzufinden. Also war das sein nächstes Ziel. Und aus der Luft hatte er vielleicht noch eine Chance, Nylla doch noch zu erwischen.
„Das hier ist noch nicht vorbei!“ knurrte er, während er sich in Bewegung setzte.
Das Landefeld schien kein Ende zu nehmen – und die Verfolgungsjagd, die Alsth sich mit dieser flüchtigen jungen Frau lieferte, auch nicht.
Mehrere Minuten waren schon vergangen, seit er sie bei diesem Sicherheitsposten wiederentdeckt hatte. Seither war er vor allem damit beschäftigt gewesen, ihr auf den Fersen zu bleiben und sie nicht wieder aus den Augen zu verlieren.
Wahrscheinlich hätte er sie locker einholen oder zumindest so nahe herankommen können, um einen sicheren Schuss auf sie abfeuern zu können. Aber das Risiko war ihm noch zu groß, dass sie ihn vorher bemerkte und irgendetwas Dummes tat. Deswegen begnügte er sich im Moment noch damit, ihr in sicherem Abstand zu folgen.
Währenddessen machte er sich weiter Gedanken darüber, wer diese junge Frau eigentlich war. Sein erster Eindruck von ihr war voller Widersprüche. Warum war sie mit diesem Hünen gemeinsam unterwegs gewesen, hatte sich aber sofort bei der ersten Gelegenheit gegen ihn gewandt? Doch wenn sie gar nicht mit ihm im Bunde stand, warum floh sie vor der Polizei und nahm dafür diese Strapazen auf sich?
Es war offensichtlich, dass sie ziemlich erschöpft war und die Hitze ihr ganz schön zu schaffen machte. Trotzdem schleppte sie sich unbeirrt weiter und legte dabei immer noch ein ganz schönes Tempo vor, sodass Alsth sich durchaus beeilen musste, um mit ihr Schritt zu halten.
Wahrscheinlich war es pure Willensstärke, die sie noch auf den Beinen hielt. Besonders viel Kondition und Kraftreserven hätte Alsth ihr vom reinen Aussehen her gar nicht zugetraut. Sie wirkte so zierlich und verloren auf dieser riesigen Betonfläche, sodass sie ihm mittlerweile schon irgendwie leid tat. Man sah ihr an, dass ihr jeder weitere Schritt mehr Mühe bereitete.
Andererseits hatte er gesehen, was sie mit diesen beiden Secus am Sicherheitsposten gemacht hatte. Und er dachte daran, wie sie ihm beim ersten Mal entkommen war, indem sie alles, was er tat, schon vorausgeahnt hatte. Also entweder hatte sie übernatürliche Fähigkeiten – oder sie hatte derartige Situationen schon massenweise erlebt und war darauf trainiert.
Deswegen tat er sicher gut daran, auf der Hut zu sein und sich von ihrem scheinbar harmlosen Erscheinungsbild nicht täuschen zu lassen. Genauso wenig wie von ihrem attraktiven Äußeren und ihrer spärlichen Kleidung, von denen Alsth sich unter normalen Umständen sicherlich leicht hätte ablenken lassen.
Er wusste nicht, wer sie war und woher sie kam, aber sie schien eine Menge drauf zu haben und das weckte sein Interesse noch mehr. Nun wollte er unbedingt mehr über sie erfahren – schon allein deswegen durfte er sie auf keinen Fall entkommen lassen.
Alsth brummte missmutig, als die junge Frau zum wiederholten Mal den gekennzeichneten Gehweg verließ und über ein belegtes Landefeld marschierte. Er verlor sie dadurch kurz aus den Augen, solange er um das abgestellte Raumschiff herumlaufen musste. Jedes Mal hatte er dann Angst, dass er sie in der Zeit wieder verlieren würde – auch wenn der Blickkontakt nur jeweils für ein paar Sekunden abriss.
Deswegen legte er kurz mal einen Zahn zu, um möglichst schnell an dem Schiff vorbei zu kommen. Es war eins der größeren hier auf dem Landefeld, daher wollte er lieber nichts riskieren. Erst als er fast an dem Schiff vorbei war und sie jeden Moment wieder in seinem Blickfeld auftauchen musste, wurde er wieder vorsichtiger. Langsam schlich er um die große, runde Antriebssektion des Schiffs herum und versuchte sie wiederzuentdecken, ohne dabei von ihr entdeckt zu werden – oder ihr gar in die Arme zu laufen, falls sie überraschend die Richtung geändert hatte.
Genau diese Vorsicht war es, die ihn knapp vor der Bewusstlosigkeit rettete.
Bevor seine Augen irgendetwas wahrnahmen, erkannte er das vertraute Zischen eines Betäubungsstrahls, der gefährlich nahe an seinem Ohr vorbeisauste. Er war nicht so dumm sich lange umzusehen, wo der Schuss herkam – oder ihn gar blind zu erwidern. Stattdessen machte er sich sofort klein und brachte sich hinter der Antriebssektion des Schiffs in Sicherheit.
Was war denn das jetzt? fragte er sich erschrocken. Sekundenbruchteile später beantwortete er sich diese Frage selbst: Irgendwie muss sie mich bemerkt haben! Vielleicht weiß sie sogar schon eine ganze Weile, dass ich sie verfolge – sie hat sich nur nichts anmerken lassen. Und jetzt hat sie die Gunst der Stunde genutzt, um mir aufzulauern!
Schnell sah Alsth sich um und entdeckte das Einschussloch an der Schiffswand über ihm – ganz in der Nähe, wo vor ein paar Sekunden noch sein Kopf gewesen war. Form und Struktur des Treffers ließen darauf schließen, dass der Schuss in sehr spitzem Winkel eingeschlagen war. Das verriet ihm ungefähr die Richtung, aus der er gekommen war.
Kurzentschlossen riss er seine R-Waffe hoch und feuerte blitzschnell hintereinander drei Schüsse ab, knapp an der Hülle der Antriebssektion vorbei. Alsth legte es natürlich nicht darauf an, seine Gegnerin dabei zu treffen. Vielmehr gab er sich selbst Feuerschutz, um einen Blick auf den Bereich hinter dem Frachter werfen zu können, wo sie sich versteckt haben musste. Nach einer halben Sekunde zog er den Kopf schnell wieder ein.
Die Zeit hatte nicht gereicht, um seine Gegnerin zu entdecken. Dafür hatte er aber einen Frachtwagen ausgemacht, der ganz in der Nähe abgestellt war. Es war einer dieser großen Wägen, mit denen Gepäckstücke vom Raumhafengebäude zu Passagierschiffen befördert werden konnten. Von dort würde er einen wesentlich besseren Überblick über die Umgebung haben und außerdem viel flexibler aus der Deckung heraus agieren können als hinter dieser unförmigen Antriebssektion. Den kurzen Sprint dahin musste er einfach riskieren.
Und los!
Erneut schoss er dreimal in dieselbe Richtung. Doch diesmal verließ er dabei seine Deckung und stürmte auf den Frachtwagen zu. Er wartete nur darauf, dass ihm erneut ein Energiestrahl um die Ohren flog....
Doch das vertraute Zischen ließ diesmal auf sich warten. Stattdessen hörte er plötzlich Folgendes:
„Kommen Sie nicht näher! Ich hab eine Bombe!“
Eine Bombe....
Innerhalb weniger Sekundenbruchteile rasten kurze Bilder durch Alsths Kopf. Seine Füße, die über zertrampelten Erdboden rannten. Hellblaue Overalls, die vor ihm herumflatterten. Eine dichte, schwarze Rauchwolke über einem gähnenden Krater....
.... so schnell wie möglich hier verschwinden!
Bevor Alsth etwas dagegen tun konnte, wurde er wieder von derselben Panik erfüllt wie bei seiner Flucht vor dem explodierenden Raumschiff. Deswegen war es reiner Instinkt, als er sich aus vollem Lauf nach vorne warf. Sein Schwung war so groß, dass er sich beim Aufkommen auf dem Boden überschlug und noch mehrere Meter auf dem Rücken weiterrutschte. Er blieb erst liegen, als er sich direkt vor dem Frachtwagen befand. Und musste erst einmal kräftig nach Atem ringen.
Alles war so fürchterlich schnell gegangen. Deswegen wurde ihm eine Sache erst jetzt bewusst: Gerade, als er sich zu Boden geworfen hatte, war ein Betäubungsstrahl knapp über ihn hinweggezischt. Und der Strahl hätte ihn voll erwischt, wenn sein Körper nicht selbstständig so schnell reagiert hätte!
Kommen Sie nicht näher! Ich habe eine Bombe! Das hatte sie gerufen. Und plötzlich wurde ihm auch klar: Es war ein Trick gewesen. Sie hatte ihn für einen kurzen Moment ablenken wollen, um dann schnell einen Schuss auf ihn abzufeuern. Und offensichtlich hatte ihn nur seine panikartige Reaktion vor dem Treffer bewahrt....
Aber dann erinnerte sich Alsth an noch etwas – nämlich die Richtung, als der der Schuss gekommen war. Und er musste fast schmunzeln, als ihm klar wurde, was das bedeutete.
„Hey, netter Trick!“ rief er ächzend, während er sich wieder aufrappelte und sich mit dem Rücken gegen den Frachtwagen drückte. „Das mit der Bombe, meine ich!“
Und von der anderen Seite des Frachtwagens kam sofort die Antwort: „Tja, leider hat er dieses Mal nicht funktioniert.“
Alsth grinste. Damit hatte sich sein Verdacht bestätigt: Seine Gegnerin war jetzt höchstens noch ein paar Meter von ihm entfernt. Und zwar genau auf der anderen Seite desselben Frachtwagens.
„Da vorne ist es!“ verkündete Vlorah und deutete auf ein Schiff in Shuttlegröße, das zwischen zwei größeren Frachtern vor ihnen stand.
Das Schiff sah etwas anders aus als die üblichen Shuttles hier auf Anbis 2. Es war etwas größer und optisch deutlich eleganter mit seinen fließenden Formen und der silbrigen Außenhülle. Es sah ganz so aus, als wäre es nicht nur für kurze Flüge konstruiert, sondern auch als komfortable Unterkunft – wie so eine Art weltraumtauglicher Wohnwagen.
Und es bot auf jeden Fall genug Platz für mehr als zwei Personen. Es war also durchaus möglich, dass außer dem Hünen und seiner Begleiterin noch weitere Komplizen damit gelandet sein könnten, die sich gerade im Shuttle aufhielten.
Kheilo, Vlorah und Joni legten die letzten Meter zu dem Shuttle zurück und blieben dann zu dritt davor stehen. Forschend betrachtete Kheilo die Eintrittsluke. An ihrer Seite erkannte er ein Eingabefeld für einen Sicherheitscode, wie es bei den meisten Schiffen dieser Größe Standard war.
„Na gut, Agent Vlorah – und wie kommen wir jetzt in dieses Schiff rein? Und das ohne dabei jemanden im Inneren vorzuwarnen, falls noch Mitglieder dieser Bande an Bord sind?“
Joni lachte grimmig auf, bevor Vlorah antworten konnte. „Wenn ich mehr Zeit gehabt hätte, hätte ich meine Sicherheitstools mitbringen können. Damit hätten wir dieses Ding innerhalb von Sekunden aufbekommen. Leider war ich nur etwas in Eile....“ Für den Blick, den sie dabei Vlorah zuwarf, brauchte sie vermutlich einen Waffenschein.
Gut, dass die beiden sich so gut leiden können, dachte Kheilo amüsiert. Dann muss ich mich selbst nämlich nicht mit ihnen herumstreiten.
„Sieht nach einem ganz normalen Magnetschloss aus“, stellte er dann fest. „Alsth musste in seiner Ausbildung ein paar davon knacken. Leider haben wir auch ihn nicht zur Verfügung.“
„Es muss doch einen Weg geben, die Codesicherung zu umgehen“, sagte Joni ratlos. „Schließlich erwischen wir hier oft genug Langfinger, die das auch hinbekommen.“
„Diese Elektronik sieht nicht so aus, als wäre sie besonders kompliziert angelegt“, bemerkte Kheilo. „Eine einfache Überladung müsste dieses Ding eigentlich kurzschließen.“
„Na klar“, erwiderte Joni sofort sarkastisch. „Warum schaffen wir nicht gleich eine Ladung Sprengstoff her, mit dem wir dann....“
In diesem Moment streckte Vlorah die Hand aus und drückte entschlossen eine Taste auf dem Eingabefeld.
„Sind Sie bescheuert, was machen....“, zischte Joni.
Dann hörten sie aber einen leisen Piepton und kurz darauf eine weibliche Stimme:
„Gruth, bist du das? Hast du deinen Code vergessen?“
Vlorah legte ihren Zeigefinger auf den Mund, um den beiden klar zu machen, dass sie keinen Ton von sich geben sollten.
Kheilo nickte ihr schnell zu. Interessante Idee, dachte er. Mal sehen, ob das funktioniert....
„Gruth, lass den Unsinn!“ ertönte wieder die Stimme – die Kheilo übrigens als sehr angenehm empfand. Sie klang wie diese typischen Frauenstimmen bei Kundenservice-Hotlines. „Ich weiß genau, was du vorhast. Du willst uns den kleinen Spaß von vorhin heimzahlen, hab ich recht? Aber das könnte dir so passen!“
An dem Eingabefeld tat sich irgendwas – und kurz darauf öffnete sich tatsächlich die Eintrittsluke!
Schnell trat Kheilo auf die linke Seite der Luke zu Joni, während Vlorah einen Schritt nach rechts machte und sich gegen die Shuttlehülle lehnte. So waren sie von innen nicht zu sehen.
Aus dem Raumschiff waren Schritte zu hören, die sich näherten. Dann erklang wieder die Frauenstimme, dieses Mal direkt aus der Eintrittsluke:
„Ach komm, Gruth. Hast du nicht gehört? Ich hab dich durchschaut! Gib es auf und komm einfach rein!“
Diesen Augenblick nutzte Vlorah, um ihre R-Waffe zu heben und einen schnellen Schritt vor die Luke zu machen. Die Frau dahinter stieß einen kurzen, überraschten Laut aus.
„Tut mir leid, Sie müssen uns mit jemandem verwechseln“, sagte Vlorah gelassen. „Keiner von uns heißt Gruth.“
Auch Kheilo hob schnell seine Waffe und trat neben Vlorah. Damit konnte er endlich auch einen Blick hinein werfen und auf diese Frau mit der angenehmen Stimme. Sie hatte die Hände gehoben und starrte etwas verwirrt auf Vlorahs Waffe. Als nun auch Kheilo in ihr Blickfeld kam, konnte sie sich nicht mehr entscheiden, wo sie hinblicken sollte, und wechselte deshalb ständig von einer Waffe zur anderen.
Die Frau sah nicht unbedingt so aus, als wäre sie gerade voll bei der Sache – eigentlich machte sie einen ziemlich verschlafenen Eindruck. Und die weite, einteilige Kleidung, die sie trug, musste wohl so etwas wie ein Nachthemd sein.
Und Kheilo musste feststellen, dass ihre Stimme ganz bestimmt keinen falschen Eindruck von ihr vermittelt hatte. Trotz ihres Aufzugs und des verschlafenen Gesichts war ihre Attraktivität nicht von der Hand zu weisen. Ihre Gesichtszüge waren glatt und markant und hatten irgendwie etwas Nordisches. Sie hatte sehr langes Haar, das ihr weit über die Schultern hing und in sehr hellem Blond strahlte – beinahe schon Weiß. Und ihre sehr kurvige, weibliche Figur konnte Kheilo selbst in dieser Situation unmöglich übersehen. Nicht zuletzt aufgrund dieses leichten, weißen Gewandes, das sie trug, drängte sich Kheilo plötzlich irgendwie der Vergleich mit einem Engel auf....
Er verdrängte diesen Gedanken jedoch sofort wieder, da er doch reichlich albern war und im Moment auch völlig unpassend. Inzwischen war auch Joni aus der Deckung gekommen, was die Frau im Nachthemd dazu veranlasste, ihren irritierten Blick nun zwischen drei Waffen hin und her springen zu lassen.
„Wer.... sind Sie?“ fragte sie verängstigt. „Was wollen Sie hier?“ Dann schien ihr etwas einzufallen. „Falls Gruth Sie angeheuert hat, um sich einen schlechten Scherz mit mir zu erlauben, dann können Sie ihm mitteilen, dass ich ihn durchschaut habe!“ sagte sie mit festerem Tonfall. „Wahrscheinlich versteckt er sich hier irgendwo!“ Sie machte Anstalten, aus dem Shuttle herauszukommen.
Vlorah trat schnell einen Schritt vor und versperrte ihr den Weg. „Tut mir leid, das ist leider kein Scherz. Wir sind von der.... von drei verschiedenen Sicherheitsbehörden und Sie sind vorläufig festgenommen.“
Plötzlich schien die Frau hellwach. Ihr Gesichtsausdruck wechselte von Überraschung zu Bestürzung. Dann drehte sie sich schlagartig um und rannte ins Shuttle hinein. Ihr Nachthemd wehte ihr aufgeregt hinterher.
„Hiergeblieben!“ rief Vlorah. „Oder wir schießen!“
Die Frau stolperte unbeirrt weiter, auf eine schmale Tür zu, die in den vorderen Bereich des Shuttles führte.
„Yaan!“ schrie sie aufgeregt. „Wir haben Besuch!“
Kurz bevor die Frau an ihrem Ziel angekommen war, fuhr die Tür plötzlich zu, sodass sie fast dagegen lief. Sofort begann sie dagegen zu hämmern und schrie: „Nein, Yaan, was soll denn das? Mach sofort die Tür wieder auf!“
Als ihr Getrommel nicht die gewünschte Wirkung erzielte, trat sie wütend mit dem Fuß gegen die Tür und belegte sie mit einem wüsten Fluch.
„Offensichtlich hat Yaan nicht vor, sich kooperativ zu verhalten“, stellte Vlorah trocken fest, um wieder die Aufmerksamkeit ihres Gegenübers zu erlangen.
Die Frau im Nachthemd drehte sich zu den dreien um, die inzwischen auch ins Shuttle gekommen waren. Für eine ganze Weile starrte sie sie nur ratlos an und schielte immer wieder auf die drei Waffen, die nach wie vor auf sie gerichtet waren.
Dann stieß sie plötzlich ein lautes, erzwungenes Gelächter aus und hob die Hände zu einer entschuldigenden Geste. „Tut mir total leid! Ehrlich! Aber Yaan hat heute mal wieder ziemlich miese Laune. Sie hat ein bisschen zu viel getrunken und jetzt brummt ihr der Schädel! Ich hoffe, Sie sind jetzt nicht böse....“
„Bitte?“ Kheilo runzelte die Stirn. Was sollte das denn jetzt?
Er warf einen kurzen Blick zu Vlorah hinüber und stellte überrascht fest, dass die Kosmopol-Agentin geradezu amüsiert wirkte.
„Na ja, sie muss einfach immer übertreiben, die gute Yaan“, erklärte die Frau eifrig. „Ich hab ihr schon tausendmal erklärt, dass sie besser aufpassen muss, weil sie einfach nichts verträgt, aber sie will nicht auf mich hören! Und dann bekommt sie immer üble Kopfschmerzen und ist schlecht drauf.“ Sie wandte sich wieder der Tür zu und brüllte: „Yaan, hör doch auf mit dem Quatsch! Du kannst dich nicht ewig da drinnen einschließen! Komm schon raus da!“
Sie lauschte, als würde sie eine Antwort erwarten, aber es kam keine.
Also wandte sie sich wieder zu den drei Besuchern und zuckte mit den Achseln. „Tja, da kann ich wohl nichts machen. Yaan ist manchmal eben ziemlich stur.“
Kheilo hatte allmählich den Eindruck, dass diese Situation ziemlich aus dem Ruder lief. Diese Frau verhielt sich ausgesprochen seltsam und er wurde einfach nicht schlau daraus. Er beschloss daher, nun erst mal klarzustellen, wer hier eigentlich das Sagen hatte.
„Jetzt hören Sie doch mal auf mit diesem Schmierentheater!“ mahnte er. „Ihnen ist schon klar, dass Sie gerade von der Polizei gestellt wurden? Wir haben ernste Anschuldigungen gegen Sie – da sollten Sie sich vielleicht etwas anders verhalten.“
Die Frau zeigte ihm ein schelmisches Lächeln. Sie wusste offensichtlich genau, wie gut sie das beherrschte – und welche Wirkung es hatte. „Und was genau erwarten Sie von mir? Dass ich mit schlotternden Knien vor Ihnen stehe? Oder dass ich versuche, Sie anzugreifen, damit sie mich mit diesen Dingern beschießen können?“
Sie kam einen Schritt näher und wurde wieder ernster. „Wissen Sie, ich arbeite im Grunde in derselben Branche wie Sie: Sicherheit! Es ist vielleicht nicht ganz zu vergleichen – aber trotzdem weiß ich, wie der Hase läuft. Und das Beste, was ich in so einer Situation tun kann, ist ruhig und kooperativ zu bleiben.“ Dann hob sie die Stimme: „Leider scheint meine liebe Kollegin etwas anderer Meinung zu sein!“
So richtig traute Kheilo ihr immer noch nicht. Er musterte sie abschätzig und bohrte weiter nach: „Dann wissen Sie wahrscheinlich auch schon, wie es jetzt weitergeht, nicht wahr?“
Die Frau lächelte wieder. „Nein.... eigentlich nicht. Aber ich bin sicher, dass Sie mir das gleich verraten werden. So machen Sie das doch immer, wenn ich mich nicht irre. Oder sind Sie vielleicht ein Mann mit.... ungewöhnlichen Methoden?“
Während sie sprach, nahm sie nicht ein einziges Mal ihren Blick von ihm und schaffte es sogar noch, beim letzten Satz die fesselnde Wirkung ihres Lächelns zu verstärken. Kheilo war im Normalfall niemand, den man so leicht aus der Fassung bringen konnte. Aber diese Frau war kurz davor es zu schaffen.
Doch dann ergriff Vlorah das Wort: „Also schön, ich nehme an, wenn wir ins Schiffsinnere wollen, müssen wir durch diese Tür?“
Die Frau im Nachthemd sah immer noch Kheilo an, nickte aber kurz.
Daraufhin senkte Vlorah ihre Waffe und steckte sie wieder an den Gürtel. „Wenn wir unsere Bemühungen vereinen, können wir Yaan vielleicht überzeugen, vernünftig zu werden und die Tür wieder zu öffnen. Was meinen Sie?“
Für einen Moment war Kheilo verblüfft. Doch dann dachte er noch einmal über die Situation nach. Vlorah war die einzige, die irgendwas über diese Bande wusste, mit der sie es da zu tun hatten. Sie konnte die momentane Lage sicherlich am besten einschätzen. Und diese Frau wirkte tatsächlich sehr offen und kooperativ – und war außerdem völlig unbewaffnet. Vielleicht war es wirklich die beste Vorgehensweise, ganz pragmatisch zu bleiben und mitzuspielen.
Also senkte auch er seine Waffe. Und ein paar Sekunden später schloss auch Joni sich ihnen an.
„Vielen Dank“, sagte die Frau im Nachthemd aufrichtig erleichtert. „Vielleicht haben Sie ja mehr Glück mit dieser sturen Ziege da drinnen.“
Kheilo zuckte mit den Achseln, trat an der Frau vorbei und klopfte mit zwei Fingern gegen die verschlossene Tür. „Hören Sie, es wäre wirklich besser, wenn Sie jetzt die Tür öffnen und zu uns herauskommen würden. Sie erreichen überhaupt nichts, wenn Sie so weiter machen, weil wir die Tür ohnehin irgendwann aufbekommen werden. Sie machen im Moment sich und uns allen nur unnötige Schwierigkeiten.“
Yaan zeigte jedoch keine Reaktion, obwohl Kheilo kurze Zeit meinte, leises Gelächter hinter der Tür zu hören.
Die Frau im Nachthemd seufzte. „Ich hab mir schon fast gedacht, dass das nichts bringen wird. Selbst wenn sie bei klarem Verstand ist, lässt Yaan sich nur sehr selten etwas sagen. Schon gar nicht von Männern.“
„Ich bin kein Mann. Soll ich es mal versuchen?“ fragte Joni. Wahrscheinlich wollte sie nur auch irgendetwas tun und nicht einfach nur nutzlos herumstehen.
„Vielleicht würde es helfen zu erfahren, warum Ihre Kollegin in diesem alkoholisierten Zustand ist“, bemerkte Vlorah in ihrer typisch trockenen Art.
„Ach, wir waren vorhin ein bisschen unterwegs und mussten ein paar Erkundungen anstellen!“ erwiderte die Frau und sprach dabei das Wort Erkundungen mit besonderem Nachdruck aus. „Das heißt, zuerst waren es hauptsächlich Erkundungen. Gegen Abend war dieser Aspekt dann nicht mehr so wichtig....“ Sie kicherte.
„Ich verstehe...“, meinte Joni, obwohl sie wahrscheinlich in Wirklichkeit überhaupt nichts verstand.
Kheilo sah die Frau an und wurde auf der Stelle wieder mit ihrem fesselnden Lächeln belegt. „Darf ich Ihren Namen erfahren?“ probierte er es einfach mal. Er ging nicht davon aus, dass sie ihm ihren richtigen Namen nennen würde.
„Chet!“ sagte sie sofort. „Und Sie?“
„Äh.... Kheilo“, erwiderte er hastig. „Kommissar Kheilo.“
„Freut mich sehr, Herr Kommissar!“ bemerkte Chet ohne den geringsten ironischen Unterton in der Stimme. „Hey, Yaan, willst du nicht rauskommen? Wir haben einen sehr charmanten und gutaussehenden Kommissar zu Gast, der würde dir bestimmt gefallen!“
Kheilo konnte sich gar nicht erinnern, wann er zum letzten Mal rot geworden war. Das musste wohl schon vor seiner Hochzeit gewesen sein.
„Schön, dass wir hier neue Bekanntschaften schließen konnten“, machte sich Vlorah ungeduldig bemerkbar. „Wir benötigen Zugriff auf Ihre Schiffsdatenbank. Wenn Ihre Kollegin nicht vorhat, da heraus zu kommen, müssen wir die Tür eben gewaltsam öffnen.“
„Ja, das sehe ich ein, das müssen Sie dann wohl....“ Chet machte ein paar Schritte auf sie zu. „Aber wollen Sie sich denn nicht auch erst einmal vorstellen?“
Vlorah seufzte hörbar. „Also gut, mein Name ist Vlorah und ich bin Kosmopol-Agentin. Und um keine Zeit zu verlieren: Diese junge Dame hier heißt Joni.“
Joni wollte gerade etwas hinzufügen, als ihr unvermittelt das Wort abgeschnitten wurde.
„Angenehm!“
Die Stimme ertönte ganz plötzlich vom Schiffseingang her. Kheilo fuhr herum – und traute seinen Augen kaum!
Denn dort stand der Hüne, den Alsth gerade eben betäubt hatte, und war völlig putzmunter! Er hatte zwei Waffen in den Händen und richtete sie selbstsicher nach vorne.
„Wenn es Ihnen nichts ausmacht, behalte ich meinen Namen für mich“, fuhr er spöttisch fort. „Aber wie Sie sehen können. habe ich gerade zwei Waffen in der Hand. Eine davon kann betäuben, die andere töten.“ Und seine ohnehin schon tiefe Stimme verwandelte sich in ein dunkles Grollen, als er hinzufügte: „Leider weiß ich nicht mehr genau, welche davon welche ist. Und ich habe wirklich große Lust, das jetzt auszuprobieren!“
Alsth lugte durch die Löcher in dem Haufen aufgestapelter Gepäckstücke und versuchte die junge Frau dort irgendwo auf der anderen Seite des Frachtwagens zu erspähen. Doch sie war offenbar sehr geschickt darin, außer Sicht zu bleiben. Trotzdem wusste er, dass sie dort war.
„Okay, sag mir eins“, japste er, immer noch etwas außer Atem von der kürzlichen Anstrengung. „Wie lange weißt du schon, dass ich hinter dir her bin?“
„Ich würde mal sagen, du verfolgst mich, seit ich geflohen bin,“ sagte sie. Ihre Stimme klang ein bisschen erschöpft, aber nicht angespannt. „Genau wie der ganze Rest des Raumhafens – danke, ich hab es verstanden. Könnt ihr jetzt vielleicht diesen nervigen Alarm wieder ausmachen?“
Sie ist gesprächsbereit, sehr gut! Solange sie mit ihm sprach, konnte er weiter versuchen, ihre genaue Position ausmachen und sich etwas zu überlegen, wie er sie austricksen konnte.
Andererseits wusste er natürlich genau, warum sie gesprächsbereit war. Nämlich weil sie vermutlich genau dasselbe vorhatte wie er.
„Nein, ich meinte, wann hast du mich entdeckt?“ hakte er nach. „Und vor allem: Wie? Ich hab mir doch solche Mühe gegeben nicht aufzufallen.“
Währenddessen blickte er sich um und verschaffte sich endlich ein etwas ausführlicheres Bild von seiner Umgebung.
Der Frachtwagen samt Gepäck war etwa drei Meter hoch und vielleicht zehn Meter lang. Er hatte weder Räder noch irgendwelche anderen erkennbaren Fortbewegungselemente, sondern stand völlig flach auf dem Boden. Alsth wusste aber, dass diese Frachtwägen einen relativ starken und schnellen Antigrav-Antrieb hatten, der sie in einiger Höhe über dem Boden schweben ließ.
Anscheinend sollte gerade eines dieser riesigen Frachtschiffe dort drüben beladen werden. Aber wegen des Sicherheitsalarms musste das automatisierte Steuersystem den Betrieb eingestellt haben. Nun stand der Wagen mit noch voller Ladung hier mitten auf dem Landefeld herum.
Er sah sich die Ladefläche an und erkannte, dass es durchaus möglich wäre, auf den Wagen zu klettern. Es gab ein paar Vorsprünge zum Festhalten und eine Art Stoßstange, die sich um alle vier Seitenwände zog. Aber er wollte lieber nichts unternehmen, bevor er nicht alle Möglichkeiten abgewogen hatte. Es war auch denkbar, an einer Seite um den Wagen herumzuschleichen und sie außer Gefecht zu setzen, bevor sie reagieren konnte. Aber dazu musste er erst mehr Informationen über seine Gegnerin sammeln.
„Weißt du, du hast dich gar nicht so schlecht angestellt“, erklang wieder ihre Stimme von der anderen Seite. „Aber heute bin ich schon entschieden zu oft von irgendwelchen Leuten überrascht worden, weil ich nicht genug aufgepasst hab. Deswegen hab ich mir vorgenommen, besser drauf zu achten. Und irgendwann ist mir klar geworden, dass sich da jemand ständig in meinen Augenwinkeln herumtreibt.“
Ihre Stimme klang hell und jung und sie hatte so einen teils gleichgültigen, teils vorwitzigen Tonfall. Wenn man sie so hörte, konnte man fast nicht glauben, dass sie gerade eine Ewigkeit in dieser Hitze herumgerannt war, während eine ganze Legion Sicherheitsleute sie verfolgte. Oder dass Alsth ihr Gegner war und sie beide nur auf eine Gelegenheit warteten, sich gegenseitig abzuschießen. Es klang eher so, als würden sie gerade eine gemütliche Unterhaltung in einem Café führen.
Irgendwie gefiel ihm das. Er wollte mal versuchen, es ihr gleichzutun.
„Ich verstehe“, sagte er gelassen. „Es war also keine plötzliche Erkenntnis, sondern ein schleichender Erkenntnisprozess, kann man das so sagen?“
„Ja, das stimmt genau! Du bist ganz schön schlau für einen von deiner Berufsgruppe.“
„Du ahnst gar nicht, wie oft man das zu mir sagt.“
Darauf erklang ihr lautes Lachen von der anderen Seite des Frachtwagens. Wenn man die ganze Situation bedachte, in der sie waren, war das schon bemerkenswert. Ihm war natürlich klar, dass das nur ein oberflächlicher Eindruck war. In Wirklichkeit musste er jederzeit damit rechnen, dass sie irgendeinen Trick versuchte. Trotzdem genoss er ihr helles, fröhliches Lachen für einen Moment. Es war irgendwie befreiend in diesem ganzen Stress.
„Und schlagkräftig bist du auch noch!“ stellte sie fest. „So einen Bullen trifft man nicht jeden Tag!“
Ein Mädchen wie dich aber auch nicht, dachte er, wollte es aber nicht laut aussprechen.
Stattdessen sagte er: „Vielleicht sollte ich langsam mal an meinen Job denken. Also schön: Ich muss Sie auffordern, sich auf der Stelle zu ergeben. Werfen Sie Ihre Waffe weg, so dass ich sie sehen kann, heben Sie die Hände und kommen Sie langsam heraus. Sie sind nämlich verhaftet!“
„Oh, jetzt bin ich enttäuscht. Ich hatte gehofft, dass wir noch etwas plaudern könnten. Aber gut, wie du willst: Ich weigere mich, Ihrer Aufforderung nachzukommen, Herr Polizist! Sie können mich mal!“
Alsth lachte. Das war nicht unbedingt die Reaktion, die man von ihm nach solchen Worten erwartete, aber irgendwie konnte er nicht anders.
„Und was willst du jetzt tun? Du kannst hier nicht weg. Wenn du dich vom Wagen entfernst, hab ich dich sofort wieder in meiner Schusslinie. Und du kannst auch nicht zu lange abwarten, denn früher oder später entdeckt uns hier ein Sicherheitstrupp. Sieh es ein, du hast keine Chance mehr.“
„Vielleicht doch. Ich könnte zum Beispiel mit dieser Knarre hier auf dich schießen. Wenn du bewusstlos bist, kannst du mir nicht mehr hinterher rennen.“
„Das könntest du versuchen. Aber die Wahrscheinlichkeit ist höher, dass ich dich zuerst abschieße.“
„Da wäre ich mir aber nicht so sicher....“
Sie schien ihre Position verändert zu haben. Zumindest kam es Alsth auf einmal so vor, als würde ihre Stimme von etwas weiter oben kommen. Außerdem glaubte er, kurz den Klang von Metall gehört zu haben. Sofort verstand Alsth, was los war. Anscheinend machte sie jetzt genau das, was er selbst gerade eben noch in Erwägung gezogen hatte: Sie kletterte auf den Frachtwagen.
Kannst du vergessen, Mädel! Alsth ging in die Hocke und richtete seine Waffe nach oben. Sobald sie dort irgendwo über dem Gepäckhaufen auftauchte, musste er blitzschnell reagieren. So ganz wohl war ihm dabei aber nicht. Der Bereich, den er im Blick haben musste, war breit und unübersichtlich....
„Ach komm, das bringt doch nichts!“ rief er daher. „Wenn du auf diesem Ding herumkletterst, wirst du auch nicht von hier weg kommen!“
„Gute Ohren hast du also auch“, kam die Antwort. „Und du hast recht!“
Alsth runzelte die Stirn. „Ach ja?“
„Ja, wirklich! Ich kann unmöglich sicher von diesem Vehikel hier weg kommen. Egal wohin ich flüchten würde, du hättest mich sofort in der Schusslinie. Aber wenn ich hier bleibe, werden mit Sicherheit irgendwann Tausende von Secus hier auftauchen. Also muss ich weg. Ein ziemliches Dilemma, muss ich schon sagen.“
Nun witterte Alsth eine Chance. „Tja, manchmal kommt man eben in eine Situation, aus der es keinen Ausweg mehr gibt. Dann kann man nur noch das einzig Richtige tun und aufgeben.“
Doch sie lachte kurz auf. „Nein, das hast du falsch verstanden. Ich hab gar nicht behauptet, dass es keinen Ausweg mehr gibt!“ Ihre Stimme kam jetzt wieder konstant aus einer Richtung. Anscheinend war sie nicht weitergeklettert, sondern auf ihrer Seite geblieben. Sie befand sich aber immer noch oben auf dem Wagen.
„Jetzt komm schon!“ versuchte Alsth es nochmal. „Du hast es doch gerade selbst gesagt: Du sitzt in der Falle!“
„Da muss ich leider widersprechen, lieber Herr Polizist. Wenn ich in meinem Leben eins gelernt habe, dann das: Es gibt immer einen Ausweg!“
„Aber....“
Alsth stockte abrupt, als er bemerkte, wie der Frachtwagen in Bewegung geriet.
Er hob sich plötzlich vom Boden ab und beschleunigte in Alsths Richtung! Der wurde davon so überrascht, dass er gar keine Zeit mehr hatte zu begreifen, was da gerade passierte. Aus reinem Instinkt sprang er in die Höhe – und landete mit den Füßen auf der Stoßstange. Er schaffte es gerade noch, sich mit den Händen an einem der Vorsprünge festzuhalten. Dann wurde er gegen die Seitenwand gepresst.
Der Wagen beschleunigte immer noch – und das obwohl er bereits mit halsbrecherischer Geschwindigkeit über das Landefeld fegte. Der Fahrtwind war so stark, dass Alsth von einer immensen Kraft gegen den Wagen gedrückt wurde und sich kaum noch rühren konnte.
Sie hat den verdammten Antrieb aktiviert! Alsth war geradezu fassungslos. Sie muss zur Steuerkonsole hochgeklettert sein, die sich auf ihrer Seite befindet, und die manuelle Steuerung übernommen haben! Das war vielleicht schon die ganze Zeit ihr Plan! Alsth wollte am liebsten fluchen, weil er daran nicht gedacht hatte! Dummerweise bekam er im Moment kaum noch Luft.
Der Wagen beschleunigte jetzt nicht mehr, sondern raste einfach geradeaus weiter. Irgendwann würde er entweder in die Kurve gehen und Alsth ziemlich sicher wegschleudern. Oder – und das fürchtete er im Moment wesentlich mehr – gegen ein Hindernis treffen und ihn regelrecht zerquetschen. Alsth konnte sich nicht nach hinten drehen, um zu sehen, worauf sie zufuhren. Der Fahrtwind nagelte ihn geradezu an der Seitenwand fest. Er konnte im Grunde so gut wie gar nichts mehr machen.
Ob es ihm passte oder nicht: Im Moment war er seiner Gegnerin hilflos ausgeliefert....
Kheilo hielt es für das Beste, erst einmal keine unüberlegten Bewegungen zu machen.
Was war hier los? Warum war der Kerl schon wieder bei Bewusstsein? Wo waren die drei Secus, die ihn bewachen sollten? Und wo hatte er diese Waffen her? Auf all das wusste Kheilo spontan keine Antwort. Aber im Moment war das auch kein dringendes Problem. Wesentlich dringender war die Tatsache, dass der Hüne nun im Eingang seines Shuttles stand und seine Waffen auf sie gerichtet hatte, während Vlorah, Joni und er ihre eigenen Waffen dummerweise heruntergenommen hatten.
Deswegen war es wichtig, in dieser Situation absolute Ruhe zu bewahren. Kheilo war sich sicher, dass seine Teamkollegen das bestimmt auch so sehen würden.
Im nächsten Augenblick musste er jedoch feststellen, dass er sich mächtig getäuscht hatte.
Denn kaum hatte der Hüne ausgeredet, als plötzlich gleich mehrere Dinge zur selben Zeit passierten:
Joni hob ihre Waffe. Es war eher ein Reflex als eine überlegte Aktion, aber da war es schon passiert.
Sofort bemerkte Vlorah, was los war. Sie riss ebenfalls augenblicklich ihre Waffe hoch und ging gleichzeitig in die Hocke.
Der Hüne schoss mit rechts.
Die Entfernung war nicht sehr groß und außerdem hatte er ohnehin schon auf Joni gezielt, als er hereingekommen war. Er zuckte nur kurz mit dem Finger und traf sein Ziel sicher.
Der Hüne schoss mit links.
Der Energiestrahl pfiff über Vlorahs Kopf hinweg. Wäre sie nicht so geistesgegenwärtig gewesen sich zu ducken, hätte es sie voll erwischt.
Joni stieß noch ein leises Gurgeln aus, bevor sie umkippte und mit dem Kopf gegen die Shuttlewand prallte. Die Frau im Nachthemd sprang schnell zur Seite, um ihr auszuweichen.
Vlorah zielte auf den Hünen und schoss.
Doch dieser machte sich sofort aus dem Staub, als sein Schuss nicht traf. Da er noch in der Luke stand, musste er nur einen Schritt zur Seite machen, um Vlorahs Energiestrahl zu entgehen.
Joni rutschte an der Wand entlang nach unten und landete regungslos auf dem Shuttleboden. Sie war eindeutig bewusstlos.
Kheilo klappte den Mund auf. Das war seine erste Reaktion auf den eben erfolgten Schusswechsel.
Verdammt, dachte er wütend. Ich wollte, dass alle Ruhe bewahren! Hätte der Hüne die beiden Waffen andersherum gehalten, wäre Joni jetzt tot!
„Kommissar, hinterher!“ rief Vlorah ihm zu.
Kheilo zückte nun auch wieder seine Waffe und folgte Vlorah eilig, die aus der Eingangsluke stürmte und sich nach dem Hünen umsah. Als sie ihn nirgends entdeckte, gab sie Kheilo ein Zeichen, nach links zu rennen, woraufhin sie ohne Umschweife nach rechts stürmte.
Kheilo sprang aus der Luke und fegte um das Shuttle herum. Er wusste, was Vlorah dachte: Der Hüne konnte so schnell nicht auf und davon sein. Er musste sich noch in unmittelbarer Nähe des Schiffs befinden!
Er lief vorsichtig weiter am Shuttle entlang und hielt die Waffe fest in seiner Hand. Jeden Augenblick rechnete er damit, wieder auf den Gegner zu treffen. Dann würde sein Leben von einer schnellen Reaktionszeit abhängen. Einer wesentlich schnelleren als gerade beim Schusswechsel im Shuttle....
Als er um den Bug des Schiffs herumkam, wäre er fast mit Vlorah zusammengestoßen, die sich von der anderen Seite genähert hatte. Die Kosmopol-Agentin blickte ihn entgeistert an.
Das ist doch absolut unmöglich, dachte Kheilo ratlos.
„Verdammt“, flüsterte er Vlorah zu. „Wo ist der Kerl hin?“
Gruth kletterte eilig über das Dach seines Shuttles. Er brauchte nicht lange, um das Heck zu erreichen, schwang sich über den Rand und ließ sich fallen. Er landete auf dem Boden vor der Eingangsluke.
Als er wieder ins Shuttle stürmte, stand Chet bereits neben den Kontrollen für die Luke.
„Schnell!“ rief er. „Abschließen!“
Chet nickte ihm zu und betätigte den Schalter, woraufhin die Eintrittsluke sich auf der Stelle schloss.
„Schön, dass du zurück bist, Großer“, sagte sie. „Was ist, hast du Nylla erledigt?“
„Keine Zeit!“ zischte Gruth. „Wir müssen auf der Stelle losfliegen! Wo ist Yaan?“
„Sie war in der Bugsektion, als diese drei Bullen reinspaziert sind. Sie hat sich dort eingeschlossen.“
Gruth kniff amüsiert die Augen zusammen. „Sag bloß, ihr habt mit diesen Bullen ‚Guter Gangster, böser Gangster‘ gespielt?“
Chet grinste, dann rief sie: „Hey, Yaan, mach die Tür auf! Gruth ist zurück! Wir fliegen los!“
Kurz darauf öffnete sich die Verbindungstür und Yaan blickte heraus. „Na endlich!“ murrte sie. „Dieser Planet geht mir langsam mächtig auf den Geist.“
„Kannst du das Shuttle alleine starten oder soll ich nachhelfen?“ fragte Gruth ungeduldig.
„Ja, ja, schon gut!“ Yaan verschwand in der Pilotenkanzel.
Nach einigen Sekunden hörte Gruth erleichtert das Summen des Antriebs und spürte, wie das Shuttle nach oben beschleunigte. Sehr gut! Vom Shuttle aus werden wir Nylla in Null Komma Nichts wieder aufgespürt haben!
„Nicht zu hoch fliegen!“ rief er Yaan zu. „Wir müssen uns auf diesem Landefeld noch etwas umsehen! Nylla ist da unten irgendwo!“
„Wie bitte?“ Chet sah ihn verdutzt an. „Nylla treibt sich ausgerechnet hier am Raumhafen herum?“
„Das ist eine lange Geschichte....“
Gruth trat zu der jungen Frau in der Security-Uniform hinüber, die bewusstlos an der Wand lehnte. Er griff sie am Kragen und hob sie mühelos hoch.
„Chet?“ fragte er ruhig. „Kannst du noch mal schnell die Luke öffnen?“
Kheilo und Vlorah standen schweigend nebeneinander und konnten gerade nicht mehr viel anderes tun, als betreten nach oben zu blicken und zuzusehen, wie das Shuttle sich in die Lüfte hob.
Es schwebte vielleicht zwanzig Meter über dem Landefeld, als die Luke plötzlich wieder aufging.
„In Deckung!“ rief Vlorah und versuchte Kheilo mit sich zu zerren, in der Erwartung, dass sie gleich aus der geöffneten Luke beschossen wurden.
Stattdessen kam ein menschlicher Körper herausgeflogen.
Genau das hatte Kheilo befürchtet. Er schüttelte sich schnell von Vlorah ab und versuchte Joni noch rechtzeitig zu erreichen, doch die Entfernung zum Shuttle war einfach schon zu groß. Die bewusstlose Sicherheitschefin knallte ungebremst auf den Betonboden.
„Großer Gott....“, keuchte Vlorah.
Sie folgte Kheilo, der auf Joni zu rannte und sich neben ihr auf den Boden warf. Eine Blutlache breitete sich bereits beängstigend schnell von ihrem Kopf aus. Eins ihrer Beine war unnatürlich verdreht.
„Diese miesen Schweine“, zischte Kheilo und prüfte Jonis Puls und Atmung. „Lange hat sie nicht mehr. Wo zum Teufel sind ihre Kollegen?!“
„Warten Sie....“ Vlorah griff an Jonis Hüfte und schnappte sich ihr Funkgerät.
„Hier Agent Vlorah von der Kosmopol!“ rief sie hinein. „Wir brauchen auf der Stelle ein Sanitäterteam an diesen Koordinaten! Eine Verletzte, Kopfwunde mit hohem Blutverlust!“
„Verstanden! Sind unterwegs!“
„Gut, okay.... wenn die sofort kommen, sollte sie es wohl schaffen....“
Vlorah sprach weiter in das Funkgerät: „Anschließend bringen Sie unbedingt jedes Patrouillenschiff in die Luft, das Sie zur Verfügung haben!“
Sie starrte in den Himmel, wo das Shuttle der Übeltäter in einiger Entfernung zu kreisen schien. „Dieses Schiff muss um jeden Preis an der Flucht gehindert werden....“
Alsth wusste nicht, wie viel Zeit ihm noch blieb. Der Frachtwagen, an dem er klebte, konnte jeden Augenblick in irgendein Raumschiff krachen und das war es dann für ihn. Deshalb musste er sofort etwas unternehmen.
Nur was? Er wurde so stark gegen diese Seitenwand gepresst, dass er sich selbst mit aller Kraft nicht davon wegdrücken konnte. Nach oben konnte er nicht, denn dann würde sie ihn sofort bemerken und mit ihrer R-Waffe ausschalten. Und wenn er sich zur Seite bewegte, wurde er wahrscheinlich vom Wagen weggeschleudert. Also blieb nur noch eine Richtung übrig. Aber unter ihm war nichts – außer dem vorbeizischenden Landefeld und....
Moment! Plötzlich hatte er eine Idee. Ja, so könnte es tatsächlich funktionieren....
Es war zwar reichlich riskant, aber immer noch besser als auf seinen sicheren Tod zu warten. Und da er unter Zeitdruck stand, blieb ihm gar nichts anderes übrig, als seine erste Idee in die Tat umzusetzen.
Er ließ seine Füße von der Stoßstange gleiten und schob sich mit den Armen nach unten. Sofort wurden seine Beine vom Fahrtwind unter den Frachtwagen gedrückt – und von dem Antigravitationsfeld erfasst, das sich unter dem Wagen befand. Alsth rutschte weiter nach unten und bekam mit einer Hand die Stoßstange zu fassen. Jetzt hing er schon fast vollständig unter dem Wagen und in dessen Antigrav-Feld.
Okay.... Jetzt gilt es!
Er ließ los.
Für einen kurzen Moment erlebte er ein Gefühl der absoluten Schwerelosigkeit, als sein Körper durch das Antigrav-Feld schoss. Über ihm raste die Unterseite des Wagens hinweg und unter ihm – in entgegengesetzter Richtung – der Boden des Landefelds. Es fühlte sich an, als würde er untertauchen – als wäre er plötzlich aus all dem Chaos in ein Meer der absoluten Ruhe versunken. Alles schien in Zeitlupe abzulaufen. Obwohl er sich nur wenige Sekunden unter dem Wagen befand, kam es ihm viel länger vor....
Fast hätte er dadurch den richtigen Moment verpasst.
Gerade noch rechtzeitig konnte er die Stoßstange auf der anderen Seite packen, als er aus dem Antigrav-Feld herausschoss. Beinahe hätte er sich den Arm ausgekugelt, aber er biss den Schmerz schnell weg. Gleichzeitig drehte er sich um die eigene Achse, zog die Füße ein – und landete auf dem Boden.
Glücklicherweise schaffte er es, mit schnellen Laufbewegungen die Geschwindigkeit abzufangen. Die ersten paar Schritte torkelte er zwar gefährlich, aber irgendwie blieb er tatsächlich auf den Beinen! Währenddessen hob er seine Waffe, die er während der ganzen Aktion schön festgehalten hatte. Er zielte auf den Wagen, der vor ihm davonflitzte. Es blieben ihm nur Sekundenbruchteile. Er entdeckte einen Schopf schwarzer Haare oben auf der Fahrerkanzel, visierte ihn an – und feuerte.
Die junge Frau bemerkte ihn exakt in dem Moment, in dem der Betäubungsstrahl sie traf. Doch sie kam zu keiner Reaktion mehr. Ihre Gelenke wurden schlaff und sie fiel rücklinks vom Frachtwagen herunter.
Alsth legte noch einen Zahn zu. Im letzten Moment schaffte er es, ihren fallenden Körper aufzufangen und zu verhindern, dass sie auf dem harten Boden landete. Als er sie sicher im Griff hatte, wurde er endlich langsamer und blieb schwer atmend stehen.
Er ging in die Hocke und legte seine reglose Gegnerin behutsam auf der Landefläche ab. Sie schien nicht verletzt zu sein. Aber sie war auf jeden Fall bewusstlos.
Dann hörte er vor sich einen ohrenbetäubenden Lärm.
Er zuckte erschrocken zusammen und sah nach vorne. Wenige hundert Meter weiter war der Frachtwagen mit voller Wucht gegen ein kleines Raumschiff gekracht. Beide waren durch den Aufprall ordentlich verbeult und Rauch stieg zwischen ihnen auf. Der Großteil der Gepäckstücke lag auf der flachen Außenhülle des Raumschiffs und in der Umgebung verteilt – und viele davon sahen ziemlich ramponiert aus.
Autsch.... Alsth schluckte. Hätte er nur noch ein paar Sekunden gewartet, würde er jetzt auch so aussehen....
Dann sah er wieder auf die junge Frau hinab. Sie schien zu schlafen und wirkte völlig friedlich. Als könnte sie keiner Seele etwas zuleide tun. Er griff mit einer Hand unter ihren Kopf, um ihn ein bisschen anzuheben.
„Diese Runde geht wohl an mich, was?“ sagte er laut zu ihr, obwohl ihm nur allzu bewusst war, dass sie ihn nicht hören konnte. „Vielleicht bekommst du irgendwann die Gelegenheit zu einer Revange.“
Er blickte in ihr Gesicht, als würde er darin irgendeine Reaktion auf seine Worte erwarten. Aber ihre Augen blieben geschlossen und auch sonst zeigte sich keine Regung. Trotzdem ließ Alsth seinen Blick eine ganze Weile auf ihr ruhen. Ihr Gesicht wirkte so weich, fast kindlich – aber gleichzeitig sah er darin die spannende Attraktivität einer jungen, erwachsenen Frau.
Ihr Haar strich sanft über Alsths Hand, mit der er ihren Kopf hielt. Es war kohlrabenschwarz und außergewöhnlich glatt. Man konnte kaum die einzelnen Haare unterscheiden, es wirkte fast wie ein Schleier. Eine Strähne hatte sich aus der silbernen Spange gelöst, die ihr Haar im Nacken zusammenhielt, und hing ihr übers Gesicht. Plötzlich konnte Alsth einfach nicht anders, er strich ihr die Strähne aus dem Gesicht und schob sie zurück an ihren Platz.
Aber dann schüttelte er schnell den Kopf, befreite sich von ihrem Bann. Das war ein ziemlicher Stress in den letzten Minuten gewesen – aber die Sache war noch nicht erledigt!
Ich muss Kheilo und Vlorah finden! Er hob das Mädchen an Schulter und Knien auf, drehte sich um und stapfte mit ihr in den Armen los.
Gruths Shuttle war noch keine zwei Minuten in der Luft, als die Gleiter der Luftkontrolle auftauchten.
Es waren insgesamt fünf kleine Ein-Mann-Schiffe, die sich von allen Seiten dem Shuttle näherten. Gruth kannte diesen Schiffstyp. Sie waren atmosphären-, aber nicht weltraumtauglich. Waffen hatten sie keine, dafür aber ziemlich starke Traktorstrahlen, die ganze Schiffe von wesentlich größerer Masse hochheben und umplatzieren konnten.
Oder fliehende Schiffe an der Flucht hindern.
„Gruth!“ rief Chet zum wiederholten Mal mit zunehmend ungeduldigerem Tonfall.
„Ich sehe sie, verdammt noch mal!“ erwiderte Gruth, ebenfalls ziemlich gestresst.
Sie standen beide hinter Yaan in der Pilotenkanzel und starrten auf den vorderen Sichtschirm. Yaan steuerte das Shuttle und flog Schlangenlinien, um den Gleitern auszuweichen.
Bisher war ihr das noch ganz gut gelungen – doch es war nur eine Frage der Zeit, bis ein suchender Traktorstrahl sie erwischen würde.
„Wir sollten jetzt besser hier verschwinden“, knurrte Yaan. Dicke Schweißperlen klebten ihr auf der Stirn. „Diese Gleiter kommen immer näher ran!“
„Nein!“ bellte Gruth. „Unser Auftrag ist noch nicht beendet! Ich fliege hier nicht weg, bevor wir Nylla nicht wiedergefunden haben!“
„Gruth, wenn die uns mit ihrem Lasso einfangen, dann kommen wir überhaupt nicht mehr hier weg!“ drängte Chet. „Wir sollten auf der Stelle in den Weltraum verduften! Ich hab keine Lust, diese Bullen von gerade eben wiederzusehen!“
„Nein!!“ brüllte Gruth wütend. Dann bemühte er sich, die Beherrschung wiederzuerlangen, und fügte etwas ruhiger hinzu: „Wir können unmöglich zur Raumstation zurückkehren, ohne unseren Auftrag abzuschließen! Nylla muss beseitigt werden! Ich hab euch vorher erklärt, wie wichtig Torx diese Sache ist!“
Gruth stierte verbissen auf den Sichtschirm vor sich und hielt weiter nach Nylla dort unten auf dem riesigen Landefeld Ausschau. Doch bisher hatte er keine Spur von ihr entdeckt.
„Jetzt hör mal, Gruth!“ Chet ließ nicht locker. „Wir können entweder einen von Torx’ Tobsuchtsanfällen über uns ergehen lassen – oder wir werden verhaftet und in den Knast geworfen! Ich muss da nicht lange überlegen!“
„Es besteht immer noch eine Chance!“ erwiderte Gruth störrisch. „Sie ist dort unten irgendwo.... Wir könnten sie jeden Moment.... Du verstehst es einfach nicht! Es ist nun mal mein Auftrag!“
„Oh doch, ich verstehe es sehr wohl! Du bist zu stolz dazu, ohne erfüllte Mission zurückzukehren! Das ist dir noch nie passiert und darauf bildest du dir was ein! Hab ich Recht?“
„Nein!“ schnauzte Gruth sofort. Seine Stimme wurde wieder leiser: „Das ist mir schon einmal passiert – vor drei Wochen....“
„Gruth....“ Chet quetschte sich zwischen ihn und den Pilotenstuhl und sah ihn aus nächster Nähe eindringlich an. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um in sein Blickfeld zu kommen. „Ich weiß nicht, warum Nylla sich hier am Raumhafen herumtreibt. Und ich weiß auch nicht, warum Torx sie unbedingt tot sehen will“, sagte sie und bemühte sich um einen beruhigenden Tonfall. „Aber selbst wenn sie uns heute entwischt – vollständig in Luft auflösen kann sie sich nicht! Wir können sie immer noch später finden und um die Ecke bringen, wenn es nicht anders geht! Aber dafür müssen wir erst mal hier verschwinden!“
Gruth blickte auf sie herab. Sie tat ja ausgesprochen verständnisvoll und wenn sie ihn auf diese Weise ansah, hatte er beinahe den Eindruck, sie würde es wirklich verstehen. Aber Tatsache war: Sie hatte keine Ahnung, dass er Nylla eigentlich schon längst hätte erledigen können. Dass sie noch lebte, war einzig und allein ihm geschuldet und seiner Unfähigkeit, einfach den verdammten Abzug zu drücken! Wenn Chet das wüsste, sie würde es nicht verstehen. Torx würde es nicht verstehen. Er konnte sich so einen schweren Fehler einfach nicht erlauben!
Andererseits.... Vielleicht konnte er seinen Fehler wirklich später wieder gutmachen. Aber nur, wenn er jetzt nicht noch einen größeren Fehler beging....
Yaan keuchte laut, als sie ein besonders gewagtes Flugmanöver ausführen musste, um einem Gleiter und seinem Traktorstrahl zu entkommen. Ihr Shuttle war zwar deutlich schneller, aber die Gegner waren zu fünft und wurden immer besser darin, sie in die Zange zu nehmen.
„Jetzt ist aber genug!“ fauchte Yaan. „Die haben uns jeden Augenblick! Und ich sehe Nylla nirgends! Seht ihr sie etwa? Ich denke nicht! Ich werde jetzt hier verschwinden, ob es euch passt oder nicht!“
„Warte....“, rief Gruth sofort.
„Sie hat Recht!“ Chet rückte noch näher an ihn heran und legte ihre Hände auf seine Schultern. „Es geht nicht anders!“
„Nein....“ Er schüttelte den Kopf. Dann atmete er einmal tief durch und sagte: „Von mir aus, verschwinden wir hier. Aber wir fliegen dabei über die Stadt! Sie werden niemals riskieren, heute noch eine zweite Katastrophe zu verursachen. Bestimmt werden sie zögern, uns weiter anzugreifen. Und dann können wir die Atmosphäre in aller Ruhe verlassen!“
„Na endlich!“ Yaan änderte sofort die Richtung des Shuttles und flog auf das Zentrum von Anbis City zu, während sie zügig aufzusteigen begann.
Chet nickte lächelnd. „Gute Idee, Großer! So gefällst du mir schon viel besser.“
„Chet....“, flüsterte er und nahm ihre Hände von seiner Schulter.
„Ja?“
Gruth ließ sich Zeit zu antworten. Er beobachtete, wie die Symbole der feindlichen Schiffe auf der taktischen Anzeige langsam zurückblieben. Dann sah er Chet tief in die Augen, während er ihre Hände immer noch in seinen hielt.
„Ja, Großer?“ drängte Chet und erwiderte seinen Blick erwartungsvoll.
„Du stehst auf meinem Fuß!“ sagte er schließlich.
„Oh.... Entschuldigung.“
Episode 5: Vernehmung
Als Gruth an diesem Morgen durch die Gänge der Raumstation stapfte, ließ er sich viel mehr Zeit als sonst üblich. Er wollte den Moment, an dem er sein Ziel erreichte, so weit wie möglich hinauszögern – auch wenn er genau wusste, dass es ihm nicht das Geringste bringen würde.
Gestern waren er, Chet und Yaan ziemlich spät abends zur Station zurückgekehrt. Ihr Boss hatte sich da schon zu Bett gegeben und Gruth hatte seine Berichterstattung daher nur zu gerne auf den nächsten Tag verschoben. Er hatte die Gelegenheit nutzen wollen sich zu überlegen, wie er Torx den Fehlschlag seiner Mission am besten beibringen konnte.
Doch obwohl er sich die ganze Nacht um die Ohren geschlagen und kein Auge zugemacht hatte, war er jetzt immer noch genau so weit wie am Abend zuvor. Er war auf keine Formulierung gekommen, keine sinnvolle Erklärung, die irgendwie beschönigen konnte, was gestern passiert war: Er hatte Nylla entwischen lassen, weil er Mitleid mit ihr hatte.
Schließlich stand er trotz aller Verzögerungen vor der vertrauten Tür mit dem Stierkopf, dem Zugang zu Torx‘ Räumlichkeiten. Und er hatte immer noch keine Ahnung, was er hinter dieser Tür gleich tun sollte. Nur eins stand für ihn unzweifelhaft fest: Er würde Torx die Wahrheit sagen müssen – so ungemütlich das für ihn auch werden würde.
Er holte Luft und betrat den kleinen Zwischenraum, der zu Torx‘ Büro führte. Neben der gegenüber liegenden Tür stand Clive und blickte auf, als er herein kam. Clive hatte Gruths Vertretung übernommen, solange dieser in Anbis City gewesen war. Heute Früh stand er auch noch hier auf dem Posten – er wusste schließlich noch gar nicht, dass Gruth schon wieder zurückgekehrt war. Außerdem war Gruth bereits etwas spät dran.
Gruth nickte Clive kurz zu. „Ich übernehme jetzt wieder“, sagte er knapp.
Clive erwiderte das Nicken stumm und verließ dann den Raum durch die Tür hinter Gruth. Wäre dieser nicht so mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt gewesen, hätte er sich sicherlich darüber gewundert, dass Clive hier im Vorraum stand – und nicht bei Torx im Zimmer. Erst hinterher sollte Gruth klar werden, dass er hier seine einzige Chance verpasst hatte, schon vorgewarnt ins Büro hinein zu treten.
Er starrte noch ein paar Sekunden auf die geschlossene Tür vor ihm und atmete mehrmals tief durch. Es half alles nichts, er musste da jetzt reingehen. Und dann würde er einfach klipp und klar sagen, was Sache war. Ja, dachte er, als er mit neuer Entschlossenheit auf die Tür zutrat, die sofort automatisch auffuhr. Das ist vielleicht doch die beste....
Er erstarrte mitten in der Tür.
Torx war nicht alleine im Raum. Ihm gegenüber am Schreibtisch saß noch eine zweite Person.
Es war ein Mann mittleren Alters, der irgendwie nicht so richtig ins allgemeine Bild einer Schmugglerstation zu passen schien. Er war sehr wohlhabend gekleidet, aber nicht so protzig wie Torx, sondern ganz amtlich im bügelglatten schwarzen Anzug. Dazu passte sein ernster, herablassender Gesichtsausdruck und die steife Art, in der er auf dem Stuhl saß. Und auch die vornehm und gebildet klingende Stimme, die in dem Moment verstummte, als die Tür aufging. „.... kann so nicht weitergehen....“, hatte Gruth noch verstanden.
Das passiert gerade nicht, dachte Gruth, während er den Besucher ausdruckslos anstarrte. Das Allerletzte, was er in dieser Situation noch brauchte, war dieser Kerl!
Dann ertönte auch schon Torx‘ überschwängliche Stimme: „Ah, sehr gut, da bist du ja endlich! Ich habe schon gehört, dass ihr gestern Abend zurückgekommen seid! Wie du siehst, haben wir hohen Besuch hier!“ Und zu diesem gewandt sagte er: „Mein Leibwächter wird Sie gleich gänzlich beruhigen können, vertrauen Sie mir!“
Gruth fiel sofort auf, dass Torx es wie immer bei solchen wichtigen Gesprächen vermied, Namen zu nennen. Dabei kannten sich alle Anwesenden bereits und Gruth kannte natürlich auch den Namen des Besuchers – genau wie so ziemlich jeder Bewohner von Anbis City. Denn er war einer der wichtigsten Politiker der Stadt.
„Komm her, dann kannst du uns gleich beiden von deiner Mission erzählen“, fuhr Torx gut gelaunt fort. „Ich nehme an, dass unsere kleine Deserteurin jetzt endlich erledigt ist?“
Gruth stakste auf den Schreibtisch zu, während in seinem Gehirn gerade alles drunter und drüber ging. Was zum Teufel sollte er jetzt bloß machen? Darauf war er so überhaupt nicht gefasst gewesen!
„Gruth?“ hakte Torx nach, als dieser eine längere Weile nicht geantwortet hatte. „Mein letzter Stand der Dinge war, dass du ihren Aufenthaltsort aufgespürt hast. So war es doch, oder?“
„J.... Ja....“, stammelte Gruth. „Sie.... ähm.... hatte sich nicht in der Stadt selbst versteckt, sondern etwas außerhalb in der Nähe einer kleinen Ansiedlung. Es war ein wirklich gutes Versteck, aber es ist uns trotzdem recht schnell gelungen sie ausfindig zu machen....“
„Da hören Sie es!“ unterbrach Torx ihn und schlug auf den Tisch. „Auf meinen Leibwächter kann man sich verlassen! Ich wusste doch, dass es keinen Grund zur Sorge gibt!“
Der Politiker blickte allerdings immer noch etwas skeptisch drein. „Und es gab wirklich keine.... Zeugen bei Ihrer..... ähm.... Aktion?“
„Sie haben es doch gerade gehört!“ erwiderte Torx. „Das Mädchen ist beseitigt und niemand wird mehr irgendeinen Verdacht schöpfen, bis es zu spät ist. So ist es doch, oder nicht?“ fragte er in Gruths Richtung.
„Ähm....“ Gruth schluckte.
Es war zum Verrücktwerden. Er war noch nie jemand gewesen, der sich um irgendwelche moralischen Regeln oder Vorschriften scherte. Wenn er ein Problem zu lösen hatte und dafür Gewalt anwenden musste, tat er das ohne mit der Wimper zu zucken. Und er hatte auch schon einige Menschenleben auf dem Gewissen und nie irgendwelche schlaflosen Nächte deswegen gehabt.
Für jemanden wie ihn sollte eine simple Lüge doch das Leichteste auf der Welt sein. Dass er ausgerechnet damit solche Probleme hatte, war geradezu lächerlich! Und doch fühlte er sich dabei ausgesprochen unwohl.
Sag ihm die Wahrheit! dachte ein Teil von ihm immer noch. Dann können wir uns gemeinsam überlegen, wie wir weiter vorgehen. Es wird früher oder später ohnehin herauskommen – und dann wird es erst richtig hässlich für dich werden!
Doch stattdessen hörte er sich selbst dabei zu, wie er sagte: „Ich habe dafür gesorgt, dass niemand mehr eine Spur von ihr finden wird. Sie ist Geschichte – endgültig.“
„Oh ja! Das ist wie Musik in meinen Ohren!“ jubelte Torx.
„Nun gut, wenn ich auch nicht ganz Ihren Enthusiasmus teilen kann, so bin ich doch Ihrer Meinung“, stimmte der Politiker zu. „Ich bin sehr erleichtert, diese Nachricht zu hören.“
Gruth entspannte sich innerlich etwas, als er das hörte. Offensichtlich war ihr Besucher mit der Antwort zufrieden und wollte nicht weiter nachhaken. Vielleicht ist das gar nicht so schlecht, kam ihm der Gedanke. Wenn Torx die Wahrheit wüsste, würde er sie diesem Kerl vermutlich auch verschweigen. Das hätte nur unnötigen Ärger gegeben.
Solange er hier ist, ist es klüger zu lügen – aber sobald Torx und ich unter uns sind, werde ich ihm sofort die Wahrheit sagen, beschloss er.
„Dann würde ich sagen, uns steht jetzt nichts mehr im Weg“, bemerkte Torx. „Der Kosmopol haben wir das Maul gestopft und unsere ‚internen Probleme‘ haben wir auch gelöst. Damit läuft nun wieder alles nach Plan, nicht wahr? Was können Sie uns von Ihrer Front berichten?“
„Bis jetzt sieht es sehr gut aus“, meinte der Politiker. „Ich denke, ich habe in Anbis City alles unter Kontrolle. Meine Ratskollegen sind alle ganz gut einzuschätzen. Ich weiß genau, wer auf meiner Seite sein wird und vor wem wir uns in Acht nehmen müssen. Sobald es richtig los geht, werde ich den Stadtrat voll im Griff haben – das kann ich Ihnen versichern.“
„Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel“, beteuerte Torx. „Ich weiß, dass man sich in der Beziehung auf Sie verlassen kann.“
Doch der Politiker schien für Schmeicheleien nicht besonders empfänglich zu sein. Er musterte Torx nur mit schmalen Lippen. „Wie sieht es mit Ihnen aus?“ fragte er schroff. „Bis jetzt haben wir nur über Ihre Sicherheitslücken gesprochen, die Sie stopfen mussten. Aber Sie haben mir noch kein Wort darüber gesagt, welche Fortschritte Sie machen! Sie würden mir doch nicht verschweigen, wenn es irgendwelche Probleme gibt?“
Gruth zuckte innerlich zusammen.
„Aber nein, nein!“ rief Torx dagegen gelassen und mit voller Überzeugung. „Es läuft alles prima! Die Produktion ist in vollem Gange und wir werden mehr als rechtzeitig fertig werden. Alle unsere Tests sind überaus zufriedenstellend verlaufen!“
„In Ordnung, das sind wirklich gute Neuigkeiten.“ Der Politiker nickte zufrieden. „Ich kann Ihnen sagen, gestern nach dieser schrecklichen Katastrophe war ich schon kurz davor, alles abzublasen. Ich habe es nicht mehr für möglich gehalten, dass wir unsere Pläne noch in die Tat umsetzen können. Aber nach unserem Gespräch bin ich nun wieder der vollsten Überzeugung, dass wir unser Vorhaben durchziehen können.“
„Das können Sie laut sagen“, stimmte Torx zu. „Es wird bestimmt alles wie am Schnürchen laufen! Und Ihre ahnungslosen Mitbürger werden erst merken, was los ist, wenn es zu spät ist! Wir werden uns sicherlich vor dem großen Tag noch einmal sprechen, aber ich denke, für den Moment ist alles gesagt, was es zu sagen gibt.“
„Das sehe ich auch so!“ Der Politiker erhob sich. „Dann sollte ich jetzt schleunigst zurück nach Anbis City fliegen, damit ich nicht zu spät zu meiner Sitzung komme.“
Auch Torx stand auf. „Finden Sie allein zu Ihrem Shuttle? Ich kann Ihnen Gruth mitschicken, wenn Sie wollen.“
„Danke, machen Sie sich keine Umstände. Inzwischen kenne ich mich ja schon auf dieser Station aus. Wir sprechen uns dann.“
„Natürlich. Guten Heimflug!“
Der Besucher nickte Torx und Gruth zu und verließ mit würdevollen Schritten den Raum. Die Tür schloss sich hinter ihm.
Torx ließ sich entspannt in seinen Sessel zurückfallen. „Politiker!“ knurrte er amüsiert. „An die werde ich mich wohl nie gewöhnen!“
Er ist endlich weg! Jetzt musst du es ihm sagen!
„Ähm, Torx....“, begann er leise. Ganz bewusst ging er nun wieder dazu über, Namen zu verwenden. Das schaffte automatisch einen vertraulicheren Rahmen.
„Ja, was gibt es?“ Torx sah ihn gut gelaunt an. Er war sichtlich zufrieden damit, wie das Gespräch verlaufen war – noch schien er nicht zu wittern, dass da etwas im Argen lag.
„Wegen dieser Sache mit Nylla....“ Gruth suchte nach Worten.
„Was gibt es darüber noch zu reden? Ich bin froh, dass wir diese Sache hinter uns haben. Nylla ist tot und damit gibt es überhaupt keinen Grund mehr, noch Zeit mit dem Thema zu verschwenden. Oder etwa doch?“
„Na ja.... Es gibt da noch etwas, was ich dir unbedingt sagen muss. Das konnte ich vorhin nicht – aber jetzt wo wir ungestört sind....“
Torx’ Miene verdunkelte sich. „Was meinst du damit?“
Gruth druckste herum. „Keine Sorge.... es ist nichts, was wir nicht in Ordnung bringen könnten.... aber.... meine Mission ist etwas anders verlaufen.... als gedacht.... ich meine....“
Innerlich war Gruth kurz vor dem Kollaps. Warum konnte er es nicht einfach sagen: Nylla lebt noch! Es war doch wirklich überhaupt nicht schwer. Also wieso wollten diese Worte partout nicht über seine Lippen kommen?
„Gruth, was ist denn jetzt?“ Torx begann ungeduldig mit den Fingern auf seinen Schreibtisch zu tippen. Eine dumme Angewohnheit, die Gruth gerade nur noch wahnsinniger machte. „Langsam bekomme ich ein ungutes Gefühl. Du wirst mir doch jetzt hoffentlich nicht erzählen, dass Nylla immer noch da draußen herumläuft!“
Endlich – es ist raus! Gruth war erleichtert: Jetzt musste er es nicht einmal selbst aussprechen. Er musste nur noch Ja sagen. Nicht einmal das, er musste einfach nur nicken!
Doch stattdessen kamen folgende Worte aus seinem Mund: „Nein, nein.... Nylla ist.... natürlich tot.... aber.... “
Nein! Gruth, was redest du da?!
„Gruth, es ist doch sonst nicht deine Art, um den heißen Brei herumzureden. Warum sagst du nicht endlich, wo das Problem ist? Nylla ist also tot. Das ist schon mal gut. Und weiter?“
Gruth hatte nun endgültig das Gefühl, in einer Teufelsspirale gefangen zu sein, aus der er nicht mehr heraus kam. Theoretisch war es noch nicht zu spät, er konnte sich immer noch korrigieren und Torx die Wahrheit sagen. Doch langsam wurde ein immer größerer Teil von ihm sich der simplen Tatsache bewusst, dass das niemals passieren würde. Er war schlicht und einfach nicht dazu in der Lage.
„Ich habe sie gefunden.... und erledigt.....“, begann er, ohne zu wissen, wo ihn dieser Satz hinführen würde. „.... dann habe ich noch ihre Leiche beseitigt.... aber....“ Plötzlich kam ihm ein Geistesblitz. „Als ich zum Raumhafen zurückkam.... waren dort Polizisten!“
„Polizisten“, wiederholte Torx verständnislos. „Und darüber machst du dir Sorgen? Dass am Raumhafen von Anbis City Polizisten waren? Am selben Tag, an dem dieses Schiff über der Stadt abgeschossen wurde.“
„Na ja, es.... es wäre möglich, dass es dieselben Polizisten waren, die mich an der Absturzstelle gesehen haben. Als ich das Wrack gesprengt habe. Was wenn mich einer von ihnen wiedererkannt hat?“ Gruth sprach immer schneller und aufgeregter. „Was wenn sie eins und eins zusammen zählen? Wenn sie Nyllas Leiche finden und ihnen klar wird, dass sie etwas mit dem Absturz zu tun hat? Und wenn sie dann weiterforschen und immer mehr über uns herausfinden? Das könnte den ganzen Plan in Gefahr bringen!“
Zuerst sagte Torx gar nichts. Er starrte Gruth nur ausdruckslos an.
Dann begann er tatsächlich laut zu lachen.
„Gruth!“ prustete er. „Mein Gott! Findest du nicht, dass das mächtig an den Haaren herbeigezogen ist?“
Gruth klappte den Mund auf, um etwas zu erwidern, doch als ihm nach mehreren Sekunden immer noch nichts eingefallen war und Torx nicht aufhören wollte zu lachen, klappte er ihn wieder zu.
„Wie sollen irgendwelche Polizisten denn solche kühnen Schlussfolgerungen ziehen? Wie sollen sie Nyllas Leiche mitten in der Savanne finden und den Fund mit einem Kerl in Verbindung bringen, den sie zufällig am Raumhafen gesehen haben?“ Torx stand von seinem Sessel auf und kam um den Schreibtisch herum. „Du hast es doch gerade gehört – es ist nur noch gut eine Woche bis zum großen Tag. Selbst wenn irgendjemand solche Sherlock-Holmes-verdächtigen Kombinierfähigkeiten haben sollte – in dieser kurzen Zeit kann niemand mehr irgendwas gegen uns ausrichten.“
Er legte Gruth eine Hand auf die Schulter, wofür er sich tatsächlich strecken musste. „Ich bin sehr erfreut, dass du deine Arbeit so gründlich machst und wirklich jede Möglichkeit in Betracht ziehst. Aber manchmal übertreibst du es auch ein bisschen – findest du nicht?“
Gruth fühlte sich nun völlig ausgelaugt. „Ähm.... na ja.... Boss.... vielleicht könntest du recht haben....“
„Natürlich hab ich recht, Gruth! Ich habe immer recht – sonst wäre ich nicht dort, wo ich jetzt bin!“
Torx verschränkte die Arme und schenkte Gruth ein selbstgefälliges Grinsen „Oder besser gesagt: Wo ich in gut einer Woche sein werde....“
Nylla lag mit geschlossenen Augen auf dem Bett des kleinen Zimmers, in dem sie die letzte Nacht verbracht hatte. Doch sie schlug sofort die Augen auf, als sie hörte, wie sich von draußen jemand näherte.
Schnell setzte sie sich auf und schaute zu der geschlossenen Tür auf der anderen Seite hinüber. Sie wollte auf den, der gleich herein kam, vorbereitet sein.
Der Verwahrungsraum, in den man sie gestern Abend gesteckt hatte, sah eher wie ein spärliches Hotelzimmer aus als wie eine Gefängniszelle. Außer dem Bett standen hier noch ein Tisch, zwei Stühle und ein kleiner Schrank. Das Fenster war ziemlich groß und unvergittert, jedoch gab es keine Möglichkeit es zu öffnen. Eine zweite Tür führte in ein kleines Badezimmer.
Nylla trug einen gelben Sträflingsanzug. Den hatte man ihr gestern noch gegeben, da sie selbst außer den spärlichen Klamotten, die sie am Körper getragen hatte, nichts zum Anziehen dabei gehabt hatte. Wenn Nylla das richtig verstanden hatte, war sie zwar nicht offiziell verhaftet worden – zumindest noch nicht – aber man hatte eben auf die Schnelle nichts anderes zum Anziehen für sie zur Verfügung gehabt.
Die Tür ging auf und jemand trat in den Raum. Nylla erkannte ihn sofort wieder: Es war der ältere der beiden Polizisten, denen sie und Gruth gestern am Raumhafen über den Weg gelaufen waren. Er schloss die Tür hinter ihm, trat an Nyllas Bett heran und blieb vor ihr stehen.
„Guten Tag, ich bin Kommissar Kheilo. Ich möchte mich gerne ein bisschen mit Ihnen unterhalten.“ Er zeigte ihr ein freundliches Lächeln und wies zu dem Tisch hinüber.
„Ach“, erwiderte Nylla, ohne besondere Betonung in der Stimme. „Und wenn ich keine Lust auf eine Unterhaltung habe? Lässt du mich dann gehen?“
„Oh, mir war gar nicht bewusst, dass wir schon per du sind“, stellte Kheilo fest. „Aber gut, mir macht es nichts aus.“
Dann ging er zum Tisch hinüber und nahm auf dem Stuhl Platz, der in Nyllas Richtung stand. Er deutete einladend auf den anderen Stuhl. „Willst du dich zu mir setzen?“
Doch Nylla blieb weiter auf der Bettkante sitzen und streckte sich demonstrativ ein bisschen mit hinter dem Kopf verschränkten Armen. „Keine Ahnung. Ich hab noch gar nicht entschieden, ob ich überhaupt mit dir reden will. Du bist ein Bulle. Und du hast mich hier eingesperrt. Das könnte ich dir übel nehmen.“
Kheilo ignorierte weiterhin jeden ihrer Provokationsversuche. „Es wäre gut, wenn ich deinen Namen kennen würde“, sagte er stattdessen. „Deine ID ist in unserem System nicht registriert, deswegen konnte ich den nicht herausfinden. Also, wie soll ich dich nennen?“
Nylla zuckte mit den Achseln. „Mach doch mal einen Vorschlag.“
Kheilo legte nachdenklich den Kopf schief. „Mal sehen.... Was wäre ein guter Name für dich? Vielleicht.... nenne ich dich nach meiner Großmutter. Sie hieß Khrombatsa.“
Nylla konnte nicht verhindern, dass ihr ein kurzer Lacher entwich. „Oh Gott. Bevor du mir so einen Namen gibst – nenn mich dann doch lieber Nylla.“
Kheilo nickte schmunzelnd. „Also Nylla. Gut, Nylla, die erste Frage hätten wir ja schon mal geklärt. Sieht ja fast so aus, als bekämen wir hier doch so was wie ein Gespräch zustande.“
„Sehr gut. Ich verdrück mich dann jetzt von hier, okay?“
„Bitte?“
Nylla erhob sich und ging langsam auf die Tür zu. „Diese Unterkunft gefällt mir nicht besonders. Sie ist so farblos. Oder habt ihr einen Beweis dafür, dass ich irgendein Verbrechen begangen habe?“
„Immerhin hast du versucht, meinen Kollegen mit einem Frachtwagen zu zerquetschen. Das dürfte eigentlich schon ausreichen. Außerdem hast du keine offizielle ID-Kennung. Das heißt, eigentlich dürftest du überhaupt nicht existieren. Nach den Vorschriften müssten wir dich vorläufig festhalten und versuchen, deine Identität zu klären.“
„Wie du siehst, existiere ich“, sagte Nylla. „Damit sollte das auch schon geklärt sein.“
Sie war inzwischen an der Tür angekommen und legte eine Hand auf die Klinke. Kheilo schien jedoch nicht die geringsten Anstalten machen zu wollen, sie aufzuhalten. Er saß zurückgelehnt auf dem Stuhl, während er Nylla ruhig beobachtete.
„Also, adios.“ Sie salutierte ihm lässig mit zwei Fingern.
Dann öffnete sie die Tür und trat nach draußen. Im nächsten Moment war sie im Gang verschwunden. Kheilo rührte sie immer noch keinen Zentimeter, lediglich seine Mundwinkel zuckten leicht.
Nach einigen Augenblicken kam Nylla rückwärts wieder ins Zimmer. Gefolgt von einem Wachmann, der eine R-Waffe auf sie gerichtet hatte.
Der Wachmann nickte Kheilo zu, trat dann wieder nach draußen und schloss die Tür hinter sich. Kheilo beobachtete die ganze Aktion interessiert.
Nylla starrte noch ein paar Sekunden nachdenklich auf die geschlossene Tür. Dann drehte sie sich auf dem Absatz um, kam zum Tisch herüber und ließ sich auf den anderen Stuhl fallen. „Also schön“, seufzte sie missmutig. „Anscheinend hab ich gerade nichts anderes zu tun. Und bevor ich hier vor Langeweile sterbe – meinetwegen, plaudern wir ein bisschen.“
Kheilo machte nicht den Eindruck, als müsste er sich ein Lachen verkneifen. Oder als würde er irgendeine Spur von Triumpf empfinden, weil er seinen Willen bekommen hatte. Er wirkte einfach nur interessiert daran, mit Nylla ein Gespräch zu führen.
„Ich hätte da gerne ein paar Antworten von dir“, sagte er. „Ich glaube nämlich, dass du mir in einem sehr wichtigen Fall weiterhelfen könntest. Fangen wir doch mal mit deinem Begleiter an, dem wir am Raumhafen begegnet sind. Was kannst du mir über ihn sagen?“
Nylla lümmelte auf ihrem Stuhl und verschränkte lässig die Arme. „Er heißt Gruth, ist 34 Jahre alt, männlich, seine Hobbys sind schwimmen, spazieren gehen und Leute erschießen.“
Kheilo ließ sich nicht anmerken, ob er Nyllas Antwort lustig fand oder sich über ihr respektloses Verhalten ärgerte. Er sprach einfach unbeirrt weiter: „Als erstes dachten wir, du wärst seine Komplizin. Deswegen waren wir auch sehr überrascht, als du ihn plötzlich angegriffen hast. Aber genau darauf hast du doch auch spekuliert, nicht wahr? Einen kurzen Moment der Irritation, um dich aus dem Staub machen zu können. Mehr hast du nicht gebraucht.“
Während er sprach, konnte man ihm richtig ansehen, dass er hier in seinem Element war, dass ihm dieses Verhör sogar Spaß machte. Gleichzeitig blieb er aber sehr aufmerksam und beobachtete genau jede einzelne von Nyllas Reaktionen. „Aber uns zu überraschen war nicht dein einziges Motiv, hab ich recht? Vielleicht nicht mal dein wichtigstes. Du wolltest nicht nur uns entkommen – sondern auch ihm! Na, was sagst du dazu?“
Für einen Moment schien Nylla etwas überrascht zu sein. Aber dann grinste sie Kheilo trotzig an. „Du ahnst ja nicht, wie aufdringlich dieser Kerl ist. Ich hab ihm tausendmal gesagt, dass ich nicht an ihm interessiert bin, aber er lässt nicht locker.“
„Ich nehme mal an, das heißt Ja.“ Kheilo lächelte selbstsicher. „Das dachte ich mir. Damit stellt sich ganz automatisch die Frage: Warum wolltest du von ihm wegkommen?“
„Ach, weißt du, wir passen nun mal nicht zusammen. Wir haben einfach nicht dieselben Interessen....“
„Ich denke, als wir auf euch beide trafen, warst du seine Gefangene. Er wollte dich gegen deinen Willen irgendwo hinbringen. Vielleicht sogar töten. Richtig?“
„Sag mal, wofür brauchst du mich eigentlich?“ fragte Nylla. „Wie es aussieht, beantwortest du alle Fragen, die du stellst, selber!“
Kheilo tippte sich nachdenklich ans Kinn. „Mal sehen, was kann ich mir noch über dich und diesen Gruth zusammenreimen? Erstens mal, dass ihr sicherlich denselben Hintergrund habt. Dieselbe gute körperliche Verfassung, aber auch dieselben Probleme mit der Hitze.... das dürfte kein Zufall sein. Und es sieht so aus, als würdet ihr euch recht gut kennen. Anscheinend weißt du sein genaues Alter, seine Hobbys....“
Nylla zuckte zusammen. Da hatte sie nur einen blöden Witz gemacht, um ihn zu ärgern – und selbst daraus hatte er nützliche Informationen gezogen. Verdammt, ich muss höllisch aufpassen, was ich dem sage....
„Wahrscheinlich seid ihr.... oder wart ihr.... so was wie Arbeitskollegen“, fuhr Kheilo fort. „Es kann also gut sein, dass du eine Menge darüber weißt, was Gruth gerade so im Schilde führt. Welchen Job – oder besser: welche Mission – er gerade verfolgt. Und möglicherweise....“
Kheilo brach mitten im Satz ab und sah Nylla eine Zeit lang nur forschend an.
„Möglicherweise.... was?“ fragte Nylla.
„Möglicherweise ist das sogar der Grund, warum er versucht hat, dich umzubringen!“
Nylla sagte nichts. Sie starrte Kheilo einfach nur an und versuchte irgendwas in seinem Blick zu erkennen, irgendeinen Hinweis darauf, was dahinter wirklich vor sich ging. Doch Kheilo erwiderte den Blick einfach nur freundlich und interessiert. Es kam Nylla so vor, als würde er in ihren Augen lesen wie in einem offenen Buch.
Es passierte Nylla nicht oft, dass sie die erste war, die nach einem Blickwechsel die Augen senken musste, aber dieses Mal war es so.
„Tja, wenn du meine Fragen auch mal beantworten würdest, müsste ich nicht versuchen, sie alle selbst zu beantworten“, bemerkte Kheilo. „Ich nehme einfach wieder Ja als Antwort, das hat bisher ganz gut funktioniert. Und damit sieht die Sache folgendermaßen aus: Du weißt, was hier vor sich geht! Du kennst Gruths Auftrag, was er plant, wo er herkommt.... du weißt, warum er ein Schiff der Kosmopol über unserer Stadt abgeschossen hat! Du bist der Schlüssel zu diesem ganzen verdammten Fall, Nylla! Dazu müsstest du mir einfach nur alles erzählen, was du weißt!“
Nylla sprang von ihrem Stuhl auf. Sie ging zu ihrem Bett hinüber und ließ sich darauf fallen.
„Soll ich mal ganz ehrlich sein?“ fragte sie. „Ich habe überhaupt keine Lust, dir irgendetwas zu erzählen. Was soll mir das bringen? Außer noch mehr Ärger? Ich habe in meinem ganzen Leben nur schlechte Erfahrungen mit Leuten wie dir gemacht. Ich sehe nicht den geringsten Grund, warum ich dir jetzt helfen soll. Mach was du willst, löse deinen dummen Fall oder nicht, es ist mir egal. Du kannst mich nicht ewig hier festhalten, irgendwann wirst du mich wieder frei lassen müssen.“
„Und dann?“ fragte Kheilo ruhig. „Wenn du wieder frei bist, was willst du dann tun? Gruth und seine Leute wollen dich vermutlich immer noch tot sehen. Im Moment bist du vor ihm sicher, aber sobald wir dich freilassen, ist er sofort wieder hinter dir her. Aber wenn wir ihn mit deiner Hilfe unschädlich machen, wirst du für immer vor ihm sicher sein. Ist das etwa nicht Grund genug uns zu helfen?“
Nylla zuckte mit den Achseln. „Mit Gruth werde ich schon fertig. Gestern bin ich ja auch lebend davongekommen. Es gibt keinen Grund, warum ich das nicht wieder schaffen sollte.“
„Aber wenn ich mich richtig an gestern erinnere, hatte Gruth dich voll unter seiner Kontrolle. Du konntest ihm nur entwischen, weil wir aufgetaucht sind. Und wahrscheinlich hätte er dich sogar wieder eingefangen, wäre Alsth ihm nicht zuvorgekommen....“
„Alsth?“ Nylla setzte sich auf. Plötzlich wirkte sie zum ersten Mal wirklich interessiert an diesem Gespräch. „Heißt so der Kerl, der mir am Raumhafen hinterhergerannt ist?“
„Das ist mein Kollege, richtig.“
„Alsth....“, murmelte Nylla. „Er ist nicht zufällig hier irgendwo in der Nähe?“
„Ich denke, er treibt sich drüben in der Polizeizentrale herum. Wieso?“
„Könnte er nicht einmal hier vorbeisehen, bevor ich wieder entlassen werde? Ich würde gerne mal mit ihm sprechen!“
Kheilo verkniff sich ein Schmunzeln. „Das hat nicht zufällig etwas damit zu tun, dass er dich abgeschossen hat?“
„Sagen wir einfach, ich habe noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen.“
„Wie wäre es damit: Du beantwortest noch ein paar meiner Fragen – dann bitte ich Alsth vielleicht, dir einen Besuch abzustatten.“
„Ich hab eine bessere Idee: Du schickst deinen Kollegen zuerst her, dann überleg ich es mir vielleicht, ob ich deine blöden Fragen beantworten will.“
Kheilo seufzte belustigt und erhob sich von seinem Stuhl. „Ich sehe schon, du bist ein harter Brocken. Vielleicht hat Alsth ja tatsächlich mehr Glück mit dir. Ich werde ihm gleich Bescheid geben, dass er eine neue Verabredung hat.“
Er trat auf die Tür zu, aber bevor er sie öffnete, drehte er sich noch einmal um. „Geh bitte dem Wachmann da draußen nicht allzu sehr auf die Nerven. Der wird vielleicht nicht so freundlich sein wie ich.“
„Versprechen kann ich nichts.“ Nylla legte sich wieder zurück auf ihr Bett und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Wenn es mir hier drinnen zu langweilig wird, muss ich vielleicht einen anderen Zeitvertreib finden. Also sorg besser dafür, dass dein Kollege sich beeilt.“
„Keine Sorge. Wenn ich Alsth erzähle, wie gerne du ihn kennenlernen möchtest, wird er es sicher gar nicht erwarten können herzukommen.“ Kheilo öffnete die Tür, trat nach draußen und schloss sie hinter sich.
„Ich kann es auch kaum erwarten....“, murmelte Nylla abwesend.
Vlorah saß in der Kantine der Polizeizentrale und war gerade mit einem Teller Krautwickel beschäftigt, als Alsth den Raum betrat und sofort auf sie zukam.
„Ah, Agent Vlorah“, sagte er, als er ihren Tisch in der hintersten Ecke der Kantine erreichte. „Da sind Sie ja!“
„Was Sie nicht sagen“, erwiderte Vlorah mit vollem Mund.
„Ich dachte mir, dass Sie es vielleicht wissen wollen: Joni, unsere freundliche Raumhafen-Sicherheitschefin, ist vorhin aufgewacht. Sie muss noch ein paar Tage im Krankenhaus bleiben, ist aber nicht mehr in Lebensgefahr.“
„Das ist eine erfreuliche Nachricht. Dieser Fall hat bereits genug Opfer gefordert. Und vor allem hatte Joni überhaupt nichts damit zu tun.“
„Sie sagen es....“ Alsth nickte. „Sie ist da einfach in die Schusslinie geraten, ohne zu wissen, worum es eigentlich geht. Das hätte tragisch ausgehen können....“ Alsth starrte eine Weile nachdenklich in die Luft. Dann zog er aber die Augenbrauen ein und blickte auf Vlorahs Mittagessen herunter. „Oh, wie ich sehe, testen Sie schon unsere Küche aus“, stellte er fest. „Und? Wo ist das Essen besser? In der Kosmopol-Zentrale auf Borla oder hier bei uns?“
Vlorah hielt in ihrer Kaubewegung inne und sah zu Alsth auf. „Fragen Sie mich das jetzt, weil es Sie ernsthaft interessiert?“
„Na ja, wenn Sie das so sagen....“, murmelte Alsth. Dann griff er kurzerhand nach dem zweiten Stuhl, der an Vlorahs Tisch stand, zog ihn zu sich und nahm Platz. „Es interessiert mich ungemein! Wenn unsere kleine Provinz-Kantine es mit dem edlen Kosmopol-Gourmettempel aufnehmen könnte, wäre ich schon ein bisschen stolz. Und unsere Köche sicher auch, wenn sie davon erfahren....“
Vlorah musste sich zusammenreißen, um nicht laut aufzustöhnen. Sie war noch nie eine Freundin belangloser Gespräche gewesen – und gerade jetzt hatte sie erst recht keinen Nerv dafür.
„Kommissar, abgesehen davon, dass es im Allgemeinen etwas schwierig ist, gleichzeitig zu essen und ein Gespräch zu führen, da man gewöhnlich beides mit demselben Teil des Körpers macht....“
„Okay, ich verstehe schon“, unterbrach Alsth sie. „Sie wollen es nicht sagen, aber es war ja eigentlich klar. Bei der Kosmopol ist man eben Besseres gewohnt. Besseres als so einen bescheidenen....“ Er blickte prüfend auf Vlorahs Teller hinunter, „.... Teller mit Krautwickeln. Sie können es ruhig zugeben, ich werde schon damit fertig....“ Er schniefte einmal kurz.
Vlorah versuchte ihre Möglichkeiten abzuwägen, wie sie Alsth wohl am schnellsten wieder loswerden würde, dann legte sie innerlich seufzend ihre Gabel hin und verschränkte die Hände vor ihrem Teller. „Also gut, ich gebe Ihnen einen kleinen Überblick über meine Gedanken zu diesem Essen. Sind Sie dann zufrieden? Und vor allem: Lassen Sie mich dann in Ruhe?“
Alsth gab keine Antwort, sondern blickte sie nur gespannt an.
„Also: Grundsätzlich ist Kantinenessen sicherlich nirgendwo qualitativ überdurchschnittlich hochwertig. Weder bei uns auf Borla noch hier auf Anbis 2. Da bin ich mir relativ sicher, obwohl ich hier noch nicht viel probiert habe. Aber ich habe auch nichts anderes erwartet.“
„Also ist Borla nicht besser?“ hakte Alsth nach.
„Sicherlich nicht. Ich vermute, dass die Qualität des Kantinenessens weder vom Herkunftsort noch vom Dienstgrad der Besucher abhängig ist. Es lohnt sich in den meisten Fällen nicht einmal, den Geschmack dieser Gerichte zu beurteilen. Oft sind Wörter wie Geschmack oder Gericht bereits viel zu schmeichelhaft für das, was einem dort serviert wird. Aber das ist in Ordnung. Ich besuche eine Kantine nicht, weil ich dort ein besonderes kulinarisches Erlebnis erwarte.“
Alsth musste kurz lachen. „Das ist aber ein ganz schön hartes Urteil. Und trotzdem sitzen Sie hier und stopfen dieses Zeug in sich rein. Sie müssen wohl ziemlich verzweifelt sein, wenn Sie sich das freiwillig antun....“
„So kann man das nicht sagen. Ich habe nämlich bereits auf Borla festgestellt, dass Krautwickel zu den wenigen Gerichten gehören, die in einer Kantine einigermaßen genießbar sind. Und soll ich Ihnen sagen warum?“
Alsth zuckte mit den Achseln. „Da bin ich aber jetzt gespannt.“
„Normalerweise wird Essen umso mieser, je öfter es aufgewärmt wird und je älter es ist. Das ist wohl einer der Hauptgründe, warum Kantinenessen keinen guten Ruf hat. Bei Krautwickeln ist das seltsamerweise genau umgekehrt. Fragen Sie mich nicht warum. Aber diese Beobachtung habe ich bereits bei vielen Gelegenheiten auf zahlreichen Planeten gemacht. Krautwickel werden mit zunehmenden Abnutzungserscheinungen immer besser, das scheint ein Naturgesetz zu sein.“
„Wow, jetzt bin ich wirklich sprachlos!“ bemerkte Alsth amüsiert.
„Das freut mich zu hören.“ Vlorah nahm ihre Gabel wieder zur Hand. „Ich kann also davon ausgehen, dass dieses Gespräch beendet ist, wenn Sie nicht mehr in der Lage sind zu sprechen?“
„Wollen Sie mich etwa loswerden?“
„Nun....“
„Schon gut, ich verdrück mich ja gleich wieder. Eigentlich wollte ich Sie aber wegen etwas ganz anderem sprechen.... Um ehrlich zu sein, ich mag überhaupt keine Krautwickel.“
Für einen Moment fragte Vlorah sich ernsthaft, wie Alsth wohl aussehen würde, wenn sein Gesicht mit Kraut und Hackfleisch vollgeschmiert wäre. Glücklicherweise besaß sie noch genug Willenskraft, um ihrem Forscherdrang nicht auf der Stelle nachzugeben.
„Wissen Sie, Kheilo und ich haben.... geredet. Über die gestrigen.... Geschehnisse am Raumhafen. Ich hab ihm von meiner kleinen Verfolgungsjagd erzählt – und er mir diese ganze Shuttle-Geschichte.... Und damit meine ich wirklich die ganze Geschichte, Kheilo ist nämlich ein leidenschaftlicher Geschichtenerzähler....“
„Kommissar, wenn wir das vielleicht nach Möglichkeit beschleunigen könnten....“
„Ja, schon gut. Auf jeden Fall.... sind wir beide übereinstimmend zu dem Schluss gekommen – dass das alles total verrückt war! Ich meine.... Ein riesiger Kerl, der beinahe immun gegen eine Betäubungswaffe ist! Eine junge Frau, die sich stundenlang über ein kochend heißes Landefeld schleppen kann und dabei auch noch die Energie aufbringt, mehrere ausgebildete Secus auszuschalten! Und dann diese Komplizinnen von dem Kerl, die wohl.... nichts für ungut.... Sie und Kheilo ganz schön verarscht haben....“
„Ich würde es nicht unbedingt so formulieren....“, warf Vlorah ein.
„Zumindest fragen Kheilo und ich uns jetzt ernsthaft, wer diese Leute eigentlich sind – und wo sie herkommen. Jedenfalls nicht von Anbis 2, so viel steht fest. Wahrscheinlich werden wir das schon irgendwann herausfinden. Nach der Pause soll ich mal mit unserer gefangenen jungen Frau sprechen – Kheilo meint, ich könnte sie vielleicht überreden uns zu helfen.“
Da Vlorah nichts erwiderte, sondern schon wieder zu essen begonnen hatte, sprach Alsth einfach weiter: „Aber irgendwie finden wir das auch wieder blödsinnig – weil wir den starken Verdacht haben, dass Sie das alles längst wissen. Ich meine, Sie sitzen hier und stopfen seelenruhig Ihre Krautwickel in sich rein, obwohl Sie uns genauso gut in unserem Fall weiterbringen könnten. Sie müssten uns doch nur sagen, was Sie wissen, oder nicht?“
„Kommissar, ich denke, darüber haben wir doch bereits ausführlich diskutiert. Ich darf nun einmal keine Informationen weitergeben, wenn es die Sicherheit von laufenden Kosmopol-Ermittlungen gefährden könnte. Die Kosmopol-Direktion war in diesem Punkt unmissverständlich und vertraut darauf, dass ich mich genauestens an meine Geheimhaltungs-Vorschriften halte. Was denken Sie, warum ich für diesen Fall ausgewählt wurde? Sicherlich nicht, weil ich die Agentin mit dem lockersten Mundwerk von ganz Borla bin!“
Alsth grinste. „Ich sehe schon: Wenn es um dieses Thema geht, sind Sie sofort wieder höchst gesprächig! Kosmopol-Geheimnisse und Krautwickel sind anscheinend Ihre Lieblings-Gesprächsthemen!“
„Also, jetzt werden Sie aber unsachlich....“
„Agent....“ Alsth schien nach Worten zu suchen. Vlorah fragte sich mit ungutem Gefühl, was er jetzt wieder vorhatte. „Bitte.... nur einen klitzekleinen Tipp!“ flötete er dann.
Vlorah blickte Alsth an. Sein Gesichtsausdruck hatte nun starke Ähnlichkeiten mit dem eines bettelnden Hundes. Sie hatte keine Ahnung, ob sie darauf nun verärgert, belustigt oder mitleidig reagieren sollte. Deswegen entschied sie sich kurzerhand für die Reaktion, die ihr am einfachsten fiel: Für gar keine.
„Sie sind aber ganz schön zäh“, stellte Alsth fest. „Na gut, wie wäre es dann mit einer anderen Idee? Ich erzähle Ihnen meine eigene Theorie und Sie sagen mir, ob ich recht habe. Einverstanden?“
Vlorah atmete einmal ganz tief durch. „Wenn es denn sein muss....“
„Gut! Also....“ Alsth grinste und sah Vlorah erwartungsvoll an. Dann verkündete er: „Es sind Mutanten!“
Beinahe hätte Vlorah sich an ihrem Bissen verschluckt. „Wie bitte?“
Alsth schien so begeistert von seiner Idee, dass er Vlorahs Reaktion gar nicht wahrnahm. „Ich glaube, diese Leute stammen aus einem geheimen Genlabor, in dem ein verrückter Wissenschaftler seine eigene Privatarmee gezüchtet hat. Die Kosmopol ist ihm irgendwie auf die Spur gekommen, aber bevor sie die dunklen Machenschaften des Wissenschaftlers enttarnen konnte, hat er ihr Raumschiff enttarnt. Er hat seine Armee von genmanipulierten Kampfmaschinen losgeschickt, die das Schiff über unserer Stadt abgeschossen haben. Und dann sollten sie noch die letzten Spuren beseitigen, hier in Anbis City.“
„Kommissar, also, das ist doch völliger....“
„Nein, überlegen Sie mal: Da haben wir den großen Kerl, dessen Kraft und Selbstbeherrschung genetisch aufgemotzt wurde, dann das flinke Mädchen, bei der die Schnelligkeit und das Durchhaltevermögen gesteigert wurde. Und dann noch die Frau mit dem frisierten Verstand, ganz zu schweigen von ihrer Mords-Figur....“
„Okay, das reicht jetzt!“
„Aber ich bin noch gar nicht....“
„Das ist egal! Sie wollten wissen, ob Sie mit Ihrer Theorie recht haben. Das haben Sie nicht! Es gibt weder einen verrückten Wissenschaftler noch ein geheimes Genlabor noch eine Armee Kampfmaschinen in diesem System und erst recht hat damit die Kosmopol nichts zu tun! Und jetzt will ich von diesem Unsinn nichts mehr hören!“
Plötzlich war es so still in der Kantine, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Erst jetzt wurde Vlorah bewusst, dass sie wohl etwas lauter gesprochen hatte als beabsichtigt. Sie versuchte ihren Kopf einzuziehen und beiläufig weiter zu kauen, als wäre nichts passiert. Zu ihrer großen Erleichterung wandten sich die Augenpaare im Raum dann recht schnell wieder von ihr ab.
„Hey, kein Grund so auszurasten“, murrte Alsth leicht eingeschnappt. „Das war doch nur Spaß.“
Vlorah wollte ihm schon eine bissige Erwiderung zuwerfen, hielt sich aber im letzten Augenblick davon ab. Stattdessen gönnte sie sich einen kurzen Moment sich wieder zu beruhigen.
„Wissen Sie, was gerade in diesen Minuten in der Kosmopol-Zentrale auf Borla stattfindet?“ fragte sie dann ruhig. „Eine Gedenkfeier für die beiden getöteten Agenten. Sicherlich wird so ziemlich die gesamte Belegschaft teilnehmen. Nur ich kann leider nicht teilnehmen, obwohl ich beide Agenten sehr gut kannte und schätzte. Weil ich hier auf diesem Planeten festsitze und versuche, ihren Tod aufzuklären. Sehen Sie es mir also bitte nach, wenn ich gerade überhaupt nicht in der Stimmung für Ihre.... Späße bin!“
„Oh....“, war das einzige, das Alsth darauf erwidern konnte. Es war offensichtlich, dass ihm die ganze Angelegenheit nun ziemlich unangenehm war.
„Und jetzt wäre es mir wirklich recht, wenn ich diese Mahlzeit hier in Ruhe alleine beenden könnte“, fügte Vlorah noch seufzend hinzu.
Sofort sprang Alsth auf. „Äh.... ja.... natürlich.“ Er wollte den Stuhl noch zurechtrücken, überlegte es sich dann aber anders. „Tut mir leid. Also dann.... äh.... bis später.“ Er drehte sich um und trabte eilig davon.
Vlorah lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, erleichtert, aber auch etwas reuevoll. Sie hatte den jungen Kollegen nicht so zusammenstauchen wollen, aber er hatte auch wirklich mit ihrer Geduld gespielt und dann war es einfach aus ihr ausgebrochen.
Dann blickte sie widerwillig auf ihren Teller hinunter. Aus irgendeinem Grund hatte sie plötzlich überhaupt keinen Hunger mehr.
Gruth durchpflügte das kühle Wasser wie eine Naturgewalt. Er kämpfte sich mit vollem Körpereinsatz gegen die Strömung und ließ dabei jeden Muskel am Rand seiner Leistungsfähigkeit arbeiten.
Der kleine Pool im Fitnessbereich der Raumstation wirkte von der Größe her nicht unbedingt geeignet dafür, längere Schwimmübungen durchzuführen. Eigentlich bot er gerade mal Platz für eine Person. Der Pool hatte aber ein intelligentes Zirkulationssystem, das dem Wasser eine starke Strömung gab. Die Strömungsgeschwindigkeit wurde dabei ständig automatisch so angepasst, dass der Schwimmer immer an derselben Stelle blieb, selbst wenn er noch so schnell schwamm.
Gruth war noch nie so dankbar über diese Installation gewesen wie jetzt. Es war die perfekte Möglichkeit, sich mal so richtig austoben und erfrischen zu können. Und gerade heute hatte er das bitter nötig!
Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals so nervös gewesen zu sein wie vorhin bei seiner Unterredung mit dem Boss. Er war jetzt schon viele Jahre Torx‘ Leibwächter und hatte ihn noch nie zuvor angelogen, noch nie Geheimnisse vor ihm gehabt. Es war ein Gefühl, das er am liebsten sofort wieder loswerden wollte. Sein Körper hatte immer noch regelrecht gekocht, als er vorhin ins Becken gestiegen war. Und Gruth wusste, dass das Wasser ihm nur vorrübergehend Linderung verschaffen konnte.
Das miese Gefühl würde erst wieder verschwinden, wenn er seinen Fehler korrigiert hatte. Doch wie sollte er Nylla nun wiederfinden? Auf Torx‘ gut ausgebautes Informationsnetzwerk konnte er nicht zurückgreifen, denn dann würde sein Boss unweigerlich Wind davon bekommen. Und persönlich nach Anbis City zurückkehren, um Nylla zu suchen, war auch extrem riskant. Gruth wusste, dass er dort von drei verschiedenen Sicherheitseinrichtungen gesucht wurde.
Oft half körperliche Anstrengung ihm beim Denken, doch heute schien auch das nicht zu fruchten. Irgendwann stieg er dann wieder aus dem Pool. Er wusste nicht genau, wie lange er im Wasser gewesen war, aber das Messgerät am Zirkulationscomputer zeigte 3,8 Kilometer an.
Zumindest fühlte Gruth sich zwar erschöpft, aber doch wesentlich besser. Er verschwendete nicht viel Zeit mit Abtrocknen, sondern schlüpfte halb nass in seine Klamotten zurück. Er würde ohnehin in seinem Quartier noch einmal duschen und die Kleidung wechseln müssen. Dann verließ er den Fitnessbereich und marschierte durch den Gang in Richtung Lift.
Auf dem halben Weg kam ihm Chet entgegen. Sie trug einen leichten, blauen Trainingsanzug und ein Handtuch über der Schulter und hatte ihre Haare ausnahmsweise zusammengebunden. Es war offensichtlich, dass sie gerade dorthin unterwegs war, woher er kam. Als sie aber an Gruth vorbei kam, änderte sie offenbar ihre Meinung, drehte sich um und lief ihm hinterher.
„Hey, Großer!“ rief sie. „Warte mal!“
Gruth blieb aber nicht stehen, sondern stapfte weiterhin auf den Lift zu.
„Ach, lass mich in Ruhe, Chet“, brummte er gerade so laut, dass sie es hinter ihm verstehen konnte.
„Jetzt bleib doch mal kurz stehen, damit wir ein bisschen reden können!“
Doch genau darauf hatte Gruth gerade wirklich überhaupt keine Lust. Er setzte seinen Marsch wortlos fort in der Hoffnung, dass Chet aufgeben und ihren alten Weg wieder aufnehmen würde. Diesen Gefallen tat sie ihm jedoch nicht.
„Bist du jetzt wieder zu der alten Verschlossenheit zurückgekehrt?“ fragte Chet, während sie versuchte, ihn einzuholen. „Dabei warst du doch die ganze Zeit in Anbis City recht gesprächig. Das heißt, für deine Verhältnisse.“
Gruth erreichte den Lift, drückte den Rufknopf und musste nun einen Moment warten. Das gab Chet dummerweise die Gelegenheit, zu ihm aufzuschließen.
„Ich möchte doch nur wissen, wie dein Gespräch mit Torx gelaufen ist!“ erklärte Chet beschwichtigend. „Aber wenn ich deine Stimmung so sehe, kann ich es mir wohl schon denken. War der Boss so sauer?“
„Eigentlich nicht....“
„Nicht? Das kann ich mir kaum vorstellen. Was hält er denn davon, dass Nylla uns entwischt ist?“
„Keine Ahnung.“ Gruth starrte auf die Anzeige über dem Lift, die ihm verriet, dass die Kabine gleich eintreffen würde.
„Wie, keine Ahnung? Warst du nicht dabei, als du es ihm erzählt hast, oder was?“ Chet zog eine verwirrte Grimasse. „Hast du es ihm überhaupt erzählt?“
Gruth blickte ihr trotzig ins Gesicht und schwieg sie weiter an.
Chet machte große Augen. „Nein“, sagte sie verblüfft. „Hast du nicht.“
Endlich öffneten sich die Lifttüren und Gruth trat schnell und dankbar ein. Er betätigte den Schalter für die 3. Etage, wo sein Quartier war.
Chet blieb draußen stehen und Gruth sah aus den Augenwinkeln ihren forschenden Blick. Kurz bevor sich die Lifttüren schlossen, fasste sie aber einen kurzen Entschluss und sprang im letzten Moment zu Gruth in die Kabine. Dieser unterdrückte ein lautes Aufstöhnen.
„Okay“, sagte sie langsam und bestimmt. „Ganz offensichtlich hast du jetzt ein Problem. Und genau so offensichtlich willst du es ganz alleine lösen. Wie du es immer tust. Nichts für ungut, Großer, aber irgendwie glaube ich, dass dir das diesmal nicht gelingen wird.“
„Chet....“
„Ich weiß nicht genau, was gerade in deinem Dickschädel vorgeht. Aber irgendwie dachte ich, dass unser gemeinsamer Ausflug nach Anbis City uns ein bisschen zusammengeschweißt hätte. Deswegen bin ich nicht einverstanden damit, dass du mich jetzt wie Luft behandelst. Irgendetwas läuft hier doch schon die ganze Zeit total schief, mit dir und Nylla, mit dir und Torx – und ich will endlich haargenau wissen, was hier vor sich geht!“
Gruth sagte kein Wort und starrte nur stur auf die geschlossene Lifttür. Chet erkannte offenbar, dass sie so nicht weiterkam, und versuchte es mit einem sanfteren Tonfall: „Pass auf, folgendes Angebot: Wir suchen uns ein ruhiges Plätzchen und du erzählst mir alles, was dich bedrückt. Vielleicht können wir uns dann gemeinsam überlegen, wie wir das alles wieder glatt bügeln können. Wir arbeiten doch jetzt schon eine ganze Weile zusammen, langsam sollten wir einander doch vertrauen können.“
In diesem Moment hielt der Lift an und die Türen gingen auf. Gruth blickte Chet noch eine Sekunde ausdruckslos an und trat dann nach draußen in den Gang.
„Du bist doch so ein verdammt sturer Bock!“ fauchte Chet und folgte ihm hastig.
Die Verfolgung setzte sich nun auf der 3. Etage fort, bis Gruth sein Quartier erreicht hatte.
„Wenn du nicht willst, dass ich dir auch noch aufs Klo folge, dann gibst du mir jetzt gefälligst eine Antwort!“ rief Chet ihm zu, während sie die letzten Meter zu ihm aufschloss.
Gruth seufzte innerlich und blickte Chet an, die vor ihm stehen blieb und ihn mit einem strengen Blick behaftete. Sie meinte es ja gut. Und irgendwie wünschte sich ein Teil von ihm, ihr Angebot anzunehmen und sich all den Ärger von der Seele zu reden. Er kannte Chet jetzt wirklich schon länger und wenn sie ihre seltenen ernsten Momente hatte, konnte sie eine unheimlich einfühlsame und einfallsreiche Person sein. Wenn ihm jetzt jemand helfen konnte, dann wahrscheinlich sie.
Aber trotzdem. Irgendetwas hielt ihn zurück. Er war nun mal einfach niemand, der seine Probleme anderen Leuten aufhalste. Dabei fühlte er sich einfach nicht wohl. Gruth hatte schon immer dann am besten funktioniert, wenn er auf eigene Faust arbeiten, seine Aufgaben selbständig und ohne fremde Hilfe lösen konnte. So war er einfach.
Nein, gerade Chet wollte er in diesen ganzen Schlamassel wirklich nicht hineinziehen. Sie hatte sicherlich genug eigene Sorgen, wie wahrscheinlich jeder hier auf dieser verdammten Station. Und er wollte ihr nicht auch noch seine eigenen aufhalsen. Das hatte sie nicht verdient.
Trotzdem wollte er ihr Angebot nicht einfach nur rüde abweisen, sondern ihr irgendwie mitteilen, dass er die Geste durchaus zu schätzen wusste. Er überlegte kurz und sagte dann: „Danke.“ Ein einfaches Wort, das Chet auf zwei Weisen verstehen konnte.
Chet nickte einmal kurz und ein leichtes Lächeln erschien in ihren Mundwinkeln, das Gruth verriet, dass sie verstanden hatte. Dann trat er in sein Quartier hinein.
Die Tür schloss sich hinter ihm. Gruth lehnte sich mit dem Rücken dagegen und starrte in die Luft. So blieb er erst einmal eine ganze Weile stehen.
Nylla lag immer noch dösend auf dem Bett in ihrer neuen Unterkunft, als jemand draußen an die Tür klopfte.
„Warten Sie einen Moment!“ rief sie als Antwort, während sie sich aufsetzte. „Ich bin in der Badewanne!“
Daraufhin ging die Tür auf und jemand kam herein. Nylla erkannte ihn sofort wieder.... glaubte sie zumindest. War das der Kerl vom Raumhafen oder war er es nicht? Irgendwie sah er so aus wie jeder zweite Typ, dem man auf der Straße begegnete.
„Hallo, Nylla!“ grüßte er und lächelte sie freundlich an. „Mein Kollege sagte mir, dass das dein Name ist.“
Doch, kein Zweifel, das war er. Diesen gewitzten Unterton in der Stimme erkannte sie von ihrem kurzen Gespräch auf dem Raumhafen-Landefeld wieder.
„Dann bist du Alsth“, stellte Nylla fest und warf einen forschenden Blick in seine Richtung. Er war vielleicht Mitte Zwanzig, hatte kurz geschorenes, dunkelblondes Haar und nicht weiter auffällige Gesichtszüge. Er war durchschnittlich groß und breit, wirkte aber immerhin relativ durchtrainiert, was Nylla schon mal recht gut gefiel.
Aber nur ein ganz kleines bisschen, fügte sie ihren Gedanken schnell hinzu. Eigentlich so gut wie gar nicht.
„Du hast es erfasst. Ich bin der Verrückte vom Raumhafen, mit dem du noch ein Hühnchen zu rupfen hast. So etwas Ähnliches hast du doch zu Kheilo gesagt, oder?“
Fast hätte Nylla über diese Formulierung gelacht, hielt sich aber gerade noch zurück. Sie wollte diesem Cop wirklich nicht das Gefühl geben, er wäre irgendwie witzig.
„Schuldig“, gab sie leichtherzig zu. “Dein Kollege ist eine alte Petze.“
„Na gut, ich weiß nicht, ob es auf Anbis 2 irgendwo lebende Hühner gibt, aber ich denke, das hat Zeit. Zuerst würden wir gerne ein bisschen mehr über dich erfahren.“ Alsth vollführte eine einladende Geste. „Komm mit, wir wechseln das Zimmer, damit wir uns besser unterhalten können. Kheilo und eine Agentin von der Kosmopol werden dann noch dazu stoßen. Aber wir können ja schon mal zu zweit anfangen und das mit dem Hühnchen klären.“
Nylla sprang auf und trat energisch auf Alsth zu. „Okay, aber zuerst muss ich dir sagen, dass ich sehr, sehr sauer auf dich bin!“ erklärte sie mit gespielter Strenge. „Du hast mich einfach abgeschossen! Das hat schon seit Ewigkeiten niemand mehr gewagt! Ich kann da unheimlich nachtragend sein, musst du wissen.“
„Tja....“ Alsth zuckte bedauernd mit den Achseln. „Immer verderbe ich es mir von Anfang an mit allen Gangstern, die ich einbuchte. Das ist wirklich ärgerlich.“
Jetzt konnte Nylla nicht mehr verhindern, das ihr ein kurzes Kichern entwich. Schnell versuchte sie es zu unterdrücken und das zu retten, was noch von ihrer strengen, herausfordernden Fassade übrig war.
„Also, kommst du jetzt?“ fragte Alsth. „Ich dachte, du wärst froh, eine Weile aus diesem öden Loch rauszukommen.“
Doch Nylla verschränkte nur die Arme. „Ich mache keinen Schritt, bevor du dich nicht bei mir entschuldigt hast! Wegen dir sitze ich überhaupt erst in diesem öden Loch! Wie willst du das wieder gut machen?“
Alsth grinste. Das fand Nylla ein bisschen ärgerlich. Egal, was sie sagte, und wenn es noch so respektlos war, es schien ihm irgendwie zu gefallen. Das passte ihr überhaupt nicht!
„Ehrlich gesagt habe ich mir darüber noch gar keine Gedanken gemacht“, erwiderte Alsth. „Hättest du vielleicht einen Vorschlag?“
Nylla beschloss, noch einen Schritt weiter zu gehen „Es muss ja nichts Besonderes sein. Es würde mir völlig ausreichen, dich ordentlich zu verprügeln“, bemerkte sie ruhig.
„Verstehe....“ Alsth wirkte nachdenklich. „Und danach würdest du dich besser fühlen?“
„Zweifellos!“ antwortete Nylla sofort.
„Okay.... dann tu dir keinen Zwang an.“
Nylla starrte ihn an.
Alsth grinste nur und erwiderte ihren Blick lässig.
„Was hast du gerade gesagt?“ fragte Nylla.
„Na los, schlag zu!“ Alsth machte eine herausfordernde Geste. „Ich werde mich auch nicht wehren – es sei denn, du willst es. Aber das ist ein Angebot, das bald ausläuft – also entscheide dich schnell.“
„Was willst du damit beweisen? Glaubst du, ich trau mich nicht, einen Polizisten zu schlagen? Wenn du dich da nicht mal mächtig täuschst.“ Währenddessen nahm Nylla Angriffsstellung ein und hob die Fäuste.
Alsth verschränkte die Hände hinter dem Rücken. „Das werden wir ja gleich sehen. Na los, zeig mir, was du drauf hast.“
Nylla schlug zu.
Alsth rührte sich keinen Millimeter. Erst als Nyllas Faust auf seine Brust traf, taumelte er ein Stück zurück und keuchte gepresst auf.
„Wow, du hast dich wirklich nicht gewehrt!“ stellte sie spöttisch fest. „Mann, das ist ja fast wie Weihnachten! Ein Cop, der sich einfach so verprügeln lässt.“
„Wenn du es so toll findest, warum schlägst du dann nicht richtig zu? Ich weiß genau, dass du dich zurückgehalten hast!“
Mist, er hat es gemerkt, dachte Nylla. Irgendwie lief das hier überhaupt nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte.
„Na los, eine Chance geb ich dir noch. Aber halt dich diesmal nicht zurück. Ich halte das schon aus, keine Sorge.“
Für eine Weile standen sie sich nur gegenüber, Nylla mit erhobenen Fäusten und verbissenem Gesichtsausdruck, Alsth mit einladender Körperhaltung und herausforderndem Lächeln.
Dann seufzte Nylla und ließ ihre Arme fallen. „Na los, gehen wir. Deine Kollegen warten sicher schon auf uns.“ Sie wandte schnell ihren Blick ab, marschierte schnurstracks an ihm vorbei und aus dem Zimmer hinaus.
So wie Nylla das verstanden hatte, war dieses Gebäude kein Gefängnis, sondern ein Nebengebäude der Polizeizentrale, in dem sich ein Sicherheitsbereich mit Verwahrungsräumen befand. Die langen Gänge, durch die Alsth sie führte, machten einen unheimlich sterilen Eindruck auf Nylla, fast wie ein Krankenhaus. Die kargen, weißen Wände und grauen Türen und die taghellen Leuchtröhren an der Decke, die alles in ein ziemlich kaltes, grelles Licht tauchten, sorgten nicht gerade für eine gemütliche Stimmung. Dazu passte die vorherrschende Stille, in der jedes Geräusch, das sie beim Laufen machten, stark widerhallte.
„Bei der nächsten Abzweigung geht es nach rechts, dann sind wir schon fast da“, sagte Alsth.
Nylla stapfte um die Gangbiegung und achtete sorgsam darauf, dass Alsth sie nicht einholte. Sie hatten nicht mehr gesprochen, seit sie den Verwahrungsraum verlassen hatten, und Nylla ersparte es sich, Alsth anzuschauen und seinen schadenfreudigen Gesichtsausdruck zu sehen – denn den konnte sie sich auch so gut vorstellen. Und eigentlich sollte sie sich gerade furchtbar darüber ärgern, dass sie vorhin so aufgelaufen war....
.... aber aus irgendeinem Grund musste sie sich die ganze Zeit ein breites Grinsen verkneifen. Dieser Alsth war vielleicht der lästigste und nervtötendste Gesetzeshüter, dem sie bisher begegnet war, und er war schuld, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben eine Gefangene war, und eigentlich sollte sie ihn überhaupt nicht ausstehen können. Aber stattdessen....
Es war einfach zu blöd, sie fand ihn richtig sympathisch. Das war wahrscheinlich das nervigste an dieser ganzen Situation: Ein Bulle, der so ungeheuer sympathisch war. So etwas passte Nylla überhaupt nicht in den Kram!
Schließlich betraten sie einen Raum, der abgesehen von einem Tisch in der Mitte mit vier Stühlen vollkommen leer war – anscheinend ein Verhörraum. Alsths Kollegen, von denen er gesprochen hatte, waren auch noch nicht da.
„Fangen wir schon mal alleine an“, entschied Alsth. Er deutete auf einen Stuhl, auf dem Nylla Platz nahm, und setzte sich dann selbst auf den Stuhl gegenüber.
„Also gut, machen wir es kurz, oder?“ begann er. „Du erzählst mir jetzt einfach alles, was du weißt. Schließlich gibt es überhaupt keinen Grund, der dagegen spricht, und nur Gründe dafür. Und du bist ja nicht dämlich – da bin ich mir ziemlich sicher.“
Nylla knurrte grimmig. „Ach ja? Und was für Gründe sollten das sein? Warum sollte ich wohl einem Haufen Bullen bei ihrer Arbeit helfen?“
Alsth zuckte mit den Achseln. „Soll ich sie nochmal für dich zusammenfassen?“ Er hob eine Hand und zählte seine Finger ab: „Erstens wären wir dann viel wohlwollender bei der Entscheidung, was wir mit dir machen. Zweitens können wir dich vor deinem massiven Kumpanen beschützen. Drittens könntest du mir, meinen Kollegen und der gesamten Bevölkerung von Anbis City damit einen großen Gefallen tun. Und viertens: Dann haben wir es hinter uns und können uns in Ruhe um unser Hühnchen kümmern.... obwohl ich noch nie so ein Vieh in der Hand hatte und nicht so recht weiß, wie man es rupft....“
Nylla rollte mit den Augen. „Mein Gott. Du hast aber auch wirklich deinen Spaß daran, ewig auf dieser Formulierung herumzureiten, kann das sein?“
„Wie wäre es mit einer Antwort auf meine Frage?“
„Du hast überhaupt keine Frage gestellt, soweit ich mich erinnern kann.“
„Erzählst du mir, was es mit diesem Gruth und seinen Leuten auf sich hat oder nicht?“
„Nö.“ Nylla schob ihren Stuhl zurück und blickte desinteressiert zu Boden, so als wäre das Gespräch beendet.
„Nein? Gar nichts?“ Alsth klang richtig enttäuscht, fast schon weinerlich. Nylla war sich aber ziemlich sicher, dass er ihr da gerade etwas vorzuspielen versuchte. Nun, das würde aber nicht funktionieren. An ihr hatten sich schon ganz andere Typen die Zähne ausgebissen.
Sie sah auf und wollte ihm schon mit einem trotzigen Kommentar antworten – doch plötzlich versagte ihr die Stimme.
„Bitte, Nylla“, bettelte er. Und er hatte wirklich einen äußerst wirkungsvollen Hundeblick drauf, das musste man ihm lassen. Seine ausdrucksstarken blauen Augen waren ihr vorhin gar nicht aufgefallen, als sie ihn schon als absoluten Durchschnittstyp abgestempelt hatte, aber jetzt hatte sein Blick ihr glatt die Sprache verschlagen. Das war ihr ja noch nie passiert. Was zum Teufel ist gerade mit mir los?
„Wenigstens einen kleinen Tipp, eine winzige Andeutung!“ fuhr er fort. „Du würdest mir damit einen riesigen Gefallen....“
Plötzlich stockte er. Und dann brach er völlig ohne Vorwarnung in lautes Gelächter aus.
Nylla sah ihn verwundert an. „Was ist denn auf einmal so witzig? Lachst du mich gerade aus?“
„Ach.... es ist nur....“, brachte Alsth hervor, während er sich noch von dem Lachanfall zu erholen versuchte. „Mir ist gerade klar geworden, warum mir diese Situation so bekannt vorkommt: Weil es heute nicht das erste Mal ist, dass ich eine Frau um Informationen anbettele und dabei total auf Granit stoße. Es ist doch zum Verrücktwerden! Ich bin mir so sicher, dass dieser Fall schon halb gelöst wäre, wenn nur eine von euch beiden den Mund aufmachen würde!“
Nylla verzog ihre Mundwinkel. „Das ist ein wirklich tragisches Schicksal und ich fühle mit dir“, erklärte sie spöttisch.
„Aber erzählen willst du mir trotzdem nichts?“
„Nicht in meinen kühnsten Träumen.“
Alsth knurrte belustigt. „Verrätst du mir wenigstens, ob es irgendwas mit einem verrückten Wissenschaftler, einem geheimen Genlabor oder einer Armee von Kampfmaschinen zu tun hat?“
Nylla starrte ihn entgeistert an. „Bitte, was?“
Alsth wollte schon etwas hinzufügen, aber in diesem Moment ging die Tür des Verhörzimmers auf. Alsths Kollege Kheilo kam herein. Bei ihm war eine rothaarige Frau, die einen sehr steifen und strengen Eindruck machte und insgesamt wie eine Bilderbuch-Bürokratin aussah.
Das musste die Kosmopol-Agentin sein, die Alsth erwähnt hatte. Nylla war sofort klar, dass sie diese Frau überhaupt nicht würde ausstehen können.
„Hallo, Nylla“, grüßte Kheilo freundlich, während die beiden die freien Stühle besetzten. „Das ist Agent Vlorah von der Kosmopol.“
Nylla sah die Agentin abschätzig an und bekam von ihr einen kühlen Blick zurück. „Haben Sie bereits irgendwelche Fortschritte erzielt?“ Vlorahs Frage war offensichtlich an Alsth gerichtet, auch wenn sie Nylla nicht aus den Augen ließ.
„Nicht.... wirklich“, erwiderte Alsth und verkniff sich ein Grinsen. „Wir haben uns die ganze Zeit nur über Krautwickel unterhalten.“
Wenn Vlorah diese Bemerkung hätte lustig finden sollen, dann war Alsths Bemühung gescheitert. Vlorah verzog keinen Gesichtsmuskel, sondern musterte weiterhin nur Nylla. „Dann würde ich vorschlagen, wir verlieren keine Zeit mehr, sondern machen endlich ernst“, sagte sie trocken. „Was denken Sie?“
Nylla dachte, dass wohl niemand geeigneter dazu wäre, ernst zu machen, als diese Frau. „Macht es irgendeinen Unterschied, was ich denke?“ fragte sie ruhig.
„Ehrlich gesagt, nein“, erwiderte Vlorah. „Im Gegensatz zu meinen beiden Kollegen weiß ich nämlich bereits eine Menge über Sie. Ich weiß, wo Sie herkommen, womit Sie bisher Ihren Lebensunterhalt verdient haben und wie man mit Menschen Ihres Schlags umgehen muss, wenn man etwas erreichen will. Sie werden also relativ schnell merken, dass Ihre bisherigen Spielchen bei mir nicht funktionieren werden.“
Nylla versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass Vlorahs direkte Worte sie durchaus ein bisschen beunruhigten. Stattdessen zuckte sie nur gelassen mit den Achseln. „Wir können es ja mal drauf ankommen lassen. Ich glaube nämlich, Sie wissen gar nichts über mich. Aber Sie können gerne versuchen, mich vom Gegenteil zu überzeugen.“
„Nichts lieber als das“, entgegnete Vlorah mit großer Selbstsicherheit. „Sie kommen aus der Gegend von Anbis 6. Dort haben Sie auf einer kleinen Raumstation gelebt, die sich irgendwo im Planetenring in der Nähe der Kraftwerksanlagen versteckt. Sie sind eine Schmugglerin, wahrscheinlich schon seit Sie laufen können. Und Sie haben für einen gefährlichen und skrupellosen Mann gearbeitet und ihn bei seinen illegalen Machenschaften unterstützt.“
Während Vlorah sprach, erwiderte Nylla ihren vorwurfsvollen Blick trotzig, aber in den Augenwinkeln bekam sie mit, dass Kheilo und Alsth auf Vlorahs Enthüllungen ziemlich hellhörig reagierten und einander erstaunte Blicke zuwarfen. Was diese Agentin gerade erzählte, musste für die beiden wohl völlig neu sein.
Und irgendwie fühlte Nylla sich plötzlich so bloßgestellt. Wie gingen diese beiden Polizisten jetzt wohl mit der Erkenntnis um, dass sie eine Schmugglerin war, eine geborene Kriminelle? Würde sich ihr Verhalten Nylla gegenüber ab sofort ändern? Sie schielte zu Alsth hinüber. Was dachte er jetzt wohl von ihr?
„Anscheinend gab es vor kurzem ein Zerwürfnis zwischen Ihnen und Ihrem Auftraggeber“, fuhr Vlorah ungerührt fort. „Deswegen waren Sie hier auf Anbis 2, vermutlich um sich zu verstecken. Und deswegen waren dieser Gruth und seine Komplizinnen hinter Ihnen her. Aber verstehen wir uns nicht falsch: Sie sind und bleiben eine von ihnen.“ Vlorahs Stimme wurde mit jedem Satz schärfer. „Sie sind nicht anders als die Menschen, die unser Schiff über der Stadt abgeschossen haben. Sie sind genauso kriminell. Und Sie gehören genauso hinter Schloss und Riegel!“
Nylla spürte, wie ihre Nackenhaare sich aufrichteten. „Oh ja, Sie haben mich durchschaut“, zischte sie. „Wie konnte ich nur denken, ich könnte der großen Kosmopol-Agentin etwas vormachen?“
„Sie geben also zu, dass meine Geschichte stimmt?“ hakte Vlorah nach.
„Wozu sollte ich?“, entgegnete Nylla höhnisch. „So unfassbar scharfsinnig, wie Sie sind, haben Sie das doch gar nicht nötig, oder?“
Kheilo, der anscheinend bemerkt hatte, dass die Situation zu eskalieren drohte, fuhr schnell dazwischen: „Agent Vlorah, stimmt das, was Sie gerade gesagt haben? Dass unser Fall etwas mit Schmugglern zu tun hat? Noch dazu mit Schmugglern, die direkt aus dem Anbis-System stammen?“
„Das ist in der Tat richtig“, gab Vlorah zu. „Und ich hätte Sie wirklich gerne früher eingeweiht, aber ich musste leider damit warten, bis es unvermeidlich wurde. Und das ist meiner Meinung nach nun so weit.“
„Aber.... aber wie kann das sein?“ fragte Kheilo verblüfft. „Bis jetzt hieß es immer nur, dass die Schmuggler überwiegend aus der Gegend um Delbion und Tramis stammen, weit weg von hier! Dass es Schmuggler im Anbis-System geben könnte, davon habe ich noch nie etwas gehört!“
„Das wundert mich nicht“, meinte Vlorah. „Selbst die Kosmopol ist erst vor kurzem darauf gestoßen, dass es Schmuggler-Aktivitäten in Ihrem System gibt. Wir haben natürlich sofort die Ermittlungen aufgenommen, aber bisher mussten wir jegliche Informationen darüber geheim halten, um die Schmugglerbasis in diesem System nicht vorzuwarnen. Jetzt verstehen Sie vielleicht endlich, warum ich Ihnen bisher nichts darüber sagen durfte.“
„Oh ja, jetzt wird mir einiges klar“, bemerkte Alsth. „Die Leute, denen wir bis jetzt begegnet sind.... dieser Gruth und unsere neue Freundin hier“, er nickte in Nyllas Richtung, „gehören also zu diesem Schmugglerring? Die Zella sollte den observieren – und ist dabei entdeckt worden?“
Vlorah nickte. „So ist es. Kurz zuvor hat die Zella aber noch einen Funkspruch an unsere Zentrale abgegeben. Angeblich sind die Kollegen bei ihrer Observierung auf eine brisante Information gestoßen. Anscheinend plant der Anführer dieser Bande etwas Großes – etwas, das über bloße Schmuggelgeschäfte deutlich hinaus geht.“
„Und darum geht es also die ganze Zeit, um irgendeinen großen Plan eines Schmugglerbosses?“ Kheilo runzelte die Stirn. „Was kann das wohl so ungeheuer Wichtiges sein, dass Ihre Kollegen es dafür riskieren mussten entdeckt zu werden?“
Vlorah seufzte. „Leider weiß auch die Kosmopol nicht mehr darüber. Bevor die Zella weitere Daten übermitteln konnte, wurde sie schon beschossen und hat offenbar versucht nach Anbis City zu fliehen. Und den Rest kennen Sie ja.“
Wieder warfen Alsth und Kheilo sich erstaunte Blicke zu. Und Nylla kam sich im Moment irgendwie überflüssig vor. Sollte das nicht eigentlich ein Verhör von ihr sein?!
„Äh.... wenn ich nicht mehr gebraucht werde....“, machte sie sich bemerkbar und erhob sich von ihrem Stuhl.
„Sie bleiben hier!“ bestimmte Vlorah forsch. „Ich bin noch nicht fertig mit Ihnen!“
„Schon gut, ich bin ja ganz lieb“, erwiderte Nylla, während sie sich zurück auf den Stuhl fallen ließ.
„Ich kenne Menschen wie Sie“, sagte Vlorah mit eisiger Stimme. „Menschen die nur an sich selbst und ihren eigenen Vorteil denken und denen alles andere egal ist. Schmuggler, Waffenhändler, Trickbetrüger – in meiner Zeit bei der Kosmopol bin ich vielen davon begegnet. Es sind die verkommensten Exemplare der Gattung Mensch – und ich habe Ihnen auf den ersten Blick angesehen, dass Sie eine davon sind.“
„Agent Vlorah....“, meldete sich Kheilo vorsichtig zu Wort. „Damit erreichen Sie doch nichts.“
„Nein, das ist schon in Ordnung“, flüsterte Nylla. Vlorahs Worte hatten sie so wütend gemacht, dass sie am liebsten laut schreien würde – aber sie wollte dieser Agentin auf keinen Fall den Triumph gönnen, mit ihren Worten irgendwas erreicht zu haben. „Ich kann Sie auch nicht leiden!“
Vlorah hob nur wie beiläufig die Augenbrauen.
„Nachdem das geklärt ist, können wir vielleicht wieder zum Thema zurückkommen“, schlug Kheilo vor. „Es ist jetzt wohl nicht mehr schwer zu erraten, worauf das hier hinausläuft. Die Parallelen sind offensichtlich.“
„Was meinst du?“ fragte Alsth verständnislos. Doch einen Moment später riss er die Augen auf – und starrte Nylla verblüfft an. „Du kennst ihn auch!“ entfuhr es ihm. „Diesen Plan, den dein Boss verfolgt!“
Nylla senkte den Kopf. Das war es dann wohl – jetzt würden diese Bullen sie niemals gehen lassen....
„Du bist auch vor dieser Schmugglerbande geflüchtet, genau wie die Zella“, erkannte Alsth. „Dieser Gruth hat versucht dich aus dem Weg zu räumen, genau wie er bereits die Kosmopol-Agenten aus dem Weg geräumt hat. Weil du irgendwie auf dieselben Informationen gestoßen bist. Ist es nicht so?“
„Natürlich ist es so“, ging Vlorah dazwischen, bevor Nylla etwas sagen konnte. „Ich vermute das schon die ganze Zeit. Und ich gebe Ihnen jetzt noch eine letzte Chance, reinen Tisch zu machen und mir zu beweisen, dass ich mit meinem Urteil über Sie falsch liege. Indem Sie uns endlich alles verraten, was Sie wissen!“ Ihre Augen funkelten Nylla streng und herausfordernd an.
Nylla dachte angestrengt nach. Sie sah zuerst zu Kheilo, dann zu Alsth und schließlich erwiderte sie Vlorahs durchdringenden Blick. Für einen langen Moment stellte sie sich vor, den dreien tatsächlich alles zu erzählen. Sie konnten sich zusammentun und Torx vielleicht mit vereinten Kräften aufhalten....
Aber dann wurde ihr wieder klar, wen sie hier vor sich hatte: Zwei Polizisten und eine Kosmopol-Agentin. Ihr ganzes Leben lang hatten Menschen wie sie für Nylla nur eine Bedeutung gehabt: Ärger! Sie kamen aus zwei Welten, die sich unmöglich miteinander vereinbaren ließen. Beinahe hätte sie das für einen Moment vergessen.
Sie grinste. „Netter Versuch“, verkündete sie. „Aber von mir erfahren Sie gar nichts.“
Man konnte geradezu spüren, wie Kheilo und ganz besonders Alsth innerlich zusammensackten. Fast taten sie ihr jetzt ein bisschen leid.
Erstaunlicherweise schien Vlorah dagegen völlig ungerührt. Sie wirkte sogar so, als hätte sie genau diese Antwort erwartet. Sie nahm ihren Aktenkoffer zur Hand, den sie neben sich unter dem Tisch abgestellt hatte, und holte ein Notepad heraus. „Also schön“, sagte sie. „Sie haben es so gewollt.“
Vlorah sah kurz zu Kheilo hinüber, der offenbar schon wusste, was sie vorhatte, und sich unbehaglich am Hemdkragen zupfte. Sie nickte ihm kurz zu und er erwiderte das Nicken nach kurzem Zögern widerwillig. Daraufhin aktivierte die Agentin das Notepad und tippte darauf herum.
Nylla gefiel das gar nicht. Sie hatte auf einmal wieder so ein beklommenes Gefühl in der Magengegend – fast wie damals, als Torx sie zu sich gerufen hatte.
„Kommt Ihnen das vielleicht bekannt vor?“ fragte Vlorah, während sie Nylla das Notepad reichte.
Nylla nahm es und warf einen Blick darauf. Was sollte das Ganze? Auf dem Display waren ein paar technische Daten und ein Grundriss zu sehen. Anscheinend ging es um irgendein Raumschiff....
Plötzlich riss Nylla erschrocken die Augen auf. Dann knallte sie das Notepad auf die Tischplatte und sprang auf. „Was soll das?“ rief sie erregt.
„Ich kann Ihre Reaktion nicht ganz deuten“, sagte Vlorah scheinheilig. „Die Polizei hat dieses Raumschiff offen und verlassen irgendwo in der Savanne außerhalb der Stadt gefunden. Der Eigentümer war nirgendwo zu sehen, aber es sah so aus, als hätten sich bereits ein paar Plünderer daran zu schaffen gemacht. Das Schiff hat weder einen eingetragenen Besitzer noch eine offizielle Zulassung. Wir schließen daraus, dass jemand sein altes Raumschiff einfach irgendwo in der Savanne abgeladen hat, anstatt es wie vorgesehen bei den zuständigen Recyclingeinrichtungen abzuliefern. Das geht natürlich nicht. Die Savanne ist keine Müllkippe. Die Polizei sieht sich daher in der Verantwortung, dieses Raumschiff zu beschlagnahmen und es entweder weiter zu verwerten oder zu verschrotten.“
Nylla stützte ihre Hände auf dem Tisch ab und atmete mehrmals tief ein und aus. „Das ist Erpressung!“ zischte sie aufgebracht.
„Im Gegenteil“, Vlorah verstand es zwar ausgezeichnet, völlig sachlich und nüchtern zu bleiben, aber einen Hauch Schadenfreude glaubte Nylla trotzdem aus ihrer Stimme heraushören. „Die Polizei tut hier nur ihre Pflicht. Es ist schließlich nicht anzunehmen, dass der Besitzer sich noch irgendwann meldet und für diese Ordnungswidrigkeit gerade steht. Dann könnte man sich theoretisch darauf einigen, sagen wir, für eine gewisse Gegenleistung ein Auge zuzudrücken und von einer Verschrottung abzusehen.“
Nylla blieb noch ein paar Sekunden lang stehen, dann sank sie matt auf ihren Stuhl zurück.
„Das ist echt fies“, brummte sie.
„Äh....“, meldete sich Alsth. „Darf ich annehmen, dass es ihr Schiff ist?“ Er deutete auf Nylla, die schmollend dasaß und grübelte. „Woher haben Sie das? Wie haben Sie es gefunden – und woher wissen Sie, dass es ihr gehört?“
„Die Meldung kam vorhin rein, als du schon weg warst“, erklärte Kheilo missmutig. „Die Suche danach hat Agent Vlorah auf eigene Faust in Auftrag gegeben – ich denke, das überrascht dich genau so wenig wie mich.“
„Ich habe bereits vermutet, dass diese Schmugglerin ebenfalls mit einem Raumschiff auf Anbis 2 gelandet sein muss – nur eben nicht am Raumhafen“, erklärte Vlorah. „Deswegen habe ich Ihre Leute nach einem Hyperantrieb scannen lassen, der eine ähnliche Passiv-Signatur aufweist wie Gruths Shuttle. Und sie sind fündig geworden, etwa 50 Kilometer im Norden, in der Nähe von ein paar alten Ruinen.“
Alsth nickte nachdenklich. Dann warf er Nylla einen bedauernden Blick zu.
„Also?“ wandte Vlorah sich wieder an Nylla. „Wollen Sie uns immer noch nicht weiterhelfen?“
Nylla ignorierte Vlorah und sah stattdessen die beiden Polizisten an. „Ihr beide seid mit dieser miesen Nummer einverstanden?“ fragte sie und blickte geradezu flehentlich von einem zum anderen.
„Ich finde, das ist ein fairer Deal.“ Kheilo zuckte mit den Achseln. „Es passt mir zwar nicht, dass Agent Vlorah uns wieder mal im Dunkeln gelassen hat, aber rein von der Sache her ist sie durchaus im Recht.“
„Ich kann dazu nichts sagen, Nylla.“ Alsth hob bedauernd die Hände. „Ich wusste davon bis jetzt genau so wenig wie du. Du musst selber wissen, was dir wichtiger ist: Deine Geheimnisse oder dieses Raumschiff.“
Nylla knirschte mit den Zähnen. Das war einfach eine richtig blöde Situation! Aber wozu überlegte sie überhaupt noch groß herum? Es gab eigentlich nur eine vernünftige Entscheidung.
„Wenn ich Ihnen den ganzen Mist erzähle....“, begann sie. „Darf ich dann mein Schiff behalten?“
„Das werden wir sehen“, entschied Vlorah. „Aber ich verspreche Ihnen, dass es dann vorläufig weder verkauft noch verschrottet wird.“
Nylla nickte. Plötzlich musste sie zu ihrer eigenen Überraschung grinsen. „Also schön“, sagte sie vergnügt. „Dann passen Sie mal gut auf....“
Episode 6: Der Plan
Vier Wochen zuvor
Nylla gönnte sich einen kurzen Moment zum Verschnaufen.
Sie hatte nicht gedacht, dass es so anstrengend sein würde, sich durch die Luftschächte der Raumstation zu zwängen. Wenn sie das geahnt hätte, hätte sie es wahrscheinlich bleiben lassen. Aber jetzt war sie schon auf dem halben Weg – und die Neugier war einfach zu groß, um jetzt noch umzukehren.
Also kletterte sie weiter, den engen, dunklen Schacht entlang in die Richtung, in der Torx‘ Büro liegen musste.
Vorhin als sie zur Station zurückgekehrt war, hatte sie dieses neue Raumschiff an einem der Nachbardocks gesehen – und war extrem verblüfft gewesen. Es war ein absolutes Designermodell, eine von diesen unermesslich teuren Luxusyachten, die sich nur jemand zulegte, der nicht wusste wohin mit seinem Geld. So ein Schiff passte überhaupt nicht zu einer Schmugglerstation – sie konnte sich beim besten Willen niemanden vorstellen, der so ein Schiff besitzen und einen Grund haben sollte, diese Station zu besuchen.
Nylla hatte unbedingt mehr erfahren wollen und den Wachmann angesprochen, der an der Dockschleuse dieser Yacht Stellung bezogen hatte. Sie war ihm einige Minuten auf die Nerven gegangen – und nun wusste sie zumindest, dass der Besucher einen feinen Anzug getragen und sich sehr gewählt ausgedrückt hatte. Gruth hatte ihn persönlich abgeholt und zu Torx ins Büro gebracht, wo seither eine geheime Unterredung stattfand.
Nylla hatte es nicht lassen können und war mit dem Lift in die oberste Etage der Station gefahren. Sie hatte sich auf den Gang zugeschlichen, in dem Torx‘ Büro lag, und vorsichtig um die Ecke gelugt.
Vor der berüchtigten Tür mit dem Stierkopf waren zwei Wachleute gestanden – und zwar so regungslos, als wären sie Statuen. Sie hatten einfach nur geradeaus gestarrt und Nylla an der Gangecke nicht bemerkt. Die Tür selbst war zu. Nylla hatte eine Weile gewartet – aber es tat sich absolut nichts, weder vor noch hinter der Tür. Die Besprechung schien sich ganz schön hinzuziehen
Wer konnte dieser Besucher wohl sein? Was wollte er von Torx? Und was wollte Torx von ihm? Was hatten die da drinnen so ungeheuer Wichtiges und Ausführliches zu besprechen?
Ich muss es einfach wissen, hatte sie gedacht. Vielleicht war es etwas wirklich Großes, etwas das die ganze Raumstation und all ihre Bewohner betreffen könnte. Irgendwie hatte sie das im Gefühl. Ich muss einfach herausfinden, worum es da geht!
Also war sie ein Stück zurück gelaufen, in einen kurzen Gang hinein, der in einem Wartungszugang endete. Dort hatte sie kurz gewartet, sich umgesehen und gelauscht, ob sich jemand näherte, aber alles schien absolut ruhig auf der Etage. Also hatte sie nach kurzer Fummelei den Wartungszugang geöffnet und war in den Schacht hinein geklettert.... Und hier war sie nun.
Nachdem sie einige weitere anstrengende Meter hinter sich gebracht hatte, glaubte sie plötzlich Stimmen zu hören. Sie zwängte sich weiter voran und die Stimmen wurden lauter und deutlicher. Schließlich erkannte sie eine der Stimmen als die von Torx. Dann eine zweite Stimme – Gruth hatte da gerade kurz gesprochen.
Die dritte Stimme kannte Nylla nicht. Das musste wohl der geheimnisvolle Besucher sein. Er sprach wesentlich leiser als Torx, deswegen bekam Nylla keinen guten Eindruck von seiner Stimmfarbe – aber sie glaubte zu hören, dass er reichlich hochnäsig klang.
Als sie den Stimmen noch näher kam, konnte Nylla auch langsam verstehen, was gesprochen wurde. Irgendwann blieb sie auf ihrer Position und lauschte einfach nur.
Sehr schnell begriff sie, worüber diese drei da sprachen – und ein kalter Schauer lief ihr plötzlich über den Rücken. Sie hörte atemlos weiter zu – und je mehr sie hörte, desto fassungsloser wurde sie....
Vier Wochen später
„Bitte kommen Sie doch alle herein.“
Die Polizeidirektorin von Anbis City begrüßte Kheilo, Vlorah, Nylla und Alsth an der Tür ihres Büros in der obersten Etage der Polizeizentrale. Sie führte ihre vier Gäste zu ihrem Schreibtisch, wo schon genug Stühle für sie alle bereitstanden, und bat sie Platz zu nehmen. Sie selbst lief um den Schreibtisch herum zu ihrem Chefsessel.
Es war ein ganz schön großes Büro und bot einen wirklich atemberaubenden Ausblick auf die Stadt, da drei der vier Wände fast komplett aus Glas bestanden.
Alsth hatte Nylla vorhin erzählt, dass seine oberste Chefin fast schon eine lebende Legende unter seinen Kollegen war. Sie machte diesen Job inzwischen seit über fünfundzwanzig Jahren und hatte ihn wirklich voll im Griff. Angeblich war sie bei ihren Untergebenen extrem beliebt und wurde von allen anstatt ihres Namens ganz respektvoll „die Direktorin“ genannt.
Der erste Eindruck, den Nylla von ihr bekam, bestätigte das zu hundert Prozent. Sie strahlte viel Erfahrung und hohe Autorität aus, aber gleichzeitig auch eine tiefe innere Ruhe und eine fast Großtanten-hafte Freundlichkeit. In ihren Augen sah Nylla jede Menge Intelligenz, Lebensweisheit und Willenskraft. Ihre langen grauen Haare hatte sie gründlich im Nacken zusammengebunden. Sie war nicht mehr die Jüngste, aber ihrem Elan merkte man das hohe Alter kaum an.
Nylla konnte nicht behaupten, dass sie mit großer Gelassenheit in dieses Büro eintrat. Seit sie erfahren hatte, dass sie die anderen drei ins Heiligtum der Polizeizentrale begleiten würde, war sie doch ziemlich aufgeregt gewesen. Es war für eine geborene Schmugglerin die denkbar befremdlichste Umgebung – und es linderte ihre Aufregung nicht unbedingt, wenn sie daran dachte, was sie gleich zu berichten hatte....
„Also, ich würde vorschlagen, dass Sie mir einfach mal alles ausführlich und der Reihe nach erläutern“, schlug die Direktorin vor, nachdem alle Platz genommen hatten. Sie sah ihre vier Gäste nacheinander an. „Kommissar Kheilo, Kommissar Alsth, wir kennen uns ja schon. Und Sie sind also Agent Vlorah, unser Gast von der Kosmopol.“
Die beiden Frauen nickten sich kurz zu. „Vielen Dank, dass Sie sich den Nachmittag für uns freigeräumt haben“, sagte Vlorah. „Die Herren Kommissare haben darauf bestanden, dass Sie umgehend über alles informiert werden sollten.“
„Und auch völlig zurecht.“ Die Direktorin nickte auch Kheilo und Alsth kurz zu. „Nachdem ich vorhin Ihren ersten Bericht gelesen habe, hätte auch ich sofort auf ein Treffen bestanden. Das waren ja eine ziemliche Menge Neuigkeiten auf einmal. Und ich kann nicht sagen, dass ich alles verstanden habe – aber was ich verstanden habe, fand ich schon ziemlich beunruhigend....“
Dann fiel ihr Blick zum ersten Mal auf Nylla. Fast wäre diese zusammengezuckt. „Und Sie.... sind wohl die junge Frau, von der in dem Bericht die Rede ist. Nylla war Ihr Name, wenn ich mich richtig erinnere?“
Nylla nickte schnell. Sie war im Moment nervöser, als ihr lieb war. Deswegen brachte sie gerade kein Wort heraus.
„Und Sie sind.... sozusagen.... beruflich als Schmugglerin tätig?“ hakte die Direktorin weiter nach. „Und zwar auf einer Raumstation im Orbit von Anbis 6?“ Dabei klang ihre Stimme kein bisschen anklagend oder abweisend, sondern einfach nur interessiert. Das sorgte dafür, dass Nylla sich etwas entspannte. Zumindest ein kleines bisschen.
„Das.... war ich“, erwiderte Nylla vorsichtig. „Aber ich bin vor drei Wochen.... sozusagen.... gefeuert worden.“
Tatsächlich musste die Direktorin über ihre Antwort ein bisschen schmunzeln. Nylla spürte, dass ihre Anspannung noch weiter schwand. Vielleicht wird das hier doch kein so großer Alptraum....
„Diese Schmugglerbande, der Nylla bis vor kurzem angehörte, ist für alles verantwortlich, was in den letzten beiden Tagen geschehen ist“, erklärte Kheilo. „Für den Crash dieses Kosmopol-Schiffs in unserer Stadt, für die Explosion des Wracks und für den gestrigen Aufruhr am Raumhafen. Das alles diente dem Ziel, Beweise zu vernichten.“
Die Direktorin nickte nachdenklich. „Richtig, in Ihrem Bericht habe ich von den Nachforschungen dieses Kosmopol-Schiffs gelesen. Ihre Kollegen sind da offenbar auf etwas gestoßen, Agent Vlorah?“
„Auf ziemlich brisante Informationen“, bestätigte Vlorah. „Das hat leider zu ihrem Tod geführt – und zu dem von über zwanzig Bürgern von Anbis City. Diese Bande hat alles dafür getan, damit ihre Pläne um jeden Preis geheim bleiben. Und das ist ihnen leider gelungen – die Kosmopol-Nachforschungen sind unwiederbringlich verloren.“
„Aber die gute Nachricht ist, dass Nylla vor ein paar Wochen über dieselben Informationen gestolpert ist“, nahm Alsth den Faden auf. „Deswegen sollte sie ebenfalls beseitigt werden – aber sie hatte etwas mehr Glück.“
„Ich würde das, was ich in den letzten Wochen erlebt habe, nicht unbedingt Glück nennen“, murrte Nylla. „Aber ich bin Torx fürs Erste entkommen.“
„Torx?“ Die Direktorin beugte sich ein Stück vor. „Das ist der Name Ihres ehemaligen Chefs, nicht wahr? Ich würde vorschlagen, Sie fassen einfach mal alles zusammen, was Sie über die Pläne von diesem Torx wissen. Und dann besprechen wir, was wir dagegen unternehmen wollen.“
Nylla nickte aufgeregt. Jetzt war sie am Zug. „Es war vor ungefähr vier Wochen. Damals hab ich zufällig den größten Teil von einem Gespräch mit angehört, das ich nie hätte hören dürfen. Das war eine sehr ausführliche Besprechung zwischen Torx, seinem Leibwächter Gruth und einem unbekannten Besucher.“
„Einem unbekannten Besucher?“ wiederholte die Direktorin. „Sie wissen nicht, wer er war?“
„Leider nicht. Torx hat so eine komische Angewohnheit, dass bei wichtigen Gesprächen keine Namen genannt werden dürfen. Aber er muss wohl ein wichtiger Politiker aus Anbis City sein. Das konnte ich aus dem Gespräch heraushören. Und zwar ein Mitglied des Stadtrats.“
„Ein Ratsmitglied, ganz sicher?“ Die Direktorin zeigte eine beunruhigte Miene. „Sie wollen also sagen, dass ein Abgeordneter aus unserem Stadtrat mit einem gefährlichen Schmugglerboss zusammenarbeitet?“
Nylla nickte entschieden. „So ist es.“
Die Direktorin warf einen düsteren Blick in die Runde. „Wir müssen unbedingt herausfinden, um wen es sich handelt! Nylla, Sie haben seinen Namen nicht gehört, aber seine Stimme. Glauben Sie, Sie würden sie wiedererkennen?“
Doch Nylla schüttelte bedauernd den Kopf. „Es hat in dem Luftschacht stark gehallt und er hat sehr leise gesprochen. Es war auf jeden Fall ein Mann und er hat sich sehr gewählt ausgedrückt – aber das tun diese Politiker irgendwie alle.“
„Wir haben Nylla schon ein paar Sequenzen aus der letzten Stadtratsdebatte vorgespielt“, mischte sich Alsth ein. „Wir dachten, vielleicht erkennt sie die Stimme wieder. Aber das hat leider nichts gebracht.“
„Nylla hat uns auch eine Beschreibung von seinem Raumschiff gegeben“, fügte Kheilo hinzu. „Aber bis jetzt hat das auch noch nichts ergeben. Die wenigsten Politiker hängen es an die große Glocke, wenn sie sich eine private Luxusyacht zulegen. Aber wir forschen da auf jeden Fall noch weiter.“
„Tun Sie das“, stimmte die Direktorin zu. „Fürs erste muss seine Identität aber wohl ein Geheimnis bleiben. Dann machen wir jetzt eben mit dem Inhalt des Gesprächs weiter. Was ist das für ein ominöser Plan, den Torx und dieser Politiker verfolgen?“
Nylla gönnte sich einen Moment, um Luft zu holen und ihre Gedanken zu ordnen. Dann begann sie zu erzählen, was sie damals mit angehört hatte....
Vier Wochen zuvor
„Der Zeitfaktor ist ungeheuer kritisch“, hörte Nylla, die in ihrem Luftschacht kauerte, Torx sagen. „Deswegen muss alles genau gleichzeitig ablaufen. Alle Kraftwerksanlagen müssen in unserer Gewalt sein, bevor irgendjemand Alarm schlagen oder nach Anbis City rausfunken kann.“
„Genau das ist es, was mir am meisten Sorgen macht“, meinte der Politiker. „Um wie viele Kraftwerke handelt es sich denn nun genau?“
„Mein Leibwächter hat die Liste hier....“
„Es sind sieben.“ Das war jetzt Gruths Stimme. „Sie sind auf größeren Asteroiden im Planetenring von Anbis 6 verteilt. Hier sehen Sie die Karte.“
„Die Stationen nutzen die Schwerkraft und die atmosphärischen Stürme des Gasriesen, um Energie zu produzieren“, erklärte Torx. „Außerdem verarbeiteten sie den Kristallstaub, den die Sammelroboter aus der Atmosphäre des Planeten herausfiltern und der sehr viel gebundene Energie enthält. Das ist mehr als genug, um ganz Anbis City zu versorgen. Deswegen sind diese sieben Stationen auch die einzige nennenswerte Energiequelle der Stadt.“
„Der Abstand zwischen den Stationen ist nicht gerade klein....“, merkte der Politiker an.
„.... aber noch klein genug für eine sekundengenaue Abstimmung.“ Torx klang sehr zuversichtlich. „Sie müssen auch einigermaßen nahe beieinander liegen. Denn sie nutzen einen gemeinsamen Hyperraumkanal, der direkt zu den großen Umschaltanlagen von Anbis City führt. So wird ein kontinuierlicher Energieimpuls durch den Hyperraum von Anbis 6 nach Anbis 2 geleitet. Und mit der Energie wird jedes Gerät, jede Metrokapsel, jedes Sicherheitssystem und jeder Datenserver in Anbis City betrieben.“
„Was sich hier für eine Chance bietet, müssen Sie mir nicht erklären“, sagte der Politiker. „Wer es schafft, sämtliche Kraftwerksanlagen um Anbis 6 in seine Gewalt zu bringen, hätte damit die Kontrolle über alles in Anbis City, was Energie braucht. Und so gut wie nichts in dieser Stadt funktioniert ohne Energie!“
Das war der Moment, als Nylla die Augen weit aufriss. Das gibt es doch nicht, schoss es ihr durch den Kopf. Planen die da gerade wirklich das, was ich denke?
Als hätten die drei Verschwörer ihre Gedanken gehört, bekam Nylla darauf prompt die Antwort: „Wenn wir alle sieben Kraftwerke unter unserer Kontrolle haben, hätten wir damit die uneingeschränkte Macht über Anbis City – und damit das gesamte Sonnensystem!“ frohlockte Torx und klang dabei geradezu diabolisch. „Und niemand könnte das verhindern!“
Vier Wochen später
Die Direktorin keuchte erschrocken auf.
„Verstehe ich das richtig?“ fragte sie. „Sie wollen mir erzählen, dieser Torx und sein Mitverschwörer planen.... die Macht über das Anbis-System zu übernehmen?!“
Nylla ließ sich einen Moment Zeit zu antworten. Sie spürte die Augen der Direktorin, die sich geradezu in ihren Schädel bohrten. Am liebsten hätte sie jetzt gelacht und alles für einen großen Scherz erklärt. Aber sie wusste, es war die Wahrheit – und noch längst nicht die ganze.
„Genau das habe ich damals mit angehört! Die beiden haben vor, das Anbis-System unter ihre Kontrolle zu bringen. Und sobald sie die Macht im System übernommen haben, wollen sie sich von den Zentralsystemen unabhängig erklären!“
„Das ist völlig unmöglich!“ erwiderte die Direktorin sofort. Entschieden lehnte sie sich in ihrem Sessel zurück. Ihre Stimme klang dabei aber so, als ob ihr Mund ganz trocken wäre.
„Aber genau das hab ich damals mit angehört“, beteuerte Nylla ihr. „Torx war vollkommen überzeugt davon, dass es ihm gelingen würde.“
„Dann ist er größenwahnsinnig“, erwiderte die Direktorin. „Es gibt massive Sicherheitsvorkehrungen, die eine Manipulation dieser Kraftwerke und dieses Hyperraumkanals verhindern. Man kann auch nicht einfach so die Macht im System übernehmen – dagegen ist unser politischer Apparat gewappnet. Und selbst wenn das doch gelingen sollte: Die Regierung auf Borla würde sofort intervenieren! Wenn hier zwei Leute einen Putsch anzetteln und sich von Borla abspalten wollen, dann würden die doch sofort mit ihrer ganzen Flotte anrücken. Und mit einer Bande von Schmugglern spielend leicht kurzen Prozess machen.“
Nylla rutschte unruhig auf ihrem Stuhl herum. Eigentlich hätte ihr das klar sein müssen: Dass niemand einer jungen Schmugglerin wie ihr so eine irre Geschichte glauben würde. Und doch saß sie hier und versuchte einer namhaften Polizeidirektorin genau das glaubhaft zu machen. Wie um alles in der Welt sollte sie das schaffen?
„Leider ist es gar kein solcher Unsinn, wie es sich jetzt noch anhört“, ergriff dann Kheilo das Wort. Und Nylla war ihm dafür unendlich dankbar. „Hören Sie sich weiter an, was Nylla zu sagen hat.“
Die Direktorin überlegte eine Sekunde.
„Also schön“, sagte sie dann und gab Nylla ein Zeichen. „Bitte.“
Frisch ermutigt fuhr Nylla schnell fort: „Torx und sein Partner wollen das alles so schnell über die Bühne bringen, dass niemand mehr rechtzeitig reagieren kann. Bis die auf Borla etwas mitbekommen, soll schon alles vorbei sein und dann hat Torx die Möglichkeit, ein ganzes System als Geisel zu nehmen. Und was diese Sicherheitsvorkehrungen angeht: Die sind für die beiden kein Hindernis. Ganz im Gegenteil....“
Vier Wochen zuvor
„Sagen Sie mir: Was wissen Sie über die sogenannte Impulspause?“ fragte Torx seinen Gast. „Als Bewohner von Anbis City dürften Sie darüber sogar mehr wissen als ich.“
Impulspause? Mit dem Begriff konnte Nylla gar nichts anfangen. Sie versuchte sich in ihrem engen Luftschacht in eine gemütlichere Position zu bringen – doch mit jeder Bewegung verursachte sie Geräusche, die durch den ganzen Schacht hallten. Deswegen hielt sie sofort wieder still. Irgendwie war sie plötzlich wahnsinnig paranoid und fürchtete, dass die drei in Torx‘ Büro vielleicht etwas hören konnten....
Wo zum Henker bin ich hier nur reingeraten? Warum muss ich auch immer so neugierig sein?
„Die Impulspause....“, wiederholte der Politiker nachdenklich. „Die steht ungefähr alle dreizehn Monate an. Nämlich wenn unsere Sonne genau zwischen Anbis 2 und Anbis 6 steht.“
„Ganz genau“, sagte Torx. „Und wir können keinen Hyperraumkanal mitten durch eine Sonne leiten. Deswegen muss der Energieimpuls zwischen den beiden Planeten für kurze Zeit unterbrochen werden, etwa für eine halbe Stunde.“
„Das ist aber normalerweise kein Problem. Es wird einfach in den Stunden vorher mehr Energie von Anbis 6 übertragen, als wir benötigen. Diese Energie wird zwischengespeichert und während der Impulspause ins Energienetz gespeist.“
„Trotzdem ist der Kontakt nach Anbis City während der Zeit unterbrochen. Und das heißt: Wenn in dieser Zeit etwas mit den Kraftwerken passiert, merkt man das in der Stadt erst eine halbe Stunde später! Das sollte gerade genug Zeit für uns sein, um alle Kraftwerke in unsere Gewalt zu bringen. Dann müssen wir Anbis City nur noch den Saft abdrehen – und unser Ultimatum stellen....“
Vier Wochen später
An der Stelle hob die Direktorin plötzlich ihre Hand, um Nylla zu unterbrechen.
„Einen Moment“, sagte sie. „Das beantwortet zwar schon einige meiner Fragen – aber eine ganz entscheidende ist immer noch offen: Torx und sein Partner wollen die Kraftwerke um Anbis 6 übernehmen – aber wie? Wie wollen die beiden das anstellen?“
Nylla schnitt eine verdrießliche Grimasse. „Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Den Teil des Plans müssen die beiden besprochen haben, bevor ich in den Luftschacht geklettert bin. Ich hab absolut keine Ahnung, wie die das anstellen wollen.“
„Uns kommt das auch sehr zweifelhaft vor“, mischte Vlorah sich ein. „Sieben hochgesicherte Kraftwerksstationen gleichzeitig einnehmen und das in nur einer halben Stunde – dazu bräuchte man schon eine ganze Armee. Für einen Schmugglerboss mit seinen paar Leibwächtern und einen einfachen Lokalpolitiker dürfte das eigentlich unmachbar sein.“
„Trotzdem scheint dieser Torx überzeugt davon, dass er das hinbekommt“, entgegnete Kheilo. „Wir wüssten auch gerne, woher er diese Zuversicht nimmt.“
„Das ist wohl der größte Teil des Puzzles, der uns noch fehlt“, fügte Alsth hinzu. „Abgesehen von der Identität dieses Politikers.“
„Nun gut, wie auch immer er es anstellt – angenommen Torx hat alle Kraftwerke in seiner Gewalt.“ Die Direktorin strich sich nachdenklich übers Kinn. „Dann wird er also damit drohen, Anbis City den Strom abzuschalten, wenn ihm nicht sofort die Herrschaft über das gesamte System überlassen wird.“
Sie sah skeptisch in die Runde. „Würde unsere Regierung wirklich darauf eingehen? Selbst wenn Anbis City im Dunkeln versinkt – ist das nicht immer noch besser, als einem irren Schmugglerboss die Macht zu überlassen? Außerdem müsste die Machtübernahme blitzschnell vonstattengehen, bevor Borla Wind davon bekommt und die Raumflotte losschickt. Auch das kommt mir sehr unwahrscheinlich vor.“
Noch während die Direktorin sprach, warfen die vier am anderen Tischende sich vielsagende Blicke zu. Genau diese Fragen hatten die drei Ermittler Nylla auch gestellt. Und Nylla hatte ihnen bereits erklärt, wie Torx und sein Partner damit umgehen wollten.
„Genau da kommt nun eben unser unbekannter Politiker ins Spiel“, ergriff Kheilo das Wort. „Nur deswegen hat Torx sich überhaupt mit ihm verbündet – denn bis zu dem Punkt könnte er seinen Plan auch völlig allein durchziehen.“
„Aber damit der Plan funktioniert, braucht er jemanden in unserer Regierung“, erklärte Alsth. „Jemanden der im Stadtrat die Strippen zieht, sobald Torx sein Ultimatum stellt.“
„Ich verstehe.“ Die Direktorin nickte langsam. „Und ich nehme an, die beiden haben bei ihrem Treffen auch darüber ausführlich gesprochen?“ Sie blickte Nylla fragend an.
„Oh ja – das haben sie....“
Vier Wochen zuvor
Nylla hörte gebannt zu, während sie sich in ihrem engen, unbequemen Luftschacht weiterhin kaum zu rühren traute. Sie wusste gar nicht, ob sie schockiert oder fasziniert auf das reagieren sollte, was diese drei da besprachen. Im Moment überwiegte bei ihr die Verblüffung und Ungläubigkeit über die schiere Tragweite dieses Plans.
Gerade war es der Politiker, der das Gespräch in die Hand genommen hatte: „Nachdem wir unser Ultimatum gestellt haben, bleibt dem Stadtrat eigentlich gar keine andere Wahl. Es wird sehr zügig eine Abstimmung geben, ob der Notstand ausgerufen werden soll. Und die überwältigende Mehrheit wird unter solchen Umständen dafür stimmen – daran habe ich keine Zweifel.“
„Ja, richtig.“ Nun wieder Torx‘ Stimme. „Und was passiert dann genau, können Sie uns das nochmal erklären? Der Stadtrat wird sich quasi selbst auflösen und einen einzelnen Stellvertreter bestimmen.... wie nannte sich der doch gleich?“
„Dictus“, meldete sich Gruth nach einigen Minuten der Passivität mal wieder zu Wort.
„Dictus war es, genau, genau.“ Torx klang auf einmal leicht amüsiert. „Ich muss schon sagen, ich habe mich sehr gewundert, als ich von diesem Konzept in den Statuten von Anbis City erfahren habe. Es erscheint mir irgendwie.... erschreckend anfällig für Missbrauch, wenn ich das so sagen darf.“
„Der Stadtrat wählt eine Einzelperson aus den eigenen Reihen aus, die für die Dauer des Notstands dessen sämtliche Aufgaben übernimmt“, erklärte der Politiker – und klang dabei ein bisschen defensiv. „Ein einzelner Mensch, der in Extremsituationen schnelle Entscheidungen treffen kann und nicht erst irgendwelche langwierigen Debatten führen und Gesetzesentwürfe durch alle Instanzen durchboxen muss.“
„Damit hätte ein Einzelner fast die gesamte Macht im Anbis-System.“ Torx klang immer noch geradezu ungläubig. „Da könnten Sie den Posten auch genauso gut gleich Diktator nennen....“
„Die Namensähnlichkeit ist nicht ganz zufällig – aber ursprünglich stammt das Dictus-Konzept aus dem alten Rom. Die Gründer von Anbis City haben das wohl für eine gute Idee gehalten.... Aber egal. Entscheidend ist doch, dass es sich hervorragend in unseren Plan einfügt.“
„Da muss ich widersprechen.“ Nylla glaubte zu hören, dass Torx auf seinem Schreibtisch herumklopfte. „Entscheidend ist vielmehr: Wenn es zur Dictus-Wahl kommt – wird es Ihnen gelingen, diese zu gewinnen?“
Für einen Moment war es still in Torx‘ Büro. Nylla biss sich auf die Lippe und wartete gespannt auf die Antwort.
„Ich kenne meine Kollegen im Stadtrat“, antwortete der Politiker dann. „Ich weiß genau, wer für mich stimmen und wer auf jeden Fall gegen mich stimmen würde. Bei den Unentschlossenen sind so einige dabei, die ich gut einschätzen und mit ein bisschen Glück auf meine Seite ziehen kann. Und ich weiß, wer meine schärfsten Konkurrenten auf den Posten sind und wie ich sie mir notfalls vom Hals schaffen kann. Kurz gesagt: Ich bin äußerst zuversichtlich.“
Torx lachte daraufhin. Es war nur ein kurzes und ruhiges Lachen, aber irgendetwas irritierte Nylla daran. Einen Augenblick später wurde es ihr klar: Das war das erste Mal, dass sie ihren Boss richtig lachen hörte.
„Das hört sich wirklich gut an“, sagte er dann. „Und wenn alles so funktioniert, haben wir beide – Sie und ich – die volle Kontrolle über das Anbis-System. Wir können dann mit diesem System machen, was uns gefällt. Und ich habe da schon ein paar sehr gute Ideen....“
Erneut lachte Torx – und diesmal stieg auch der Politiker mit ein.
Vier Wochen später
Für eine längere Weile herrschte erst einmal eine bedrückende Stille in dem Büro.
Das war es also, dachte Nylla. Und irgendwie spürte sie gerade eine große Erleichterung, dass diese ganze Geschichte endlich draußen war. Als wäre plötzlich eine Last von ihr abgefallen, die sie die ganzen letzten Wochen mit sich herumgetragen hatte.
Schließlich ergriff die Direktorin wieder das Wort und sprach noch bedächtiger als bis jetzt. „Es liegt jetzt an uns, alles dagegen zu unternehmen, dass Anbis City von ein paar Gangstern übernommen wird. Und zwar möglichst schnell.“ Sie warf einen Blick in die Runde. „Die nächste Impulspause.... Das ist also unsere Deadline. Und sie ist nicht mehr weit entfernt, richtig?“
„Die nächste Impulspause ist schon in acht Tagen“, verkündete Kheilo grimmig. „Dann steht unsere Sonne wieder zwischen Anbis 2 und Anbis 6. Das ist die Zeit, die uns noch bleibt.“
„Grob gesagt fehlen uns für die Aufklärung des Falls noch zwei wichtige Puzzlestücke“, ergriff Vlorah das Wort. „Erstens: Wer ist dieser verräterische Politiker? Und zweitens: Wie will Torx es schaffen, alle Kraftwerksstationen gleichzeitig einzunehmen?“
Die Direktorin atmete tief durch. „Ich hoffe, Sie haben sich bereits Gedanken darüber gemacht, wie Sie vorgehen wollen?“
„Ja, schon.... das haben wir“, gab Kheilo zu. „Aber.... zuerst wollten wir Sie nach Ihrer Meinung fragen. Dieser Fall hat eine größere Dimension angenommen, als wir am Anfang je gedacht hätten. Und nach allem, was Sie gerade erfahren haben.... Wollen Sie überhaupt, dass wir drei den Fall behalten?“
Die Direktorin lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Sie sah der Reihe nach Kheilo, Alsth und Vlorah schweigend an.
Dann sagte sie: „Dass dies kein normaler Fall sein würde, war mir persönlich von Anfang an klar. Nicht zuletzt deswegen haben wir uns für diese besondere Zusammenarbeit zwischen unserer Polizei und der Kosmopol entschieden. Sie wissen das wahrscheinlich nicht – aber ich war es, die das dem Bürgermeister und der Sicherheitskammer der Stadt ursprünglich vorgeschlagen hat. Und die Herrschaften waren zuerst skeptisch, aber sie vertrauen mir. Und ich habe daraufhin Ihnen den Fall überlassen, weil ich Ihnen vertraue.“
Nylla beobachtete die beiden Kommissare genau. Die Worte ihrer Direktorin bedeuteten ihnen viel – das konnte sie ihnen deutlich ansehen.
„Wenn Sie allerdings der Meinung sind, dass Sie dieser Aufgabe nicht mehr gewachsen sind“, fuhr die Direktorin fort, „werde ich schweren Herzens einen Ersatz für Sie finden müssen. Aber ich hoffe doch, dass Sie weiter machen, womit Sie begonnen haben.“
Kheilo und Alsth tauschten ernste Blicke aus. Nach kurzer stummer Kommunikation nickten sie sich zu und Kheilo setzte zu einer Antwort an.
Vlorah kam ihm jedoch zuvor: „Ich denke, diese Entscheidung steht außer Frage. Ich und die Kosmopol werden natürlich weiterhin mit Kommissar Kheilo und Alsth zusammenarbeiten.“
Nun starrten die beiden Kommissare die Kosmopol-Agentin völlig überrascht an. „Agent Vlorah“, entfuhr es Alsth. „Sagen Sie bloß, Sie wissen unsere Zusammenarbeit inzwischen zu schätzen....“
Doch Vlorah winkte humorlos ab. „Es wurden bereits viel zu viele Personen in diese Geschichte eingeweiht. Ich darf Sie nochmal daran erinnern: Das hier war ursprünglich ein reiner Kosmopol-Fall! Und nun wissen wir, dass Personen aus dem Verwaltungsapparat von Anbis City darin verwickelt sind! Wer weiß schon, ob dieser eine Politiker der einzige Mitverschwörer ist? Nein, das hier muss in einem möglichst kleinen Rahmen bleiben! Es ist völlig ausgeschlossen, dass wir noch weitere Instanzen hinzuziehen!“
Alsth sank förmlich in seinen Stuhl ein. „Okay, ich hätte es wissen müssen....“, murmelte er.
„Also ist es entschieden“, verkündete Kheilo. „Der Fall bleibt unter uns. Und außerhalb dieses Raums erfährt erst einmal niemand alle Einzelheiten.“ Er zupfte sich am Kinn. „Na gut – das bedeutet wohl, wir müssen uns die fehlenden Informationen selbst beschaffen. Und ich sehe dafür eigentlich nur eine Möglichkeit....“
„Dann wiederhole ich meine Frage von gerade eben noch einmal“, sagte die Direktorin. „Wie wollen Sie nun weiter vorgehen?“
„Es ist eigentlich ganz einfach.“ Alsth zuckte mit den Achseln. „Wir wissen ja, wo wir unsere Antworten finden können: Auf der Raumstation von diesem Torx! Und das heißt: Wir müssen die Station infiltrieren.“
Die Direktorin horchte auf, offensichtlich etwas überrascht. Doch nach einem Moment des Nachdenkens nickte sie langsam. „Das klingt nach einem sehr riskanten Vorhaben – aber ich fürchte fast, es wird uns nichts anderes übrig bleiben....“
„Acht Tage sind nicht viel Zeit – und solange wir niemanden einweihen können, sind unsere Ressourcen beschränkt.“ Kheilo sah entschlossen in die Runde. „Wir müssen in Rekordzeit jemanden undercover auf Torx‘ Raumstation einschleusen. Jemanden der Erfahrung mit solchen Einsätzen hat und notfalls gut improvisieren kann. Ich würde daher vorschlagen, dass Alsth diesen Part übernimmt.“
Nyllas Blick richtete sich sofort auf Alsth, als sie das hörte. Er sollte Torx‘ Raumstation infiltrieren? Also den Ort, an dem sie den Großteil ihres bisherigen Lebens verbracht hatte? Das erfüllte sie mit einem ziemlich mulmigen Gefühl. Ob er die geringste Ahnung hatte, worauf er sich da einließ? Diese Station konnte ein unglaublich gefährlicher Ort sein, wenn man ihn nicht kannte. Nicht auszudenken, was mit ihm passieren würde, sollte er dort entlarvt werden....
Doch Alsth wirkte sehr ruhig und entschlossen. „Das wäre nicht meine erste Undercover-Mission. Mein früherer Chef beim Einsatztrupp meinte immer, dass ich den Vorteil der Unauffälligkeit hätte, weil ich so ein Allerwelts-Gesicht habe. Gruth hat mich kurz am Raumhafen gesehen – aber wenn wir mit einer leichten Verkleidung nachhelfen, glaube ich kaum, dass er mich wiedererkennen würde.“
Doch die Direktorin wirkte noch skeptisch. „Denken Sie wirklich, dass Sie sich in die Schmugglerszene eingliedern können, ohne Misstrauen zu erregen? Vor allem wenn Sie aus heiterem Himmel dort auftauchen?“
Sofort nickte Nylla eifrig. Genau das hatte sie sich auch gedacht! Ich wünschte, ihr hättet mit mir darüber geredet, bevor ihr eurer Chefin diesen Plan vorschlagt! Dann hätte ich es euch nämlich noch rechtzeitig ausreden können....
Doch Alsth blieb zuversichtlich. „Nylla hat mir erzählt, dass öfters mal neue, unbekannte Gesichter auf dieser Station auftauchen und ihre Geschäfte abwickeln. Die verschwinden dann entweder schnell wieder oder stellen sich bei Torx vor und bitten um Aufträge. Es dürfte also kein Problem sein, wenn ich da plötzlich auftauche. Und was meine geringe Erfahrung im Schmugglermilieu angeht....“ Er unterbrach sich und sah vielsagend zu Kheilo hinüber.
Was kommt jetzt? Nylla kniff die Augen zusammen. Irgendwas haben die beiden doch schon ausgeheckt....
„Ich möchte, dass jemand mich auf den Einsatz begleitet“, fuhr Alsth fort. „Jemand der sich perfekt in der Welt der Schmuggler auskennt und der mir jederzeit wertvolle Tipps geben kann, wie ich mich verhalten oder was ich sagen soll. Und der mich notfalls auch dort rausholen kann, wenn es brenzlig wird.“
„Ich verstehe“, sagte die Direktorin. „Sie wollen also doch noch eine weitere Person hinzuziehen?“
„Nicht.... unbedingt.“ Alsth zögerte kurz und beäugte seine Chefin vorsichtig. Er schien unsicher zu sein, wie sie auf das reagieren würde, was er gleich vorschlagen wollte. „Es ist schließlich schon jemand hier, der dafür perfekt geeignet wäre. Ich hätte gerne, dass.... Nylla mich begleitet.“
„Was?!“ Nylla war in ihrem Stuhl vorgeschossen. Sie starrte Alsth ungläubig an. „Willst du mich auf den Arm nehmen?“
Doch Alsth erwiderte ihren Blick nicht, sondern sprach weiter auf die Direktorin ein. „Ich schlage vor, dass Nylla sich mit einem kleinen Schiff in der Nähe der Station versteckt. Natürlich kann sie selbst nicht mit an Bord kommen, aber sie sollte möglichst nahe dran sein, um mit mir in Funkkontakt bleiben zu können. Sie könnte hinter irgendeinem Asteroiden parken, wo man sie von der Station aus nicht entdecken kann.“
Nylla konnte nicht verhindern, dass ihr der Mund offen stand. Kann es sein, dass er das gerade wirklich ernst meint?!
„Also, nur damit ich das richtig verstehe“, unterbrach die Direktorin ihn. „Sie wollen also eine Schmugglerin zu einer verdeckten Operation hinzuziehen. Einer Zwei-Personen-Operation bestehend aus Ihnen – und ihr.“ Sie deutete mit dem Kinn in Nyllas Richtung.
Erst jetzt fiel Nylla auf, dass die Direktorin gar nicht so überrascht zu sein schien. Zumindest bei weitem nicht so überrascht wie Nylla selbst. Fast schien es, als hätte sie genau diesen Vorschlag schon kommen sehen. Das brachte Nylla fast noch mehr aus der Fassung.
Die Direktorin lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und musterte Alsth regelrecht amüsiert. „Ihnen ist hoffentlich klar, was Sie da gerade vorschlagen. Wenn dort draußen irgendetwas schiefgeht, liegt Ihr Schicksal komplett in Nyllas Händen. Erst gestern haben Sie sie noch selbst verhaftet – und heute wollen Sie ihr Ihr Leben anvertrauen?“
„Alsths Vorschlag klingt natürlich extrem gewagt – das wissen wir sehr gut“, bemerkte Kheilo. Es war offensichtlich, dass die beiden sich vor dem Treffen mit der Direktorin schon abgesprochen hatten. Erneut wünschte Nylla sich, sie hätten das auch mit ihr getan....
„Aber wir sind davon überzeugt, dass es funktionieren kann“, sprach Kheilo weiter. „Nylla hat keinen Grund mehr, gegen uns zu arbeiten. Wir können ihr kein wirkliches Verbrechen nachweisen – wenn man von ihren Taten am Raumhafen absieht, als sie um ihr Leben gerannt ist. Und außerdem will sie dasselbe wie wir: Torx unschädlich machen. Deswegen wird sie alles dafür tun, dass Alsth bei seiner verdeckten Operation Erfolg hat – da können wir uns sicher sein.“
„Außerdem haben wir noch ihr Schiff“, fügte Alsth hinzu. „Und solange wir das haben, wird sie sich ganz sicher nicht einfach aus dem Staub machen!“
Nylla drehte sich zu ihm und machte ein wütendes Gesicht. „Ich dachte, du hast damit nichts zu tun“, flüsterte sie.
„Darf ich auch etwas zu Protokoll geben?“ Vlorah hatte sich das alles für eine Weile angehört – aber nun konnte sie wohl nicht mehr hinter dem Berg halten. „Es zu sagen sollte eigentlich überflüssig sein, aber: Ich bin absolut gegen diese Idee!“
Oh, natürlich.... Nylla rollte mit den Augen.
„Agent Vlorah....“, begann Kheilo.
Vlorah unterbrach ihn: „Ich halte es für völlig unverantwortlich, einer Schmugglerin – noch dazu einer fast noch minderjährigen – so eine entscheidende Rolle bei dieser Operation zu geben. Sie haben alle gerade gehört, wie viel auf dem Spiel steht. Und trotz allem, was Sie beide gerade gesagt haben: Man kann ihr auf keinen Fall trauen!“
Vlorah starrte Nylla finster an. Die erwiderte den Blick giftig, was Vlorah jedoch nicht im geringsten zu jucken schien. „Ich sage Ihnen das als jemand, der seit beinahe zwanzig Jahren mit Menschen von ihrem Schlag zu tun hat: Glauben Sie bloß nicht, diese junge Frau hätte irgendwelche Skrupel, Kommissar Alsth auf dieser Station dem Tod zu überlassen! Ich verspreche Ihnen, sie wird pausenlos nach einer Möglichkeit suchen, wie sie ihn hintergehen kann. Wenn sie sich den geringsten Vorteil davon verspricht, wird sie keine Sekunde zögern es zu tun!“
Nylla formte ihre Hand zu einer Faust und streckte Vlorah den Mittelfinger entgegen. Da sie das hinter ihrem Rücken und unterhalb der Augenlinie tat, bemerkte diese es nicht – trotzdem fand Nylla es unglaublich befriedigend.
„Gut, Agent Vlorah, Ihr Einwand ist natürlich berechtigt....“, begann die Direktorin.
„Ich dagegen würde sagen....“ Kheilo räusperte sich demonstrativ. „.... als jemand, der seit über zwanzig Jahren beruflich Menschen beurteilt.... Ich glaube, Sie tun Nylla unrecht. Sie ist keine von diesen skrupellosen Gangstern, denen man in unserem Beruf ständig begegnet. Nach meinen kurzen Gesprächen mit ihr gestern und heute bin ich davon überzeugt, dass Nylla einen gewissen Ehrencodex und einen Sinn für Gerechtigkeit hat. Sie ist in einer verkommenen Welt groß geworden – aber sie ist kein schlechter Mensch. Ich denke, wir können ihr so weit vertrauen.“
„Das ist aber nicht....“, erwiderte Vlorah sofort.
„Kheilo hat Recht, wir....“, begann Alsth gleichzeitig.
„Herrschaften, wenn ich....“, versuchte die Direktorin sie zu übertönen.
In dem Moment trat Nylla mit voller Kraft gegen den Schreibtisch – und der Knall ließ alle drei augenblicklich verstummen.
„Wenn ich vielleicht auch mal gefragt werden könnte, ob ich bei dieser Sache mitmachen will?“ murrte Nylla.
Die Direktorin räusperte sich laut. Sie beugte sich in ihrem Stuhl nach vorne und sah Nylla ganz genau an. Diese bekam plötzlich wieder ein mulmiges Gefühl. Vielleicht hätte sie das gerade nicht tun sollen. Wie wertvoll dieser Schreibtisch wohl war?
Aber dann lächelte die Direktorin und sagte: „Es stimmt – Ihr Einwand ist berechtigt. Wir reden die ganze Zeit über Sie – aber nicht mit Ihnen.“ Sie lehnte sich wieder zurück. „Also gut: Wie sieht es aus? Möchten Sie uns bei dieser Mission helfen?“
Nylla machte schmale Lippen. Sie konnte spüren, wie Alsths und Kheilos gespannte Blicke auf ihr hafteten. Gleichzeitig glaubte sie Vlorahs leises Grummeln zu hören.
Nylla öffnete den Mund und legte sich ihre Worte zurecht. Dann überlegte sie es sich anders und sagte schlicht: „Nein.“
„Nylla....“, begann Alsth sofort.
Doch sie hob eine Hand, um ihn zu unterbrechen. „Aber ich will mein Raumschiff wieder haben!“ sagte sie energisch. „Und ich will Torx in den Hintern treten. Das heißt für mich: Ich bin dabei!“
Man konnte Alsth nun deutlich ansehen, wie erleichtert er war. Und wie sehr er sich auf seine Mission freute. Das könnte mit diesem Kerl sogar ganz lustig werden, dachte Nylla.
„Dann steht meiner Entscheidung wohl nichts mehr im Weg.“ Die Direktorin erhob sich von ihrem Stuhl, trat hinter ihn und stützte sich mit den Ellenbogen auf die Lehne. Es wirkte ein bisschen wie ein Ritual – Nylla ging jede Wette ein, dass sie das häufig tat, wenn sie eine schwerwiegende Entscheidung zu treffen hatte.
„Sie haben mir die Vorteile und Nachteile einer solchen Mission genannt – und ich kann alle gut nachvollziehen“, sagte die Direktorin, während sie in die Runde blickte. „Aber letztendlich geht es hier um die Sicherheit von Anbis City. Ich muss beurteilen, was für unsere Stadt am besten ist. Wovon geht die größere Gefahr aus? Von einer ganzen Raumstation voller Gangster, die einen Putsch planen und dafür bereit sind über Leichen zu gehen? Oder von einer einzelnen jungen Frau, die vielleicht – oder vielleicht nicht – ausschließlich auf ihren Vorteil aus ist? Ich denke, diese Entscheidung fällt mir relativ leicht.“
Dann lächelte sie und sah Alsth an. „Ich werde die Mission genehmigen.“
Alsth nickte grinsend. „Vielen Dank, Frau Direktorin.“
„Auch wenn ich Ihre Entscheidung durchaus nachvollziehen kann, das wird der Kosmopol-Direktion nicht gefallen“, bemerkte Vlorah. „Sie gehen da ein äußerst hohes Risiko ein.“ Beachtlich war, dass man ihr dabei keine Spur von Ärger oder Frust anhörte. Sie hatte sich gut im Griff, das musste Nylla ihr lassen.
„Wir werden sehen, wie sich die Sache entwickelt.“ Die Direktorin nahm nun wieder in ihrem Stuhl Platz. „Kommissar Alsth, Nylla, Sie können schon morgen aufbrechen, dann verlieren wir keine Zeit. Ich werde mich noch darum kümmern, dass man Ihnen zwei passende Raumschiffe bereitstellt. Kommissar Kheilo, Agent Vlorah, Sie werden hier in der Stadt bleiben und zusammen weiterermitteln?“
Kheilo nickte. „Richtig, wir werden weiter versuchen, die Identität dieses verräterischen Politikers aufzudecken.“
„Einwandfrei.“ Die Direktorin klopfte auf ihren Tisch „Dann ist dieses Gespräch hiermit beendet!“
Relativ früh am nächsten Tag betrat Alsth einen kleinen Schiffshangar am Raumhafen, den die Polizei dauerhaft gemietet hatte. Hier waren die Einsatzshuttles untergebracht, die gerade nicht diensttauglich waren, und einige Sondermodelle für spezielle Einsätze. Alsth trug einen großen Rucksack auf dem Rücken, den er gestern noch bis spät abends gepackt hatte.
Er sah sich kurz um und entdeckte Nylla, die schon da war und in einem kleinen Wartebereich herumsaß. Alsth musste sich ein Grinsen verkneifen, als er ihre Eskorte bemerkte: Es waren nicht nur zwei Polizisten zu ihrer Bewachung eingeteilt, auch die Raumhafensicherheit hatte zwei ihrer Leute hergeschickt, um auf Nylla aufzupassen. Offenbar erinnerte sich die Raumhafenleitung noch gut an das Chaos, das Nylla bei ihrem letzten „Besuch“ hier angerichtet hatte.
Jedoch zeigte Nylla nicht das geringste Interesse daran, einen Fluchtversuch zu starten oder ihre Wachen ähnlich zu vermöbeln wie diese Secus vor zwei Tagen. Sie beachtete das Sicherheitsquartett nicht einmal, sondern lümmelte nur gelangweilt über zwei Sitzplätze ausgestreckt auf ihrer Wartebank. Als Alsth auf sie zutrat, sah sie ihn zuerst nur fragend an – bis sie zwei Sekunden später begreifend die Augen aufriss.
„Nette Verkleidung“, bemerkte sie grinsend.
Alsth strich sich über den schwarzen Kinnbart, den eine Stylistin vom polizeilichen Zeugenschutz-Dienst ihm heute Morgen angelegt hatte. Sein Haar hatte sie ihm zu einer Stoppelfrisur heruntergeschnitten und schwarz gefärbt, sodass es zur Farbe des Barts passte. Zusätzlich hatte sie mit Kalkinjektionen seine Gesichtszüge leicht verändert und mit irgendeinem Bindemittel die Haut in seinem Gesicht und an den Händen etwas elastischer gemacht, sodass er ein paar Jahre älter aussah. Und schließlich war er noch mit ein paar abgetragen aussehenden Fliegerklamotten ausgestattet worden.
„Sollte ich jetzt beunruhigt sein?“ fragte er, während er an Nyllas Bank herantrat. „Eigentlich soll mich ja niemand mehr in dieser Verkleidung erkennen. Aber du hast mich schon nach zwei Sekunden erkannt.“
„Keine Sorge.“ Nylla zuckte mit den Achseln. „Für Gruth reicht die Maskierung auf jeden Fall.“
„Dann bin ich ja beruhigt.“ Alsth stellte seinen Rucksack neben Nyllas Bank ab. Nylla selbst war mit deutlich weniger Gepäck ausgestattet – da sie die ganze Zeit im Schiff bleiben würde, genügte ihr eine kleine Tasche. Man hatte ihr einige Alltagsutensilien und ein paar ihrer Klamotten aus ihrem Raumschiff bringen lassen. Selbst an Bord zu gehen hatte man ihr nicht erlaubt.
Alsth blieb mit verschränkten Armen vor Nyllas Bank stehen und sah sich kurz um. „Wir müssen noch eben warten, bis meine Kollegin kommt, die uns die beiden Raumschiffe übergibt. Ich bin schon gespannt, was man uns da für unsere Mission andrehen will.... Sollte aber nicht mehr lange dauern.“
„Okay.“ Nylla richtete sich auf und deutete auf den Platz neben sich auf der Bank, der dadurch frei wurde. „Darf ich dich etwas fragen, solange wir warten?“
Alsth nahm neben ihr Platz. „Klar doch. Was denn?“
Nylla rückte näher an ihn heran und sah ihn eindringlich an. „Sag mir ganz ehrlich: Warum zum Henker hast du vorgeschlagen, dass ich mitkommen soll?“
Diese Augen.... So aus nächster Nähe fand er ihre ausdrucksstarken grünen Augen unheimlich fesselnd, sodass Alsth sich für einige Sekunden auf gar nichts anderes konzentrieren konnte.
Aber dann versuchte er schnell ein cooles Grinsen aufzusetzen, um den Moment zu übertünchen. „Aus genau dem Grund, den ich gestern bei unserer Besprechung genannt habe: Du bist am besten dafür geeignet. Du kennst dich dort aus, wo ich hin will.“
„Und du hast überhaupt keine Bedenken, mir zu trauen?“
Alsth bemühte sich ihrem forschenden Blick standzuhalten und zuckte lässig mit den Achseln. „Willst du sagen, ich kann dir nicht trauen?“
Nylla stieß einen kurzen Lacher aus. „Mein lieber Alsth.... Ich bin eine Schmugglerin und du ein Cop. Wir stehen auf zwei Seiten, die von Natur aus nicht zusammenpassen. Außerdem kennst du mich erst seit zwei Tagen und bei unserer ersten Begegnung hätte ich dich fast mit einem Frachtwagen zerquetscht. Natürlich kannst du mir nicht trauen!“
Alsth musste darüber kichern. „Immerhin bist du ehrlich. Und diese Herrschaften hier werden dir sicherlich zustimmen.“ Er wies andeutungsweise auf die vier Sicherheitsleute, die mehr oder weniger ausdruckslos in ihre Richtung starrten.
Dann lehnte er sich zurück. „Um die Wahrheit zu sagen, ich trau dir auch nicht. Aber wie ich schon der Direktorin gesagt habe: Wir haben im Moment das gleiche Ziel. Das heißt, du hast entweder die Möglichkeit mir zu helfen oder eine ziemlich große Dummheit zu machen. Und zum Dummheiten machen bist du meiner Meinung nach zu schlau.“
„Wie nett von dir“, erwiderte Nylla sarkastisch. „Ich frage mich, warum du mich für so wahnsinnig schlau hältst. Vielleicht weil ich dich vorgestern beinahe übertölpelt hätte? Hey, vielleicht solltest du dir mal überlegen, ob das nicht mehr über dich aussagt als über mich.“
Alsth machte schmale Lippen. „Vielen Dank, sehr freundlich. Aber wenn wir schon so ehrlich sind: Es gibt in Wahrheit noch einen zweiten Grund, warum ich dich auf diese Mission mitnehmen wollte.“
Nylla hob die Augenbrauen. „Wenn du erwartest, dass ich dir was koche....“
„Oh Gott, nein!“ Alsth lachte laut. „Nein, es geht tatsächlich um unseren Schlagabtausch vorgestern am Raumhafen. Du hast mich dort ordentlich ins Schwitzen gebracht. Was du da so alles an Tricks und Fähigkeiten und Kunststückchen abgeliefert hast.... Ich war schon sehr beeindruckt. Und das hat mich einfach neugierig gemacht. Schon allein um mehr über dich zu erfahren wollte ich dich hier dabei haben.“
Darauf schwieg Nylla erstmal für zwei, drei Sekunden. Aber dann antwortete sie mit ihrem typischen streitlustigen Tonfall. „Na, wenn du da nicht mal mächtig enttäuscht wirst. Ich bin auch nur ein einfaches Mädchen, das versucht über die Runden zu kommen. An mir ist absolut nichts Besonderes.“
Alsth sah sie mit schmalen Augen an. „Ich glaube, du hast mehr auf dem Kasten, als du zugeben willst. Und dieser Gruth und seine Freunde sind da anscheinend nicht viel anders. Ich dachte schon fast, ihr wärt ausgebrochene Mutanten oder so....“
Er winkte schnell ab, als er Nyllas verwirrten Blick sah. „Egal. Aber es liegt irgendwie an dieser Raumstation, die ich bald besuchen werde, nicht wahr? Ich glaube, ihr wurdet dort gedrillt, eure Fähigkeiten gezielt zu trainieren. Sodass ihr perfekt auf dieses Leben als Schmuggler oder Söldner vorbereitet seid. Hab ich nicht recht?“
Nylla schien zunächst nicht sicher zu sein, ob sie darauf antworten sollte. Aber dann nickte sie zögerlich. „Torx“, fügte sie knapp hinzu.
„Euer Boss hat euch wohl ziemlich hart rangenommen.“
„Der Kerl hat wirklich hohe Erwartungen an seine Leute. Zum Beispiel lässt er nur Schmuggler für ihn arbeiten, die regelmäßig sein Trainingsangebot ausschlachten. Wie bei fast allem, was Torx macht, steckt eine Art Handel dahinter: Geh täglich schwimmen oder stell dich aufs Laufband und du bekommst einen frischen Auftrag. Gewinne eins der regelmäßigen Kampfturniere und zu darfst dir dein nächstes Geschäft aussuchen. Und den Premium-Coup bekommst du, wenn du dich auf der höchsten Schwierigkeitsstufe im Flugsimulator beweist. Torx legt großen Wert darauf, dass seine Leute Körper und Geist fit halten.“
Dann verstellte Nylla ihre Stimme, um krächzig und befehlerisch zu klingen: „Unschlagbarkeit ist die Tochter von Disziplin und Training! Diesen Satz benutzt er jeden Tag mindestens ein Dutzend mal.“
„Tja, anscheinend hat er damit recht. Wenn sogar die Kosmopol bis vor kurzem noch nichts von eurem Verein wusste, müsst ihr wirklich gut sein.“
Nylla grinste und drückte ihren Zeigefinger gegen Alsths Brust. „Willst du vielleicht deinen Job hier als Cop an den Nagel hängen und lieber bei Torx ins Schmuggelgeschäft einsteigen? Dann solltest du dich so früh wie möglich im Trainingsraum blicken lassen. Und nur wenn Torx am nächsten Tag von allen zu hören kriegt: ‚Mann, der Neue ist aber mächtig gut drauf!‘, erst dann wird er dich in eins seiner Raumschiffe lassen.“
„Ich werd‘s mir merken.... Und was müsste ich tun, wenn ich sogar ein eigenes Raumschiff haben will – so wie du?“
Nylla zuckte mit den Achseln. „Ich schätze, das geht nur, wenn du viele Jahre lang deinen Job ordentlich machst und keinen Mist baust.“
Alsth stutzte. „Viele Jahre lang? Du müsstest dann ja schon als Kind angefangen haben. Wie lange bist du denn schon Schmugglerin?“
Nylla ließ ihren Blick schweifen. „Eigentlich schon immer. Ich bin ins Geschäft hineingeboren worden. Auf die Station bin ich.... ich glaube mit vier oder fünf gekommen, kurz nachdem meine Mutter gestorben ist.“
„Deine Mutter ist....“ Alsth schluckte die Überraschung herunter. „Das tut mir leid....“
Doch Nylla winkte nur ab. „Dein Mitleid kannst du dir sparen. Kauf ich dir sowieso nicht ab.“
Ihre Reaktion brachte Alsth für einen kurzen Moment aus dem Konzept. Er hatte es absolut ehrlich gemeint, doch sie zog das von vornherein nicht einmal in Betracht – das irritierte ihn und ärgerte ihn auch ein bisschen. Aber irgendwie spürte er auch, dass es nichts bringen würde, ihr zu widersprechen. Also ließ er es fürs erste gut sein und griff das Gespräch wieder auf: „Und wann hast du dann dein Raumschiff bekommen?“
„Mit vierzehn.“ Auch Nylla tat ganz so, als wäre nichts weiter gewesen. „Ab dann bin ich völlig selbständig für Torx Aufträge geflogen.“
„Wie viele Flüge hast du denn schon gemacht?“
„Ach.... unzählige. Ich hab meistens die freien Aufträge angenommen. Irgendwelches Zeug von einem Händler abholen und zu einem anderen bringen war mir irgendwie zu langweilig. Stattdessen hat Torx mir meistens gesagt, was er als nächstes braucht, und ich hab geschaut, wo ich das herbekommen kann. Natürlich möglichst günstig und in bestmöglicher Qualität.“
Alsth nickte beeindruckt. Je mehr sie ihm über sich und ihr bisheriges Leben erzählte, desto mehr stieg seine Anerkennung. Es war kein einfaches Leben für so eine junge Frau, doch sie schien es perfekt gemeistert zu haben – bis vor kurzem.
„Und dann meinst du wirklich, du bist nur irgendein einfaches Mädchen?“ hakte er nach. „Für mich klingt das alles so, als wärst du eine ziemlich gute Schmugglerin gewesen.“
Nylla rümpfte die Nase. „Ich hab einfach nur meine Arbeit gemacht. Es gab bessere als mich. Obwohl Torx mir ständig weiß machen wollte, dass ich seine absolute Geheimwaffe war. Ganz zufällig hat er mich kurz danach immer auf die gefährlichsten und am besten bewachten Strecken geschickt. Zum Beispiel die Delbion-Quess-Route oder was ähnlich Mörderisches.“
„Und das hätte er nicht gemacht, wenn er dich für durchschnittlich gehalten hätte, oder?“
Nylla lachte auf. „Für durchschnittlich vielleicht nicht, aber für entbehrlich. So läuft das bei uns. Und ich war für Torx sogar so entbehrlich, dass er mich vor kurzem aus der Luftschleuse jagen wollte.“
„Okay..... so kann man das wohl auch sehen....“
Nylla sah ihn abschätzig an. „Mir fällt gerade auf, dass du genau wie Torx bist. Du willst mir auch ständig weiß machen, wie gut ich deiner Meinung nach bin. Und dann schickst du mich auf eine Mission zu den Leuten, die mich umbringen wollen.“
Alsth biss sich auf die Zunge. So hatte er das wirklich nicht gemeint! Warum sträubte sie sich nur so gegen jedes kleine Kompliment? „Jetzt komm schon!“ versuchte er es noch einmal. „Du bist mit vierzehn alleine durch die Gegend geflogen, hast die gefährlichsten Aufträge bekommen und lebst immer noch.... Denkst du nicht, dass du vielleicht ein bisschen was drauf hast?“
Nylla seufzte. „Okay, du hast völlig recht. Ich bin toll. Fantastisch. Die beste Schmugglerin des Universums. Zufrieden?“
„Vielleicht, wenn dieser sarkastische Tonfall nicht wäre.... Aber lassen wir es.“ Alsth machte eine kapitulierende Geste. „Hast du dir das Schmuggeln ganz allein beigebracht? Oder hat dir jemand gezeigt, wie’s geht?“
„Die meisten Erfahrungen muss man wohl selbst sammeln, sozusagen durch Versuch und Irrtum.“ Nylla grinste. „Ich könnte dir jede Menge Geschichten über Schlamassel erzählen, in die ich schon gerutscht bin, aber bis ich fertig bin, wäre Torx schon der Herrscher über dieses System.“ Dann wurde ihre Miene wieder ernst und nachdenklich. „Aber es gab da.... jemanden.... der mir die Grundlagen beigebracht hat. Er war für mich so eine Art Mentor....“
„Dein Vater?“ vermutete Alsth. Da ihre Mutter früh gestorben war, hielt er das für am naheliegendsten.
Doch Nylla schüttelte sofort den Kopf. „Nein....“ Sie zog ihre Stirn in Falten. „Von dem habe ich nur gelernt, wie man sich am besten aus dem Staub machen kann....“
Alsth horchte auf. „Wie darf ich das jetzt verstehen?“
Nylla winkte ab, um zu signalisieren, dass sie diesem Thema nicht viel Bedeutung abgewinnen wollte. „Mein Vater hätte dir und Torx sicher widersprochen. Für ihn war ich wohl nicht gut genug.“
Das verschlug Alsth für einen Moment die Sprache und er konnte sie erst einmal nur verdutzt anstarren. Dann begann er zu überlegen, wie er darauf jetzt am besten antworten sollte – oder ob er lieber gar nicht weiter nachhaken sollte.
Doch er kam nicht mehr dazu.
„Guten Morgen!“ ertönte eine vertraute Stimme hinter Alsth.
Er wandte sich um und entdeckte seine Kollegin Ariju, die eilig auf ihn zukam. Wie immer, wenn Kheilo und er technische Unterstützung brauchten, war Ariju die erste Anlaufstelle in ihrer Abteilung. Und wie immer war sie schon am frühen Morgen auffällig gut gelaunt.
Sie war relativ jung, sogar noch jünger als Alsth, aber eine absolute Expertin für so ziemlich alles, was mit Computern und Technik zu tun hatte. Und sie hatte eine Vorliebe für bunte und leicht kitschige Kleidung, was man auch heute wieder sehen konnte: Sie trug einen Faltenrock mit Blumenmuster und dazu eine blau-weiße Bluse, die Alsth irgendwie an eine Matrosenuniform erinnerte. Ihre langen, braunen Haare hatte sie zu zwei seitlichen Zöpfen gebunden, was ihr mädchenhaftes Erscheinungsbild noch verstärkte.
„Hey, Alsth“, begrüßte sie ihn mit ihrer typischen hellen, vergnügten Stimme. „Und du musst Nylla sein. Hallo, ich heiße Ariju. Und ich soll euch das Schiff für eure kleine Mission aushändigen.“
„Morgen, Ariju“, erwiderte Alsth, während er sich von der Bank erhob. „Langsam sollte ich mir wohl wirklich Sorgen machen. Du bist schon die zweite heute, die mich trotz meiner Verkleidung ohne Probleme erkennen kann.“
Ariju zeigte ihm ein breites Lächeln. „Keine Sorge, Alsth, ich hab schließlich erwartet, dich hier zu finden, sonst hätte ich dich wohl nie erkannt. Cooler Bart übrigens.“
„Schönen Dank auch“, erwiderte Alsth grinsend. „Aber hab ich das gerade richtig gehört, wir bekommen nur ein Schiff? Ariju, wir brauchen für unsere Mission aber unbedingt zwei Schiffe!“
Doch Ariju lächelte nur geheimnisvoll. „Keine Sorge, Alsth. Es ist zwar nur ein Schiff – aber ein ganz besonderes.“ Sie lief an ihnen vorbei und winkte sie mit sich. „Kommt doch einfach mit, dann erklär ich es euch!“
„Das ist die Tawain!“ verkündete Ariju und deutete dabei auf ein kleines Schiff, das in einer Ecke der Halle stand.
Es sah eigentlich nicht viel anders aus als ein herkömmliches Shuttle, mit dem kleinen Unterschied, dass die Triebwerke sich über dem Rumpf befanden anstatt an der Seite. Etwas eigenwillig fand Alsth die ausgeprägte Einschnürung in der Mitte des Schiffes, die es längsseitig beinahe in zwei Hälften teilte. Es gab nur ein recht schmales Verbindungsstück auf Höhe des Cockpits. Und die Andockluken links und rechts waren auch ungewöhnlich weit vorne. Aber irgendwas würden sich die Designer dabei wohl gedacht haben.
Er bemerkte, dass Nylla das Schiff sehr genau und interessiert betrachtete. Klar, sie war eine viel größere Raumschiff-Expertin als er.
„Die Tawain kommt frisch aus der Werft im Sektor G9, deswegen hat sie noch keinen Registrierungscode“, erklärte Ariju. „Das war ja auch einer eurer Wünsche. Eigentlich ist sie ein Prototyp für die Raumpatrouille und soll demnächst im Einsatz getestet werden. Aber ich nehme an, eure Mission ist auch ein guter Test.“
Alsth war immer noch eher skeptisch. „Ariju, du kennst die Details unserer Mission nicht, aber vertrau mir, ein Schiff allein reicht dafür nicht. Wir müssen....“
„Ich werd verrückt!“ entfuhr es Nylla in diesem Moment. Sie starrte die Tawain verblüfft an. „Das sind ja zwei Schiffe!“
Ariju lachte. „Siehst du, Alsth, deine neue Assistentin hat es schon kapiert.“
„Ich bin nicht seine Assistentin“, murrte Nylla.
Unterdessen sah Alsth sich das Schiff nochmal genauer an.
Dann erkannte er es auch: Alle Schiffsteile waren anscheinend doppelt vorhanden! Es waren nicht einfach nur zwei Antriebsdüsen, sondern insgesamt vier! Außerdem gab es zwei Bug- und zwei Heckgeschütze, zwei Schildgeneratoren, zwei Hyperraumstimulatoren und zwei Sensorplatten. Und alles war perfekt symmetrisch auf die zwei Schiffshälften verteilt.
Und das Verbindungsstück zwischen den beiden Hälften bestand in Wirklichkeit aus zwei verbundenen Andockschleusen. Sie waren exakt so groß wie die äußeren Luken und an exakt der gleichen Position am Schiff. Wenn die beiden Hälften getrennt wären, wären beide ein voll funktionsfähiges Schiff für sich – nur halb so schmal!
„Wow“, entfuhr es Alsth. „Das ist ja genial.“
Ariju lächelte erfreut. „Die Patrouillen müssen im Einsatz oft jemanden verfolgen, der sich mit jemand anderem trifft. Wenn die beiden sich wieder trennen, musste man sich bis jetzt immer entscheiden, welchen der beiden man weiterverfolgt und welchen man ziehen lässt. Mit der Tawain wäre das Problem gelöst. Sie kann sich einfach aufteilen und beiden hinterher fliegen.“
„Ah, ich verstehe!“ Alsth nickte und warf einen Blick zu Nylla hinüber. Sie hatte das alles schon viel eher erkannt und war auch sichtlich beeindruckt. „Im kombinierten Zustand sieht man ihr auf die Schnelle nicht an, dass es auch zwei Schiffe sein können.“
„Genau“, stimmte Ariju zu. „Und wenn sie getrennt sind, sieht jede Hälfte wie ein normales Schiff aus und die Bösewichte können nicht ahnen, dass irgendwo noch eine zweite Hälfte rumfliegt, vor der sie sich in Acht nehmen müssen. Ich kann euch sagen, das fand die Raumpatrouille sehr praktisch.“
„Und für uns passt es auch perfekt“, erkannte Alsth. „Ich hab zwar in meiner Ausbildung die Grundlagen des Weltraumflugs gelernt, aber ein besonders guter Pilot bin ich nicht. Das macht aber nichts, weil ich eine viel bessere Pilotin dabei habe, die einfach mit dem ganzen Schiff starten kann. Erst kurz vor dem Ziel können wir uns aufteilen, dann muss ich nur das letzte kleine Stück selbst fliegen.“ Er nickte anerkennend. „Ja, wirklich, diese Idee gefällt mir immer besser!“
„Die Steuerung der Tawain ist größtenteils identisch mit herkömmlichen Shuttles“, erklärte Ariju. „Nur die Kontrollen zum Abtrennen und Zusammenfügen sind neu. Komm doch mit rein, dann zeig ich dir schnell, wie das funktioniert.“
„Am besten erklärst du es gleich auch Nylla, weil sie die meiste Zeit am Steuer sitzen wird.“
„Klar, kann ich machen.“ Ariju zuckte mit den Achseln. „Wenn du ihr den Pilotenstuhl überlassen willst....“
„Ach, warum denn nicht?“ Er grinste Nylla schief an. „Sie ist die beste Assistentin, die ich je hatte....“
Wenig später war die Tawain mit ihren beiden Passagieren auch schon unterwegs in Richtung Anbis 6. Ariju hatte sich nach einer kurzen Einweisung wieder verzogen und nachdem Alsth und Nylla noch schnell ihr Gepäck an Bord gebracht hatten, war bereits die Startfreigabe des Raumhafens eingetroffen. Also war Nylla gestartet und hatte sich nicht lange damit aufgehalten, die Atmosphäre von Anbis 2 zu verlassen. Der Flug würde nur ein paar Minuten dauern, schließlich verließen sie das Sonnensystem nicht.
Innen im Schiff war tatsächlich auch alles doppelt vorhanden, inklusive zweier komplett eigenständiger Cockpits. Jeder von ihnen hatte eins besetzt, Nylla saß im Pilotenstuhl auf der rechten Seite, Alsth auf der linken. Noch konnte er sich aber zurücklehnen und Nylla die komplette Steuerung überlassen.
Er überlegte hin und her, ob er ihr Gespräch von vorhin noch einmal aufnehmen sollte. Ariju hatte sie unterbrochen, gerade als Nylla ihm etwas über ihren Vater erzählt hatte. Die Art und Weise, wie sie über ihn gesprochen hatte, hatte Alsth ziemlich erschrocken. Jetzt war er neugierig und würde zu gerne mehr darüber erfahren.
Aber sollte er sie nochmal damit traktieren? Sehr wahrscheinlich würde sie ihm ohnehin nichts allzu Persönliches erzählen wollen. Außerdem hatte sie schon deutlich gemacht, dass sie ihm seine Anteilnahme gar nicht abkaufte. Also würde sie vermutlich wieder nur mit einem bissigen Spruch oder ähnlichem antworten. Andererseits – über irgendwas sollten sie sich während des Flugs wohl unterhalten. Die Stille wurde gerade so langsam ein bisschen unangenehm....
Er wollte gerade den Mund aufmachen – da kam sie ihm zuvor:
„Wir sind bald in Sensorenreichweite der Station“, bemerkte sie. „Langsam sollten wir vielleicht loslegen.“
Alsth sah auf den Sichtschirm, auf dem Anbis 6 immer größer wurde. Das rote Licht des Gasriesen schien bereits in die Pilotenkabine. Na gut, dachte er, damit hätte sich das erledigt. Vielleicht kann ich sie in den nächsten Tagen nochmal danach fragen....
„Einverstanden“, sagte er laut, richtete sich in seinem Stuhl auf und legte die Hände schon mal auf die Steuerkonsole. „Du kannst den Trennvorgang einleiten.“
„Okay.... Ich schließe jetzt die Zwischenluke und docke dann ab. Mach‘s gut, Alsth.“
„Tschau, Nylla.“
Die innere Schleuse fuhr zu und Alsth war auf seiner Hälfte der Tawain allein. Er beobachtete auf dem Monitor, wie sich die beiden Hälften langsam voneinander entfernten. Gleichzeitig piepste etwas in seinem Ohr.
„Hey, hörst du mich? Funktioniert dieses Ding?“ hörte er Nyllas Stimme durch die kleine Ohrsonde, die Alsth vor dem Abflug in einen seiner Gehörgänge eingesetzt bekommen hatte.
„Einwandfrei“, antwortete er. „Hörst du mich auch gut?“
„Na ja. Du klingst ein bisschen so, als ob du gerade unter Wasser wärst. Aber ich kann dich verstehen. Hör zu, damit es keine Missverständnisse gibt: Meine Hälfte heißt ab jetzt Tawain 1, deine heißt Tawain 2, okay?“
„In Ordnung!“
„Ich werde mir jetzt einen hübschen kleinen Asteroiden hier in der Nähe suchen, hinter dem ich mich verstecke. Du nimmst jetzt am besten Kurs auf die Station.“
Nylla gab Alsth ein paar Koordinaten durch, die er in den Navigationscomputer eingab. Kurz darauf erschien ein Objekt auf dem Sensorschirm der Tawain 2, bei dem es sich ganz offensichtlich um eine Raumstation handelte. Fast im selben Moment empfing er von genau dieser Station einen Funkspruch.
„Unbekanntes Schiff. Sie haben sich dem Sicherheitsbereich unserer Station genähert. Identifizieren Sie sich und geben Sie den Grund für Ihre Annäherung an.“
„Pass auf, was du denen erzählst“, flüsterte Nylla ihm zu.
„Guten Morgen, ich bin.... Django!“ sagte Alsth laut. „Ich habe gehört, dass man auf Ihrer Station ein bisschen Kohle machen kann, wenn man ganz bestimmte Talente hat. Ich bitte um Erlaubnis anzudocken.“
„Tja, Django“, erwiderte die Stimme. „Wo haben Sie so etwas denn gehört, wenn ich fragen darf?“
Alsth schluckte. Was sollte er jetzt antworten?
„Sag ihm, du hättest im Stinkenden Bullen davon gehört“, meldete sich Nylla.
Dankbar wiederholte Alsth Nyllas Worte laut und wartete gespannt auf eine Antwort.
„Interessant....“ Die Stimme klang beeindruckt. „Und wer hat Ihnen dort diese seltsame Geschichte aufgetischt?“
„Sag, es war eine gewisse Triena!“
Alsth gab auch diesen Namen durch, von dem er noch nie etwas gehört hatte.
Die Stimme blieb eine Weile stumm. In dem Moment wurde Alsth eine Sache klar: Nylla hatte jetzt ein voll funktionstüchtiges Raumschiff und war alleine damit unterwegs. Wenn sie vorhatte, ihn zu hintergehen, war genau jetzt der perfekte Zeitpunkt! Womöglich hatte sie ihn gerade dazu gebracht, irgendeinen Unsinn zu erzählen, der ihn sofort auffliegen ließ. So konnte sie ihn sich ganz leicht vom Hals schaffen und völlig unbehelligt verduften....
Nervös knirschte er mit den Zähnen. Die ließen sich gerade mächtig Zeit mit der Antwort – oder kam es ihm nur so vor?
„Gut, Sie dürfen andocken!“ erklärte die Stimme dann. „Suchen Sie sich einen guten Platz aus!“ Daraufhin wurde die Verbindung beendet.
Erleichtert setzte Alsth den Anflug fort und hielt auf die von ihm aus gesehen „rechte Seite“ der Station zu, weil der Bordcomputer ihm dort einige Andockplätze anzeigte. Das Gebilde war annähernd würfelförmig und größer, als Alsth gedacht hatte. Es hatte wohl mindestens zehn Decks und noch dazu einen großen Energiespeichertrakt, der wie ein Zacken an der „Unterseite“ der Station herausstach.
Dann erschrak er kurz, als Nyllas Stimme wieder in seinem Ohr ertönte: „Okay, so weit, so gut.... Django. An Bord bist du schon mal. Nettes Pseudonym übrigens!“
„Danke!“ Alsth kam sich jetzt etwas dumm vor, weil er immer noch an Nylla und vor allem an seiner eigenen Menschenkenntnis gezweifelt hatte. Er nahm eine der unbesetzten Andockstellen der Station in die Zielerfassung und musste jetzt nur noch abbremsen. Den Rest machte der Bordcomputer der Tawain 2 fast von selbst. Kurz korrigierte er noch einmal seine Position, dann ging ein Ruck durch das Schiff, als es an der Schleuse einrastete.
„Hey, das hat geklappt!“ freute Alsth sich.
„Und ganz ohne Kratzer!“ erwiderte Nylla. „Nicht schlecht für einen blutigen Amateur.“
„Tja, dann wollen wir mal.“ Alsth sprang auf, nahm seinen Rucksack vom Boden auf und trat auf die Schleuse zu. Er öffnete sie und lugte nach draußen.
Erwartungsgemäß stand kein Empfangskomitee zu seiner Begrüßung bereit. Alsth erblickte lediglich einen langen grauen Gang, der in beide Richtungen führte. Die Luft roch leicht nach irgendeiner Betriebsflüssigkeit, an die Alsth sich wohl schnell gewöhnen würde, und war etwas kälter als im Shuttle.
„Okay, ab jetzt beschränke ich mich kommunikativ auf das Nötigste“, flüsterte er Nylla zu. „Es kommt etwas blöd, wenn ich dort drüben ständig Selbstgespräche führe. Schlecht für den ersten Eindruck.“
„In Ordnung. Und viel Spaß in meinem alten Heim!“
„Danke, den werde ich wohl haben....“
Er strich sich noch mal über sein Kinn, um sicher zu gehen, dass sein falscher Bart noch dran war. Dann trat er erwartungsvoll in den Gang hinaus....
Interlude: Der Auslöser
Zehn Jahre zuvor
Riano brummte schläfrig und blinzelte, als eine kleine Hand ihn am Oberarm griff und leicht rüttelte.
„Ja, ja, ich bin ja schon wach....“, flüsterte er.
Ächzend richtete er sich in seinem Pilotenstuhl auf und fasste sich gegen die Stirn. Schon wieder wäre er beinahe eingeschlafen. Er sollte dringend etwas gegen diese ständige Übermüdung unternehmen.
„Wie lange noch, Papa?“ wollte eine helle, ungeduldige Stimme wissen. Sie gehörte seiner Tochter, die neben seinem Pilotenstuhl stand und gespannt auf eine Antwort wartete. „Sag schon, Papa! Wie lange noch bis zum Treffpunkt?“
„Warte....“ Riano schielte aus halb geschlossenen Augen auf seine Konsole herunter. „Ich muss irgendwas verstellt haben.... Moment, das haben wir gleich....“
„Weil wenn es noch lange dauert, dann kann ich dich gar nicht mehr wecken! Du könntest ja einfach nach hinten gehn und dich hinlegen und ich fliege so lange. Aber ich darf ja nicht!“
Riano seufzte. „Ich hab dir schon hundertmal gesagt, dass du gar nichts machen kannst, solange wir nur geradeaus durch den Hyperraum fliegen. Und wenn es einen Notfall gibt, muss ich hier sein!“
„Ich kann aber auch einen Notfall verhindern!“ Das Mädchen blieb hartnäckig und klopfte gegen Rianos Bein. „Du hast mir doch alles gezeigt, Papa! Jetzt sag endlich, wie lange noch?“
Riano hatte inzwischen die richtigen Anzeigen wiedergefunden. „Wir sind schon bald da! Noch fünfzehn Minuten Flug, nicht einmal.“
„Kann ich nicht wenigstens so lange fliegen?“
Riano grinste und versuchte dann, seinen strengen Gesichtsausdruck wieder aufzusetzen. „Nylla“, erwiderte er. „Was hab ich gerade gesagt?“
„Bitte, bitte, bitte!“ bettelte Nylla.
Riano starrte eine Weile zögernd auf seine Konsole, dann fragte er: „Wie wäre es mit einem Kompromiss? Wie fliegen zusammen!“ Er schob seinen Stuhl zurück und sah seine Tochter erwartungsvoll an.
Nylla überlegte kurz. „Na gut!“ entschied sie dann und setzte sich auf Rianos rechtes Bein. Dieser schob sie beide wieder zur Konsole zurück.
„Okay, wo wollen wir hinfliegen?“ fragte Riano.
„Zum Treffpunkt!“ erwiderte Nylla sofort.
„Und in welche Richtung müssen wir dafür?“
„Einfach geradeaus!“
„Wie sieht es mit der Geschwindigkeit aus?“
„Die ist so in Ordnung!“
„Was müssen wir also machen?“
„Gar nichts!“
„Und? Was hab ich dir vorhin gesagt?“
„Oh Mann, das ist ja echt langweilig!“
In diesem Moment piepste die Konsole kurz auf, um einen hereinkommenden Funkspruch zu melden. Ehe Riano reagieren konnte, streckte Nylla ihre Hand aus und betätigte zwei Schaltflächen.
„Hallo?“ rief sie. „Hier ist die Liara!“
Eine etwas erstaunte, aber auch amüsiert klingende Stimme drang aus den vorderen Lautsprechern. „Oh, wer sind Sie denn? Hat Torx den letzten Piloten der Liara gefeuert?“
„Lass den Unsinn, Wetzke“, brummte Riano. „Ich hab seit fünfundzwanzig Stunden nicht geschlafen, ich bin nicht in der Stimmung für solche Scherze!“
„Hallo, Wetzke!“ rief Nylla erfreut. „Kommst du auch zum Treffpunkt?“
„Tja, ich hab die andere Hälfte der Ladung für unseren Freund Ombro. Das macht Torx immer so, wenn er Geschäfte mit diesem Halunken macht, weil er ihm zu Recht nicht über den Weg traut. Wir sehen uns dann auf Ombros Schiff. Übrigens, Riano: Du solltest dich irgendwann mal aufs Ohr hauen!“
„Sofort, wenn wir diese Sache abgewickelt haben!“ brummte Riano. „Ich hatte bis jetzt einfach keine Zeit. Geschäfte, du weißt schon. Also, bis später, Wetzke!“
Er streckte seine Hand nach der Schaltfläche für den Abbruch der Komverbindung aus, aber Nylla war wieder einmal schneller. „Siehst du, Papa, wenn du so müde bist, kann ich viel schneller die Tasten drücken als du! Also kann ich auch besser fliegen!“
„Nylla, können wir vielleicht darüber diskutieren, wenn ich meine Augen halbwegs offen halten kann? Im Moment ist dafür kein so guter Zeitpunkt!“
Nylla sprang von Rianos Bein herunter und rannte auf die Tür zu, die ins Hecksegment der Liara führte. „Na gut, ich zieh schon mal meine Schuhe an!“
Riano drehte sich nicht zu ihr um, sondern widmete sich seiner Konsole. „Lass mich raten: Du willst mitkommen?“
„Ja! Ich will auch mal so ein großes Raumschiff von innen sehen!“
„Das kannst du dir gleich abschminken. Dort ist es viel zu gefährlich für ein neunjähriges Mädchen. Auch für so ein hartnäckiges! Du bleibst auf der Liara, bis Wetzke und ich zurückkommen. Das wird auch nicht allzu lange dauern.“
„Oh Mann!“ ärgerte sich Nylla. „Gar nichts darf man!“
Sie blieb in der Tür stehen und wartete auf eine Antwort.
„Papa!“ drängte sie, als keine kam.
Doch das einzige, was ihr Papa erwiderte, war ein Geräusch, das ziemlich verdächtig nach Schnarchen klang....
„Eine Tasse Kaffee“, nuschelte Riano. „Schwarz. Kein Zucker.“
„Kommt sofort“, flötete die Stimme des Automaten, woraufhin es in dessen Innerem zu summen und kläppern begann.
Riano erinnerte sich ein weiteres Mal an das Gerücht, dass diese Automaten nur deswegen diese Arbeitsgeräusche machten, um den Kunden vorzugaukeln, der Kaffee würde gerade frisch synthetisiert werden. In Wirklichkeit, so hieß es, köchelte die Brühe schon ein halbes Jahr lang im Tank des Automaten und wurde nur schnell noch einmal aufgeheizt. Was letztendlich richtig war, war Riano im Moment ziemlich egal, solange das Zeug nur die gewünschte Wirkung erzielte und verhinderte, dass er zu einem ungünstigen Zeitpunkt einschlief. Und jeder Moment, solange er sich auf diesem Schiff befand, wäre wohl ein ungünstiger Zeitpunkt.
Riano kannte Ombros großen Transportkreuzer inzwischen ganz gut, denn er war längst nicht zum ersten Mal an Bord. Dieses Ding war die Heimat von unzähligen Gangstern und Gaunern, die alle den Schutz der ausreichend guten Bewaffnung und der ausreichend dicken Schilde der Voss ausnutzten, um mehr oder weniger ihren eigenen zwielichtigen Geschäften nachzugehen. Eigentlich war die Voss recht gut vergleichbar mit Torx’ Raumstation – mit dem Unterschied, dass Ombro sich nicht ansatzweise darum scherte, was jeder an Bord so trieb. Der einzige Grund, warum Ombro ein Schiff hatte und keine Raumstation, war einfach: Wenn man beweglich war und im Hyperraum verschwinden konnte, konnte man nicht so schnell entdeckt werden.
Die Bewohner der Voss – man konnte schon gar nicht mehr von Passagieren oder Crewmitgliedern sprechen – waren die meiste Zeit sich selbst überlassen. Ombro sorgte nicht, wie Torx das tat, für spezielles Training, für eine funktionierende Gemeinschaft und ein gewisses Grundgerüst an Ordnung und kümmerte sich auch nicht im Geringsten um die nötige Versorgung seiner Günstlinge. Ombro setzte auf eine sehr liberale Führung – sollten diese kleinen Gauner doch selbst sehen, wie sie über die Runden kamen.
Deswegen ging es auf der Voss die meiste Zeit über drunter und drüber. Wenn Riano aus dem Automatenraum hinaus auf den großen Basar im Zentralbereich der Voss blickte, fühlte er sich ein weiteres Mal in seiner Entscheidung bestätigt, Nylla auf der Liara gelassen zu haben.
Nicht weit vom Eingang entfernt prügelten sich gerade einige zwielichtige Gestalten – sie selbst würden es wahrscheinlich Verhandlung nennen. Die Prügelei erregte kaum Aufsehen, obwohl auch noch jede Menge andere Leute auf dem Basar unterwegs waren. Aber die hatten größtenteils andere Dinge im Kopf. Zum Beispiel nach unvorsichtigen Passanten Ausschau zu halten, denen sie Geld oder Wertgegenstände aus der Tasche ziehen konnten. Oder selbst darauf zu achten, dass sie ihre geklauten Sachen nicht sofort wieder an den nächsten Taschendieb verloren.
Auf der gegenüberliegenden Seite der großen Halle erkannte Riano ein paar Lokale, in einem davon war anscheinend gerade der Strom ausgefallen, aus einem anderen wurde ein wild artikulierender, zerlumpter Kerl gerade von einem breitschultrigen Türsteher rausgeworfen. Ein paar Händler liefen über den Platz, schrien herum und schwenkten ihre Warenkörbe. Das meiste davon hatten sie wohl durch Diebstahl erworben und würden es wahrscheinlich auf genau dieselbe Weise wieder verlieren.
Riano schüttelte dem Kopf und griff erleichtert nach der Tasse mit dampfender, dunkler Flüssigkeit, die der Automat gerade ausgespuckt hatte. Er nahm sofort einen großen Schluck, obwohl er sich erwartungsgemäß dabei die Zunge verbrannte.
„Langsam, Junge!“ meldete sich da eine Stimme. „Sonst verschluckst du dich noch.“
Riano drehte sich um. Ein älterer Mann war gerade durch die Tür gekommen. Er hatte freundliche, opahafte Gesichtszüge, und grinste Riano zur Begrüßung schelmisch an. Wie immer trug er seine Latzhose und seine Fliegerjacke und hatte eine Hängetasche um die Schulter, die fast leer zu sein schien. Über der Stirn waren ihm gnädigerweise einige silbergraue Haare verblieben, die er durchaus mit einem gewissen Stolz trug. Seine Hände hinter dem Rücken verschränkt trat er auf Riano zu.
„Hallo, Wetzke“, brummte Riano. „Willst du auch eine Tasse?“
„Pah! Dieses Zeug nützt bei mir überhaupt nichts! Damals, während der Grenzkonflikte, als wir noch wie die Schnecken durchs All schleichen mussten, um nicht dem Feind in die Hände zu fallen, haben wir uns immer gegenseitig....“
„.... mit Ohrfeigen wach gehalten, ich weiß. Na gut, gehen wir dann zu Ombro rauf?“
„Du hast wirklich keine Manieren, Junge!“ Wetzke hob andeutungsweise den Zeigefinger. „Einen alten Mann muss man ausreden lassen, egal, wie oft er seine Geschichte schon erzählt hat. Was würdest du sagen, wenn dein Sprössling dich irgendwann gar nicht mehr zu Wort kommen lässt?“
Riano grinste. „Was meinst du mit irgendwann?“
Wetzke nickte schmunzelnd. „Und? Wie geht es unserer Nylla?“
„Na ja, sie schmollt ein bisschen, weil ich sie nicht mitgenommen hab. Aber sonst ist sie – im Gegensatz zu mir – sehr.... ausgeschlafen.“ Nach diesen Worten nahm er demonstrativ einen weiteren großen Schluck aus seiner Tasse.
Die beiden verließen den Automatenraum und liefen über den Basar auf den nächsten Lift zu, der sie zum Kommandodeck des Kreuzers führen würde. Dabei achteten sie sorgsam darauf, nicht „aus Versehen“ mit einer der herumhetzenden Gestalten zusammenzustoßen. Ohnehin hatten sie beide nur das Nötigste auf die Voss mitgenommen. Das war einfach sicherer.
„Ja ja, die Kleine hat es nicht einfach. Sie muss mit solchen Gaunern wie uns groß werden“, meinte Wetzke. „Weißt du, niemand sollte den größten Teil seiner Kindheit im Hyperraum verbringen müssen. Ich weiß, wovon ich spreche. Schau mich an. Ich bin ein alter, mürrischer Kerl geworden. Mein ganzes Leben habe ich nichts anderes gemacht, als irgendwelchen Mist durch die Gegend zu schmuggeln. Und mit Leuten wie mir muss sich so ein liebes Mädchen tagtäglich abgeben. Ziemlich unglücklich, das Ganze, nicht wahr?“
„Wobei du natürlich noch zu den Besseren gehörst, Wetzke“, erwiderte Riano mit leichter Stimme. „Von dir kann Nylla wenigstens noch ein paar schlechte Witze lernen. Aber du weißt ja, Liara hat es immer gesagt, Nylla wird uns irgendwann alle überholen. Sie wird einen besonderen Eindruck in dieser Galaxie hinterlassen, da war sich Liara ganz sicher.“
„Ja, das denken Mütter immer. Aber sie könnte schon recht haben, Nylla ist eindeutig ein Unikat.“
Sie stiegen in die Liftkapsel ein und Wetzke wählte auf dem kleinen Videoschirm, auf dem der Grundriss der Voss abgebildet war, ihr Ziel aus. Sofort setzte sich die Kapsel in Bewegung.
„Womit wir wieder beim selben alten Thema sind“, fuhr Riano fort. „Liara wird nie selbst miterleben, ob sie recht gehabt hat. Und sie wird nie einen Einfluss auf Nyllas Entwicklung haben. Stattdessen bleibt ihrer Tochter nur ihr total überforderter und ständig schläfriger Papa.“ Er blickte Wetzke niedergeschlagen an. „Manchmal weiß ich wirklich nicht, ob ich das alles noch hinkriege....“
„Jetzt mal doch nicht den Teufel an die Wand“, erwiderte Wetzke ruhig. „Soll ich dir was sagen? Für jemanden, der so früh seine Partnerin verloren hat und der unter solchen Umständen alleine ein Kind großziehen muss und hunderte andere Probleme am Hals hat, machst du dich unheimlich gut. Und im Notfall hast du ja immer noch den guten alten Wetzke, der dir ein bisschen unter die Arme greift.“
„Und dafür bin ich dir auch dankbar.... Sag mal?“
„Was?“
„Liegt es an diesem komischen Kaffee oder hat jemand die Luftfilteranlagen in diesem Lift manipuliert? Oder warum werden wir plötzlich beide so sentimental?“
„Tja, da ich keinen Kaffee trinke, muss es wohl eine von Ombros Gemeinheiten sein. Sentimentale Geschäftsgegner sind einfach leichter übers Ohr zu hauen.“
„Gut, dann bin ich beruhigt“, grinste Riano. „Ich hab schon befürchtet, ich werde langsam so alt und rührselig wie du....“
Ombro schien heute mal wieder ausgesprochen gute Laune zu haben.
Aber das war auch kein Wunder, denn im genauen Gegensatz zu Torx, der mit zweitem Vornamen Miesepeter hieß, schien Ombro eigentlich immer hervorragend drauf zu sein. Riano hatte ihn zumindest noch nie in schlechter Stimmung erlebt. Auch heute erschien sofort ein breites Lächeln in seinem markigen Gesicht, als er erkannte, wer gerade in seinen Empfangsraum auf dem Kommandodeck der Voss getreten war. Er kam hinter seinem schweren Echtholz-Schreibtisch hervor, breitete seine Arme zu einer ausladenden Begrüßungsgeste aus und trat auf Riano und Wetzke zu.
„Aaah, meine werten Geschäftspartner!“ rief er laut und mit übertrieben herzlicher Stimme. „Wie ich sehe, hat der gute Torx mal wieder zwei seiner besten Leute zu mir geschickt. Riano, wenn ich mich recht entsinne!“
Ombro streckte Riano seine Hand entgegen. Dieser biss sofort die Zähne zusammen, denn aus früherer Erfahrung wusste er, dass Ombros Händedruck fester und unangenehmer als jede Gravo-Handschelle war. Ombro war ein hochgewachsener Kerl mit einer breitschultrigen Statur und kräftigen Armen – und Rianos rechte Hand bekam deren ganze Kraft zu spüren.
Als Riano erlöst war, trat Ombro noch auf Wetzke zu und führte an ihm dieselbe Foltermethode durch. „Und mein alter Freund Wetzke ist auch mal wieder dabei“, stellte er erfreut fest. „Es ist mir wie immer eine Ehre.“
„Ja, mir auch“, gab Wetzke gepresst zurück, während er seine Hand hinter den Rücken hielt und sie dort kräftig schüttelte.
Ombro fuhr herum und trat mit einigen weiten Schritten zu seinem Schreibtisch zurück. Durch die schnellen Bewegungen wurde sein dunkelroter Umhang aufgeweht und ließ kurz den Blick auf seinen protzigen Waffengürtel frei, der seine schwarze, uniformhafte Kleidung zusammenhielt. Der dünne Zopf, zu dem er seine schwarze Mähne zusammengebunden hatte, klatschte ihm dabei rhythmisch auf den breiten Rücken. Irgendwie erinnerte Ombro Riano immer an einen pensionierten Superhelden, mit seinem doch recht seltsamen Outfit.
Ombros Geschmack für Zimmereinrichtung stand seinen modischen Vorlieben allerdings in nichts nach. Jedes Mal, wenn Riano auf der Voss war, hatte dieser Kerl wieder irgendwelchen neuen Firlefanz in den Ecken stehen und an den Wänden hängen. Dieses Mal waren es ein paar kunstvoll verzierte Vasen, die links von Ombros Schreibtisch auf einem neu angelegten Regal standen und dort so etwas von überhaupt nicht zu den an der Wand hängenden exotischen Klingenwaffen und den edelstein-verzierten Totenmasken passten. Dieses Zimmer hier war ein halbes Museum!
„Aber gut, wollen wir nicht so viel Zeit mit unnötigem Geschwätz verlieren“, fuhr Ombro fort, während er sich in seinen großen Ledersessel fallen ließ und die Beine übereinander legte. „Kommen wir doch gleich zum Geschäftlichen. Deswegen sind wir schließlich hier zusammengekommen, nicht wahr?“
Ombro wies auf zwei Stühle, die vor seinem Schreibtisch standen. Riano entschied aber sofort, diesem Angebot nicht nachzukommen, denn er hatte das Gefühl, dass er auf der Stelle einschlafen würde, sollte er sich irgendwo hinsetzen. Auch Wetzke zog es anscheinend vor stehen zu bleiben. Ombro zuckte lächelnd mit den Achseln und widmete sich dann seinem Tischcomputer.
„Lassen Sie mich kurz nachdenken, worum es dieses Mal geht. Betäubungsmittel, nicht wahr?“
„Richtig, 250 Liter sogenanntes BTM-2/45“, bestätigte Riano mit monotoner Stimme. „Die Wirkung setzt innerhalb von 200 Millisekunden ein und hält etwa 45 Minuten an. Unser Zwischenhändler hat behauptet, es würde direkt aus den Beständen der Raumpatrouille stammen und dass es erst vor gut einer Woche von dort entwendet wurde. Torx garantiert dafür, dass Sie nirgendwo bessere Ware bekommen würden. Wie immer habe ich die eine Hälfte der Ladung an Bord und Wetzke die andere. Sobald der ausgemachte Betrag auf unsere Schiffe überwiesen ist, werden wir nacheinander die Frachträume öffnen, damit Ihre Roboter auspacken können.“
„Wie immer also.“ Ombro nickte und begann, mit seinen Fingerkuppen herumzuspielen. Um jetzt noch entspannter aussehen zu können, müsste er sich verflüssigen, dachte Riano. „Aber ich darf doch um ein bisschen mehr Elan bitten! Sie sehen müde aus, Riano! Haben Sie nicht geschlafen?“
„Genau deswegen möchte ich diese Sache schnell hinter mich bringen und hier verschwinden“, erwiderte Riano knurrig.
„Ja, das verstehe ich sehr gut, wenn ich Sie mir so ansehe....“ Ombro grinste und holte dann demonstrativ Luft, um seinen Einwand anzukündigen. „.... trotzdem möchte ich noch eine winzige Kleinigkeit mit Ihnen beiden besprechen. Ich kann Ihnen versichern, es wird nicht allzu lange dauern, wenn Sie gut mitspielen....“
„Tut mir leid, ich spiele nicht mehr“, brummte Wetzke. „Nicht mehr, seit mir dieser verdammte Mistkerl von Gentos 4 mein halbes Vermögen abgeknöpft hat!“
Ombro ging nicht weiter auf Wetzkes Kommentar ein. „Wissen Sie.... Ich bin zwar sehr dankbar für die Geschäfte, die ich mit Ihnen und Ihrem Boss machen kann, und auch dieses Mal hat der gute Torx sich wieder selbst übertroffen. Es war sicherlich nicht einfach, an dieses hochwertige Betäubungsmittelchen zu kommen, die richtigen Quellen und Händler zu finden und so weiter. Aber....“
Ombro machte eine kleine Pause und blickte dabei von Riano zu Wetzke und wieder zurück. Riano seufzte innerlich, weil er jetzt wirklich keinen Nerv für Ombros Vorliebe für ausschweifende Monologe in den unpassendsten Situationen hatte. Ob er einfach laut sagen sollte, dass ihn Ombros Geschwätz nicht im geringsten interessierte? Ombro würde deswegen hoffentlich nicht gleich alle Geschäftsbeziehungen zu Torx abbrechen....
„Aber Sie müssen verstehen, auch ich bin da in einer gewissen Zwickmühle. Die Preise, die Torx und viele seiner Schmugglerkollegen ansetzen, sind manchmal schon ziemlich gepfeffert, das müssen Sie zugeben. Und wenn ich als professioneller Hehler etwas an meinen Geschäften verdienen will, muss ich sogar noch höher gehen. Es ist eine ziemlich ärgerliche Spirale, in der wir uns befinden.“
„Wenn Sie mit Torx’ Preisen nicht einverstanden sind, müssen Sie das mit ihm ausmachen“, entgegnete Wetzke. „Wir sind nur die Typen, die das Zeug durch die Gegend schippern. Aber glauben Sie mir, Riano und ich waren diejenigen, die dieses BTM heranschaffen mussten. Und der Preis, den dieser Händler dafür verlangt hat, war auch schon ganz schön saftig!“
„Oh, das glaube ich Ihnen, Wetzke, das glaube ich Ihnen!“ Ombro nickte gemächlich. „Trotzdem hätte ich sicher deutlich weniger bezahlen müssen, wenn ich mich persönlich an diesen ominösen Händler gewandt hätte. Ich muss neidlos anerkennen, dass Torx mir doch ab und zu eine Nasenlänge voraus ist, wenn es um das Knüpfen neuer Geschäftsbeziehungen geht. Und leider muss ich zugeben, dass er auch sehr gut darin ist, seine Kontakte geheim zu halten.“
„Worauf wollen Sie hinaus?“ fragte Wetzke misstrauisch. „Sollen wir Ihnen vielleicht Torx’ Zwischenhändler verraten?“
Ombro wiegte seinen Kopf hin und her und setzte eine sehr geheimnisvolle Miene auf. „Nun ja.... Das wäre schon irgendwie meine Idealvorstellung.... Ich weiß natürlich, dass Sie das niemals tun würden.“ Dann hielt er kurz inne. „Andererseits.... Man sagt immer, dass Menschen zu so ziemlich allem bereit sind, wenn man ihnen nur einen genügend großen Anreiz bietet....“
So sehr Riano versuchte, sich auf Ombros nicht enden wollendes Gelaber zu konzentrieren, es fiel ihm immer schwerer. Er blickte auf seinen Kaffeebecher hinunter, den er immer noch in der Hand hielt und in dem nur noch ein paar dunkle Tropfen verblieben waren. Sofort drehten sich seine Gedanken wieder nur noch um sein weiches Bett.
„Und wenn ich so darüber nachdenke, habe ich vielleicht einen hervorragenden Anreiz für Sie“, fuhr Ombro inzwischen mit einem selbstgefälligen Grinsen fort. „Wer weiß? Vielleicht verraten Sie mir dafür nicht nur einen, sondern alle von Torx‘ Geschäftskontakten. Oder noch besser: Vielleicht überlassen Sie mir ja sogar die ein oder andere Schiffsladung ganz umsonst. Zum Beispiel die, die Sie gerade dabei haben – das wäre doch ein guter Anfang, würde ich meinen.... Riano?“
Ein paar Sekunden vergingen ereignislos, bis Riano begriff, dass er gerade angesprochen worden war. „Äh.... was?“ brachte er dann schnell hervor und versuchte vergeblich, seinen Blick auf Ombro zu konzentrieren.
„Meine Güte, Sie sollten sich wirklich einmal eine Ruhepause gönnen. Ich könnte Ihnen für ein paar Stunden eine Unterkunft auf der Voss anbieten, wenn Sie wollen. Ein kleiner Raum, der allerdings nicht ganz unbewohnt ist und damit meine ich nicht einmal noch das Ungeziefer.... aber für den Notfall....“
„Nein, danke“, erwiderte Riano. „Sagen Sie uns doch einfach, worum es überhaupt geht, damit wir das hier endlich hinter uns bringen können....“
Ombro beugte sich nach vorne und drehte seinen Tischcomputer zu seinen beiden Gästen um. „Sehen Sie sich das doch mal bitte an. Riano, kennen Sie diese Person?“
Riano trat näher und kniff angestrengt die Augen zusammen. Auf dem kleinen Monitor war das Foto einer Frau zu erkennen. Und soweit Rianos Erinnerung mitspielte, war es sehr wahrscheinlich die hässlichste Frau, die er je gesehen hatte. Obwohl nur das Gesicht und die Schultern zu sehen waren, konnte Riano unschwer erkennen, dass sie wohl einige Hundert Pfunde mit sich durch die Weltgeschichte schleppte. Ihre Wangen waren aufgeplustert und ihre fettigen dunkelbraunen Haare hingen ihr wie ein nasser, toter Pudel vom Kopf herab. Ansonsten hatte sie ein paar dreckige Sommersprossen über der schiefen Knollennase und blasse, spitze Lippen, die zu einem schiefen Grinsen verzogen waren. So ein Gesicht konnte er weiß Gott nicht vergessen – nicht mal in seinem momentanen Übermüdungszustand.
„Ich fürchte, ja“, antwortete er auf Ombros Frage. „Mit dieser.... Naturgewalt hatte ich erst kürzlich mal zu tun.“
„Wirklich?“ Ombro hob interessiert die Augenbrauen. „Was können Sie mir über sie erzählen?“
„Eine Raumschiff-Mechanikerin, glaube ich“, versuchte Riano sich zu erinnern. „Ich bin ihr auf Tramis 5 begegnet, als das Sicherheitssystem der Liara mal gestreikt hat. Sie hat behauptet, sie könnte es reparieren. Das hat sie auch gemacht, aber nach zwei Tagen war es schon wieder hinüber. Inzwischen denke ich, dass sie als Mechanikerin ungefähr so viel taugt wie als Unterwäschemodel. Warten Sie, vielleicht fällt mir ihr Name noch ein....“
Ombro wartete nicht auf das Ergebnis von Rianos Überlegungen. „Bracca“, sagte er, während er sich wieder in seinen bequemen Sessel zurücklehnte. „So heißt diese bezaubernde junge Dame. Und ganz zufällig ist sie eine meiner besten Spitzel! Sie hat ein paar nette Dinge über Ihr kleines Raumschiff herausgefunden. Zum Beispiel wie man die Türen öffnet oder wie man Zugang zu den Logbüchern bekommt. Und als Geschäftsmann, der ich bin, habe ich natürlich beschlossen, dieses Wissen gleich zu meinem Vorteil zu nutzen....“
Während Riano noch zu begreifen versuchte, was Ombro gerade eben erzählte, vernahm er neben sich ein Klicken. Er blickte zu Wetzke hinüber – der plötzlich eine kleine Impulspistole in der Hand hatte und auf Ombro richtete.
„Sie werden jetzt nicht sagen, was ich vermute....“, knurrte Wetzke, halb fragend, halb drohend.
„Aber mein lieber Wetzke....“ Ombro schien sich von der auf ihn gerichteten Waffe nicht im geringsten den Spaß verderben zu lassen. „Hatten wir nicht ausgemacht, dass bei unseren Geschäftstreffen keine Waffen mehr dabei sein sollen?“
„Pah!“ Wetzke rümpfte die Nase und bewegte seine Pistole keinen Millimeter. „Ich reise nirgendwo hin ohne gültige Rückfahrkarte! Schon seit 50 Jahren nicht!“
Ombro zuckte unbekümmert mit den Achseln. „Es bringt Ihnen sowieso nichts. Inzwischen müsste ich Sie nämlich lange genug aufgehalten haben. Lange genug, dass sich Bracca unten bei den Docks Zugang zu Rianos Schiff verschaffen konnte.“
Plötzlich war Riano hellwach.
Nylla....
„Sie wären sehr klug, wenn Sie jetzt nichts Unüberlegtes tun würden“, sagte Ombro. „Es liegt nun an Ihnen, ob Sie heute nur Ihre Fracht und ein paar Ihrer Logbuchdaten verlieren wollen – oder Ihr gesamtes Schiff....“
„Ombro, was soll der Unsinn?“ zischte Wetzke. „Sie wissen doch genau, dass Sie es sich dadurch mit Torx für immer verscherzen würden! Selbst wenn Sie uns gehen lassen, wird unser Boss sofort alle Geschäftsbeziehungen zu Ihnen abbrechen!“
„Na und?“ Ombros Grinsen wurde immer breiter. „Wenn Bracca Ihre Logbücher ausgeräumt hat, hat sich dieses Problem erledigt. Dann wird Torx mich mehr brauchen als ich ihn! Wenn er einen guten Kunden verlieren will, sein Problem!“
Die haben keine Ahnung, dachte Riano. Die haben keine Ahnung, dass noch jemand auf meinem Schiff ist! Riano konnte nicht wissen, was diese Bracca mit Nylla anstellen würde, wenn sie sie entdeckte! Er musste etwas unternehmen!
Er machte einen Satz auf Ombro zu und packte ihn grob am Kragen. Er achtete dabei darauf, nicht in die Schussbahn von Wetzkes Impulspistole zu kommen. „Sie werden Ihre Schnüfflerin jetzt auf der Stelle zurückrufen!“ brüllte er Ombro an. „Sie kriegen die gesamte Fracht umsonst, wenn Sie unbedingt wollen, aber lassen Sie ihre dreckigen Finger von meinem Schiff!“
Ombros Gesichtsausdruck trübte sich nun zum ersten Mal ein bisschen, während er skeptisch auf Rianos Hand herunter blickte. „Selbst wenn Ihre Drohgebärden mich beeindrucken würden.... Ich kann Bracca nicht kontaktieren! Wir haben vorher alles genau ausgemacht. Wenn ihr Komlink piepst, dann ist es das Zeichen dafür, dass etwas schief gelaufen ist. Sie wird dann Ihr Raumschiff in die Luft jagen. Wollen Sie das, Riano? Wollen Sie Ihr schönes kleines Schiffchen verlieren?“
Ich will etwas ganz anderes nicht verlieren.... Riano knirschte mit den Zähnen. Nur zu gut erinnerte er sich daran, wie er vorhin darauf bestanden hatte, dass Nylla auf der Liara blieb. Dort drüben ist es viel zu gefährlich, hatte er gesagt....
„Nein“, flüsterte Riano, ließ Ombros Kragen los und trat zurück. Er behielt aber seinen finsteren Blick auf Ombro gerichtet. Und dann flüsterte er: „Wetzke.... erschieß ihn.“
„Na, jetzt übertreiben Sie aber, mein lieber Riano!“ Ombro zog seinen Kragen zurecht. „Sie denken doch nicht, dass ich diese Möglichkeit nicht ebenfalls berücksichtigt habe!“ Dabei hob er den Arm und rollte seinen Ärmel ein Stück zurück. Zum Vorschein kam ein kleines elektronisches Gerät, das ganz offensichtlich Ombros Lebenszeichen erfasste.
„Sie sind ein Mistkerl, Ombro! Hat Ihnen das schon jemand gesagt?“ Wetzke drehte seinen Arm ein Stück und schoss.
Eine der Vasen auf dem Regal hinter Ombros Schreibtisch zerbarst in tausend Scherben, die sich klirrend auf dem Regal und dem Boden darunter verteilten.
„Nein!“ Ombro fuhr herum und blickte sein zerstörtes Souvenir entgeistert an.
„Riano, verschwinden wir hier“, raunte Wetzke, während er sich rückwärts auf die Tür zubewegte. Riano ließ sich nicht zweimal bitten, sondern stürmte an Wetzke vorbei Richtung Ausgang.
„Hiergeblieben!“ brüllte Ombro.
Doch Riano hatte nur noch einen Gedanken im Kopf. Er war bereits aus dem Zimmer, als er noch einen weiteren Schuss aus Wetzkes Waffe hörte, begleitet von erneutem Scheppern und einem schrillen Aufschrei von Ombro. Dann folgte Wetzke ihm nach draußen und zusammen rannten sie auf den Lift zu.
Vor dem Lift stand ein Wachmann, der schon im Begriff war, seine Waffe vom Gürtel zu ziehen.
„Stecken lassen!“ bellte Wetzke, während er mit seiner Waffe vor dem Wachmann herumwedelte.
Riano hieb inzwischen auf den Rufknopf und da der Lift schon da war, ging seine Tür direkt auf. Sofort sprangen beide hinein, Wetzke immer noch mit der Waffe auf den Wachmann gerichtet.
„Und sag deinem Boss, wenn der Liara was passiert, kann er noch mehr Scherben aufkehren!“
Bevor die Lifttüren sich schlossen, sah Riano noch kurz, wie Ombro mit hochrotem Kopf aus seinem Empfangsraum gestürmt kam. Er konnte nur hoffen, dass er Bracca jetzt nicht sofort das Signal gab, die Liara zu zerstören!
Angespannt trat Riano von einem Fuß auf den anderen, während die Liftkapsel sich viel zu langsam durch die Voss bewegte.
„Beruhig, dich, Riano“, versuchte Wetzke ihm zuzureden. „Wir dürfen jetzt nicht die Nerven verlieren!“
„Nicht die Nerven verlieren!?“ herrschte Riano ihn an. „Jemand versucht gerade mein Schiff zu kapern! Mit Nylla an Bord!“
Darauf fiel Wetzke erst mal keine Erwiderung ein. Dabei wusste er noch gar nicht, was Riano gerade am meisten Sorgen machte:
Wenn diese Bracca es wirklich schaffte, in die Liara einzudringen, würde sie dort auf ein paar echte Überraschungen treffen – und zwar nicht nur auf einen gewissen neunjährigen Passagier....
Nylla setzte sich in ihrer Koje auf, als sie vorne im Schiff etwas kläppern hörte.
Schnell schob sie das Notepad unter ihr Kopfkissen, strich es glatt, sodass niemand mehr etwas bemerken konnte, und sprang dann auf. Papa hatte ja gesagt, dass es nicht lange dauern würde, aber das sagte er immer und dann blieb er eine halbe Ewigkeit weg. Dieses Mal war es wohl doch schneller gegangen.
„Papa!“ rief sie und schlüpfte in ihre Schuhe. „Hast du mir was mitgebracht?“
Aus dem Bugsegment der Liara erklang nur ein kurzes Rumpeln und noch etwas, das sich wie ein leises Stöhnen anhörte, doch eine Antwort blieb aus
„Papa!“ rief Nylla noch einmal. Vielleicht ist er im Gehen eingeschlafen....
Sie trat durch die Verbindungstür – und blieb erschrocken stehen.
An der Pilotenkonsole saß ein Monstrum! Die Eingangsluke der Liara stand offen und ein paar Werkzeuge, die Nylla noch nie gesehen hatte, lagen auf dem Boden verstreut. Das Monstrum werkelte geschäftig mit einem Scandy herum.
Doch dann drehte es sich plötzlich schlagartig um und blickte Nylla entgeistert an.
„Was....“, brummte es. „Wer bist du?“
Panik stieg in Nylla hoch. Sie wich in den Schlafraum zurück, versteckte sich dort hinter der Wand und lugte vorsichtig durch die Tür.
„Toll, davon hat Ombro mir nichts gesagt....“, murmelte das Monstrum verärgert – das auf den zweiten Blick doch kein Monstrum, sondern nur eine sehr, sehr dicke Frau zu sein schien.
„Was hast du mit meinem Papa gemacht?“ fragte Nylla laut, nachdem sie neuen Mut gefasst hatte.
„Na großartig!“ Die dicke Frau stand auf und kam mit plumpen Schritten auf Nylla zu. Diese zog ihren Kopf sofort wieder ein Stück zurück. Die Frau kam immer näher und blieb dann kurz vor der Tür stehen. „Dieser dämliche Gockel! Er hätte mir sagen sollen, dass dieser Schmuggler ein Kind hat! Was mach ich jetzt?“
Nyllas Herz klopfte wie verrückt. Wer war diese Frau? Warum machte sie so ein unfreundliches Gesicht? Wo war ihr Papa? Sie konnte nichts anderes tun, als reglos auf ihr Gegenüber zu starren.
„Hey, Kleine!“ rief die dicke Frau. „Du störst hier! Du wirst jetzt schön brav aus diesem Schiff marschieren und mich hier alleine lassen! Hast du mich verstanden?“
„Das ist unser Schiff!“ erwiderte Nylla zitternd. „Wo ist mein Papa?“
„Den hab ich gefressen!“ erwiderte die dicke Frau giftig.
Dabei versuchte sie Nylla mit einer ihrer Pranken zu erwischen, doch die machte sofort einen Satz zurück.
„Gar nicht wahr!“ brüllte Nylla und hieb mit ihren Fingernägeln nach der Hand der dicken Frau.
Diese gab nicht auf und versuchte Nylla erneut zu packen, doch Nylla duckte sich und schlüpfte dann unter Papas Bett. Hier würde diese dicke Frau nie hinkommen!
Die Frau fauchte verärgert. „Verdammter Mist! Na gut, dann bleib halt da! Aber wehe du störst mich bei der Arbeit, du Giftzwerg! Wenn ich diesen Schrotthaufen in die Luft jagen muss, dann ist das halt dein Problem!“
„Das ist kein Schrotthaufen!“ schrie Nylla aufgebracht. „Papa wird niemals zulassen, dass du sein Schiff kaputt machst!“
„Papa kann mich mal!“ erwiderte die Frau, während sie zurück zur Pilotenkonsole stapfte.
Nylla versuchte zu erkennen, was sie dort machte, doch dummerweise schloss sich dann die Verbindungstür wieder. Was sollte sie jetzt machen? Wenn Papa jetzt hier wäre.... Er würde diese dumme Frau aus ihrem Schiff vertreiben und dann wäre wieder alles gut! Aber er war nicht hier....
Nylla atmete tief durch, dann schlüpfte sie unter dem Bett hervor und schlich auf die Tür zu, die sich sofort wieder öffnete.
Die dicke Frau saß immer noch an der Konsole, hämmerte mit einem ihrer Werkzeuge darauf herum und stieß einen Fluch nach dem anderen aus. Sie schien schon ziemlich außer Atem zu sein. Wahrscheinlich war sie es nicht gewohnt, sich besonders viel zu bewegen, und war darum sehr schnell erschöpft. Sie regte sich immer mehr auf und wurde immer roter am Nacken und fuchtelte immer hektischer herum.
„Der Teufel soll dieses verfluchte Schiff holen! Hier ist der Antrieb, aber wo.... Das ist nicht möglich!“ Nylla erschreckte sich ganz fürchterlich, als die dicke Frau plötzlich herumfuhr und sie zornig anblickte. „Du wolltest nicht aussteigen – das hast du jetzt davon! Ich werde abdocken und ein Stück wegfliegen müssen, bevor deine Leute wiederkommen! Sonst stören die uns noch!“
Nein! Wie sollte Papa zu ihr kommen können, wenn sie jetzt wegflogen?
Die dicke Frau hämmerte auf die Konsole. Kurz darauf begann der Antrieb der Liara zu summen, die Ausgangsluke schloss sich und ein dumpfer Schlag, begleitet von einem kurzen Schwanken, verriet Nylla, dass sie abgedockt hatten.
„So, jetzt wird uns eine Weile niemand stören“, brummte die dicke Frau. „Wollen wir doch mal sehen, ob wir dieses elende Schiff nicht doch noch knacken können!“
Das alles war ein einziger Alptraum! Nylla merkte, wie ihre Augen feucht wurden. Papa.... Sie war verloren....
In diesem Moment zischte etwas in der Nähe der Pilotenkonsole. Die dicke Frau schwenkte ihren Kopf zur Seite – und riss panisch die Augen auf. „Nein!“ schrie sie. „Das darf nicht....“
Dann fuhr ein greller Blitz aus der Konsole.
Die dicke Frau wurde kräftig durchgeschüttelt, als Funken auf sie übersprangen und ihre Hände verkohlten. Sie stieß einen schrillen Schmerzensschrei aus, der nur noch vom Geräusch der elektrischen Entladungen übertönt wurden, die aus der Konsole fuhren. Die dicke Frau wurde mit samt dem Pilotenstuhl nach hinten geschleudert und schlitterte ein ganzes Stück über den Boden des Schiffs – direkt auf Nylla zu. Kurz vor ihr blieb sie reglos liegen.
Nylla presste ihre Hand vor den Mund. Sie starrte in die leeren Augen der dicken Frau. Sie schienen direkt in ihre Richtung zu starren, aber waren völlig leblos geworden. Ihr Mund war halb geöffnet und Speichel tropfte heraus. Sie gab keinen Laut mehr von sich, lag nur still da und starrte Nylla eiskalt an....
Die Pilotenkonsole zischte immer noch. Teile der Anzeigen schienen zwar noch zu funktionieren, doch sie war halb verkohlt und stank fürchterlich. Der Gestank war so aufdringlich, dass Nylla übel wurde. Der Schreck ließ ihr Herz immer noch auf Hochtouren pulsieren und der grauenerregende Blick der reglosen Gestalt vor ihr sorgte dafür, dass sie unkontrolliert zu zittern begann.
Jetzt war Nylla alleine im Weltraum. Papa war nicht da. Die dicke Frau rührte sich nicht mehr und konnte sie nicht zurück zur Voss bringen. Und die Pilotenkonsole war kaputt! Es war eine Katastrophe!
Nein – es war ein Notfall! Papa hatte ihr gezeigt, wie man sich in solchen Situationen verhielt! Ich kann den Notfall verhindern!
Nylla reckte sich und wollte auf die Beine kommen. Doch der starrende Blick der dicken Frau wollte sich nicht von ihr lösen – und er jagte ihr höllische Angst ein. Als sie sich ein Stück näher an die dicke Frau heranbeugte, machte diese plötzlich ein Geräusch. Ein Gurgeln kam aus ihrem Magen und zog sich bis zu ihrem halb geöffneten Mund hinauf. Ein widerlicher Gestank drang in Nyllas Nase, der sogar noch unerträglicher war als der Gestank der Konsole. Sofort zog sich Nylla wieder zurück und wich sogar noch einen Meter weiter weg.
Die dicke Frau lag über den gesamten Boden des Bugsegments ausgestreckt. Sie trennte Nylla von der Pilotenkonsole. Wenn sie nach vorne wollte, musste sie an ihr vorbei, an diesem unmenschlichem Blick, diesem furchtbaren Gestank, dieser reglosen Miene....
Nylla würgte. Das schaffte sie niemals! Diesen Notfall konnte sie nicht verhindern. Nur Papa konnte das.
Papa kann mir bestimmt helfen, dachte Nylla und dieser Gedanke beruhigte sie ein bisschen. Ich bin zwar im Weltraum, aber irgendwie wird er mich schon erreichen können! Er wird gleich kommen und den Notfall verhindern.
Nylla nickte, zog ihre Beine an ihren Körper heran und verschränkte die Arme um ihre Knie. Dann legte sie ihren Kopf auf die Unterarme und versuchte, den Blick und den Gestank der Frau zu vergessen. So konnte sie warten, bis ihr Papa kam, und alles würde wieder gut werden....
Riano fluchte laut und rammte seine Fäuste gegen die geschlossene Dockschleuse.
„Jetzt bloß keine Panik!“ rief Wetzke hinter ihm. „Bracca wird gestartet sein, um keinen überraschenden Besuch zu bekommen! Komm, wir nehmen die Yago!“
Wetzke rannte weiter und Riano folgte ihm durch die Gänge der Voss, bis Wetzke vor einer weiteren Dockschleuse stehen blieb. Er öffnete sie und sie stürmten ins Schiff.
Kurz darauf waren sie abgedockt und entfernten sich von der Voss. Wetzke saß auf seinem Pilotenstuhl und huschte mit für sein Alter außergewöhnlich flinken Fingern über die Konsole. Riano stützte sich auf die Lehne von Wetzkes Stuhl und starrte gebannt auf die Anzeigen.
„Ich hab sie!“ rief Wetzke plötzlich. „Bracca hat einen Kurs programmiert, der die Liara einen weiten Bogen um die Voss herumfliegen lässt!“
„Können wir sie einholen?“
Wetzke rümpfte die Nase. „Keine Chance. Die Yago ist zwar schnell, aber so schnell auch wieder nicht.... Wir könnten hier warten, bis sie einmal im Kreis geflogen ist....“
„Nein, das dauert doch viel zu lange! Wann wäre sie bei dem Kurs wieder hier, in einer Stunde?“
„Hat sich sowieso erledigt. Von der Voss ist gerade noch ein Schiff gestartet und hat die Verfolgung aufgenommen! Dreimal dürfen wir raten, wer dort wahrscheinlich drin sitzt!“ Wetzke schnaubte. „Das Schiff will uns anfunken!“
„Ombro kann mich jetzt mal! Ignorieren! Funk stattdessen die Liara an!“
„Was denkst du, was ich gerade mache? Es antwortet niemand!“
„Verdammt!“ Riano schlug wütend auf Wetzkes Stuhllehne.
„Beruhig dich, Riano! Wir müssen jetzt einen kühlen Kopf bewahren! Ich geh erst einmal auf Verfolgung und dann....“ Wetzke stockte und starrte auf seine Konsole. „Was geht denn dort drüben vor?“
„Was hast du?“
„Ich empfange ziemlich verworrene Energiewerte von der Liara. Dort ist aus irgendeinem Grund die Hölle los.... Der Energieverteiler hat sich irgendwie selbstständig gemacht und die Hauptenergie pulsiert ganz komisch durch die Gegend.... Was hat diese Bracca dort angestellt?“
Riano atmete laut und unnatürlich lange durch. „Na prima.... sie hat es also aktiviert....“
„Sie hat was aktiviert?“ hakte Wetzke sofort nach. „Soll das heißen, du weißt, was da vor sich geht?“
„Sag mir eins, Wetzke, hast du die Yago nicht auch mit so ein paar Sicherheitsprogrammen bestückt? Damit sich nicht jeder Dieb dein Schiff schnappen oder den Frachtraum ausplündern kann?“
„Doch, natürlich, ich hab ein paar kleine Fallen einge....“ Wetzke schlug sich gegen die Stirn. „Du willst sagen, Bracca ist über irgendein Sicherheitssystem gestolpert? Aber was ist denn das für ein seltsames Programm, dass es die ganze Energieverteilung auf den Kopf stellt?! Riano, dein Raumschiff könnte in die Luft fliegen! Ich glaube wirklich nicht, dass so ein Sicherheitssystem besonders viel Sinn hat!“
Riano rang nach Worten. „Es.... ich wusste nicht so genau, was dieses Programm bewirken würde. Ich habe einfach irgendwas programmiert, was mir wirkungsvoll erschien! Das hab ich auf meinem letzten Einzelflug gemacht, so ganz auf die Schnelle! Eigentlich wollte ich es wieder löschen, hab aber nicht mehr dran gedacht. Ich hatte ja keine Ahnung, dass Nylla.... Wetzke, wir müssen auf der Stelle etwas unternehmen!“
„Was du nicht sagst! Ich versuche es immer wieder, aber da drüben antwortet keiner! Einholen können wir sie nicht und I-Minen haben wir auch nicht an Bord und ich bezweifle ernsthaft, dass Ombro uns welche leiht!“
„Warte....“ Riano zupfte sich am Kinn. „Kannst du auf der Liara irgendwelche Lebenszeichen erfassen?“
„Die Yago ist ein Schmugglerschiff und keine Forschungsstation!“ erwiderte Wetzke. „So gut sind meine Sensoren auch wieder nicht!“
„Vielleicht hat die Energieüberladung im Cockpit irgendetwas angestellt, sodass niemand mehr ans Komgerät kann. Aber ich müsste noch ein mobiles Komgerät hinten im Schlafraum der Liara haben, für den Notfall.... Wenn mir jetzt nur die Benutzerkennung einfallen würde....“
„Du solltest besser schnell machen! Ombros Schiff ist uns dicht auf den Fersen und wenn mich nicht alles täuscht, dreht auch noch die Voss bei. Und die Energiewerte von der Liara gefallen mir immer weniger!“
„Schon gut, hab sie!“ Riano beugte sich nach vorne und tippte etwas in die Konsole.
Eine Weile tat sich überhaupt nichts und Riano befürchtete schon, dass er vergessen hatte, das mobile Komgerät zu aktivieren. Doch dann klickten die Lautsprecher und ein aufgeregte, aber vertraute Stimme meldete sich. „Hallo! Hallo! .... Papa?“
„Nylla!“ schrie Riano.
„Papa, du musst kommen!“ Nylla klang überhastet. „Wir haben einen Notfall, aber ich kann ihn nicht verhindern! Die dicke Frau! Die bewegt sich nicht und die Konsole ist explodiert und macht jetzt irgendwas! Und stinkt! Und die dicke Frau auch!“
„Nylla, hör mir zu, Wetzke und ich sind ganz in der Nähe! Wir sind direkt hinter der Liara. Aber wir können nicht zu dir kommen!“
„Du musst herkommen! Du musst den Notfall verhindern!“
„Nylla, wir können die Liara nicht einholen“, mischte Wetzke sich ein. „Du musst nach vorne zur Pilotenkonsole und die Geschwindigkeit drosseln!“
„Ich hab dir gezeigt, wie man das macht!“ nahm Riano das Stichwort auf. „Kannst du die Konsole erreichen? Oder ist im vorderen Segment etwas nicht in Ordnung? Keine Atmosphäre, oder was?“
„Nein!“ erwiderte Nylla. „Aber die dicke Frau bewegt sich nicht und schaut mich so komisch an! Und sie macht Geräusche und vorhin ist sie in der Explosion gewesen und jetzt liegt sie da und ist schwarz und stinkt!“
Wetzke blickte sich um und wechselte einen ernsten Blick mit Riano. Dieser versuchte angestrengt, sich auf die Situation zu konzentrieren. Das viele Adrenalin sorgte zwar dafür, dass er sich nicht mehr müde fühlte, aber trotzdem spürte er, dass sein Gehirn nicht besonders leistungsstark arbeiten konnte. Und der Teil, der noch arbeitete, war fast völlig mit dem beißenden Gefühl der Hilflosigkeit beschäftigt und dem Gedanken, dass ihnen langsam die Zeit ausging....
„Hör zu, Nylla, die Frau kann dir nichts mehr tun!“ versuchte es Wetzke. „Sie ist tot oder bewusstlos, auf jeden Fall musst du sie ignorieren! Du musst jetzt zur Pilotenkonsole und den Antrieb drosseln!“
„Nein, nein, ich kann nicht! Wenn ich aufstehe, ist der Gestank da und die Frau und der Qualm und.... Papa, ich hab Angst!“
Riano bohrte seine Fingernägel in die Stuhllehne. Wetzke formte mit seinem Mund das Wort „Beeilung!“ ohne es laut auszusprechen und wies dabei auf das Sensordisplay, auf dem inzwischen alles rot blinkte.
„Papa!“ schrie Nylla und ihre Stimme überschlug sich in Panik. „Papa, komm!“
Sie wird es nicht schaffen, dachte Riano und der Gedanke brannte sich in seinen Kopf wie konzentrierte Säure. Sie erwartet, dass ich zu ihr komme. So ist sie es gewöhnt. So war es schon ihr ganzes Leben lang....
Aber dieses Mal war Riano machtlos. Er wusste keinen Ausweg mehr. Er starrte nur auf Wetzkes Pilotenkonsole, aus der immer noch Nyllas ängstliche Stimme tönte. Die Erschöpfung schien langsam wieder die Oberhand zu gewinnen....
Wetzke unterbrach die Komverbindung. „Uns läuft die Zeit davon. Die Energieverteilung der Liara schwappt immer mehr und kann jeden Moment überlaufen! Du musst Nylla überzeugen, dass sie selbst etwas tun muss!“
„Du kennst Nylla nicht so gut wie ich“, flüsterte Riano. „Sie wartet auf mich. Sie erwartet, dass ich alles in Ordnung bringe....“
„Riano.... Hast du wirklich keine Ahnung, was du da programmiert hast? Was passieren wird, wenn die Energieleitungen brechen, die du für deine hirnrissige Falle angezapft hast?“
„Ich habe nicht nachgedacht.... Ich.... war müde und....“
„Natürlich. Müde wie immer! Ich kann es dir leider auch nicht sagen, denn diese Anzeigen hier sind völlig chaotisch! Es könnte nur einen kleinen ‚Buff‘ geben und das war alles, aber genauso gut könnte das ganze Raumschiff explodieren!“
Ich muss endlich damit aufhören, wichtige Dinge im übermüdeten Zustand anzufangen.... „Was ist mit Ombro? Kann der uns vielleicht helfen?“
„Wohl kaum. Und selbst wenn er könnte.... ich habe zwei seiner tollen Erwerbungen zerschossen und dein Raumschiff hat seine Spionin umgebracht!“
Riano strich sich über seine heiße Stirn und als er die Hand wieder herunter nahm, war sie triefend nass. Ich hätte Nylla überhaupt nicht mitnehmen sollen, schoss es ihm durch den Kopf. Ich hätte sie auf der Raumstation lassen sollen. Nächstes Mal werde ich das so machen....
Falls es ein nächstes Mal geben sollte....
„Unsere Möglichkeiten sind ausgeschöpft“, ächzte er. „Du hast Nyllas Stimme gehört. Sie hat viel zu viel Angst....“
Wetzke seufzte. „Das heißt, wir können jetzt nichts anderes machen als zu warten.... Und zu beten, dass die Energie da drüben sich irgendwie selber entlädt.... Junge, so habe ich mir das ganz und gar nicht vorgestellt! Es muss doch irgendwas geben....“
Zuerst Liara und jetzt Nylla.... Rianos Knie wurden weich und er musste sich auf den Boden setzen. Er starrte auf seine Hände, an denen der Schweiß klebte, und versuchte das Pumpen in seinen Ohren zu ignorieren. Dann blickte er zu Wetzke auf und fragte: „Kannst du das Komgerät wieder aktivieren? Ich.... möchte wenigstens ihre Stimme noch einmal hören....“
Eine Viertelstunde später schreckte Nylla auf, als die Tür des Schlafbereichs der Liara einen Spalt breit aufgestoßen wurde.
Durch den schmalen Spalt sah sie sofort, dass im vorderen Bereich des Schiffes alles schwarz und verkohlt war. Auf dem Boden lag immer noch die dicke Frau, noch verrußter und bleicher als vorhin. Das alles musste von der zweiten Explosion herkommen, die ohrenbetäubend gewesen war. Die Triebwerke der Liara waren dabei auch ausgefallen. Dann war einige Zeit lang alles ruhig gewesen, bis eine kurze Erschütterung durch das Schiff gegangen war. Nylla hatte das schon sehr oft gespürt – immer wenn ein anderes Schiff an der Liara andockte.
Zwei vertraute Hände griffen durch den Spalt und zogen kräftig an der Tür, sodass sie sich ganz auftat. Nylla sprang auf und stürmte auf ihren Papa zu, der sie hochhob und in die Arme schloss.
„Papa!“ rief Nylla erfreut. „Ich wusste, dass du kommst!“
Sie schmiegte ihren Kopf an seine Schulter und spürte dankbar seine Hand über ihren Rücken streichen. Hinter ihrem Papa stand Wetzke und nickte ihr zu.
„Ich wusste, dass du den Notfall verhindern kannst“, fügte Nylla glücklich hinzu und kicherte erleichtert.
Riano hatte das Gefühl, als wäre seine Brust aufgeschnitten worden, mitten durch Herz und Lungen. Minuten lang hatte er gebangt, Minuten, die ihm wie Stunden vorgekommen waren. Selbst nach der Explosion hatte er noch nicht gewusst, was gerade wirklich passiert war. Erst als die Yago an der Liara angedockt hatte und Riano sein Schiff wieder betreten konnte, hatte er das Ausmaß des Schadens erkannt: Er war erheblich – aber glücklicherweise war sein Schiff noch an einem Stück und betretbar.
Es war ein furchtbares, unfassbares Gefühl, Nylla, die jetzt genauso gut auch hätte tot sein können, so fröhlich und unbekümmert zu sehen und sie zu umarmen. Die Erkenntnis, dass sie immer noch dachte, er hätte sie gerettet, schnürte ihm den Hals zu.
Er drehte sich mit ihr in den Armen um und flüsterte: „Unser Raumschiff ist hinüber. Wetzke und die Yago werden uns abschleppen müssen!“
„Bitte, Papa, lass mich nie wieder alleine....“, flüsterte Nylla zurück.
Riano biss sich auf die Lippen. Dank der Umarmung konnte Nylla seine Augen nicht sehen, die die ganze Zeit nur leer geradeaus starrten. Genau in die Richtung, in der Wetzke stand. Als dieser seinen Blick erwiderte, schüttelte Riano kaum merklich den Kopf.
Und Wetzke seufzte innerlich, wohl wissend, dass die Katastrophe noch nicht überstanden war. Nicht für Riano. Und schon gar nicht für Nylla....
Riano war zum ersten Mal seit langer Zeit richtig ausgeschlafen. Seit dem Zwischenfall mit Ombro waren drei Tage vergangen, die Riano die meiste Zeit über im Bett verbracht hatte. Er hatte einige Stunden tief und fest geschlafen, einige Stunden vor sich hin geschlummert und den Rest der Zeit war er wach gelegen und hatte lange nachgedacht. Nun fühlte er sich zu einer Entscheidung bereit. Aber vorher wollte er noch einmal zu Wetzke, um die Meinung des alten Haudegens zu erfragen.
Riano trottete durch die Gänge von Torx’ Raumstation, blieb dann vor Wetzkes Quartier stehen und betätigte den Türmelder. Von drinnen hörte er das Wörtchen „Herein!“, das die Tür sofort öffnete.
„Guten Morgen, Riano“, begrüßte Wetzke ihn freundlich und klappte seinen Tischcomputer zu. „Du wirst es nicht glauben, die Anbis Hawks haben schon wieder verloren! Wenn sie so weitermachen, steigen sie schon Mitte der Saison ab!“
„Wetzke, ich muss etwas mit dir besprechen....“
„Gerade erst aufgestanden und schon so auf Achse?“ fragte Wetzke grinsend. „Du solltest langsam akzeptieren, dass du nicht mehr der Jüngste bist. Mir hat diese Erkenntnis damals sehr geholfen....“
„Ich bin im Moment wirklich nicht in der Stimmung für diese Art von Unterhaltung“, fuhr Riano schnell dazwischen. „Wetzke.... ich habe beschlossen, die Station zu verlassen.“
Wetzke hob seinen Blick. „Oh.... Was sagt Nylla dazu?“
Riano zog sich einen Stuhl heran und ließ sich darauf fallen. „Sie weiß es noch nicht....“
„Wann erzählst du es ihr?“ Wetzkes Stimme verriet Riano, dass er wohl schon etwas ahnte.
„Gar nicht....“ Riano zwang sich dazu, seine Stimme nicht zu gepresst klingen zu lassen, was ihm aber nicht so richtig gelingen wollte. „Ich werde sie nicht mitnehmen....“
„Riano.....“
„Wetzke, du musst mir unbedingt zuerst zuhören, bevor du etwas dazu sagst! Die Sache ist nicht einfach für mich und ich hab lange nachgedacht....“
Wetzke fuhr sich über seinen kahlen Kopf. „Weißt du, ich hab schon befürchtet, dass dieser.... Vorfall noch Konsequenzen haben wird. Ich hab schon eine Menge Zeit mit euch jungen Leuten verbracht, verdammt, ich war selber mal einer! Deswegen weiß ich so ungefähr, wie ihr funktioniert.... So eine radikale Entscheidung habe aber selbst ich nicht erwartet! Du ziehst es wirklich in Erwägung, deine neunjährige Tochter sitzen zu lassen? Und dann auch noch so von heute auf morgen?“
„Ich....“ Riano schluckte, während er seine Gedanken zu ordnen versuchte. „Als erstes möchte ich, dass du nicht denkst, ich würde einfach nur feige davonrennen, weil ich mit der Verantwortung nicht klar komme. Im Gegenteil, das ist die schwerste Entscheidung, die ich je getroffen habe. Mir ist bewusst, dass das ein ziemlicher Schock für sie sein wird. Und die Vorstellung jagt mir schon jetzt mehr Angst ein als das Risiko, noch Hundert solcher Momente wie den vor drei Tagen erleben zu müssen.“
„Ist das wirklich so? Wenn du das sagst, bist du dann ehrlich zu dir selbst oder versuchst du nur, eine billige Rechtfertigung zu finden?“
„Du glaubst mir nicht!“
„Das habe ich nicht gesagt! Und es ist auch völlig unwichtig, ob ich dir glaube oder nicht. Entscheidend ist, ob du selbst davon überzeugt bist! Oder ob du dir nur etwas einreden willst, was gar nicht stimmt!“
Riano dachte kurz über Wetzkes Worte nach, dann erwiderte er: „Ich gebe zu, dass Flucht mein allererster Gedanke war. Auf der Liara, als ich Nylla im Arm hatte, habe ich wirklich gedacht: Junge, so etwas stehst du nicht noch einmal durch! Du musst hier verschwinden!“
Riano sah Wetzke forschend an, doch der versuchte gerade keine Gefühlsregung zu erkennen zu geben. Also sprach Riano beklommen weiter:
„Aber mir ist sofort danach klar geworden, dass das keine Lösung wäre. Und ich würde Nylla niemals aus egoistischen Gründen zurücklassen. Du musst mir einfach glauben, dass es mir nur um sie und um ihre Zukunft geht.“
„Siehst du, das wollte ich nur wissen. Du denkst also wirklich, Nylla allein zu lassen wäre für sie in irgendeiner Weise von Vorteil.“
„Du warst selbst dein ganzes Leben lang ein Schmuggler, Wetzke. Du weißt, wie unser Leben ist. Seine Selbstständigkeit aufzugeben und sich an irgendjemanden oder irgendetwas zu binden wird von den meisten von uns abgelehnt. Abhängigkeit ist der Feind jedes Schmugglers, sie kann sehr schnell tödlich enden. Ich hab mich damals anders entschieden, als ich Liara getroffen habe, und Liara hat sich auch so entschieden. Und ich weiß, wir beide haben diesen Schritt nie bereut. Während der ganzen Zeit, in der sie krank war, haben wir uns immer wieder gegenseitig gesagt, dass wir für die kurze Zeit, die wir zusammen hatten, sehr dankbar waren.“
Riano hielt es nicht mehr auf seinem Stuhl aus. Er sprang auf und begann in Wetzkes Quartier herumzulaufen. „Verstehst du: Es war unsere Wahl – aber Nylla hatte nie eine! Sie ist in eine Abhängigkeit hineingeboren worden und kannte nie etwas anderes. Wenn sie vielleicht schon etwas älter gewesen wäre, als Liara gestorben ist, wäre vielleicht etwas Selbstständigkeit an ihr hängen geblieben. Aber stattdessen hatte sie rund um die Uhr ihren Papa, der sich um sie gekümmert hat und auf den sie sich verlassen konnte. Nylla ist zu weich für dieses harte Leben und ich bin Schuld daran, weil ich immer für sie da war.“
Er blieb stehen und sah Wetzke wieder an. „Das kann niemals gut ausgehen. Dieses eine Mal hatten wir noch Glück, aber irgendwann wird sie wieder auf sich allein gestellt sein! Und wenn sie dann wieder nur darauf wartet, dass ich sie aus der Scheiße hole, dann können wir alle schon mal unser Kreuzzeichen machen!“
„Das ist also der Grund....“ Wetzke nickte langsam, seine Miene blieb jedoch undurchschaubar. „Du denkst, wenn Nylla plötzlich auf sich allein gestellt ist, dann wird sie zwangsläufig selbstständiger und härter werden. Und deswegen willst du also bei Nacht und Nebel verduften.“
„Ich dachte, dass du es vielleicht besser verstehen könntest als sonst jemand, weil du neulich dabei warst.“ Riano setzte sich wieder zu Wetzke und versuchte ihn mit seinen Blicken zu durchbohren. „Du hast die ganze Geschichte mitbekommen. Du hast bemerkt, wie sie verzweifelt nach mir gerufen hat. Wie überzeugt sie davon war, dass ich sie retten würde.“
Für eine Weile sah Wetzke Riano nur stumm an. Dann seufzte er und sagte: „Du hast recht, ich war dabei. Und ich habe etwas bemerkt. Nämlich wie sehr dieses Mädchen an ihrem Vater hängt. Und wenn mich nicht alles täuscht, wie sehr ihr Vater auch an ihr hängt. Ich habe in meinem ganzen Leben keine zwei Menschen gekannt, die enger zusammen gehalten und einander mehr bedeutet haben als ihr beide. Willst du euer Team wirklich wegen diesem einen Zwischenfall auseinander brechen lassen?“
Riano machte schon den Mund auf, doch Wetzke bedeutete ihm mit einer Geste, dass er noch nicht fertig war. „Ich weiß, Riano, du bist wirklich davon überzeugt, dass es das Richtige wäre. Aber für Nylla wird hier eine ganze Welt zusammenbrechen, das muss dir klar sein! Es wird alles andere als leicht für sie werden und ich kann dir wirklich nicht sagen, ob sie jemals darüber hinweg kommen wird. Ist das wirklich so viel besser als die Möglichkeit, dass sie wegen dir zu weich und unselbstständig bleiben könnte?“
Riano starrte auf den Fußboden. Er hatte sich viel Zeit genommen, um sich alles durch den Kopf gehen zu lassen. Und er war in dem Glauben hergekommen, die einzig richtige Entscheidung getroffen zu haben. Aber während er nun Wetzke zuhörte, kamen ihm plötzlich wieder Zweifel.
„Kurz bevor Liara gestorben ist....“, begann er dann wieder. „.... habe ich ihr etwas versprechen müssen: Alles dafür zu tun, damit aus Nylla ein wirklich besonderer Mensch wird, auf den Liara stolz sein kann. Damals war ich der festen Überzeugung, dieses Versprechen würde für mich bedeuten, dass ich Nylla niemals im Stich lassen werde. Dass ich mein Bestes geben werde, um für sie da zu sein.
Aber was wenn genau das Gegenteil der Fall ist? Wenn Nylla nur wirklich aufblühen kann, wenn ich ihr nicht mehr im Weg stehe? Und je mehr ich darüber nachdenke, umso richtiger erscheint mir dieser Gedanke. Ich bin mir absolut sicher, dass Nylla es überstehen wird. Sie ist viel zu stark, als dass irgendein noch so heftiger Schlag sie vollständig aus der Bahn werfen könnte.“
Er sah auf und sein Blick war wieder fest und entschlossen. „Vielleicht hast du Recht, vielleicht mache ich hier den größten Fehler meines Lebens. Aber ich weiß keinen anderen Ausweg mehr.... Nylla wird ab jetzt ohne ihren Papa klar kommen müssen....“
Ihm wurde erst bewusst, welchen entscheidenden Charakter seine letzten Worte hatten, nachdem er sie bereits gesagt hatte. Plötzlich hatte Riano Schwierigkeiten mit dem Sprechen, während sich seine Sicht zu trüben begann. Er spürte, wie etwas Feuchtes über seine Wange glitt, schloss die Augen und versuchte, die Tränen wegzukämpfen.
„Ich sehe, dass ich dich nicht mehr umstimmen kann....“, hörte er Wetzkes ruhige Stimme. „Und ich weiß auch nicht mit Sicherheit, was das Richtige ist. Womöglich werden wir erst in zehn Jahren wissen können, wie sich deine Entscheidung auf Nyllas Leben auswirken wird. Aber wenn du aus vollster Überzeugung sagst, dass du jetzt gehen musst, werde ich dich nicht aufhalten. Und ich werde auch versuchen, dir keine Vorwürfe wegen dieser Entscheidung zu machen. Du wirst dir wahrscheinlich ganz von selbst genug Vorwürfe machen.“
Für eine Weile herrschte völlige Stille in Wetzkes Quartier.
„Ich muss dich noch um etwas bitten, Wetzke....“, brachte Riano schließlich mit schwacher Stimme hervor. „Torx wird Nylla wahrscheinlich irgendwann ihr eigenes Schiff und allmählich ihre eigenen Aufträge geben. Deswegen würde es mich sehr freuen, wenn du ab und zu ein Auge auf sie wirfst. Ich weiß, dass sie dich gern hat und dass du ein paar gute Ratschläge für sie haben wirst. Das ist auf jeden Fall besser, als wenn Torx oder irgendeiner seiner Lakaien zu großen Einfluss auf sie haben. Würdest du das machen?“
„Ich werde mein Möglichstes versuchen, Riano. Obwohl ich dir jetzt schon sagen kann, dass ich ihr über den Verlust nicht hinweghelfen kann. Das muss sie ganz alleine schaffen....“
Riano nickte und wischte sich über die Augen. „Ich danke dir. Und ich hoffe, dass sie mir das irgendwann einmal verzeihen wird....“
Dann erhob er sich langsam, trat auf die Tür zu und ließ Wetzke in der Stille seines Quartiers zurück. Er hatte nicht den Mut, sich noch einmal zu ihm umzudrehen. Denn er spürte deutlich die Tränen, die gerade wieder hoch kamen und die er nun beim besten Willen nicht mehr zurückhalten konnte.
Weitere vier Tage später stand Wetzke zum wiederholten Mal vor der Tür von Rianos ehemaligem Quartier und wartete auf eine Reaktion. Als keine kam, betätigte er den Türmelder ein zweites Mal, doch hinter der Tür rührte sich immer noch nichts.
Er wusste genau, dass sie da drinnen war. Schon seit vier Tagen war sie nirgendwo anders gewesen als hinter dieser Tür. Und er hatte schon erwartet, dass sie ihm jetzt noch nicht aufmachen würde. Doch er konnte nicht anders, als es immer mal wieder zu versuchen.
Nur sie würde wissen, wann sie dazu bereit war, dieses Quartier wieder zu verlassen. Bis dahin war es unvermeidlich, dass sie einige Zeit brauchte, um mit sich selbst ins Reine zu kommen. Wieder eine Idee zu entwickeln, wer sie eigentlich war.
Und er wusste auch: Wenn sie sich schließlich dafür entscheiden würde, sich wieder der Welt zuzuwenden, würde es niemals wieder dieselbe Welt sein wie früher. Wetzke hatte in seinem Leben zwei Mal diesen Prozess durchmachen müssen. Es kam einem so vor, als wäre man gestorben und wiedergeboren worden. Man musste alles um sich herum wieder völlig neu annehmen und entdecken. Fast jeder Mensch hatte solche Einschnitte in seinem Leben zu überstehen – nur tat es Wetzke unendlich leid, dass Nylla schon in so einem jungen Alter an der Reihe war. Niemand sollte als Kind so etwas durchmachen müssen.
Wetzke seufzte und machte kehrt, um sich wieder an die Arbeit zu machen und weiter auf die Stunde oder den Tag zu warten, an dem diese Tür sich wieder öffnen würde, wenn er davor stand....
Episode 7: Das Angebot
„Ich bin noch Jungfrau“, sagte Alsth mit gedämpfter Stimme und todernster Miene zu seinem Gegenüber.
Er hatte sich öfters darüber Gedanken gemacht, dass er diesen oder einen ähnlichen Satz früher oder später zu irgendeinem weiblichen Wesen würde sagen müssen, falls er diesen Zustand jemals ändern wollte. Allerdings hätte er niemals erwartet, dass es unter diesen Umständen in dieser Umgebung geschehen würde – und erst recht nicht in Anwesenheit der Person, die ihm im Moment gegenüber saß und ihn ungläubig anstarrte.
Dabei war es ohnehin schon ein ziemlich anstrengender Tag gewesen. Jetzt war es Abend und seit heute Morgen, als er auf der Raumstation eingetroffen war, hatte er die meiste Zeit damit verbracht, sich in dieser unbekannten und – das vergaß er keine Sekunde lang – feindlichen Umgebung zurecht zu finden.
Er hatte sich vom Computer der Station ein freies Zimmer zuteilen lassen und dieses erst einmal bezogen. Da er die Interaktion mit anderen Stationsbewohnern auf ein Minimum reduzieren wollte, war er zuerst ganz zufrieden darüber gewesen, dass der „Portier“ kein Mensch war, sondern nur ein Computer. Das hatte sich aber schlagartig geändert, als er die Tür zu seiner neuen Unterkunft geöffnet hatte.
Vor ihm hatte sich ein wahres Schlachtfeld aufgetan.
Er war zurück zum Computerterminal gegangen und hatte sich beschweren wollen, aber die einzige Antwort, die er erhalten hatte, war „Anfrage kann nicht verarbeitet werden“ gewesen. Bei diesem Ding hatte ihm sein gesamtes Wissen über Verhöre und Verhörstrategien absolut nichts genutzt.
Sein neues „Quartier“ sah tatsächlich so aus, als wäre erst kürzlich eine Bombe darin explodiert. Die Wände und der Fußboden waren mit schwarzen Schlieren beschmiert und in der Matratze des Möbelstücks, das vermutlich das Bett darstellen sollte, prangte ziemlich genau in der Mitte ein riesiges Loch, aus dem Stofffetzen und Schaumstoff herausquollen.
Die Schränke hatten zum großen Teil keine Türen mehr. Ein paar der fehlenden Platten aus den Regalen lagen halb kaputt, halb mit demselben schwarzen Zeug beschmiert, auf dem Boden oder lehnten an der Wand.
Alsth hatte absolut keine Ahnung, wem dieses Quartier vorher gehört hatte. Aber irgendwie hatte er das ungute Gefühl, dass der Grund dafür, dass es wieder neu zu vergeben war, mit dem Tod dieser Person zusammenhing – der sich aller Wahrscheinlichkeit nach in genau diesen vier Wänden ereignet hatte. Der Geruch, der Alsth aus dem Inneren des Quartiers entgegengeweht war, würde zumindest darauf schließen lassen.
„Ich wusste gar nicht, dass ein Cop so ungeniert fluchen kann“, bemerkte Nylla, die über den Knopf in Alsths Ohr seine „Entdeckung“ live miterlebt hatte.
„Ich bin im Moment kein Cop, sondern ein Schmuggler“, brummte Alsth. „Und zum Glück ist bis jetzt niemand auf die Idee gekommen, eine Vorschrift ‚Fluchen im Undercover-Einsatz verboten‘ einzuführen....“
Daraufhin hatte er sich an die Restauration seiner neuen Unterkunft gemacht. Nach etwa zweieinhalb Stunden Arbeit und Herumstöbern in diversen Lagerräumen der Raumstation hatte er sie in einen zumindest halbwegs ertragbaren Zustand gebracht. Er tröstete sich damit, dass es ihn nun nur noch mehr anspornen würde, den Fall so schnell wie möglich abzuschließen.
„Jetzt hab ich keine Lust mehr!“ hatte er dann irgendwann gesagt. „Ich werde diesen Auftrag nicht innerhalb dieser paar Tage erfüllen können, wenn ich die ganze Zeit mit dem Herrichten dieser Bruchbude beschäftigt bin!“
„Sei doch nicht so vorschnell!“ Wie immer war Nylla sofort mit voller Aufmerksamkeit dabei, wenn er etwas sagte. Sie musste sich in ihrem Schiff hinter dem Asteroiden wohl ziemlich langweilen. „Wenn du es hübsch herrichtest und dann Torx zeigst, wird er vielleicht beschließen, seinen Plan zu vergessen und stattdessen seinen Lebensabend hier zu verbringen.“
„Vielen Dank für diesen äußerst nutzlosen Vorschlag.“
„Ich höre halt gerne anderen Leuten beim sinnlosen Schuften zu....“
Alsth hatte darauf nichts geantwortet, weil er irgendwie gehofft hatte, dass sie denken würde, er wäre jetzt beleidigt. Stattdessen hatte er seine „Luxussuite“ verlassen und war in den nächsten Lift gestiegen.
„Wo willst du hin?“ fragte Nylla sofort, die anscheinend das Summen des Lifts erkannt hatte. Sie klang dabei tatsächlich ein bisschen so, als würde sie sich wieder mit ihm versöhnen wollen. Vielleicht war das aber auch nur Alsths Einbildung.
„Ich will das Gelände auskundschaften“, erwiderte Alsth. „Heute Nacht will ich mir ein paar Informationen beschaffen. Wir müssen schließlich herausfinden, wie Torx es schaffen will, innerhalb dieser kurzen Impulspause die ganzen Kraftwerke da draußen auszuschalten.“
„Und was hast du da geplant?“
„Ich werde versuchen, nachts in Torx’ Büro einzubrechen und auf seinen Computer zuzugreifen. Und damit ich mich später im Dunkeln zurecht finde, seh ich mir jetzt schnell alles an. So einfach ist das.“
„Aber warte mal! Gruth wird jetzt in Torx’ Büro sein! Dem solltest du nicht über den Weg laufen....“
In diesem Moment blieb der Lift stehen und die Türen öffneten sich. Alsth verschluckte schnell die Antwort, die er schon auf der Zunge gehabt hatte. Schließlich wollte er nicht sofort an seinem ersten Tag von den anderen Stationsbewohnern als Verrückter abgestempelt werden, der seltsame Selbstgespräche führte.
Nylla hatte es da natürlich wesentlich leichter: „Warum hast du mich nicht zuerst gefragt? Ich weiß sehr gut, wie es da in diesem Büro aussieht. Ich kann dich dort durchlotsen, selbst wenn die Beleuchtung ausgeschaltet ist! Du bist bescheuert, wenn du jetzt dort reinspazierst! Du wirst dort nicht nur Gruth treffen, sondern auch Torx! Was willst du dem erzählen?“
Da Alsth auf diese Frage keine Antwort wusste, war er ganz froh darüber, sich jetzt keine ausdenken zu müssen. Die Wahrheit war, dass er sich durch den kurzen Zeitraum von nur sieben Tagen, in denen er den Fall zwingend lösen musste, etwas unter Druck gesetzt fühlte und jede Zeitverschwendung ihn wahnsinnig machte. Außerdem wollte er sich lieber selbst ein Bild von seinem nächtlichen Einsatzort machen.
Er würde wenigstens mal rein schauen. Vielleicht würde er so tun, als hätte er sich in der Tür geirrt. Vielleicht würde er auch gleich um ein Gespräch mit dem „Boss“ bitten, das kam auf die Situation an.
Was Gruth betraf.... Alsth glaubte nicht, dass der ihn erkennen würde. Schließlich waren sie sich erst zweimal kurz begegnet: Einmal als Gruth sich als Mitglied der Spurensicherung ausgegeben hatte und die Zella in die Luft jagen wollte. Und einmal am Raumhafen, als sie dort auf ihn und Nylla getroffen waren. Beide Male hatte Gruth ihn kaum eines Blickes gewürdigt. Außerdem vertraute Alsth darauf, dass seine Maskierung gut genug war – aufwendig genug war sie jedenfalls.
Da er Nylla das im Moment jedoch nicht erklären konnte, schimpfte die munter weiter. Alsth hörte ihr nur mit einem halben Ohr zu und konzentrierte sich stattdessen auf die Situation, die ihm bevorstand.
Torx’ Büro war nicht schwer zu finden. Alsth wusste von Nylla, dass auf der Tür der Umriss eines Stierkopfes aufgemalt war. Er entdeckte die besagte Tür recht schnell, näherte sich ihr kurzerhand und betätigte den Öffner.
„Oh, Entschuldigung, ich....“ Er hielt inne.
In dem Raum war niemand.
Alsth trottete verblüfft hinein. Es war ein ausgesprochen kleiner Raum und er war vollkommen leer, abgesehen von einer vertrockneten Zimmerpflanze und einer weiteren Tür auf der anderen Seite, an der ebenfalls ein Stierkopf prangte. Seltsames Büro für einen berüchtigten Schmugglerboss....
„Hey, niemand da?“ brummte er verwundert.
„Ich hab dir doch gerade gesagt, dass das nur der Vorraum ist! Dass gerade keine Wache hier herumsteht, ist dein Glück! Torx hausiert in dem Raum dahinter!“
„Oh....“ Alsth biss sich auf die Zunge und bereute es, Nylla nicht weiter zugehört zu haben. Etwas weniger entschlossen als vorhin trat er auf die zweite Tür zu. Bevor er auch hier auf den Öffner tippte, kam ihm der Gedanke, dass seine „In der Tür geirrt“-Ausrede jetzt möglicherweise nicht mehr funktionieren würde. Zumindest würde sie noch deutlich unglaubwürdiger erscheinen als ohnehin schon.
Ich muss es trotzdem riskieren, dachte er. Den halben Tag hatte er heute schon sinnlos verplempert – er musste langsam anfangen, Fortschritte zu machen. Schließlich entschied er sich, dass ein möglichst kraftvoller Reinplatzer ihm wohl die meiste Zeit geben würde, sich in dem Büro umzusehen, bevor man ihn wieder rauswarf.
Also hieb er entschlossen auf den Öffner und stürmte in den Raum hinein.
Auf halbem Weg stießen er und die Person, die zur selben Zeit genau so kraftvoll aus dem Büro gestürmt kam, mit voller Wucht mit den Köpfen zusammen....
.... das nächste, was Alsth wahrnahm, war die Wand, gegen die sein Gesicht drückte. Ein entfernter Teil seines Gehirns fragte sich, warum er nicht an der Wand entlang nach unten rutschte. Doch dann wurde ihm bewusst, dass sein Orientierungssinn ihm einen Streich gespielt hatte: In Wirklichkeit lag er auf dem Boden. Ein lautes „Plong“ hallte in seinem Kopf nach und er war sich nicht sicher, ob er sich das auch nur einbildete oder ob der Zusammenstoß tatsächlich so eine Resonanz hatte.
Er drehte sich auf den Rücken und versuchte sich aufzurappeln. Als ihm plötzlich irgendjemand eine Hand reichte, griff er instinktiv danach und ließ sich hochziehen. Fast wäre er einfach wieder nach vorne umgekippt, doch jemand stemmte sich gegen ihn. Dieser Jemand ächzte laut und schien seine gesamte Kraft aufwenden zu müssen, um Alsth vor dem Umfallen zu bewahren.
Er schüttelte seinen Kopf kräftig und das half ihm tatsächlich dabei, sein Gleichgewicht wiederzufinden. „Puh, danke“, brachte er hervor.
„Keine Ur....“, kam die erschöpfte Erwiderung. Offenbar war die andere Person noch ähnlich benommen wie er selbst – denn er spürte, dass sie nach hinten umzukippen drohte.
Schnell packte er zu und versuchte zu verhindern, dass sie beide wieder auf dem Fußboden landeten. Er biss die Zähne zusammen und schlang seine Hände um die Taille der anderen Person, um sie stabil zu halten. Und diese nahm die Hilfe dankbar an und hielt sich an Alsth fest, indem sie ihre Arme um Alsths Rücken legte und sich gegen ihn drückte.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Alsth nicht viel mehr als ein paar verwischte Flecken und starkes Flimmern vor den Augen gesehen. Doch nun erkannte er endlich das Gesicht der unbekannten Person.
Sie starrte ihn ähnlich verdutzt an wie er sie.
Ihr Gesicht befand sich so nahe vor seinem, dass sie fast mit den Nasenspitzen zusammenstießen. Ihre Haare waren durcheinandergekommen und hingen ihr über das halbe Gesicht – lange blonde, fast schon weiße Strähnen. Eine davon war in ihren Mund gerutscht und wurde nun hinausgeweht, als die Frau einen erschrockenen Laut ausstieß. Irgendwie kam sie Alsth bekannt vor....
Sie trug einen grünen Blazer, der etwas leicht Uniformhaftes hatte und auf dem derselbe Stierkopf aufgestickt war wie auf der Tür zu Torx’ Büro. Alsth wusste, dass ihn das beunruhigen sollte. Was ihn im Moment jedoch etwas mehr beunruhigte, war die Tatsache, dass sie inzwischen seit geraumer Zeit so eng umschlungen in der Tür zwischen den beiden Zimmern dastanden, dass Alsth nicht mehr genau wusste, wo sein Körper aufhörte und ihrer begann. Er spürte deutlich ihre weiblichen Formen, die sich an ihn drückten. Und sein Gehirn war sich gerade nicht einig mit sich selbst, wie er das finden sollte.
Auch sie schien langsam zu merken, dass sie nun wohl schon entschieden zu lange in dieser unfreiwilligen Umarmung verweilten. Ohne den Blick vom jeweils anderen zu lassen, begannen sie langsam, sich wieder voneinander los zu schälen.
Genau in diesem Moment ging die Tür zum Gang auf und ein Wachmann kam herein.
Alle drei gefroren sie auf der Stelle zu Eis. Der Wachmann riss die Augen auf, schnappte nach Luft, schnappte noch einmal nach Luft, schluckte und brachte schließlich hervor: „Oh, ich.... wusste nicht, dass du jetzt Schicht hast, Chet. Ich dachte, Gruth wäre hier.... Ich.... ähm.... nehme mal an, der Boss ist noch beim Mittagessen....“
„Richtig!“ sagte Chet schnell und dabei wehte ihr Atem über Alsths Gesicht. Sie hatte eine helle, sehr angenehme Stimme.
„Okay, dann.... will ich mal nicht länger stören“, brummte der Wachmann, drehte sich auf dem Absatz um und beeilte sich, den Raum so schnell er konnte zu verlassen.
Erst jetzt merkte Alsth, dass ihm gehörig der Schädel brummte. Er und Chet schafften es endlich, sich vollständig voneinander zu lösen.
„Das war.... ziemlich unglücklich“, sagte Alsth schließlich, wich dabei aber weiter Schritt um Schritt nach hinten. Chet tat es ihm gleich. Dabei war es eigentlich nur Zufall, dass Alsth langsam rückwärts in Torx’ Büro hinein stakselte und Chet auf den Ausgang zu.
„Es hätte übler ausgehen können....“, erwiderte Chet und versuchte ein halbherziges Grinsen. „So wie wir zusammengestoßen sind, ist es eigentlich ein Wunder, dass unsere Schädel immer noch ganz sind.“
„Du sagst es.... Äh.... Geht es wieder?“
„So langsam. Und bei dir?“
„Auch....“
„Okay, dann....“ Chet hatte inzwischen die andere Seite des Raums erreicht. „.... bis später....“
„War schön, dich.... ähm.... getroffen zu haben....“
In diesem Moment fuhr die Tür zwischen den beiden Büros zu, was Alsth und Chet voneinander trennte. Alsth blieb stehen und horchte. Draußen ging eine Tür auf, jemand tapste davon und die Tür ging wieder zu. Alsth atmete kräftig durch und griff sich an die schmerzende Stirn. Irgendwie war er unglaublich froh, dass er jetzt erst mal alleine war....
„Alsth!“
Er fuhr zusammen.
„Was war da gerade los?“ fragte Nylla. „War das Chet? Was habt ihr da gemacht?“
„Frag bitte nicht!“ Alsth kniff die Augen zusammen und verzog das Gesicht.
„Aber....“
„Könntest du mir vielleicht einen Gefallen tun und etwas leiser sprechen? Ich habe plötzlich ziemliche Kopfschmerzen!“
„Hmmm....“, flüsterte Nylla. „Ich weiß zufällig, dass Chet eine recht durchschlagende Wirkung auf viele Männer hat, aber....“
„Wir haben uns nur etwas beschnuppert, das ist alles. Das mache ich immer so, wenn ich neue Leute kennen lerne. Kheilo hat sie ganz treffend beschrieben, finde ich.“ Alsth winkte ab, obwohl ihm bewusst war, dass Nylla diese Geste nicht sehen konnte. „Auf jeden Fall bin ich jetzt im Büro. Dieser eine Wachmann hat etwas davon gefaselt, dass Torx beim Mittagessen ist. Meinst du, ich bin hier noch für eine Weile ungestört?“
„Stimmt ja....“, erinnerte sich Nylla. „Um die Zeit sind er und Gruth immer beim Essen. Torx hat einen ziemlich strikten Tagesablauf. Er teilt sich immer genau ein, wann er essen, schlafen, Aufträge verteilen und fiese Pläne schmieden will. Ich schätze, du hast noch ein paar Augenblicke Zeit, aber nagle mich nicht drauf fest.“
„Könntest du mir noch einen Gefallen tun? Rede nicht vom Festnageln!“
Alsth ging um den Schreibtisch herum und klappte Torx’ Tischcomputer auf. „So, was haben wir hier? Ich möchte wetten, ich komme hier nur mit einem....“
BITTE PASSWORT EINGEBEN
„....Passwort rein. Richtig geraten! Nylla, hast du irgendeine Ahnung, wie Torx’ Zugangspasswort zu seinem Computer lauten könnte?“
„Leider nicht. Versuch es doch mal mit ‚Gruth‘!“
GRUTH
„Falsch“, stellte Alsth fest. „War aber einen Versuch wert.“
„Dann ‚Nylla‘.“
NYLLA
„Hey, das war es!“ rief Alsth erfreut.
„Wirklich?!“
„Nein. Was hat Torx denn für Hobbys? Interessen? Hat er einen Hund oder so?“
„Ach komm, was denkst du, dass du jetzt einfach so Torx’ Codewort knacken und dann diesen Fall in drei Minuten lösen kannst? Du hast schon wahnsinniges Glück, dass Torx und Gruth gerade nicht hier sind. Und dass Chet anscheinend andere Probleme hatte, als sich zu fragen, was du hier machst. Du kannst aber sicher sein, dass dieses Büro nicht lange unbewacht bleiben wird! Wenn du also einen Rat von mir haben willst: Mach dich aus dem Staub und warte bis zur Nacht!“
„Einmal will ich es noch probieren. Ich sehe, dass hier überall Stierköpfe aufgemalt sind. Ist Torx ein Rinderfan?“
„Ach, dieses dämliche Logo meinst du. Das hat keine tiefere Bedeutung. Ist nur so eine Schwachsinnsidee von Torx, weil er denkt, er bräuchte ein Erkennungszeichen und so ein Stier steht für Stärke und Bedrohlichkeit! Aber das einzige, was Torx mit einem Stier gemeinsam hat, ist sein Körpergeruch!“
„Okay, verstehe. Na gut, dann verzieh ich mich mal wieder.“
„Na endlich!“
„Pssst....“
Daraufhin war Alsth in sein Quartier zurückgekehrt und hatte die Beule, die sich auf seiner Stirn gebildet hatte, eine Stunde lang mit kaltem Wasser begossen. Nachdem er die Hoffnung aufgegeben hatte, dass diese hässlich gefärbte Wölbung wieder so einfach verschwinden würde, war er schließlich wieder aufgebrochen, um sich etwas auf der Station umzusehen.
Er hatte den Mannschaftsraum besichtigt und auch einen Blick in den Trainingsraum geworfen. Dort war er jedoch nicht lange geblieben, da er in dem kleinen Swimming-Pool Gruth entdeckt hatte und ihm nicht unnötig über den Weg laufen wollte.
Schließlich hatte er noch etwas an seiner Zimmereinrichtung gearbeitet und als es dann Abend war und sich langsam der Hunger gemeldet hatte, war er in den Mannschaftsraum zurückgekehrt, um sich ein vernünftiges Abendessen zu genehmigen. Er hatte einen Auflauf ausgewählt, der ihm recht appetitlich erschien, und sich dann umgedreht, um sich einen Tisch zu suchen.
Und da war sie wieder vor ihm gestanden.
Alsth sah sofort den großen blau-roten Fleck, den sie auf ihrer Stirn hatte. Ziemlich genau spiegelverkehrt zu der Beule, die sich auf seiner eigenen Stirn befand. Dann bemerkte er ihren Blick.
Diesen Blick bei Frauen kannte er inzwischen recht gut. Den schienen sie immer dann aufzusetzen, wenn sie sich gerade in Gedanken die Kleidung ihres Gegenübers wegdachten. Chet beherrschte diesen Blick zweifellos in Perfektion. Und das Lächeln, mit dem sie ihn bedachte, erzielte zweifellos die gewünschte Wirkung, das musste er zugeben. Trotzdem zuckte er nervös zusammen. Und dachte stark darüber nach, sich einfach wieder umzudrehen und aus dem Staub zu machen.
Doch bevor er eine Entscheidung getroffen hatte, begann Chet bereits zu sprechen: „Hey! Wie ich sehe, hast du auch ein kleines Andenken an unsere erste Begegnung behalten.“ Schon wieder diese angenehme Stimme.
Alsth griff sich vorsichtig gegen die Stirn. „Ähm....“, brachte er nur hervor.
„Ich weiß nicht, wie es dir geht.... aber ich bin jemand, der gerne peinliche Situationen durch ein klärendes Gespräch aus der Welt schafft“, sagte sie weiter. „Wir sollten uns vielleicht irgendwo an einen Tisch setzen und uns etwas unterhalten. Was sagst du dazu?“
Er wog ihren Vorschlag ab und nickte dann.
Kurz darauf saßen sie sich an einem der kleinen, runden Tische in einer Ecke des Mannschaftsraums gegenüber. Alsth hatte das Tablett mit seinem Abendessen vor sich abgestellt und ein paar Bissen probiert. Es schmeckte nicht schlecht, zumindest im Vergleich zu dem Fraß in der Polizeikantine. Ihm kam der flüchtige Gedanke, wie ungerecht es doch war, dass diese Gangster und Schmuggler besseres Essen bekamen als die Hüter des Gesetzes.
Chet hatte ihn erst einmal probieren lassen und für eine Weile nichts gesagt. Sie hatte ihn aber die ganze Zeit angesehen und dabei ab und zu wieder ihren Blick spielen lassen. Nachdem Alsth seinen größten Hunger gestillt hatte, hatte er erst einmal das Besteck weggelegt, Das war für sie das Stichwort gewesen.
„Ich hab dich noch gar nicht nach deinem Namen gefragt.“
„Django.“ Alsth reichte ihr die Hand.
Chet nahm sie an und drückte sie kurz. Ihre Hand fühlte sich weich und zart an.
„Okay, Django.... Das war heute Mittag ja wirklich eine Verkettung von blöden Zufällen. Wir können wohl davon ausgehen, dass auch schon die halbe Station davon weiß. Clive – das ist der Typ, der uns in dieser.... zweideutigen Position überrascht hat – ist hier eine der größten Tratschtanten. Er wird seit heute Mittag jedem, der sich nicht wehren konnte, davon erzählt haben.“
„Clive? Oh Gott!“ mischte sich Nylla in diesem Moment ein. Alsth fragte sich, ob es ihm nicht vielleicht unangenehm war, dass sie dieses Gespräch mithörte. Da ihm im Moment jedoch so einiges unangenehm war und er nicht wirklich etwas dagegen tun konnte, konzentrierte er sich lieber wieder auf das, was sie sagte: „Du kannst mir glauben, Chet untertreibt noch maßlos! Wahrscheinlich weiß es schon ganz Anbis City!“
Alsth knurrte missmutig. „Das ist einfach fantastisch. Mein erster Tag hier fängt ja großartig an.“
„Dein erster Tag? Deswegen habe ich dich also noch nie hier gesehen“, erwiderte Chet. „Darf ich fragen, was dich hier in unsere kleine Ecke führt?“
„Na ja, ich war vor kurzem mal im.... äh....“
„Stinkenden Bullen!“ half Nylla aus.
„.... Stinkenden Bullen und traf dort auf eine junge Frau namens Triena.“
Nylla kicherte. „Jung ist gut! Die gute Frau hat so lange Tränensäcke, dass sie aufpassen muss, beim Sprechen nicht drauf zu beißen!“
„Ich war gerade auf der Suche nach neuen Aufträgen“, fuhr Alsth unbeirrt fort. „Und Triena erzählte mir, dass es im Anbis-System eine kleine Raumstation, versteckt im Orbit eines hübschen roten Gasriesen geben soll, wo man angeblich gute Geschäfte machen kann. Wenn man was drauf hat.“
„Ich verstehe. Und.... hast du was drauf?“
Alsth kratzte sich am Kopf. Wie hat sie das gerade gemeint?
„Tja.... auf jeden Fall habe ich einen ziemlich harten Schädel“, versuchte er die humorvolle Schiene. „Und damit bin ich hier wohl in guter Gesellschaft.“
Chet lachte leise. „Das kannst du laut sagen. Hast du inzwischen unseren Boss schon getroffen? Torx. Er ist nämlich der größte Dickkopf des Universums.“
„Zu ihm war ich gerade unterwegs, als wir.... zusammengestoßen sind.“ Alsth zuckte mit den Achseln. „Ich nehme an, deswegen willst du hauptsächlich mit mir sprechen. Wie ich sehe....“ Er richtete seinen Blick auf den Stierkopf-Anstecker, den sie an ihrem Blazer trug, und hoffte, dass sie diesen Blick nicht falsch verstehen würde. „.... bist du eine der Wachen hier. Und jetzt willst du herausfinden, was ich im Büro deines Chefs zu suchen hatte.“
Chet wiegte mit dem Kopf. „Ja.... das auch. Weißt du, ich sollte eigentlich auf das Büro aufpassen, während der Boss und sein Leibwächter beim Mittagessen sind. Es war eigentlich nicht richtig von mir, mich aus dem Staub zu machen und dich dort drinnen alleine zu lassen. Aber mein Kopf tat mir höllisch weh und ich konnte noch nicht klar denken. Wenn Torx davon erfahren hätte, hätte er mich umgebracht!“
„Tja, wie gesagt, ich wollte zu Torx. Du weißt schon, mich vorstellen.... fragen, wie es hier so abläuft.... Wie ich an Aufträge rankomme und so.... Eben das, was man an seinem ersten Arbeitstag so macht.“
„Ich verstehe. Und dazu.... musstest du natürlich mit voller Geschwindigkeit in sein Büro rein brettern?“ Ihre Stimme klang weiterhin ganz locker und freundlich.
„Pass jetzt bloß auf, was du ihr erzählst!“ raunte Nylla ihm zu.
Doch Alsth hatte diese Frage schon kommen sehen und sich ein paar Antworten zurecht gelegt. Also setzte er ein breites Grinsen auf und sagte: „Na ja, ich war nun einmal unangemeldet und wusste nicht, ob der Boss mich einfach so empfängt oder mich sofort wieder rauswirft. Deswegen hab ich mir vorgenommen, so energisch wie möglich aufzutreten. Ich wollte einfach nur einen guten ersten Eindruck machen.“
„Indem du unangemeldet in sein Büro reinplatzt?“ hakte Chet skeptisch nach.
„Ja“, antwortete Alsth, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt und als würde er sich wundern, warum Chet überhaupt fragte. Dann fügte er noch hinzu. „Außerdem wolltest du mindestens genau so stürmisch durch diese Tür wie ich. Ich könnte mich darüber genau so wundern wie du!“
Chet wirkte daraufhin etwas verlegen. „Aber ich bin hier für die Sicherheit zuständig und du bist nur der Neue“, erwiderte sie. „Ich bin dir also überhaupt keine Rechenschaft schuldig!“
Sie hat was zu verbergen, erkannte Alsth. Endlich konnte er hier mal seine Fähigkeiten als Ermittler einsetzen. Vielleicht kann ich sie aus der Reserve locken....
„Komm schon, du kannst mir vertrauen. Nachdem wir uns heute schon so nahe gekommen sind....“ Er versuchte sein gewinnendstes Lächeln aufzusetzen.
Doch Chet blieb unbeeindruckt. „Vertrauen willst du also – und trotzdem erzählst du mir nicht die Wahrheit?“ erwiderte sie. „Du denkst doch nicht wirklich, dass ich dir deine Geschichte abkaufe.“
„Jetzt hast du den Salat!“ murrte Nylla.
Alsth setzte eine verständnislose Miene auf. „Was meinst du?“
Chet lehnte sich zurück und legte die Hände an ihren Hinterkopf. „Du bist ein ganz schön gerissener Kerl. Das erkenne ich daran, wie du ein Gespräch führst. Du sagst lieber zu wenig als zu viel – versuchst aber so zu wirken, als wüsstest du mehr, als du sagst. Du weichst geschickt brisanten Fragen aus. Du tust so, als wärst du vollkommen locker, in Wirklichkeit aber achtest du auf jedes Detail.“
Das erstaunte Gesicht, das Alsth nun zeigte, war nicht gespielt. „Wow, ich bin beeindruckt. Was für eine Menschenkenntnis. Diese Fähigkeit muss man wohl zwangsläufig haben, wenn man für Torx als Wache arbeitet?“
„Eigentlich ist es nicht schwer, dich zu beurteilen. Du bist eben ein typischer Schmuggler: Gerissen und opportunistisch.“
Alsth hörte Nylla laut auflachen. „Ein typischer Schmuggler. Jetzt solltest du dich auf jeden Fall geschmeichelt fühlen. Wie’s aussieht, kauft Chet dir deine Rolle voll ab!“
Und Alsth fühlte sich tatsächlich etwas geschmeichelt – er hatte doch gewisse Zweifel gehabt, ob er wirklich einen überzeugenden Schmuggler abgeben würde.
„Glaub mir, ich kenne deine Zunft“, fuhr Chet inzwischen fort. „Als Schmuggler muss man jede Gelegenheit am Schopf packen, wenn sie sich ergibt, sonst macht man es in dem Job nicht lange.“
Sie streckte sich ausgiebig und erinnerte Alsth dabei ein bisschen an eine Katze. „Du scheinst ein netter Kerl zu sein, du bist süß – wenn ich das mal sagen darf – aber du bist auch ein Schlitzohr. Deswegen glaub ich dir kein Wort von deiner Geschichte. Also spuck es schon aus – was hattest du wirklich in Torx’ Büro zu suchen?“
Alsth konnte einfach nicht anders als laut zu lachen. Ein paar Blicke wurden von einigen Leuten im Mannschaftsraum zu ihm herübergeworfen, aber da er nur so aussah wie jemand, der sich über einen Witz amüsierte, wandten sich die meisten schnell wieder ihren eigenen Angelegenheiten zu.
Schließlich beugte sich Alsth zu Chet hinüber und flüsterte ihr zu. „Warum sagst du mir nicht, was ich dort getan habe? Ich nehme an, das weißt du auch schon längst.“
Chet grinste verschmitzt und erwiderte im selben Flüsterton: „Ich nehme schwer an, du hast versucht, auf Torx’ Computer zuzugreifen. Nachdem du aber ein paar mal am Passwort gescheitert bist, hast du dich schließlich aus dem Staub gemacht. Richtig?“
„Oh oh....“, machte Nylla. „Das war’s dann wohl....“
Doch Alsth blieb locker, denn er hatte zum Glück noch ein paar Backup-Ausreden auf Lager. Leider konnte er das Nylla gerade nicht sagen, um sie zu beruhigen.
Er nickte Chet zu. „Okay, du hast es erraten. Ich wollte mal einen schnellen Blick auf seine Geschäftsdaten werfen. Das wäre sogar noch nützlicher gewesen als ein Gespräch mit Torx höchstpersönlich, denn der hätte mir sicher nicht die Wahrheit über seine Auftragslage erzählt. Die nackten Zahlen wären viel aufschlussreicher gewesen. Leider konnte ich sein Passwort nicht knacken.“
„Okay, gut gerettet.“ Nylla klang ziemlich erleichtert. „Man merkt, dass du diesen Undercover-Kram nicht zum ersten Mal machst.“
Chet schien auch ganz zufrieden zu sein. „Ja, genau das dachte ich mir. Siehst du, Ehrlichkeit zieht bei mir am besten.“
Alsth sah seine Chance gekommen, wieder zur Offensive überzugehen: „Jetzt wo ich schon so ehrlich zu dir war.... Wie wäre es, wenn du mir jetzt erzählst, warum du so schnell aus Torx’ Büro gestürmt kamst?“
Doch Chet schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein, Junge, so läuft das nicht. Du hast mir nur alles erzählt, weil ich es quasi erraten habe. Also bekommst du von mir auch keine ehrliche Antwort. Es sei denn, du schaffst es auch, richtig zu raten.“
„Ich kann es ja mal versuchen....“ Alsth grinste zuversichtlich. „Ich nehme schwer an, du hast versucht, auf Torx’ Computer zuzugreifen?“
Chet verzog keinen Gesichtsmuskel. „Falsch!“
Für eine Weile starrte Alsth sie nur an. Er glaubte ihr kein Wort. „Wie war doch gleich unsere Abmachung?“
„Ich gebe dir eine Antwort, wenn du den Nagel auf den Kopf triffst“, erklärte Chet. „Du hast aber falsch geraten. Ich habe nicht versucht, auf Torx’ Computer zuzugreifen!“
Etwas in Alsths Gehirn klickte. Gleichzeitig hörte er Nyllas verblüfften Aufschrei. „Willst du damit etwa sagen, du hast das Passwort geknackt?“
Jetzt war Chets Grinsen so breit, dass Alsth sich fragte, ob es vielleicht um ihren ganzen Kopf herum ging. „Tut mir leid, keine zweite Chance. Nur dein erster Versuch zählt. Und der war falsch.“
„Du hast es wirklich!“ Jetzt war Alsth sich absolut sicher. „Es ist wohl zwecklos zu fragen, ob du es mir verrätst....“
Chet beugte sich nun wieder zum Tisch vor und zeigte ihm erneut ihren Blick. Dieses Mal war er noch länger und durchdringender als bisher. Alsth versuchte sich zusammenzureißen. Aber Chet wusste genau, welche Wirkung dieser Blick auf die meisten Männer hatte. Und sie wusste auch, dass er das wusste.
Schließlich sagte sie: „Normalerweise schon. Aber ich hab da gerade eine Idee. Vielleicht können wir einen kleinen Deal aushandeln. Was sagst du?“
„Sag ja!“ machte Nylla sich lautstark bemerkbar. „Ich will wissen, wie sie an das Passwort gekommen ist! Das habe ich in vielen Jahren nicht geschafft!“
Doch Alsth hatte bereits genickt. Diese Chance konnte er sich auf keinen Fall entgehen lassen!
„Also, wie du ja inzwischen weißt, bin ich eine von Torx’ Wachen. Meistens bin ich im Kontrollraum oder an den Docks eingeteilt, aber hin und wieder auch bei Torx im Büro. Er hat zwar einen persönlichen Leibwächter namens Gruth, aber der muss auch mal Pause machen oder ist mit irgendeinem Spezialauftrag unterwegs und dann vertrete ich ihn hin und wieder.“
„Lass mich raten: Du hast mal ganz genau hingesehen, als der Boss sein Passwort eingegeben hat?“
Chet nickte. „Torx ist zwar normalerweise ein ziemlich paranoider Vogel, aber manchmal hat er auch seine schwachen Momente. Vor einigen Wochen war ich mal in seinem Büro und Torx hat tatsächlich sein Passwort eingegeben, ohne aufzupassen, dass ich es nicht sehen kann. Ich konnte nicht alle Buchstaben erkennen, aber als ich mal alleine in seinem Büro Wache geschoben hab, hab ich ein bisschen herumprobiert und es schließlich herausbekommen.“
„Und? Wie lautet es?“ wollte Alsth neugierig wissen.
Doch Chet ließ sich nicht beirren. „Geduld, mein Lieber. Lass mich erst mal zu Ende erzählen – dann schauen wir, ob wir etwas aushandeln können. Okay, ich kann also jetzt immer auf Torx‘ Computer zugreifen, wenn ich in seinem Büro als Pausenwache eingeteilt bin, so wie heute Mittag. Ursprünglich wollte ich nur sehen, wie mein Gehalt im Vergleich zu den anderen Wachen aussieht. Ich will schließlich nicht benachteiligt werden. Dann ist mir aber klar geworden, dass ich noch viele andere nützliche Dinge damit machen kann.“
„Ach ja? Zum Beispiel?“
„Zum Beispiel nachschauen, wer gerade eine besonders hohe Belohnung von Torx bekommen hat und daher besonders flüssig ist. Oder ein bisschen an den Zahlen der Lagerbestände schrauben und mir selbst was von dem Zeug abzweigen. Manchmal ist es auch gut zu wissen, welche Dinger Torx gerade am Laufen hat. Vor kurzem bin ich da auf etwas gestoßen....“
Chet unterbrach sich. Sie sah sich vorsichtig im Mannschaftsraum um, ob gerade wirklich niemand lauschte. Aber die anderen Schmuggler schienen alle entweder in ihre eigenen Gespräche oder ihr Essen vertieft. Und an den unmittelbaren Nebentischen saß niemand.
Trotzdem beugte Chet sich noch etwas näher zu Alsth und sprach noch etwas leiser, als sie fortfuhr: „Torx führt etwas ganz Großes im Schilde. Etwas, das über bloße Schmuggelgeschäfte hinaus geht. Wenn er das wirklich durchzieht, was ich da gelesen habe.... dann können wir uns bald alle ganz warm anziehen, das kann ich dir versprechen!“
Sie weiß es, dachte Alsth aufgeregt. Sie weiß von Torx’ Plan, das System unter seine Kontrolle zu bringen! Er konnte es kaum glauben, aber anscheinend hatte Torx noch viel größere Sicherheitsprobleme, als er gedacht hatte....
„Das darf nicht wahr sein!“ murrte Nylla. „Ich hätte überhaupt nicht durch diese verdammten Luftschächte klettern müssen, sondern einfach nur Chet fragen! Dann wäre mir so einiges erspart geblieben.“
Meine Mission könnte gerade erheblich einfacher geworden sein, schoss es Alsth durch den Kopf. Vielleicht weiß Chet schon alles, was ich wissen muss – jetzt muss ich es nur noch aus ihr herauskriegen....
Aber er durfte jetzt nicht überhastet handeln, sondern musste einen Schritt nach dem anderen machen. Und vor allem durfte er sich nicht anmerken lassen, wie aufgeregt er nach Chets Enthüllung nun war.
„Und heute Mittag warst du wohl mal wieder dabei herumzuschnüffeln?“ fragte er daher so lässig er konnte.
„Du hast es erfasst. Als ich dann draußen die Tür gehört hab und eine Stimme, dachte ich, Torx und Gruth sind zurück. Ich hab also schnell den Computer abgeschaltet und wollte mich aus dem Staub machen.“
„Dummerweise war ich dir aber ein bisschen im Weg.“ Alsth lachte. „So war das also! Jetzt ist mir alles klar!“
„Frag sie jetzt, was sie herausgefunden hat!“ drängte Nylla ungeduldig. „Und wie das Passwort lautet!“
„Gleich!“ zischte Alsth.
Chet zog die Augenbrauen ein. „Was?“
„Äh.... Gleich ist mein Essen kalt, wollte ich sagen. Und Hunger hab ich auch. Kannst du mir jetzt schnell erklären, was das für ein komischer Deal ist, den du dir ausgedacht hast?“
„Na gut....“ Chet rieb sich die Hände – irgendwie eine unheilvolle Geste. „Ich wäre vielleicht bereit, dir das Passwort zu verraten. Dann kannst du gerne auf Torx‘ Computer nachsehen, was du nachsehen willst. Natürlich darf Torx – oder einer der anderen Wachen – niemals davon erfahren, sonst sind wir beide schneller tot, als wir gucken können. Ich schlage dir also vor, dass du nur spionierst, während ich Wache in Torx‘ Büro schiebe.“
„Das ist wohl offensichtlich“, erwiderte Alsth trocken. „Und was willst du im Gegenzug?“
„Tja, damit kommen wir zum.... kniffligeren Teil der Abmachung.“ Chet grinste bedeutungsvoll. Dann beugte sie sich erneut weit über den Tisch zu Alsth hinüber und flüsterte: „Ich war erst vor kurzem in Anbis City, um einem kleinen Auftrag nachzugehen. Dabei hab ich auch ein paar nette Männer getroffen. Leider konnte ich nicht lange genug bleiben, um einem davon etwas näher zu kommen. Dabei wäre ich ihm doch so gerne.... sehr viel näher gekommen....“
„Warum erzählt sie dir das?“ Nylla schien verwirrt zu sein.
Alsth konnte nicht sagen, dass es ihm anders ging. „Na schön, aber was hat das Ganze mit mir zu tun?“ hakte er nach.
„Das wirst du gleich sehen. Auf jeden Fall plage ich mich seitdem ein bisschen.... mit unerfüllten Bedürfnissen herum. Du musst wissen, auf dieser elenden Station ist das Angebot, was nette, aufgeschlossene Männer angeht, im Prinzip gleich Null. Von den wenigen heißen Jungs, die wir hier haben, ist leider überhaupt keiner interessiert an einem.... kulturellen Austausch. Zum Beispiel Gruth, Torx‘ Leibwächter – ich weiß nicht, hast du ihn vielleicht schon kennen gelernt?“
Alsth dachte kurz darüber nach, was er darauf antworten sollte, und sagte dann: „Nein, nicht persönlich. Kann sein, dass ich ihn kurz mal gesehen hab, bin mir aber nicht sicher.“
Chet zuckte mit den Achseln. „Egal, jedenfalls ist er ein Paradebeispiel dafür, was ich meine: Groß. Schlank. Muskeln ohne Ende. Und wenn man ihn in Badehose sieht – ich glaube, seine männliche Ausstattung kann sich auch sehen lassen. Aber leider hat er noch nicht das kleinste bisschen Interesse an mir gezeigt.“
Chet seufzte. „Es ist eine wahre Verschwendung! Im Grunde bin ich fast schon zum Zölibat verdammt! Bei meinem Ausflug nach Anbis City hab ich sozusagen frisches Blut geleckt, aber jetzt sieht es nicht danach aus, als würde ich so bald wieder von dieser Station herunter kommen. Deswegen glaubst du gar nicht, wie erfreut ich war, als ich dich zum ersten Mal hier gesehen habe – ein neues Gesicht, noch dazu ein unverschämt gut aussehendes!“
So langsam begann Alsth zu ahnen, worauf Chet hinaus wollte. Und er musste sich große Mühe geben den Drang niederzukämpfen, sofort aufzuspringen und wegzurennen....
Chet bemerkte, dass ihm anscheinend ein Licht aufgegangen war. Und dankbar darüber, dass sie jetzt nicht mehr um den heißen Brei herumreden musste, sagte sie es nun frei heraus: „Also, wie wär’s? Ich gebe dir das Passwort – und dafür erklärst du dich bereit, ein bisschen Sex mit mir zu haben. Ein ganz einfacher Deal! Was sagst du?“
In seinem linken Ohr, in dem sich die kleine Audiosonde befand, ertönte plötzlich nicht enden wollendes, schallendes Gelächter. Nylla schien nicht die geringste Chance zu haben, ihren Lachanfall zu unterdrücken. Sie lachte so laut, dass es fast ein Wunder war, dass Chet, die sehr dicht an Alsth heran gerückt war, nichts davon mitbekam.
Chet wartete gespannt auf seine Antwort, doch Alsth fühlte sich gerade nicht dazu in der Lage, sinnvoll Worte aneinander zu reihen.
„Ich.... äh.... also....“, war das einzige, was er hervorbrachte.
Chet kniff die Augen zusammen. Alsths zögerliche Reaktion auf ihr Angebot wunderte sie sichtlich. Währenddessen lachte Nylla ununterbrochen weiter und das half Alsth nicht gerade dabei, seine Fassung wiederzufinden.
„Oh mein Gott!“ prustete ihm Nylla schließlich zu. „Ich hoffe, du denkst nicht ernsthaft daran, dieses Angebot anzunehmen. Ich hab wirklich keine Lust dabei zuzuhören, wie du und Chet.... oh mein Gott!“
„Irgendwie hab ich das Gefühl, dass mein Vorschlag dir nicht besonders gefällt“, bemerkte Chet schließlich. „Oder deute ich da irgendwas falsch?“
„Na ja.... Eigentlich.... ist es ein sehr.... verlockendes.... Angebot“, stotterte Alsth. Dabei stellte er in Gedanken fest, dass er durchaus ernst meinte, was er sagte. Nicht nur, weil Chet in der Tat sehr attraktiv war. Auch sein Fall wäre damit praktisch schon so gut wie gelöst. „Aber ich fürchte.... ich muss ablehnen.“
„Aber.... wieso das denn?“ Chet wirkte absolut verständnislos, schien sich aber gleichzeitig über Alsths Gestammel zu amüsieren. „Es ist doch nur Sex. Du musst mich ja nicht gleich heiraten oder bei mir einziehen oder so. Es würde schon reichen, wenn wir uns einmal einen schönen Abend machen. Mehrere Abende wären mir zwar lieber, aber okay....“
„Ich glaube, du verstehst meine Situation nicht so ganz....“
Inzwischen hatte Nylla einen weiteren Lachanfall bekommen und prustete jetzt hervor: „Das kannst du so etwas von laut sagen!“
„Erzähl mir jetzt nicht, dass du auf Männer stehst.“ Chet grinste und hob scherzhaft-tadelnd ihren Zeigefinger. „Das kaufe ich dir nicht ab. Die ganze Zeit hast du mit mir geflirtet und ich hab genau gemerkt, wie du mich angesehen hast. Warum machst du also plötzlich diesen Rückzieher?“
Chet strich sich grübelnd mit der Hand übers Kinn. „Kann es sein, dass du schon vergeben bist? Aber wenn du eine Partnerin hast, wo steckt sie dann? Ich hab heute Nachmittag deine Anmeldedaten überprüft – du bist allein hier und hast nur ein Einzelzimmer beantragt. Das kann es also auch nicht sein. Das heißt, es bleibt eigentlich nur noch eine Schlussfolgerung: Du hast einen viel zu kleinen....“
„Na gut!“ plärrte Alsth schnell dazwischen. Sein Ausruf war etwas lauter geraten als beabsichtigt, deswegen wartete er einen Moment, bis er sicher war, niemandes Aufmerksamkeit erregt zu haben. Dann sagte er etwas leiser: „Okay, ich sage dir, wo das Problem liegt, damit du endlich Ruhe gibst. Einverstanden?“
„Ich höre“, erwiderte Chet erwartungsvoll.
Das war der Moment, in dem er sein unvermeidliches Geständnis abgeben musste.
„Ich bin noch Jungfrau“, sagte er nach kurzem Zögern.
Jetzt war es also raus. Es hatte sich eigentlich gar nicht so schlimm angefühlt. Er merkte jedoch, dass er die Augen zugekniffen hatte – schnell öffnete er sie wieder, um zu sehen, wie Chet darauf reagierte.
Chet sah ihn vollkommen ungläubig an.
„Natürlich bist du das“, brummte sie dann mit einem mürrischen Sarkasmus in der Stimme. „Und du erwartest ernsthaft, dass ich dir das abkaufe?“
„Mein lieber Cop, das war wirklich eine sehr dumme Ausrede“, kommentierte Nylla das Geschehen. „Eigentlich hätte ich dich für einfallsreicher gehalten.“
Alsth seufzte. Okay, das hätte ich eigentlich erwarten müssen....
„Es hört sich wirklich blöd an, das gebe ich zu“, setzte er erneut an. „Aber es ist die Wahrheit.“
Chet kicherte in ihrer voreiligen Annahme, Alsth würde sie immer noch auf den Arm nehmen wollen.
Doch dann bemerkte sie seinen Gesichtsausdruck. Und hob langsam erstaunt die Augenbrauen. „Warte mal.... du hast das wirklich ernst gemeint?“
Nylla, die sein Gesicht natürlich nicht sehen konnte, stieß einen verblüfften Laut aus. „Sie glaubt dir den Quatsch? Wie um alles in der Welt hast du das angestellt?“
Alsth schwieg und sah Chet nur vielsagend an.
„Du hast es ernst gemeint!“ Chet gab sich keine Mühe, ihre Verblüffung zu verbergen.
„Ich denke, du siehst ein, warum ich deinen Vorschlag nicht annehmen kann“, fuhr Alsth schnell fort. „Du suchst jemanden, mit dem du einfach mal schnell ins Bett hüpfen kannst. Jemanden mit einer gewissen Erfahrung. Die hab ich nun mal nicht. Natürlich kenne ich die Theorie, aber in der Praxis.... Ich müsste erst mal herausfinden, wo alles ist, was ich damit anstellen soll und was funktioniert und was nicht. Ich schätze, so hast du dir das nicht vorgestellt.“
Chet stieß einen hohlen Lacher aus und schüttelte den Kopf. „Nein, ich schätze nicht.... Mann, ich kann immer noch kaum glauben, dass ein netter, sympathischer und gutaussehender Typ wie du noch nie.... Das ist echt ein Ding.“
„Wow, sie kauft dir das wirklich ab!“ Nylla glaubte offensichtlich immer noch an einen Bluff. „Ich muss echt sagen, ich bin beeindruckt. Lernt man etwa an der Polizeiakademie, wie man andere Menschen dazu bringen kann, den größten Blödsinn zu glauben?“
Chet kratzte sich am Kopf. „Okay, ich weiß ja, dass ihr Schmuggler gerne für euch bleibt. Aber eigentlich müssten dir doch die Frauen nur so hinterher rennen, schon allein für dein Aussehen....“
Alsth zuckte mit den Achseln. „Ich schätze, ich hatte immer zu viele andere Dinge im Kopf. Du hast Recht, man ist als Schmuggler viel auf sich gestellt und es ist kein einfacher Job, vor allem wenn man alle Geschäftsbeziehungen erst von Grund auf knüpfen muss. Das ist einer der Gründe, warum ich auf diese Station gekommen bin. Und was mein Aussehen angeht....“ Alsth strich sich über seinen künstlichen Bart. „Ich habe erst kürzlich mein.... Image radikal verändert.“
„Aha.... Okay....“ So langsam schien Chet ihre Verblüffung überwunden zu haben. Sie wirkte schon wieder sehr gefasst – und irgendwie auch so, als würde sie schon einen Schritt weiter denken. „Ich kann jetzt gut verstehen, warum du auf meinen Deal nicht eingehen möchtest. Es leuchtet mir ein, dass du dir dein Erstes Mal etwas anders vorstellst.“
„Danke für das Verständnis....“
„Trotzdem gilt mein Angebot aber noch.“
„W.... was!?“
Chet lächelte. „Na ja, du hast schon recht, eigentlich war ich auf etwas ganz Unkompliziertes aus. Aber ich kann auch anders. Irgendwie gefällt mir sogar die Vorstellung, mal wieder etwas langsamer ranzugehen und selbst noch mal von vorne anzufangen. Außerdem bin ich bis jetzt nie in den Genuss gekommen, einen Mann zu entjungfern. Es wäre mir also eine große Ehre, dich.... einzuführen, um es mal bildlich auszudrücken.“
„Nein!“ schrie Nylla entsetzt und kam damit Alsth nur um Sekundenbruchteile zuvor. Im Nachhinein war er ihr deswegen sehr dankbar, denn so konnte er sich selbst noch einmal gerade so zusammen reißen.
„Also was sagst du?“ Chet lächelte ihn erwartungsvoll an. „Du bekommst Zugriff auf die geheimen Daten vom Boss und zusätzlich beschere ich dir eine Nacht, wie du sie noch nie erlebt hast. Das ist doch wirklich kein schlechter Deal, oder? Viele Männer würden ihr Glück kaum fassen können, wenn eine Frau ihnen sowas vorschlagen würde.“
Alsth öffnete den Mund, aber er wusste gerade wirklich nicht mehr, was er sagen sollte. So sehr er sich auf dieses Gespräch vorbereitet hatte – darauf war er wirklich nicht gefasst gewesen.
„Aber ich sehe schon, du brauchst noch etwas Bedenkzeit.“ Chet erhob sich von ihrem Stuhl. „Also, überlege es dir gut“, sagte sie, zwinkerte ihm freundlich zu und strich verspielt mit dem Handrücken über seine Schulter, während sie an ihm vorbei zum Ausgang ging.
„Und ich war mir schon sicher, dass ich von diesem Schreckensbild verschont bleiben würde“, murrte Nylla. „Na toll, Alsth, so gut dein Bluff auch war, letztendlich hat er doch nichts gebracht.“
Sie kapiert es immer noch nicht. Aber im Moment war Alsth das nur allzu recht.
Er blickte auf sein inzwischen völlig ausgekühltes Abendessen herunter. Wenn ich jetzt eine Figur in einer Serie wäre, würde ich nach diesem Gespräch aufstehen und meinen fast vollen Teller einfach stehen lassen, dachte er amüsiert.
Dann griff er trotzig zum Besteck und machte sich daran, den gesamten Auflauf zu verputzen. Auch kalt schmeckte er noch erheblich besser als der Kantinenfraß zu Hause.
Natürlich ging ihm dabei das Gespräch mit Chet nicht aus dem Kopf. Er war so nah dran gewesen. Und eigentlich....
Eigentlich war es immer noch die sicherste Möglichkeit, in seinem Fall weiter zu kommen....
Chet hatte völlig Recht, sein Erstes Mal hatte er sich tatsächlich ganz anders vorgestellt. Aber konnte er wirklich die Sicherheit des ganzen Sonnensystems aufs Spiel setzen und Chets Angebot ablehnen?
Noch war er mit seinem Latein nicht am Ende – es war immer noch möglich, ohne Chets Hilfe an Torx‘ Daten ranzukommen. Alsth besaß ein paar Kenntnisse über das Knacken von Computern und hatte auch schon einige Ideen, was er darüber hinaus noch versuchen konnte.
Heute Nacht würde er auf jeden Fall seinen Plan in die Tat umsetzen und in Torx‘ Büro einbrechen. Er konnte schließlich immer noch auf Chet zurückkommen, wenn das nicht funktionieren würde.
Er aß weiter seinen Auflauf und versuchte dabei mit aller Gewalt den Teil von sich zu ignorieren, der irgendwie hoffte, es würde nicht funktionieren....
Gruth eilte so schnell er konnte durch die Gänge der Raumstation.
Aufgeregt blickte er auf sein Notepad herunter und las sich immer wieder die kurze Nachricht durch, die er vor ein paar Stunden bekommen hatte und die er nun nach Ende seines Dienstes endlich beantworten konnte.
„Hey, Gruth! Sieht so aus, als hätte ich ein paar brandheiße Neuigkeiten für dich, was dein kleines Problem angeht. Funke mich einfach wie gewohnt in meinem Laden an. Kerry.“
Gruth blieb vor dem Lift stehen und wartete auf die Kabine. Als die Türen aufgingen, trat sein Kollege Clive heraus und nickte ihm zur Begrüßung zu.
„Abend, Gruth! Weißt du schon das Neuste? Ob du es glaubst oder nicht, aber es sieht ganz so aus, als hätte Chet sich einen neuen Kerl angelacht! Als ich nämlich heute Mittag....“
Gruth unterbrach ihn schnell. „Clive, für deine Tratschgeschichten hab ich jetzt wirklich keine Zeit. Ich hab noch etwas Wichtiges zu tun. Bis morgen.“
Dabei stieg er in den Lift und wählte seine Etage.
„Aber....“ Clive wollte noch nicht aufgeben, doch bevor er weiterreden konnte, schlossen sich zu Gruths großer Erleichterung die Lifttüren.
Auf seiner Etage stieg er aus und trat auf die Tür seines Quartiers zu. In diesem Moment ging einige Meter den Gang hinunter eine andere Tür auf und Yaan kam aus ihrem Quartier heraus. Sie hatte sich zum Abendessen fertig gemacht.
„Hallo, Großer! Hast du es schon gehört?“
„Hat es irgendwas mit Clive zu tun?“ fragte Gruth ohne aufzublicken.
„Von Clive hab ich es erfahren. Aber....“
„Dann will ich es gar nicht wissen. Bis morgen, Yaan!“
Gruth ließ Yaan stehen, stampfte in sein Quartier und lief sofort zu seinem Tischcomputer hinüber. Er gab Kerrys Nummer ein und wartete ungeduldig auf eine Antwort.
Nach einigen Augenblicken tauchte ein junger Mann auf dem Schirm auf. Er hatte kurze, schwarze, gekräuselte Haare und sein Gesicht war stellenweise mit irgendeiner dunklen, öligen Flüssigkeit beschmiert. Das freche Grinsen, mit dem er Gruth begrüßte, galt als sein Markenzeichen – als wäre es die Standardkonfiguration seiner Gesichtsmuskulatur. Im Hintergrund sah Gruth eine Werkstatt, in der gerade reger Betrieb herrschte.
„Abend, Kerry“, begann Gruth. „Ich hab deine Nachricht bekommen....“
„Hey, Gruth, altes Haus!“ rief Kerry übertrieben freudig und tat so, als könnte er durch den Bildschirm hindurch Gruth die Hand schütteln. „Wie läuft es denn so? Alles paletti?“
„Es geht“, erwiderte Gruth knapp. „Was deine Nachricht betrifft....“
„Richtig, Mann, die Nachricht. Auf deinen alten Kumpel Kerry kannst du zählen. Ich habe die Augen und Ohren offen gehalten und mich in Anbis City nach der Kleinen umgehört, die du suchst. Und ich bin da auf eine Spur gestoßen! Einer meiner Lieferanten war heute morgen am Raumhafen, um ein paar Ersatzteile zu besorgen, und da hat er die Puppe tatsächlich gesehen! Na, was sagst du?“
„Steht sicher fest, dass sie es war?“ hakte Gruth skeptisch nach.
„Ach ja, Moment....“ Kerry klopfte sich gegen die Stirn. „Mein Kontakt hat ein paar Fotos von ihr geschossen. Er konnte nicht so nah an sie ran, weil es um sie herum nur so von Secus gewimmelt hat. Aber du müsstest trotzdem erkennen können, ob sie es wirklich war! Einen Moment!“
Kerry tippte kurz unterhalb seiner Kamera mit den Fingern herum und nach einer Weile tauchten auf Gruths Monitor ein paar Bilddateien auf. Auf allen war eine schwarzhaarige junge Frau aus verschiedenen Blickwinkeln zu sehen, die mit ein paar Sicherheitskräften und einem weiteren Begleiter durch einen Gang am Raumhafen marschierte. Bei ihrem Anblick begann Gruths Puls höher zu schlagen.
„Ja, das ist sie!“ rief er triumphierend. „Kerry, du bist ein Genie!“
„Hey, das weiß ich doch, Kumpel!“ erwiderte Kerry spöttisch. „Ein hübsches Ding übrigens, muss ich schon sagen. An deiner Stelle würde ich sie auch unbedingt wiederfinden wollen....“
„Wer ist dieser Kerl in Zivil, der bei ihr ist?“
Kerry schnipste mit den Fingern. „Richtig.... Warte, ich hab hier auch noch ein deutlicheres Bild von dem!“
Auf Gruths Bildschirm erschien ein leicht verwackeltes Porträtbild eines Mannes. Er war ungefähr Mitte dreißig und hatte einen Kurzhaarschnitt, wachsame Augen, schlanke Gesichtszüge und einen Kinnbart ähnlich dem von Gruth. Irgendwie kam er Gruth bekannt vor. Aber das bildete er sich wohl nur ein. Er hatte nämlich ein relativ gutes Personengedächtnis. Deswegen hätte er den Kerl sicherlich auf der Stelle zuordnen können, hätte er ihn wirklich gekannt.
„Leider konnte ich noch nichts über ihn herausfinden“, erzählte Kerry weiter. „Zuerst hab ich gedacht, dass er ein Cop ist, aber in den Personaldateien der Bullen gibt es niemanden, der so aussieht. Vielleicht kann ja dein Boss seine Beziehungen spielen lassen und etwas über ihn herausfinden.“
„Der darf auf keinen Fall davon erfahren!“ schoss es aus Gruth heraus. Dann versuchte er schnell etwas ruhiger zu werden. „Ich kann es dir im Moment nicht genauer erklären, aber das ist so etwas wie ein persönliches Projekt von mir. Ich will den Boss erst informieren, wenn ich Fortschritte gemacht habe.“
„Okay....“ Kerry zuckte mit den Achseln. „Wie du meinst. Sieht dir gar nicht ähnlich, dass du was ohne Wissen des alten Herrn unternimmst. Sonst bist du ihm doch auch treu ergeben wie ein alter Dackel....“
Offenbar hatte Kerry Gruths giftigen Blick bemerkt, denn er winkte schnell ab. „Aber ich will meine Nase nicht in deine Angelegenheiten stecken. Jeder braucht seine Geheimnisse. Der gute, alte Kerry weiß das am besten.“
Gruth nickte und sah sich dann das Foto des Unbekannten nochmal genau an. Er konnte sich nicht helfen, irgendwo klingelte es bei dessen Anblick in seinem Hinterkopf....
„Danke für die Neuigkeiten, Kerry“, sagte er dann schnell. „Du warst mir wie immer eine große Hilfe!“
„Dafür bin ich doch da, Gruth!“ Kerry grinste. „Ach, bevor ich es vergesse.... stimmt das, was ich gehört habe? Dass deine liebe Kollegin Chet einen neuen....“
Gruth schaltete die Komverbindung ab.
„Ich werde Clive umbringen“, murmelte er.
Episode 8: Das Attentat
„Alsth!“ rief Nylla zum hundertsten Mal in das Mikrofon vor ihr auf der Pilotenkonsole. „Du solltest wirklich langsam zusehen, dass du dort raus kommst!“
„Wir haben noch ein bisschen Zeit!“ kam die Antwort. „Wir sind jetzt schon so nah dran, da will ich nicht einfach aufgeben!“
„Nein, verdammt, du hast keine Zeit mehr! Du bist schon weit über dem Zeitrahmen, den ich dir empfehlen kann! Torx’ Sicherheitssystem kann jeden Moment wieder online gehen! Und dann bist du erledigt!“
Alsth antwortete darauf nicht, aber Nylla hörte deutlich das Geräusch von Fingern, die über Schaltflächen tippten.
Vor einer knappen halben Stunde war Alsth in das Büro ihres ehemaligen Chefs eingebrochen. Er hatte dafür ein Scandy mit Hacker-Software verwendet, das er in seinem Gepäck dabei gehabt hatte und das laut seiner Aussage „nur mit etwas Fantasie“ für den Polizeieinsatz gestattet war. Damit konnte er auch das Sicherheitssystem des Büros vorübergehend deaktivieren. Nylla hatte dieses Sicherheitssystem mal aus.... „persönlichem Interesse“ eingehend studiert und wusste daher, dass es sich üblicherweise nach etwa einer halben Stunde wieder selbst aktivierte. Diese halbe Stunde war jetzt jede Sekunde vorbei....
„Alsth....“, versuchte Nylla es noch einmal etwas ruhiger. „Mir könnte es ja egal sein, aber wenn Torx oder einer seiner Wachleute dich da drinnen erwischen, dann wird es dir schwerfallen, deinen Fall abzuschließen. Weil du dann nämlich bald eine Vakuumleiche bist! Du hast noch ein paar Tage Zeit, du kannst nächste Nacht nochmal kommen, wenn es sein muss, aber für heute ist dein Zeitfenster ausgeschöpft. Selbst wenn der Alarm in den nächsten Sekunden nicht losgehen sollte, wirst du schon eine Menge Glück haben müssen, dass morgen niemand eine Manipulation bemerkt! Also, schaff deinen Hintern endlich dort raus!“ Den letzten Satz hatte sie wieder laut gerufen.
„Nylla, bitte, ich kann mich nicht konzentrieren, wenn du mich die ganze Zeit anschreist! Und ich brauche auch nicht mehr lang! Ich will nur noch eine Sache probie....“ In diesem Moment hörte Nylla einen dumpfen Schlag von der anderen Seite der Verbindung und daraufhin Alsths Ausruf: „Aaah, verda....“
Dann brach die Leitung plötzlich mit einem kurzen, lauten Knacken ab.
„Alsth!“ schrie Nylla.
Keine Antwort.
„Alsth!!“ probierte sie es noch einmal lauter, so als könnte sie die Verbindung durch ihr bloßes Geschrei wieder zum Laufen bringen.
Aber aus dem Lautsprecher vor ihr drang nur noch Rauschen. Irgendetwas musste dort drüben geschehen sein.... irgendetwas gar nicht Gutes....
Plötzlich ging ein kleiner Ruck durch die Tawain 1, mit der Nylla sich immer noch hinter einem Asteroiden im Orbit von Anbis 6 versteckte. Ein Klacken und Zischen ertönte von der Luftschleuse her. Jemand hatte gerade dort angedockt! Und Nylla konnte sich auf der Stelle zusammenreimen, dass das nicht zufällig gerade jetzt geschah, kurz nachdem die Verbindung zu Alsth abgebrochen war.
Sie sprang auf und eilte zur Luftschleuse hinüber, presste sich dort an die Wand und wartete aufgeregt, bis der Vorgang zum Druckausgleich stattgefunden hatte. Dummerweise hatte man ihr nicht gestattet, eine Energiewaffe mitzunehmen. Aber Nylla hatte ihre Hände und Füße eigentlich schon immer für wesentlich zuverlässiger gehalten.
Die Sekunden zogen sich wie Kaugummi in die Länge. Und als das Zischen schließlich verstummte, erschrak Nylla beinahe an ihrem eigenen heftigen Atemgeräusch. Es erschien ihr so laut, dass sie ernsthaft befürchtete, wer auch immer in dem anderen Raumschiff war, könnte es hören und dadurch gewarnt sein.
Sie hielt schnell den Atem an. Und als die Schleuse schließlich aufging, schnellte sie augenblicklich nach vorne, um sich mit ihrer ganzen Wucht auf den Eindringling zu stürzen.
Mitten im Angriff erstarrte sie. Direkt vor ihren Augen gähnte die Mündung einer N-Waffe.
„Hallo, Nylla“, sagte Gruth, der die Waffe auf sie richtete. „Hast du jemand anderen erwartet?“
Dann drückte er ab.
In diesem Moment wachte Nylla auf – ihre eigenen Atemgeräusche hatten sie aufgeschreckt. Oder war es ein Schrei gewesen?
Für eine Weile rang Nylla nach Luft, hatte das Gefühl, als wäre auf ihrem Schiff der Sauerstoff ausgegangen. Doch dann holte die Realität sie vollständig wieder ein und sie blieb leicht zitternd, aber wieder halbwegs beruhigt, auf ihrer Matratze liegen.
Ein Alptraum.... Einer der vielen, die sie regelmäßig heimsuchten. So heftig war es aber schon lange nicht mehr gewesen....
Nylla versuchte, ruhig zu atmen und so langsam das Geträumte von den wahren Begebenheiten zu trennen.
Heute Nacht war Alsth tatsächlich in Torx’ Büro eingebrochen, um sich den Computer vorzunehmen. Er hatte mit Hilfe einiger weiterer „halblegaler“ Gimmicks das Betriebssystem des Rechners umgangen und direkt auf den Speicher zugegriffen. Der Vorteil war natürlich, dass er dafür das Passwort nicht brauchte. Der Nachteil war, dass er sich alle Daten einzeln durchsehen musste. Er konnte nicht gezielt nach etwas suchen, sondern musste alles nacheinander abklappern, wie es gerade auftauchte.
Er hatte ein paar Geschäftsdaten von Torx gefunden und sich einige Notizen gemacht. Alsth meinte, einiges davon würde der Polizei vielleicht bei ein paar anderen Fällen helfen können, an denen sie sich schon seit einiger Zeit die Zähne ausbiss.
Doch Infos über Torx‘ großen Coup waren bisher keine dabei gewesen. Alsth war auch immer wieder auf Daten gestoßen, die sich trotzdem nicht entschlüsseln ließen. Ihnen war der Verdacht gekommen, dass es sich gerade bei diesen Daten um die gesuchten handeln könnte. Trotzdem konnte er natürlich nicht einfach aufgeben.
Er war viel zu lange dort gewesen. Bis hierhin hatte Nyllas Traum nur die realen Ereignisse wiedergegeben. Doch ab dem Zeitpunkt, als Alsth geschrien hatte, hatte sich Nyllas Fantasie verselbstständigt.
Die Verbindung war gar nicht abgebrochen. Alsth hatte sich in Wirklichkeit nur darüber aufgeregt gehabt, dass ein großer Datenblock sich einfach nicht entschlüsseln lassen wollte. Er hatte es noch zwei oder drei Mal probiert, doch dann hatte Nylla ihn endlich dazu überreden können, die Sache gut sein zu lassen. Alsth war in sein Quartier zurückgekehrt und es hatte überhaupt keine Probleme gegeben. Keine Probleme zumindest, die sie bemerkt hatten....
Nylla setzte sich auf und verließ ihre Koje. Ihr Laken war völlig durchnässt und klebte auf ihrer Haut und ihr wurde langsam kalt.
Sie warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass es nach der Zeitrechnung von Anbis City, die auch auf der Station galt, fünf Uhr morgens war. Alsth würde wohl noch schlafen. Sie schaltete kurz zur Bestätigung die Verbindung zu Alsths Ohrsonde an und hörte sofort sein langsames Atmen.
Für einen Moment ging Nyllas Fantasie wieder mit ihr durch. Sie stellte sich vor, wie dieses Atmen aus nächster Nähe an ihr Ohr drang, während sie neben ihm im Bett lag und sich an ihn schmiegte....
Doch dann schüttelte sie den Kopf und verdrängte dieses lächerliche Bild aus ihren Gedanken.
Reiß dich zusammen, Nylla! Für diesen Mädchenkram bist du jetzt zu alt, rief sie sich in Gedanken zu. Schnell deaktivierte sie die Verbindung wieder.
Alsth würde sicherlich erst in ein paar Stunden aufwachen. Aber irgendwie hatte Nylla das Gefühl, dass sie jetzt kein Auge mehr zu bekommen würde. Deswegen suchte sie schnell nach einer trockenen Decke, wickelte sie sich um die Schultern und nahm wieder im Pilotenstuhl Platz.
Sie zog die Beine an den Körper und schlang ihre Arme darum, sodass die Decke sie halbwegs vollständig bedeckte. Dann schaltete sie den Sichtschirm ein und starrte auf den roten Gasriesen, der sich ganz langsam darauf drehte. So verharrte sie wach und grübelnd bis zum Morgen.
Kommissar Kheilo und Agent Vlorah betraten gemeinsam den großen Ratssaal im Sektor M4 von Anbis City.
Es war ein ziemlich eindrucksvoller Raum, ungefähr doppelt so lang wie breit und etwa so hoch wie drei normale Wohnhaus-Stockwerke. Die linke Seite war komplett verglast und erlaubte einen netten Ausblick auf den Mittleren Platz, auf der rechten Seite hingen einige abstrakte Bilder und das Stadtwappen von Anbis City. In der Mitte des Raums stand ein massiver, langer Tisch, an den zahlreiche Stühle herangeschoben waren.
Kheilo wollte die Stühle nicht zählen, aber er ging stark davon aus, dass es 60 waren – denn so viele Mitglieder hatte der Stadtrat.
An der Kopfseite des Tisches gegenüber von ihnen war ein Rednerpult, an dem eine ältere Frau stand und mit einigen Notepads hantierte. Es war Wehra, die Podiumsvorsitzende des Stadtrats – und der Grund, warum Kheilo und Vlorah hier waren.
Die beiden nickten dem Secu kurz zu, der sie herbegleitet hatte und nun an der Saaltür stehen blieb, und liefen dann auf das Rednerpult zu. Wehra entdeckte sie auf halbem Weg und legte ihre Notepads weg, um sie zu begrüßen.
„Morgen, die Herrschaften“, sagte sie. „Sie müssen mein 10-Uhr-Termin sein.“
„Guten Morgen, ich bin Kommissar Kheilo und das ist Agent Vlorah von der Kosmopol“, stellte Kheilo sie vor. Vlorah grüßte auch knapp, während Wehra ihnen beiden die Hand gab.
Wehra bekleidete den Posten der Podiumsvorsitzenden schon einige Jahre und war durchaus eine bekannte Person in Anbis City. Sie hatte wache, intelligente Augen und sehr kurz geschorenes, silbergraues Haar. Ihre spargelhafte, knochige Statur erweckte einen etwas falschen ersten Eindruck, denn ihre Haltung und Bewegungen zeugten von einem hervorragenden Fitnesszustand. Kheilo wusste zufällig, dass sie hin und wieder noch einen Triathlon mitmachte.
„Ich habe leider nicht allzu viel Zeit für Sie beide, weil ich noch die heutige Ratssitzung vorbereiten muss“, erklärte Wehra. „Vielleicht verraten Sie mir erst einmal, worum es überhaupt geht – meinem Assistenten wollten Sie gestern Abend ja noch keine Details verraten.“
Kheilo nickte. Gestern Abend hatten Vlorah und er einen kleinen Strategiewechsel in ihren Ermittlungen gegen den unbekannten verschwörerischen Politiker beschlossen, nachdem sie den ganzen Tag zuvor nicht so recht weitergekommen waren.
Das einzige, was sie über ihren Gesuchten sicher wussten, war dass er ein Mann war. Das hatte die Zahl der Verdächtigen immerhin schon mal von 60 auf 34 reduziert. Davon abgesehen war es jedoch ein ziemliches Stochern im Dunkeln.
Kheilo hatte weiterhin den Weg über diese Privatyacht versucht, die Nylla ihnen beschrieben hatte. Doch je mehr er nachgeforscht hatte, desto schwammiger waren die Informationen geworden. Anscheinend leisteten sich recht viele der Ratsmitglieder ein kleines, privates Raumschiff, doch genauere Spezifikationen über Typ, Modell, Größe und so weiter waren kaum in Erfahrung zu bringen. Die Ratsmitglieder achteten sorgsam darauf, dass ihre Luxus-Anschaffungen nicht allzu sehr in der Öffentlichkeit breitgetreten wurden.
Vlorah hatte sich hauptsächlich darauf konzentriert, Persönlichkeitsprofile der 34 männlichen Ratsmitglieder zu erstellen. Sie hatte alle Profile mit den kriminalpsychologischen Mustern der Kosmopol verglichen und gehofft, jemanden mit ganz vielen Übereinstimmungen ausfindig machen zu können. Doch auch wenn einige der Politiker ein paar Treffer hatten – als wirklich hochverdächtig hatte sich keiner erwiesen.
Irgendwann spät nachmittags hatte Vlorah plötzlich von ihrem Computer aufgeblickt und gesagt: „Kommissar – das funktioniert so nicht. Ich glaube, wir gehen das hier völlig falsch an.“
Kheilo hatte sich zurückgelehnt und mit den Achseln gezuckt. „Tja, wir haben nicht einmal mehr eine Woche Zeit und der erste Tag war schon fast ein völliger Reinfall. Wenn Sie also eine bessere Idee haben – ich bin ganz Ohr.“
„Nun ja, eigentlich ist es doch ganz einfach.“ Vlorah wiegte mit dem Kopf. „Torx‘ ganzer Plan baut darauf auf, dass sein Mitverschwörer im Stadtrat zum Dictus gewählt wird. Es muss also idealerweise jemand sein, der realistische Chancen hätte, zum Dictus gewählt zu werden.“
„Ah, ich glaube, ich verstehe, worauf Sie hinaus wollen.“
„Wir müssen doch eigentlich nur herausfinden, wer die besten Chancen bei so einer Wahl hätte – und der ist dann auch am wahrscheinlichsten unser Schmuggler-Kollaborateur.“
„Klingt einleuchtend. Jetzt bräuchten wir nur noch einen Experten, der uns das verraten kann....“
Kheilo war nach kurzer Überlegung auf die Podiumsvorsitzende Wehra gekommen. Sie kannte durch ihren Job so gut wie alle Ratsmitglieder seit Jahren und davor war sie bereits jahrelang als Politikjournalistin in Anbis City aktiv gewesen. Wenn ihnen jemand weiterhelfen konnte, dann sie.
Doch natürlich konnten sie ihr das alles jetzt nicht erzählen.
„Sie wissen vielleicht, dass wir den Absturz dieses Kosmopol-Schiffs untersuchen....“, begann Kheilo vorsichtig.
„Ah. Sie beide sind das also.“ Wehra musterte sie für einen Moment prüfend. „Aber ich verstehe nicht, was Sie dann zu mir führt. Kann ich Ihnen irgendwie bei der Aufklärung weiterhelfen? Oder haben ich oder der Stadtrat irgendwas mit dem Absturz zu tun?“
Kheilo und Vlorah warfen sich einen kurzen Blick zu.
„Wir gehen verschiedenen Theorien nach“, meinte Vlorah dann. „Eine davon besagt, dass der Absturz eine.... politische Komponente haben könnte. Wie Sie wissen, wurde die Zella von einem anderen Schiff abgeschossen. Die Täter könnten im Sinn haben, durch diese Tragödie die Politik der Stadt zu beeinflussen.“
Wehra nickte langsam. „Interessant.... könnten Sie das genauer erläutern?“
Sie wird hellhörig, erkannte Kheilo. Natürlich schied sie selbst als Verdächtige aus – erstens war sie eine Frau, zweitens streng genommen gar kein Ratsmitglied. Sie traf selbst keine politischen Entscheidungen, sondern leitete nur die Debatten. Trotzdem: Ganz ausschließen, dass sie etwas mit der Verschwörung zu tun hatte oder zumindest davon wusste, konnten sie nicht.
„Leider eben nicht“, antwortete er. „Genau deswegen wollen wir ja mit Ihnen sprechen. Vielleicht können Sie uns mit Ihrer Expertise weiterhelfen: Wie könnte dieser Absturz und die 25 Toten die kommenden Entscheidungen des Stadtrats beeinflussen?“
Wehra sah auf das Rednerpult herunter. „Na schön, lassen Sie mich kurz nachdenken. Am naheliegendsten wären Sicherheitsthemen.... Oder Budget-Bewilligungen, die mit der Polizei oder Verkehrsüberwachung zu tun hätten.... Aber da steht in nächster Zeit nichts auf dem Sitzungsplan....“
Sie nahm eins ihrer Notepads zu Hilfe. „Was haben wir heute und morgen auf der Tagesordnung? Modernisierung der Metro.... Bepflanzung der Parkanlagen.... Das wird es wohl nicht sein. Ausbau des Raumhafens? Das könnte schon eher....“
Kheilo unterbrach sie schnell: „Vielleicht geht es auch gar nicht um die Arbeit des Stadtrats – sondern eher um seine Struktur....“
Wehra blickte wieder auf. „Wie meinen Sie das?“
„Nun ja, theoretisch sollte jedes der 60 Ratsmitglieder unabhängig sein, nur die Interessen seiner Wählerschaft vertreten und so weiter. Aber das ist in der Praxis nicht wirklich so, oder? Ist es nicht eher so, dass es innerhalb des Stadtrats Bündnisse und Absprachen gibt? Dass sich mit der Zeit Interessengruppen gebildet haben, die bei Abstimmungen zusammenarbeiten?“
Wehra hatte sehr aufmerksam zugehört. Kheilo glaubte ein verstecktes Lächeln auf ihren Lippen zu erkennen. „Nun.... Natürlich. Es gibt gewisse.... Seilschaften hier im Stadtrat, wie so ziemlich überall in der Politik. Aber das ist ein offenes Geheimnis, die Stadtpresse behandelt das alles schon seit Jahren. Um darüber etwas zu erfahren, brauchen Sie doch nicht mich – oder?“
Da hat sie leider völlig Recht, dachte Kheilo. Er hatte geahnt, dass Wehra seine Geschichte durchschauen würde.
„Sie müssen mich entschuldigen“, kam Vlorah ihm glücklicherweise zu Hilfe. „Ich bin nicht aus dieser Stadt. Und ich weiß so gut wie nichts über die lokale Politik hier bei Ihnen. Der Kommissar hat da sicherlich mehr Ahnung – aber auch er dürfte nicht den vollen, aktuellen Überblick über die ganzen politischen Spielchen hier in Anbis City haben.“
Vlorah nickte Wehra herausfordernd zu. „Aber er hat Sie als bedeutende Expertin auf dem Gebiet beschrieben. Wenn Sie uns also unsere Arbeit vielleicht etwas erleichtern wollen....“
Wehra entwich ein amüsiertes Knurren, während sie die Arme verschränkte. Sie scheint Vlorah tatsächlich zu mögen, erkannte Kheilo mit leichter Verblüffung.
„Also schön, wie Sie wollen. Ich gebe Ihnen gerne einen Überblick über die Lagerbildung in unserem schönen Stadtrat – wäre Ihnen das genehm?“
„Das würde uns sehr helfen, danke“, sagte Kheilo.
„Na gut....“ Wehra wies auf die Stühle am großen Tisch, die ihnen am nächsten waren. „Vielleicht wollen wir uns dafür aber setzen?“
Alle drei nahmen am Ratstisch Platz. Kheilo kam sich ein bisschen wie ein Eindringling vor, aber gut, wenn Wehra nichts dagegen hatte....
„Es gibt vier größere Lager in unserem Stadtrat“, begann Wehra ihre Zusammenfassung. „Die meisten Ratsmitglieder gehören einem an – je nachdem, aus welchem Stadtteil sie kommen und welche Wählerschaft sie repräsentieren.“
„Haben diese Lager auch.... Wortführer?“ warf Vlorah eine Frage dazwischen.
„Haben sie“, bestätigte Wehra. „Auch das ist allgemein bekannt. Der Chef des größten Lagers ist Ratsherr Riggar. Er repräsentiert den Westen und Nordwesten von Anbis City, in dem vor allem Familien mit Kindern und Rentner leben. Und er steht für eher konservative Politik.“
Kheilo nickte. Natürlich kannte er Ratsherr Riggar – hatte ihn sogar schon mal selbst bei einer Wahl in die engere Auswahl genommen. Im Moment konnte er sich noch nicht vorstellen, dass dieser mit einem Schmugglerboss zusammenarbeitete – aber er kam trotzdem schon mal auf die Verdächtigenliste.
„Die zweite ist Ratsfrau Yelai als Vertreterin des Stadtzentrums. Wie der Herr Kommissar sicher weiß, leben dort vor allem gut verdienende Junggesellen. Sie steht also eher für junge, progressive Politik.“
Okay, sie können wir als Frau schon mal ausschließen, dachte Kheilo.
„Dann wäre da Ratsherr Ellister. Er stammt aus dem Osten der Stadt, wo vor allem Unternehmer und Gewerbetreibende leben. Sie können sich sicher denken, welche politische Richtung sein Lager hat.“
Auch dieser Name war Kheilo vertraut. Ellister war ebenfalls einer der bekanntesten Politiker der Stadt. Charakterlich kam er Kheilo immer etwas arrogant vor, aber das war nur ein sehr oberflächlicher Eindruck, der täuschen konnte.
„Und der vierte im Bunde ist Ratsherr Logess. Er repräsentiert die ärmeren Gegenden der Stadt im Süden und in der Nähe des Raumhafens. Sein Lager hat aber klar den geringsten Einfluss auf den Stadtrat. Liegt wohl am Geld – aber das haben Sie nicht von mir.“
Okay, unsere ersten drei Verdächtigen, dachte Kheilo zufrieden. Damit waren sie nach zehn Minuten Gespräch schon weiter als gestern den ganzen Tag.
„Das wäre der grobe Überblick.“ Wehra klopfte auf den Tisch. „Reicht Ihnen das schon? Oder benötigen Sie noch weitere Informationen?“
„Sie sagten, Ratsherr Riggars Lager wäre das größte und das von Ratsherrn Logess das kleinste“, wiederholte Vlorah. „Wie ist es mit den anderen beiden?“
„Ausgeglichen“, erwiderte Wehra. „Im Moment ist die Sitzverteilung etwa 20, 15, 15, 10. Je nach Thema schließen sich aber auch zwei oder mehr Lager zusammen. Da kann aber durchaus mal jeder mit jedem – außer vielleicht Ellister und Logess.“
Wie würde es wohl bei einer Dictus-Wahl aussehen? Wer würde sich da zusammenschließen? Kheilo grübelte kurz, ob er die Frage stellen sollte.
Auf dem Herweg hatte er mit Vlorah darüber diskutiert, ob sie das Thema Dictus ansprechen sollten. Sie waren überein gekommen, es nur zu erwähnen, wenn sie nicht weiterkamen. Sie wollten sich von der cleveren Podiumsvorsitzenden nicht zu sehr in die Karten schauen lassen.
„Wenn Sie keine weiteren Fragen haben....“, drängte Wehra.
Kheilo beschloss, es drauf ankommen zu lassen. Wehras Einschätzung zum Dictus-Thema konnte für sie beide sehr wertvoll sein. Er sah Vlorah fragend an – und die nickte ihm kaum merklich zu. Anscheinend hatte sie seinen Gedankengang schon erraten.
„Darf ich Ihnen noch ein hypothetisches Szenario vorgeben?“ fragte er also. „Es gibt ja diese Regelung, dass der Stadtrat in Notfällen einen Dictus wählen kann....“
„Oh nein.“ Wehra rollte mit den Augen. „Jetzt kommen Sie wirklich mit diesem Relikt aus unseren Gründungszeiten an? Es stimmt, diese Regel gibt es, aber seit dem Ende der Grenzkonflikte wurde sie kein einziges Mal angewendet....“
„Wie gesagt, ein hypothetisches Szenario. Tun Sie uns doch bitte den Gefallen und lassen sich darauf ein – nur aus Jux.“
Wehra seufzte. „Also schön. Was ist Ihre Frage?“
„Die können Sie sich bestimmt schon denken: Wenn es morgen zu einer Dictus-Wahl käme – wen würde der Stadtrat dann wählen?“
Wehra starrte nachdenklich in die Luft. Sie seufzte nochmal. Dann zuckte sie mit den Achseln. „Ich schätze, abgesehen von Logess genau die, über die wir gerade gesprochen haben. Das Logess-Lager würde in so einem Fall vermutlich Riggar unterstützen.... Und dann kommt es darauf an, ob Yelai und Ellister eine Allianz zustande bringen würden – und für welchen der beiden sie sich entscheiden würden.“
Bevor Kheilo oder Vlorah etwas sagen konnte, hob sie jedoch schnell abwehrend die Hände. „Aber das ist wirklich rein hypothetisch. In so einer Extremsituation würden sicherlich viele Ratsmitglieder individuell abstimmen und auf die Seilschaften pfeifen. Es ist sicherlich einer der drei – aber welcher davon....“ Sie seufzte erneut.
Na gut, aber da Yelai rausfällt, wären es nur zwei heiße Kandidaten.... Kheilo war schon mal ganz zufrieden. Er tauschte wieder einen kurzen Blick mit Vlorah aus, um zu sehen, ob sie noch Fragen hatte.
„Wenn wir es noch genauer wissen wollten.... Wen könnten wir danach fragen?“ versuchte Vlorah es.
Wehra runzelte die Stirn. „Was zum Kuckuck ist Ihnen daran so wichtig? Das ist doch wirklich ein sehr unwahrscheinlicher Fall – und was hat es überhaupt mit diesem Absturz zu tun?“
Das war jetzt vielleicht ein Schritt zu weit...., dachte Kheilo beunruhigt. „Sie haben natürlich Recht“, versuchte er es schnell noch zu retten. „Aber wie Sie selbst sagen, es ist so eine kuriose Regelung und wir waren einfach neugierig.“
Wehra knurrte. „Wie Sie meinen. Wenn Sie das wirklich genau wissen wollen, müssten Sie schon die Ratsmitglieder selbst fragen. Oder die Leute, die sie sehr gut kennen.“ Sie stand auf. „Es tut mir sehr leid, aber jetzt habe ich wirklich keine Zeit mehr. Wenn Sie noch weitere Fragen haben – Sie können gerne jederzeit mein Büro kontaktieren....“
Damit verabschiedeten sie sich voneinander. Auf dem Weg nach draußen rückte Vlorah näher an Kheilo und flüsterte, damit der Secu sie nicht hören konnte: „Wir sollten es wirklich so machen – jeden fragen, der diese Ratsmitglieder persönlich kennt, und alle Aussagen sammeln und auswerten. Vielleicht ergibt das ein eindeutiges Bild.“
„Es könnte den Täter aber auch vorwarnen, wenn wir in der ganzen Stadt solche Fragen stellen“, flüsterte Kheilo zurück. „Wir müssen da sehr vorsichtig sein.“
„Das stimmt auch wieder. Kehren wir erst einmal ins Büro zurück – dann sehen wir weiter.“
Damit war Kheilo einverstanden.
„Hey, Alsth?“
Alsth erschrak leicht, als Nylla sich mal wieder ohne Vorwarnung über seine Ohrsonde meldete.
„Nylla?“ antwortete er.
„Was machst du gerade?“
„Mich umziehen.“ Alsth sah in den Spiegel vor ihm, wo ihm sein nur mit Shorts bekleidetes Spiegelbild gegenüber stand. „Ich will endlich mal diesen Trainingsraum besuchen. Du hast mir ja den Tipp gegeben, dass man so am besten die Aufmerksamkeit der Führungsetage erregen kann.“
„Ja, gute Idee, racker dich mal ordentlich ab. Ich liege hier inzwischen gemütlich in meiner Koje. Nachher lümmel ich vielleicht ein paar Stunden im Pilotenstuhl herum. Vielleicht bleib ich aber auch den ganzen Tag hier liegen.“
„Nur zur Klarstellung: Willst du mich damit ärgern, dass du den einfacheren Job von uns beiden hast? Oder beschwerst du dich gerade bei mir, dass dir sterbenslangweilig ist?“
„Weiß ich ehrlich gesagt auch nicht so genau. Wahrscheinlich irgendwie beides.... Aber egal. Was ist jetzt dein Plan, nachdem das gestern Nacht.... nicht so gut gelaufen ist?“
„Tja, es hilft nichts, ich muss auch noch eine zweite Strategie verfolgen. Ich will versuchen, in die Organisation hier auf der Station einzusteigen – Kontakte knüpfen, das Vertrauen einiger Leute gewinnen....“
„In sechs Tagen? Wie weit kannst du da schon kommen?“
Alsth schlüpfte in seine Trainingshose, während er weiter sprach: „Ich weiß auch, dass es extrem unwahrscheinlich ist, dass ich mich in so kurzer Zeit so weit eingliedern kann und in alle Geschäftsgeheimnisse eingeweiht werde. Vor allem bei so einem paranoiden Boss. Aber ich hab momentan tagsüber sowieso nichts anderes zu tun und ich muss es wenigstens versuchen.“
„Na gut. Besonders zuversichtlich klingt das aber nicht.“
„Es ist der Griff nach dem letzten Strohhalm, das weiß ich auch.“ Alsth zog sich ein T-Shirt über. „Aber vielleicht kannst du mir ein paar Tipps geben. Wer ist denn auf dieser Station vertrauenswürdig und könnte bereit sein mir weiterzuhelfen?“
Er hörte Nylla kichern. „Das ist einfach zu beantworten: Gar keiner! Schon vergessen, dass das hier eine Schmugglerstation ist?“
Alsth machte schmale Lippen. „Hmm.... Aber irgendeinen Ansatzpunkt muss es doch geben....“ Er überlegte kurz. „Du sagtest doch gestern, dass du hier einen Mentor hattest. Wer ist das – könnte der mir nicht vielleicht helfen?“
Für ein paar Sekunden blieb Nylla still. Dann sagte sie: „Ein alter Schmuggler hat mich als Kind oft in seinem Schiff mitgenommen. Von ihm hab ich das meiste gelernt, was ich wissen musste. Er war fast sein ganzes Leben lang ein Schmuggler und kannte jeden Fliegertrick, jede Möglichkeit an die heißeste Ware heran zu kommen – und außerdem noch eine ganze Litanei an furchtbar schlechten Pilotenwitzen. Er hatte.... eine etwas eigenwillige Art, aber er war immer ein netter Kerl. Sein Name war Wetzke.“
Alsth ahnte schon etwas. Er setzte sich nach hinten auf sein Bett. „War?“
Nyllas Stimme klang sehr leise. „Er ist leider vor ein paar Jahren gestorben.“
„Oh.“ Alsth nickte bedauernd. „Das ist schade....“
„Sehr schade“, pflichtete Nylla ihm bei. Dass sie diesmal nicht mit einem trotzigen Kommentar antwortete, wertete Alsth mal als gutes Zeichen. Vielleicht taute sie ja doch noch ein bisschen auf.
„Dieser Wetzke hat wohl sozusagen die Vaterrolle für dich übernommen“, sagte er. „Dein echter Vater hat sich anscheinend wenig um dich gekümmert. Zumindest hast du gestern so etwas angedeutet....“
Nylla stieß einen abwertenden Laut aus. „Ach, vergiss einfach, dass ich dir das erzählt habe. Hätte ich nicht tun sollen. Eigentlich hab ich diese Sache für mich längst abgeschlossen. Ich bin fertig mit meinem Vater.“
„Wie meinst du das? Ist er auch....“
„Tot? Nein. Das heißt, eigentlich hab ich keine Ahnung. Möglich, dass er sich noch irgendwo herumtreibt. Möglich, dass es ihn irgendwann erwischt hat. Für mich macht es keinen Unterschied mehr.“
Sie versuchte gleichgültig zu klingen, doch Alsth hörte trotzdem deutlich die Verbitterung in ihrer Stimme. Das tat ihm wirklich leid – und es widerstrebte ihm, es damit einfach auf sich beruhen zu lassen.
Er blickte auf die Sportschuhe herunter, die neben seinem Bett standen. Eigentlich sollte er die jetzt anziehen und sich endlich zur Trainingshalle aufmachen.
Doch stattdessen rutschte er aufs Bett hoch und legte sich zurück auf sein Kissen.
„Ich weiß, du redest nicht gerne darüber“, sagte er. „Aber darf ich trotzdem fragen, was mit ihm passiert ist?“
„Das darfst du gerne, aber ich kann dir auch keine Antwort geben. Ich erinnere mich nur daran, dass ich irgendwann mal die ganze Station nach ihm abgesucht habe, aber er war nirgendwo zu finden. Wetzke hat mir dann erzählt, er wäre abgeflogen. Mehr konnte oder wollte er mir auch nicht sagen, obwohl ich ihn mehrmals gefragt habe.“
„Dann ist dieser Typ einfach so spurlos verschwunden, von heute auf morgen, ohne irgendeinen Grund?“
„Na ja....“ Nylla zögerte. Alsth stellte sich vor, wie sie in ihrer Koje auf der Tawain 1 lag und an die Decke starrte. Eigentlich war es ja schon ein halbes Wunder, dass sie ihm überhaupt etwas von ihrer Kindheit erzählte. Machte sie das nur, um die Langeweile zu vertreiben? Oder um nicht über ihre ungewisse Zukunft nachdenken zu müssen?
Oder begann sie vielleicht sogar ihm zu vertrauen?
„Wenn du es mir nicht erzählen willst, dann....“, bot er ihr an.
Er hörte Nyllas Seufzen. „Ach, es ist nur so, dass ich diese Geschichte nicht wieder aufwühlen wollte. Mir kommt es fast so vor, als wäre das alles nicht mir passiert, sondern einer ganz anderen Person in einem ganz anderen Leben.“
Alsth nickte. Er kannte dieses Gefühl zwar nicht aus eigener Erfahrung – aber von Gesprächen mit Angehörigen von Mordopfern, die Jahre später wieder ins Leben zurückgefunden hatten. So ein schweres Trauma war immer ein tiefer Einschnitt.
„Es war nur komisch....“, fuhr Nylla fort. Es war hörbar, dass es ihr nicht leicht fiel, darüber zu reden. „Das Timing sprach eigentlich für sich.“
„Wie meinst du das?“
„Ach.... dass er zufällig abgehauen ist, kurz nachdem es diesen einen.... Zwischenfall gab....“
Sie schwieg wieder eine Weile, wahrscheinlich unsicher, ob und wie viel sie weiter erzählen sollte. Alsth wollte sie nicht drängen, deswegen blieb er einfach ruhig und wartete ab.
„Unser Schiff ist einmal fast in die Luft geflogen“, erzählte sie schließlich. „Ich war damals alleine an Bord und bin nur mit viel Glück heil davongekommen.“
Dann lachte sie tatsächlich auf – allerdings klang sie dabei sehr bitter. „Das Lustige ist, dass die Situation eigentlich völlig ungefährlich war. Jeder andere hätte sie problemlos mit wenigen Handgriffen entschärfen können. Aber ich wäre fast draufgegangen. Und weißt du wieso? Weil ich zu viel Angst hatte, irgendetwas zu unternehmen! Ich hab mich einfach in einer Ecke verkrochen und auf mein Ende gewartet! Kannst du dir vorstellen, dass sich jemand so dämlich verhalten kann?“
„Du warst in Panik“, meinte Alsth. Er hatte den Eindruck, dass Nylla viel zu hart mit sich selbst war. „Und du warst noch wahnsinnig jung. Ich will dir gar nicht sagen, wie sehr ich auf meinem ersten echten Polizeieinsatz geschwitzt habe. Und ich war damals immerhin schon 20. Wie alt warst du?“
„Neun oder zehn, aber darauf kommt es nicht an. Die Angst war gar nicht das Problem. Es war eher so ein dummes Hirngespinst.... Dass sich alle meine Probleme von selbst lösen würden.“
„Nicht unüblich für ein Kind in diesem Alter – würde ich sagen.“
Nylla wurde laut: „Aber nicht für ein Schmugglerkind! Das ist das Entscheidende! Als Schmuggler lernt man schon sehr früh, auf sich selbst aufzupassen und allein mit jeder Gefahr fertig zu werden!“
Dann hielt sie für eine Sekunde inne und sprach wieder leiser weiter: „Auf jeden Fall habe ich meinen Vater wohl ziemlich enttäuscht. Er hat erwartet, dass ich mir selbst helfen kann. Aber ich konnte das nicht. Ich war total überfordert und hilflos. Dieser lächerliche Zwischenfall hat sich so in mein Gedächtnis eingebrannt.... Sogar jetzt, zehn Jahre später, hab ich deswegen immer noch manchmal Alpträume! Passiert das dir auch, dass du jetzt noch von deinem ersten Einsatz geplagt wirst?“
„Nein, inzwischen nicht mehr“, musste Alsth zugeben. „Mittlerweile hab ich einfach schon zu viele Tatorte gesehen.... Aber das ist gar nicht vergleichbar mit dem, was du erlebt hast. Wie ist es danach weiter gegangen?“
Nylla murrte. „Jedenfalls, drei Tage später war mein Vater weg. Es ist ihm wohl zu blöd geworden. Und ich hab für mich einige Schlüsse aus der Sache gezogen. Ich weiß jetzt, dass ich mich auf niemanden wirklich verlassen kann. Ich hab gelernt mir selbst zu helfen – und so hab ich bis jetzt überlebt.“
Alsth hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt und sah an die Decke. Er hätte gerne etwas erwidert, etwas das Nyllas düsteres Weltbild etwas auflockern konnte. Aber er wusste nicht so recht was. Also schwieg er und hörte ihr weiter zu.
„Die Schmuggler auf der Station haben mich irgendwann akzeptiert, aber nicht einfach bloß aus Herzensgüte, sondern weil ich ein Raumschiff fliegen konnte, weil ich Geld und Aufträge ranschaffen konnte und weil ich ab und zu aus Wetzkes unendlichem Archiv an schlechten Pilotenwitzen schöpfen konnte. Wenn die Leute mich für nützlich halten oder wenigstens für unterhaltsam, sind sie mir relativ gewogen. Wenn ich Mist baue oder mich beinahe in ihrem Raumschiff in die Luft jage, lassen sie mich links liegen. So läuft das bei uns. Das solltest du über mich wissen, wenn du weiterhin versuchen willst, mich besser kennen zu lernen.“
Alsth blieb still. Jetzt verstand er endlich, warum sie sich ständig so gegen seine Komplimente wehrte. Er versuchte sich vorzustellen, wie er sich gefühlt hätte, wenn sein Vater ihn als Kind allein gelassen hätte. Wahrscheinlich hätte er ein ähnliches Misstrauen gegen andere Leute und ihre wahren Motive entwickelt.
Nylla musste sich damals verzweifelt gefragt haben, wo bei ihr der Fehler lag. War sie allein nicht Grund genug für ihren Vater gewesen, bei ihr zu bleiben? Hatte er seine Tochter als Fehlschlag abgehakt und war einfach weitergezogen?
Dummerweise hatte Nylla niemanden gehabt, der sie moralisch wieder aufbauen konnte. Und jetzt glaubte sie, dass alle Menschen sie nur akzeptieren würden, wenn sie ihnen nützlich war. Doch sobald sie Schwierigkeiten machte, würde jeder sie genauso im Stich lassen, wie ihr Vater es getan hatte. Deswegen wollte sie offensichtlich niemandem Glauben schenken, der sie für etwas Besonderes hielt und es ihr zu sagen versuchte.
Doch da irrte sie sich. Alsth wusste, dass Nylla ein völlig falsches Bild von sich selbst und anderen Menschen hatte. Aber wie sollte er ihr das glaubhaft vermitteln? Sie kannten sich erst seit zwei Tagen – wie konnte er, der Cop, sie von einer Idee abbringen, nach der sie schon jahrelang lebte?
Alsth hatte so viel auf der Zunge, er wollte ihr sagen, dass ihr Vater wohl ein hoffnungsloser Idiot gewesen sein musste, dass er gar nicht wusste, was für eine beeindruckende Tochter er aufgegeben hatte. Und dass Alsth sie nach all dem, was er bis jetzt von ihr erfahren hatte, für eine der außergewöhnlichsten Personen hielt, die er bisher kennen gelernt hatte.
Aber er wusste auch, was passieren würde, wenn er ihr das zu sagen versuchte. Sie würde sarkastisch und abweisend reagieren, ihm wahrscheinlich irgendwelche Hintergedanken vorwerfen und ihm kein Wort glauben.
Er wünschte, Kheilo wäre hier. Sein älterer Partner würde ganz sicher auf ähnliche Gedanken kommen wie Alsth und er würde ganz sicher die nötige Eloquenz haben, um es Nylla begreiflich zu machen. Alsth dagegen war ein Mensch der Tat, kein großer Redner.
„Bist du schon beim Abrackern?“ fragte Nylla, nachdem er eine Weile nicht geantwortet hatte. „Oder hat es dir nur die Sprache verschlagen?“
Alsth machte schmale Lippen. Er wollte ihr noch irgendetwas sagen. Irgendetwas Aufmunterndes. Etwas Ehrliches. Etwas, das sie vielleicht zum Nachdenken brachte.
Es fiel ihm jedoch nichts Brauchbares ein.
„Noch nicht“, sagte er daher, während er sich aufsetzte. „Aber langsam sollte ich wohl loslegen.“
Er war nicht allzu glücklich damit, wie dieses Gespräch geendet hatte, aber im Moment konnte er daran nichts ändern. Vielleicht würde er irgendwann später die Gelegenheit bekommen, es besser zu machen.
Er rutschte von seinem Bett herunter und griff nach seinen Sportschuhen.
„Also, um diesen ganzen Mist noch einmal zusammen zu fassen“, sagte Kheilo und nippte halbherzig an einem Becher Kaffee.
Er saß an seinem Schreibtisch in seinem Büro in der Polizeizentrale, während Vlorah Alsths Schreibtisch belegt hatte. Beide hatten während der letzten Stunden unzählige Komgespräche geführt – mit Sprechern und Sekretären der Ratsmitglieder, mit gesprächsbereiten Verwandten und Freunden, mit Journalisten, Professoren und anderen Experten. Nun war später Abend und beide waren müde und hatten spröde Lippen vom vielen Reden.
„Wir haben 60 Ratsmitglieder.“ Kheilo begann seine Sätze an den Fingern abzuzählen und sah dabei gedankenverloren in die Luft. „Wenn Torx uns während der Impulspause den Saft abdreht und es zum Ausruf des Notstands kommt, dann werden diese 60 einen Dictus wählen, der ihre gesamten Aufgaben übernimmt. Das Ratsmitglied mit den meisten Stimmen bekommt den Posten.“
„So weit waren wir schon vor zwei Tagen“, murmelte Vlorah. Als Kheilo sie missbilligend ansah, hob sie entschuldigend die Hände. „Tut mir leid, ich wollte Ihre Konzentration nicht stören.“
„Wenn Sie von den Überlegungen eines einfachen Polizisten so gelangweilt sind, warum sagen Sie mir nicht einfach, zu welchen Schlüssen Sie als hochgebildete Kosmopol-Spezialagentin kommen?“
Vlorah seufzte. „Kommissar, ich dachte, wir hätten das inzwischen hinter uns. Keiner von uns hat darum gebeten, mit dem jeweils anderen zu arbeiten. Trotzdem hatte ich in den letzten Tagen den Eindruck, dass wir zusammen sehr effektive Arbeit geleistet haben.“
Kheilo blickte sie einen Augenblick verwundert an. „Sie haben Recht“, stellte er dann fest. „Wir waren wirklich ein gutes Team. Allein dass wir tatsächlich so was wie ein Team waren, ist doch sehr erstaunlich. Tut mir leid, das hätte mir früher auffallen sollen.“
„Nachdem das nun hoffentlich geklärt ist....“
„Okay, okay, widmen wir uns wieder.... dem hier.“ Kheilo deutete unmotiviert auf seinen Computer und belegte ihn mit einem beinahe strafenden Blick. „Diesem chaotischen Haufen von Gerüchten, Behauptungen, Expertenmeinungen und Einschätzungen, der uns irgendwie verraten soll, wer unser wahrscheinlichster Mitverschwörer sein soll.“
„Ich habe einfach mal jeden Schnipsel an Aussagen aus unserer Sammlung hergenommen und zu dieser Liste verarbeitet“, verkündete Vlorah. „Demnach haben zwei Ratsmitglieder mit Abstand die größten Chancen, zum Dictus gewählt zu werden: Ratsherr Riggar und Ratsherr Ellister.“
„Also zwei von den dreien, die Wehra uns heute Morgen schon genannt hat“, stellte Kheilo fest. „Wobei wir Ratsfrau Yelai ohnehin schon als Verdächtige ausgeschlossen hatten, weil wir nach einem Mann suchen. Aber nach dieser Liste hätte sie überhaupt keine Chancen?“
Vlorah zuckte mit den Achseln. „Laut den Aussagen von mehreren ihrer engsten Vertrauten würde sie sich gar nicht erst zur Dictus-Wahl aufstellen lassen. Sie lehnt dieses ganze Konzept entschieden ab – außerdem hält man sie mehrheitlich noch für zu jung für einen solchen Posten.“
„Na gut, also bleibt es bei Riggar und Ellister, wie wir es heute Vormittag schon ahnten. Wenigstens haben wir jetzt konkrete Daten, die uns das bestätigen. Verrät Ihre Liste uns, wer von den beiden die Nase vorn hätte?“
Vlorah machte schmale Lippen, während sie ihren Bildschirm studierte. „Leider sieht es zwischen den beiden recht ausgeglichen aus. Ich zähle 17 Stimmen, die Riggar sicher hätte, und 16 sichere Stimmen für Ellister. Weitere 18 Stimmen verteilen sich auf andere Ratsmitglieder, von denen aber keiner mehr als 5 Stimmen bekommen dürfte. Und von den restlichen 9 konnten wir noch keine klare Tendenz herausfinden oder die Aussagen sind widersprüchlich. Diese 9 sind entscheidend.“
Kheilo lehnte sich zurück und machte ein unzufriedenes Gesicht. „Und jetzt? Jetzt sitzen wir in einer Sackgasse. Ich habe alle Quellen angezapft, die mir eingefallen sind. Und wenn wir jetzt zu einem unserer beiden Favoriten hingehen und ihn mit solchen Anschuldigungen konfrontieren, haben wir sofort eine ganze Horde von Anwälten im Nacken. In den paar Tagen, die uns noch bleiben, werden wir uns da kaum durchkämpfen können.“
Vlorah nickte. „Und ohne konkrete Beweise können wir mit unserer Geschichte, dass ein Schmugglerboss und ein Ratsmitglied dieses System erobern wollen, auch nicht an die Öffentlichkeit gehen. Wir würden das Gespött der ganzen Stadt auf uns ziehen und unseren Verschwörer obendrein vorwarnen.“
Kheilo knirschte mit den Zähnen. „Ich wünschte, wir könnten wenigstens mit Alsth Funkkontakt aufnehmen. Vielleicht hat er schon Beweise gefunden, die uns hier unten weiterhelfen könnten....“
„Falls er nicht schon längst von dieser flüchtigen Schmugglerin hintergangen wurde und auf dieser Raumstation gefangen gehalten wird oder Schlimmeres....“
Da Vlorah innerhalb von zwei Tagen jede Menge Gelegenheiten gehabt hatte, herauszufinden, wie Kheilos Gesichtsausdruck aussah, wenn er in Gedanken einen bissigen Kommentar vorbereitete, stellte sie sich schon mal seelisch darauf ein. Kheilo setzte auch schon zum Sprechen an – doch in dem Moment piepte sein Computer und eine Nachricht erschien auf seinem Bildschirm.
Kheilo klappte seinen Mund wieder zu und las sich die Nachricht mehrmals durch. „Interessant....“
Vlorah sah gespannt auf. „Was gibt es?“
„Ratsherr Riggar wünscht, dass wir beide ihn in seinem Haus im Sektor L0 treffen. Und zwar gleich morgen Vormittag.“
Vlorah hob eine Augenbraue. „Und? Halten wir das für einen Zufall?
„Dass einer unserer beiden Hauptverdächtigen uns zu sich einlädt, kurz nachdem wir die halbe Stadt nach ihm ausgefragt haben?“ Kheilo stieß einen kurzen Lacher aus. „Wohl kaum.“
„Wir wussten, dass es ein Risiko sein würde und dass wir unseren Verschwörer vielleicht aufscheuchen könnten.“
Kheilo runzelte die Stirn. „Sieht fast so aus, als hätten wir das. Das einzige Gute daran ist: Wir müssen uns jetzt nicht mehr den Kopf darüber zerbrechen, was wir als nächstes tun sollen....“
„Alsth!“ rief Nylla zum wiederholten Mal. „Jetzt schaff deinen Hintern endlich dort raus!“
„Nur noch ein paar Sekunden, Nylla.... Ich will noch eine Sache probie.... Aaah, verda....“
Mit einem kurzen, lauten Knacken brach die Leitung plötzlich ab.
„Alsth!“ schrie Nylla.
Aus dem Lautsprecher vor ihr drang nur noch Rauschen. Irgendetwas an dieser Situation kam Nylla schrecklich bekannt vor. Und schrecklich angsteinflößend....
Plötzlich ging ein kleiner Ruck durch das Schiff und ein Zischen ertönte an der Luftschleuse. Jemand hatte gerade dort angedockt! Und dieses unheilvolle Déjà-vu-Gefühl wollte einfach nicht aufhören. Etwas ganz Furchtbares würde gleich passieren....
Sie sprang auf, presste sich neben der Luftschleuse an die Wand und wartete aufgeregt, bis der Vorgang zum Druckausgleich beendet war. Sie hatte so eine Ahnung, dass ein Frontalangriff nichts bringen würde – also entschied sie sich dazu, den Eindringling kommen zu lassen.
Die Schleuse fuhr auf. Nylla machte sich bereit. Und sofort, als sie ein Bein hindurchkommen sah, schnellte sie nach vorne und rammte dem Gegner ihr Knie in den Magen.
Dieser stöhnte laut auf, ging zu Boden und die Worte, die er gerade hatte rufen wollen, blieben ihm in der Kehle stecken.
Nylla packte ihn am Haarschopf und wollte ihm schon den Rest geben – doch dann hielt sie plötzlich inne. „Du?!“
Alsth nickte keuchend, da er immer noch kein Wort heraus bekam. Nylla schluckte, griff nach seinen Armen und zog ihn hoch. „Tut mir so leid, das wollte ich nicht.... Wie zum Henker hast du es so schnell geschafft, hier her zu kommen?“
Alsth richtete sich auf und brachte es gerade so fertig, mit Nyllas Hilfe sein Gleichgewicht zu behalten. „Wir haben keine Zeit für Erklärungen! Sie sind hinter uns her! Wir müssen auf der Stelle verschwinden! Los, starte den Antrieb!“
„Aber.... wer.... was ist denn dort drüben passiert?“ stammelte Nylla, während sie auf den Pilotensitz sprang und ihre Finger über die Konsole wandern ließ.
Alsth achtete nicht auf sie, sondern lehnte sich erschöpft gegen die Wand, rutschte daran herunter und rieb sich den Bauch. „Autsch! Also, wenn ich bei diesem Auftrag eins gelernt habe, dann dass ich nicht mehr so unachtsam durch alle möglichen Türen rennen sollte....“
Nylla fuhr Antrieb und Schilde hoch, während hundert verschiedene Fragen durch ihren Kopf huschten. Sie wollte gerade die nächste Frage ausspucken, als die Tawain von Waffenfeuer getroffen wurde. Verwirrt starrte Nylla auf ihre Anzeigen, denn dort war nirgendwo ein feindliches Schiff auszumachen. Kurz darauf wurden sie erneut getroffen, diesmal schon wesentlich heftiger. Lange würden ihre Schilde das nicht mehr mitmachen. „Aber wo sind diese Idioten?“
„Sie benutzen eine Tarnvorrichtung!“ krächzte Alsth. „Wir können sie nicht sehen! Versuche nicht zurück zu schießen, mach einfach, dass du hier weg kommst! Und zwar weit weg, wenn es geht! Das ganze Anbis-System wird nämlich jeden Augenblick explodieren!“
Doch Nylla konnte ihre vor Schreck erstarrten Finger kaum noch bewegen und klar denken konnte sie auch nicht mehr. Dann begann Alsth zu allem Überfluss auch noch heftig zu husten und Blut zu spucken. Hatte sie ihn doch schlimmer getroffen, als sie gedacht hatte? Das durfte nicht passieren!
Sie sprang von ihrem Pilotenstuhl, lief zu Alsth hinüber, warf sich neben ihn auf den Boden und packte seinen Kopf. „Alsth, nein!“ schrie sie ihn an. „Du musst mir sagen, was hier los ist! Hörst du mich?“
In diesem Moment wurde die Tawain so heftig erschüttert, dass Nylla schon Angst hatte, das Schiff wäre auseinandergebrochen.
Funken stoben überall heraus und die Beleuchtung gab ihren Geist auf. Innerhalb von Sekundenbruchteilen wurde das Schiffsinnere nur noch vom roten Schimmern des Gasriesen erhellt, der sich langsam auf dem Sichtschirm drehte.
Nylla versuchte schnell zu erkennen, wie schlimm der Treffer war. Anscheinend war die andere Schiffshälfte getroffen worden, denn aus der Schleuse drang dicker, dunkler Qualm. Dahinter konnte sie kaum etwas erkennen. Nur für einen Moment war es ihr, als würde sie in dem Qualm eine große, fette, reglose Gestalt ausmachen, die auf dem Boden lag....
Doch dann packte Alsth sie am Hinterkopf und drehte sie zu sich. Er sah so aus, als wäre er schon in seinen letzten Sekunden.
„Nylla.... ich muss dir unbedingt etwas sagen....“ Trotz des dumpfen roten Lichts, das ihn von der Seite anleuchtete, glitzerten seine Augen immer noch in einem tiefen Blau, als er sie ausdrucksvoll ansah. Wieder hatte Nylla dieses seltsame Déjà-Vu-Gefühl, so als würde sie seine Augen und seinen Blick von irgendwoher kennen.
„Alsth.... du musst.... du darfst jetzt nicht reden....“, brachte Nylla hervor.
„Ich.... Muss es dir sagen, bevor ich....“ Wieder durchfuhr ihn ein heftiger Hustenanfall. Sein Blut lief ihm aus dem Mund über Nyllas Hand, die ihn immer noch am Kinn festhielt. Doch sie bemerkte es kaum. Trotz der Schmerzen, die er empfinden musste, ließ er seine Augen nicht von ihr.
Und plötzlich ging Nylla ein Licht auf. In genau diesem Augenblick wusste sie ganz genau, woher sie diesen Blick kannte. Er sah sie an, als würde er sie, Nylla, für den wichtigsten Menschen im gesamten Universum halten. Sie hatte diesen Blick schon gesehen. Und zwar vor sehr langer Zeit....
„Nylla....“, keuchte Alsth in seinem letzten Atemzug. „Ich bin dein Vater....“
Nylla fuhr hoch. Sie stieß ein atemloses Keuchen aus und krallte sich in ihr Bettlaken.
„Ach du Scheiße“, flüsterte sie, als sie sich wieder etwas beruhigt hatte. „Was war das denn?“
Sie hoffte inständig, dass das jetzt nicht jede Nacht passieren würde. Das würde sie nervlich vielleicht nicht lange verkraften.
Der reale zweite Ausflug in Torx‘ Büro war jedenfalls ähnlich ereignislos ausgegangen wie der erste. Alsth hatte wieder nichts wirklich Brauchbares in den Daten gefunden und war irgendwann wieder mit leeren Händen von Dannen gezogen. Langsam mussten sie wirklich davon ausgehen, dass Torx die Infos über seinen großen Coup entweder nochmal extra verschlüsselt hatte oder gar nicht mehr auf seinem Tischcomputer aufbewahrte.
Ein Detail hatte ihr Traum aber trotzdem richtig erfasst: Alsths Augen.... sie waren denen ihres Vaters tatsächlich ziemlich ähnlich. Das war ihr erst jetzt so richtig bewusst geworden. Er hatte genau denselben Blick, dasselbe Funkeln in den Augen, sogar ein ähnliches Lächeln.... Die Erinnerung an sein Gesicht fühlte sich beunruhigend und angenehm zugleich an....
Aber natürlich war er nicht ihr Vater. Selbst wenn er eine Verjüngungskur gemacht hatte, die Stimme, die übrigen Gesichtszüge, sein ganzes Verhalten.... nein, das war völlig unterschiedlich.
„Was für ein dämlicher Traum!“ sagte Nylla laut zu sich selbst. „Ich bin dein Vater – also wirklich!“
Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es sechs Uhr morgens war. Zu früh um aufzustehen, zu spät um sich wieder schlafen zu legen.
Also wieder frühmorgendliches Zeit-Totschlagen.... Nylla seufzte und stieg aus ihrer Koje.
Vlorah war sehr beeindruckt von der Gegend, in der sich Riggars Villa befand. Es war einer der grünsten und familienfreundlichsten Bereiche der Stadt, wie sie von Kheilo erfahren hatte. Auf Borla gab es zwar auch grüne Flecken, doch die meisten davon befanden sich auf den Dächern kilometerhoher Wolkenkratzer. Dagegen konnte man in diesem Sektor von Anbis City die Skyline der Innenstadt nur am Horizont erkennen.
Nachdem sie sich am Tor angemeldet hatten, wurden sie in den Garten der Villa gelassen und an der Haustür von einer jungen Frau empfangen, die sich selbst als Marta vorstellte. Vlorah vermutete, dass sie das Kindermädchen war.
„Kommen Sie doch herein, der Ratsherr wird gleich für Sie da sein“, flötete sie ihnen zu.
Vlorah und Kheilo folgten ihr in einen großen, hellen Raum, der offenbar den gesamten Hauptflügel im Erdgeschoss ausfüllte. Es schien eine Kombination aus Diele, Esszimmer und Wohnzimmer zu sein. An allen Seiten boten riesige Fenster einen ausladenden Blick auf den gepflegten Garten, in dem gerade fünf oder sechs Kinder ganz unterschiedlichen Alters zwischen Bäumen und Sträuchern herumrannten.
An den Wänden hingen neben Familienfotos auch zahlreiche Bilder, auf denen ein Mann mittleren Alters irgendwelche Hände schüttelte oder mit einem wichtigen Gesichtsausdruck an irgendeinem Pult stand. Die Haare des Mannes schienen gerade dabei zu sein grau zu werden und er war nicht gerade dick, aber gut genährt. Sein Gesicht wies bereits einige Falten auf, die ihm jedoch eine freundliche und gleichzeitig respektvolle Ausstrahlung gaben.
Vlorahs Aufmerksamkeit wurde auf eine in den oberen Bereich der Villa führende Holztreppe gelenkt, die leise knarrte, als jemand die Stufen herunter kam. Es war der Mann von den Fotos.
„Sie müssen der Kommissar und die Kosmopol-Agentin sein, die mir gestern einiges Kopfzerbrechen bereitet haben“, begrüßte er sie, während er die letzten Stufen herunter stieg.
„Guten Tag, Ratsherr“, erwiderte Kheilo. „Es war nicht unsere Absicht, Ihrem Kopf irgendwie zu schaden.“
Riggar knurrte amüsiert, dann wandte er sich um und wedelte mit dem Arm. „Aber folgen Sie mir doch in mein Arbeitszimmer, dort können wir uns in Ruhe unterhalten.“
„In einer Stunde gibt es Mittagessen, Riggar!“ rief Marta ihm hinterher, bevor sie sich in den Garten zu den Kindern begab.
Vlorah und Kheilo folgten Riggar in einen schmalen Gang, der in den Seitenflügel des Hauses hinein führte. Offenbar war es Riggar wichtig, dass sein Arbeitszimmer etwas abseits vom sonstigen täglichen Leben in seinem Haus lag. Entweder um seinen Beruf besser vom Privaten trennen zu können oder schlicht und einfach, um bei der Arbeit seine Ruhe zu haben.
Der Gang führte die Drei um eine Ecke und endete in der einzigen Tür, die Vlorah bisher innerhalb des Hauses gesehen hatte. Sie traten durch die Tür und befanden sich in Riggars Arbeitszimmer, dessen Möblierung aus einem Schreibtisch, drei Stühlen und jeder Menge Regalen und Schränken bestand. In einer Ecke stand ein kleines Kästchen mit einem Tablett und darauf mehreren Flaschen und Gläsern.
„Nur hereinspaziert“, sagte Riggar, während er selbst auf das Kästchen mit dem Tablett zuging. „Darf ich Ihnen etwas anbieten?“
Kheilo blickte zu Vlorah, die nur kurz den Kopf schüttelte, und erwiderte: „Ich denke, wir müssen passen.“
„Ich verstehe.“ Riggar nahm sich selbst ein Glas, das bereits zur Hälfte gefüllt war, und ging damit zu seinem Schreibtisch hinüber. „Jetzt wissen Sie, warum ich Politiker geworden bin und nicht Polizist“, bemerkte er trocken.
Er setzte sein Glas auf dem Tisch ab, schlüpfte aus seinem Jackett heraus und warf es über die Lehne des Sessels, der auf seiner Seite des Schreibtischs stand. „Nehmen Sie doch Platz“, sagte er und wies auf die beiden Stühle auf der anderen Seite.
Während Kheilo und Vlorah sich setzten, ließ Riggar sich in seinen Sessel fallen und nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Glas.
Dann beugte er sich vor, faltete seine Hände und stützte sich auf dem Tisch ab. Erwartungsvoll blickte er abwechselnd zwischen Vlorah und Kheilo hin und her.
„Also, kommen wir zur Sache“, begann er dann. „Sie ahnen bestimmt schon, warum ich Sie hergebeten habe. Gestern Nachmittag hat mich mein Pressesprecher angefunkt und mir erzählt, dass angeblich die Polizei hinter mir her ist....“
Vlorah machte schmale Lippen. Dass Riggar auf ihre Befragungen mit dieser Einladung reagiert hatte, war natürlich noch kein Beweis für seine Schuld. Er konnte sie auch aus reiner Neugier eingeladen haben, um zu erfahren, warum sie so viele Fragen über ihn stellten. Aber es war schon bezeichnend, dass keins der anderen Ratsmitglieder bisher irgendeine Reaktion gezeigt hatte. Und Riggar war nun einmal einer ihrer beiden größten Verdächtigen. Auf jeden Fall mussten sie sehr auf der Hut sein.
„Also“, sagte Riggar. „Warum haben Sie beide seit neustem so großes Interesse an mir?“
„Nun ja“, begann Kheilo. Vlorah begrüßte es, dass er das Wort übernahm. Er konnte Riggar sicherlich wesentlich besser einschätzen als sie, nicht nur weil Anbis City sein vertrautes Pflaster war. „Ihnen ist bekannt, dass wir den Absturz des Kosmopol-Schiffs untersuchen?“
„Natürlich.“ Riggar zeigte ein schmales Lächeln. „Aber ich habe es nicht zum Absturz gebracht. Und ich kann mir auch kaum vorstellen, dass Sie das denken.“
„Ist Ihnen auch bekannt, dass wir nicht nur Fragen über Sie gestellt haben?“ fuhr Kheilo fort. „Sondern auch über andere Politiker der Stadt?“
Riggar hob die Augenbrauen. „Haben Sie das? Nein, das ist mir tatsächlich neu. Mein Pressesprecher erwähnte nur, dass verschiedene Leute ihn kontaktiert hätten, weil zwei Ermittler sie über mich ausgefragt haben.“ Er lehnte sich zurück. „Aber gut, dann frage ich eben so: Warum ermitteln Sie gegen mich und meine Kollegen?“
„Wir.... ermitteln nicht gegen Sie“, erwiderte Kheilo vorsichtig. „Wir versuchen uns nur ein.... vollständiges Bild zu machen. Über die Auswirkungen, die der Absturz auf die politischen Prozesse in dieser Stadt haben könnte. Das könnte uns dem möglichen Motiv der Täter auf die Spur bringen.“
Gute Antwort, dachte Vlorah. Sie klang so, als wüssten Kheilo und sie wesentlich weniger, als sie in Wirklichkeit wussten. Falls Riggar ihr gesuchter Verschwörer war, sollte ihn das in Sicherheit wiegen.
Riggar nickte bedächtig. „Soll das heißen, Sie vermuten ein politisches Motiv?“
„Es.... wäre eine Möglichkeit“, sagte Kheilo.
„Hmm.“ Riggar kniff die Augen zusammen. „Soll ich Ihnen etwas sagen? Ich glaube Ihnen kein Wort.“
Vlorah versteifte sich auf ihrem Stuhl. „Wie dürfen wir das verstehen?“ schoss es aus ihr heraus.
Riggar blieb völlig ruhig. „Sie würden wohl kaum so einen Aufwand betreiben, wenn das nur eine von mehreren Möglichkeiten wäre, die Sie in Betracht ziehen.“ Er lächelte und deutete mit seinem Zeigefinger auf sie. „Sie wissen, dass die Täter politisch motiviert gehandelt haben. Das haben Sie schon längst herausgefunden. Ist es nicht so?“
Vlorah zwang sich dazu, nicht unruhig auf ihrem Stuhl herumzurutschen. Wenn er das schon erkannt hat, muss er nur noch zwei und zwei zusammenzählen und....
„Zugegeben“, begann Kheilo. „Es ist die wahrscheinlichste....“
„Warum haben Sie uns beide hergebeten?“ unterbrach Vlorah ihn. „Warum sind Sie über unsere Fragen so beunruhigt?“
„Vlorah....“, raunte Kheilo, doch sie sah nur herausfordernd zu Riggar hinüber.
Wenn er wirklich der Verschwörer war und über ihren Ermittlungsfortschritt Bescheid wusste, konnten sie nun genauso gut offen reden.
Riggar setzte zu einer Antwort an.
In diesem Moment ertönte plötzlich ein gedämpfter Schrei durch die Bürotür. Alle drei zuckten sie zusammen.
Er kam wohl von einer Frau, die sich irgendwo in einem anderen Teil des Hauses befand. Anschließend vernahmen sie einen dumpfen Schlag, als wäre jemand gestürzt, und das Klirren von Scherben.
„Was ist denn jetzt los?“ murmelte Riggar, während er aufsprang und zur Bürotür eilte.
Kheilo und Vlorah warfen sich einen kurzen Blick zu und folgten dem Ratsherr, wobei sie schon mal nach ihren Waffen griffen. Zu dritt rannten sie den Gang entlang, den sie gerade erst gekommen waren.
„Ratsherr, Sie sollten uns vielleicht vorlassen, falls....“, begann Kheilo – unterbrach sich dann aber, als Riggar wie angewurzelt stehen blieb. Genau an der Stelle, wo der Gang wieder ins große Wohnzimmer mündete.
Mitten in dem Raum vor ihnen lag eine Frau reglos auf dem Boden. Ihr Gesicht grub sich in den Teppich. In ihrer Nähe lagen einige größere Tonscherben herum, offenbar hatte sie eine Vase von einem Regal geworfen, als sie gefallen war.
„Marta!“ rief Riggar entsetzt.
Er eilte auf sie zu, ließ sich neben ihr auf die Knie fallen und drehte sie auf den Rücken. Ihre starren Augen verrieten Vlorah sofort, dass sie tot war. Riggar fühlte ihren Puls und kam wohl zum selben Ergebnis.
„Marta, nein! Was.... was ist hier passiert?“ brachte er geschockt hervor.
Unterdessen hatten Vlorah und Kheilo ihre Waffen gehoben und blickten sich im Wohnraum um. Vlorah ging zum Fenster neben der Haustür hinüber und spähte hinaus auf die Straße, während Kheilo den Hinterausgang zum Garten übernahm.
Ein leises Summen hinter ihrem Rücken erregte plötzlich Vlorahs Aufmerksamkeit. Sie drehte sich um – und entdeckte eine kleine, schwarze Kugel, nicht größer als ein Tennisball, die sich schwebend auf den Ratsherrn zu bewegte! Dieser kniete immer noch fassungslos über seinem Kindermädchen und bemerkte sie nicht....
„Ratsherr, weg da!!“ schrie Vlorah.
Riggar sah sich um und entdeckte die Kugel – gerade als eine kleine Öffnung sich an ihr auftat. Sie zeigte genau ihn.
Kheilo kam auf ihn zugestürmt und stieß ihn zur Seite. Sekundenbruchteile später kam eine weiße Dampfwolke aus der Kugelöffnung geschossen und verteilte sich an der Stelle, an der der Ratsherr gerade noch gekniet hatte.
Vlorah riss ihre Waffe herum, zielte auf die Kugel und schoss. Die Kugel hörte augenblicklich auf zu summen und fiel kläppernd auf den Boden. Glücklicherweise hatte der Betäubungsstrahl ausgereicht, um ihre Elektronik zum Versagen zu bringen.
„Kommissar, Ratsherr, alles in Ordnung?“
Kheilo war schon wieder dabei sich aufzurappeln. „Geht schon....“ Er sah sich um. „Wir müssen die Kinder in Sicherheit bringen! Ich erledige das, kümmern Sie sich um den Tatort!“ Dann lief er zur offenen Hintertür hinaus in den Garten.
Vlorah blickte zu Riggar hinüber, der schon wieder neben Martas leblosem Körper kniete. Das Kindermädchen wies keine Spuren von Gewaltanwendung auf, schien einfach umgekippt zu sein. Vlorah ging jede Wette darauf ein, dass eine Giftwolke aus dieser Kugel dafür verantwortlich war.
Riggar schien es jedoch überhaupt nicht zu kümmern, dass gerade eben an genau der Stelle, wo er jetzt schon wieder kniete, ein tödliches Gift entwichen war. Dieses hatte sich aber auch innerhalb kürzester Zeit verflüchtigt und es schien keine Spur mehr davon zu geben. Vlorah vernahm nur einen schwachen, säuerlichen Geruch und spürte einen leichten Schwindel, der aber schon wieder abklang. Sie konnte im Moment nur hoffen, dass dieses Gift nur in einer hohen Konzentration gefährlich war.
Offenbar hatten sie gerade Bekanntschaft mit einer automatischen Killerdrohne gemacht. Was natürlich bedeutete, dass jemand dieses Ding losgeschickt hatte, jemand mit ganz klaren Mordabsichten. Vermutlich war der Ratsherr das eigentliche Ziel gewesen, Marta war nur unglücklicherweise in den Weg geraten.
Sie näherte sich der Drohne vorsichtig. Diese zeigte keine Anzeichen von Aktivität, doch Vlorah hatte keine Ahnung, ob sie nicht jeden Moment wieder erwachen konnte und wie viel Gift sich noch in ihr befand.
Die Drohne war aus einer glänzenden, schwarzen Keramik und bis auf die Gasöffnung und eine schmale, kreisrunde Fügstelle völlig glatt. Sie entdeckte keine Firmen- oder Markenzeichen an ihr, jedoch eine vierstellige Seriennummer, die Vlorah verriet, dass dieses Ding beunruhigenderweise kein Einzelmodell war. Sie kannte sich aufgrund früherer Fälle ein bisschen mit automatischen Killerdrohnen aus, ein vergleichbares Design hatte sie jedoch noch nie gesehen.
„Zehn Jahre....“ Riggars gemurmelte Worte rissen Vlorah aus ihren Überlegungen.
„Ratsherr, geht es Ihnen gut?“
„Zehn Jahre hat sie für mich gearbeitet, für meine Kinder gesorgt....“ Die Worte blieben in seiner Kehle stecken.
„Wir werden den Mörder ausfindig machen“, sagte Vlorah eindringlich und legte eine Hand auf seine Schulter. Und in Gedanken fügte sie hinzu: Wenn wir das nicht schon längst haben....
„Sag mal, Alsth? Wie alt bist du eigentlich genau?“
Alsth war gerade von seinem zweiten Besuch des Trainingsraums der Station in sein Quartier zurückgekehrt. Er fand, dass er sich gar nicht so schlecht geschlagen hatte, und er hatte auch kurz mit einigen Schmugglern gesprochen und erste Bekanntschaften gemacht. Sie schienen recht beeindruckt von seiner Fitness gewesen zu sein – und Alsth hoffte natürlich, dass sich das auf der Station und idealerweise bis zur Chefetage herumsprechen würde.
Doch jetzt wollte er erst einmal nur ein bisschen auf seinem Bett dösen und sich von der Plackerei erholen. Anscheinend hatte Nylla aber nicht vor, ihm etwas Ruhe zu gönnen.
„Ich bin jetzt 26“, erwiderte er knapp.
„Ist das.... wirklich dein richtiges Alter, oder....“
„Ich bin wirklich vor 26 Jahren geboren worden. Was soll diese Frage?“
„Ach, nur so.“
Alsth setzte sich auf. „Ich weiß, es ist eher.... unüblich, dass man in diesem Alter noch keinen Sex hatte, aber ich kann es auch nicht ändern.“
„Nein, das hab ich gar nicht gemeint. Ich wollte nur.... Moment mal.... Das, was du Chet vorgestern erzählt hast, stimmt wirklich?“
Alsth seufzte. „Schön, dass du das auch endlich begreifst. Hast du ein Problem damit?“
„Äh.... nein, überhaupt nicht. Es.... interessiert mich nicht besonders, will ich sagen. Ich bin nicht so sexbesessen wie Chet.“
„Dann ist ja gut. Ich schätze, Chets ‚Sexbesessenheit‘, wie du das nennst, ist ihre Art, in diesem Schmugglermilieu zurecht zu kommen. Viele oberflächliche Beziehungen zu führen ist wohl auch eine Möglichkeit, die fehlenden tieferen Bindungen zu kompensieren. Oder man macht es wie du und schottet sich eher ab.“
Nylla klang ein bisschen verstimmt: „Ich schotte mich doch überhaupt nicht ab! Es ist nur so, dass.... Ich versuche einfach.... Also schön, ich schotte mich ab. Was dagegen?“
Alsth musste schmunzeln. „Ich find es schon ein bisschen schade, wenn man die Nähe anderer Menschen nicht genießen kann.“
„Sagt der Typ, der mit 26 noch keinen Sex hatte?“
Alsth ließ sich aufs Bett zurückfallen. „Klasse. Ich hätte dich einfach in dem Glauben lassen sollen, dass ich nur Chet damit täuschen wollte.“
Für einen Moment blieb es still am anderen Ende der Leitung. „Ähm.... darf ich vielleicht fragen....“
„Warum?“ vermutete Alsth.
„Ja....“ Irgendwie nahm er Nyllas Schulterzucken wahr, obwohl er sie nicht sehen konnte. „Ich meine....“
„Warum ist ein charmanter, gutaussehender Kerl wie ich immer noch Jungfrau?“
„Ja.... äh.... Nein! Sei nicht so eingebildet! Okay, klar, du bist jetzt kein Ekelpaket. Und siehst ganz gut.... Äh, nein.... passabel. Du siehst ganz passabel aus....“
Jetzt musste Alsth lachen. „Schon okay, Nylla. Danke, ich fühl mich geschmeichelt.“
„Du weißt ganz genau, wie ich das gemeint hab!“ fauchte sie, was Alsth aber nur noch mehr zum Lachen brachte.
Als er sich wieder beruhigt hatte, wurde er etwas nachdenklicher: „Ehrlich gesagt, ich weiß es auch nicht so genau. Warum ich.... du weißt schon. Ich war wohl während der Schulzeit ein ziemlicher Spätzünder – und dann hab ich mich jahrelang sehr intensiv auf das Polizeitraining konzentriert. Während ich dann im aktiven Dienst war, hab ich nebenbei noch die Ausbildung zum Ermittler gemacht. Das hat meine gesamte Zeit in Anspruch genommen, aber das war schon immer ein großer Traum von mir.“
„Und da war für Frauen wohl kein Platz mehr. Oder halt Männer, je nachdem....“
„Frauen!“ sagte Alsth schnell. „Aber gut. Vielleicht wäre.... Platz dagewesen. Aber.... Irgendwie mochte ich es immer einfach. Vor allem privat. Und irgendwie....“ Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die Decke. „Ich komme mit Frauen freundschaftlich viel einfacher zurecht. Das ist vielleicht das Problem....“
Er schwieg eine Weile und Nylla schien auch nichts sagen zu wollen.
„Wie auch immer“, sagte Alsth schließlich. „Für dich muss das alles bestimmt total lächerlich klingen. Wenn man bedenkt, was du schon alles in deinem Leben durchmachen musstest....“
„Nein, ist schon gut“, entgegnete Nylla sofort. „Danke, dass du so ehrlich bist. Ich find es mal ganz schön, einfach nur offen und ehrlich plaudern zu können....“ Sie zögerte ein paar Sekunden. „Aber wahrscheinlich stör ich dich gerade bei irgendwas, oder?“
„Nein, nein. Ich wollte jetzt nur für ein paar Minuten kurz ausschnaufen und dann will ich zusehen, dass ich irgendwie an deinen alten Boss rankomme. Es sind schon zwei Tage vorbei und wir müssen wohl langsam davon ausgehen, dass weitere nächtliche Einbrüche in sein Büro zu nichts führen würden – also muss ich jetzt wohl den direkteren Weg versuchen....“
„Ich hoffe, du hast dieses Mal einen besseren Plan als einfach wie ein Irrer in sein Büro zu stürmen so wie letztes Mal.“
„Eigentlich....“, begann Alsth unsicher, denn tatsächlich hatte er noch überhaupt keinen Plan.
In diesem Augenblick piepte der kleine Videoschirm, der sich an der Wand neben der Eingangstür befand. Alsth sprang auf und ging zum Schirm hinüber, auf dem gerade eine kurze Nachricht erschienen war:
„Der Besitzer dieser Station würde Sie gerne als Neuankömmling in seinem Unternehmen begrüßen. Bitte kommen Sie gegen 15 Uhr zu seinem Büro.“ Die Nachricht enthielt als Siegel den Stierkopf, den Alsth schon auf der Tür zu Torx’ Büro gesehen hatte.
„.... habe ich schon einen sehr guten Plan, wie ich es angehen werde!“ beendete er den angefangenen Satz zufrieden.
„Ellister“, flüsterte Vlorah. „Es muss definitiv Ellister sein.“
Sie und Kheilo standen im Vorgarten von Riggars Villa beisammen und sahen den vielen rein- und rauseilenden Leuten zu. Die Spurensicherung war vor kurzem eingetroffen und schon dabei alle Spuren aufzunehmen, einige Einsatzkräfte sicherten die Gegend im Falle weiterer Attentatsversuche und Riggars Sicherheitsteam war nun auch in voller Mannstärke vor Ort.
„Man sollte zwar nie vorschnell ein Urteil fällen – aber ich fürchte, ich muss Ihnen zustimmen“, bemerkte Kheilo.
„Riggar ist sein schärfster Konkurrent auf den Posten des Dictus“, sagte Vlorah voller Überzeugung. „Sein Tod hätte Ellister den sicheren Wahlsieg eingebracht.“
„Auch da kann ich nicht widersprechen. Aber dass er wirklich zu solchen Methoden greift, um sich dieses Amt zu sichern....“ Kheilo schüttelte fassungslos den Kopf. „Das hätte ich niemals für möglich gehalten....“
„Jemand, der mit einem Schmugglerboss gemeinsame Sache macht, um ein ganzes Sonnensystem in seine Gewalt zu bringen, ist auch zu einem Mord fähig. Da habe ich keinen Zweifel.“
„Auch wahr....“ Kheilo sah mit betretenem Gesicht dabei zu, wie zwei Polizisten einen verschlossenen Leichensack aus der Villa brachten und auf ein Einsatzshuttle zutrugen. „Leider hat nun ein unschuldiges Kindermädchen für sein Intrigenspiel mit dem Leben bezahlt....“
„Wir werden Ellister dafür drankriegen“, flüsterte Vlorah nachdrücklich. „Für das und alles andere, was er geplant hat.“
Kheilo seufzte. „Die Frage ist nur, wie wir ihm das in so kurzer Zeit nachweisen sollen. Ellister ist einer der wichtigsten Köpfe der Stadt und dafür bekannt, mehr Anwälte zu beschäftigen als sämtliche anderen Ratsmitglieder gemeinsam.“
„Wir sollten unverzüglich Ihre Direktorin informieren. Diese Tat fordert eine Reaktion von uns, mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln!“
Doch Kheilo schnitt eine skeptische Grimasse. „Ich fürchte, selbst meine Chefin hätte nicht genug Einfluss, um in den verbleibenden Tagen an so ein hohes Tier ranzukommen....“
Er sah nachdenklich zur Villa hinüber. Durch das Fenster neben der Tür sah er Riggar, der mitten im großen Wohnraum stand und betrübt Löcher in die Luft starrte.
Dann sagte er: „Aber vielleicht wüsste ich jemanden, der diesen Einfluss hat....“
Episode 9: Der heiße Stuhl
Alsth stand in dem kleinen Vorzimmer vor Torx‘ Büro und starrte mit klopfendem Herzen auf das Emblem in Form eines Stierkopfs, das genau in Blickhöhe an der Tür vor ihm hing.
Gleich würde er Torx gegenüber stehen – dem ruchlosen Schmugglerboss, von dem er in den letzten Tagen schon so viel gehört hatte. Gleich würde er zum ersten Mal einen persönlichen Eindruck von ihm bekommen.
Nylla war auch schon den ganzen Nachmittag die Beunruhigung anzumerken gewesen. Sie hatte ihn mit jedem Detail auf die Begegnung vorzubereiten versucht, das ihr eingefallen war: Von der optimalen Dauer des Augenkontakts über Körperhaltung und Auftreten bis zu Reizwörtern oder Gesprächsthemen, die er besser vermeiden sollte. Doch nun schwieg sie angespannt und wartete genauso ungeduldig darauf, dass Alsth reingelassen wurde.
Endlich tat sich die Tür auf – und ein bekanntes Gesicht blickte Alsth entgegen.
„Hallo Django“, sagte Chet und lächelte ihn fröhlich an. „Der Boss empfängt dich jetzt.“
„Na toll, die hat uns noch gefehlt“, murmelte Nylla. „Aber gut, ich schätze, besser sie als Gruth....“
Da musste Alsth ihr wohl recht geben. Er folgte Chet durch die Tür.
„Kommen Sie nur herein, ich habe Sie schon erwartet“, begrüßte ihn Torx, der gemütlich hinter seinem Schreibtisch saß.
Alsths erstem Eindruck nach zu urteilen war er genau so, wie Nylla ihn beschrieben hatte: Ein selbstgefälliger Schleimbeutel, für den jeder Versuch, ernsthaftes Interesse an seinem Gesprächspartner vorzuheucheln, von vornherein zum Scheitern verurteil war. Dummerweise versuchte Torx genau dies, als Alsth an seinen Schreibtisch herantrat. Das süffisante Lächeln, das er aufgesetzt hatte, wirkte geradezu schmerzhaft unecht.
„Aaah, ich hatte schon fast vergessen, wie schmierig seine Stimme klingt....“, kommentierte Nylla unterdessen das Geschehen. Auch da musste Alsth ihr recht geben.
Chet postierte sich währenddessen in einer Ecke des Büros und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. An ihr sollte ihr Boss sich ein Beispiel nehmen, dachte er.
„Sie sind also....“, begann Torx, beugte sich dabei vor und legte seine Ellenbogen auf seinem protzigen Schreibtisch ab.
„.... Django“, stellte Alsth sich vor. „Und Sie sind der berühmte Torx, von dem ich schon so viele interessante Geschichten gehört habe.“ Irgendwie hatte Alsth das Gefühl, dass Schmeicheleien bei dieser Person genau die Wirkung haben würden, die er sich erhoffte.
„Man tut, was man kann. Und wie ich mitbekommen habe, hat Sie eine dieser Geschichten über mich auch hier her geführt? Die gute, alte Triena vom Stinkenden Bullen hat mich Ihnen empfohlen?“
„Richtig.“ Alsth wollte noch etwas hinzufügen, um glaubhafter zu wirken, und erinnerte sich an einen Witz, den Nylla über diese Triena gemacht hatte. Er hoffte, dass sie es ihm nicht allzu übel nehmen würde, wenn er ihr den Spruch klaute: „Alt ist genau richtig. Die Frau hat so lange Tränensäcke, dass sie aufpassen muss, beim Sprechen nicht draufzubeißen!“
„He he he!“ Torx’ ganzer Körper schüttelte sich beim Lachen, was es allerdings auch nicht aufrichtiger machte. „Reden Sie mir nicht schlecht über meine liebe Triena, junger Mann! Das hat sie trotz allem nicht verdient!“
„Das war keine gute Idee“, brummte Nylla zerknirscht. „Vielleicht hätte ich dir vorher sagen sollen, dass Torx und Triena mal verheiratet waren....“
Alsth zuckte zusammen. „Entschuldigung, war nur ein Scherz“, nuschelte er schnell hervor. In den Augenwinkeln sah er, wie sich Chet hinter Torx’ Rücken alle Mühe geben musste, nicht laut aufzulachen.
Schnell versuchte er sich wieder zusammenzureißen. Pass besser auf, was du sagst, Alsth.... Er hatte schon immer die Tendenz gehabt, im Gespräch mit ihm unsympathischen Menschen etwas zu kühn zu werden, und Kheilo hatte ihn deswegen schon mehrmals erfolglos getadelt. Aber der Mann vor ihm war weitaus gefährlicher, als es seine dürre, kleine Statur suggerierte.
Zum Glück schien Torx ihm den kleinen Fehltritt diesmal durchgehen zu lassen. „Ich habe gehört, dass Sie heute Morgen im Trainingsraum waren. Schätze Sie haben mitbekommen, dass ich auf die körperliche Verfassung meiner Leute großen Wert lege. Angeblich sind Ihre Ergebnisse auch gar nicht schlecht gewesen. Top-Werte bei Körperkraft und Kondition.... Nur an Ihren Flugkünsten müssen Sie anscheinend noch etwas arbeiten....“
Alsth machte schmale Lippen. Er hatte sich tatsächlich auch kurz mal am Flugsimulator ausprobiert. Bei den ersten beiden Versuchen war er abgeschossen worden, erst beim dritten hatte er das Missionsziel mit Ach und Krach erfüllt. Eigentlich hatte er nicht erwartet, dass es jemand mitkriegen würde, was er allein im Simulator so trieb – aber anscheinend hatte er sich da getäuscht.
Ich hoffe, das macht meine Chancen bei Torx nicht sofort zunichte, dachte er beunruhigt. Wäre gut, wenn ich jetzt schnell irgendeine Ausrede aus dem Ärmel schütteln kann....
Er nickte schnell. „Hab noch nie zuvor an so einem Simulator trainiert, müssen Sie wissen. Alles, was ich übers Fliegen weiß, habe ich an einem echten Schiff gelernt. Dort, wo ich herkomme, konnten wir uns so ein Ding nicht leisten.“
In Wirklichkeit war es natürlich genau umgekehrt: Alsths Basis-Pilotentraining an der Polizeiakademie hatte fast ausschließlich an Simulatoren stattgefunden. Insgesamt hatte er erst dreimal im Leben ein echtes Schiff geflogen – einschließlich des kurzen Flugs mit der Tawain 2 zu dieser Station. Aber so konnte er das Torx natürlich nicht erzählen.
Er konnte nur hoffen, dass Torx nicht so detaillierte Auswertungen seines Flugtrainings hatte, um seine Lüge durchschauen zu können....
„Außergewöhnlich gute Flugkünste können hilfreich sein, wenn Sie von Patrouillen erwischt werden“, erwiderte Torx. „Aber wenn Sie sich gar nicht erst erwischen lassen, müssen Sie auch keine fliegerischen Kunststücke vollbringen. Eine gute Planung und Strategie kann bei Schmuggelflügen genauso wichtig sein. Und dass Sie ein guter Stratege sind, hat man bei einigen Ihrer Manöver gemerkt. Jedenfalls hat man mir das so mitgeteilt.“ Er sah kurz zu Chet hinüber, deren Mundwinkel leicht zuckten.
Hat Sie mich etwa heute früh im Trainingsraum beobachtet? Alsth warf einen verstohlenen Blick zu Chet hinüber. War sie es vielleicht sogar, die ihrem Boss vorgeschlagen hat, mich kennen zu lernen? Falls ja, sollte er ihr jetzt wohl dankbar sein – wenn er nicht gewisse Hintergedanken bei ihr vermuten würde.
Jedenfalls verlief dieses Gespräch bisher erstaunlich gut. Torx wirkte geradezu wohlwollend. Aus irgendeinem Grund sorgte das jedoch bei Alsth für ein flaues Gefühl im Magen....
„Wenn Sie noch einige Tage weiter üben, wäre ich vielleicht schon bereit, Ihnen innerhalb der nächsten Woche einen ersten kleinen Auftrag zu geben“, fuhr Torx fort. „Nichts übermäßig Wichtiges oder Gefährliches, einfach nur eine Kleinigkeit, um mal zu sehen, wie Sie sich so machen.“
Alsth nickte. „Das ist wirklich sehr großzügig. Ich werde mich ranhalten.“
„Sehr gut.“ Torx schnitt eine Grimasse, die wahrscheinlich ein Grinsen darstellen sollte. „Meine Devise ist es immer, neue Mitglieder möglichst schnell zu fördern und von Anfang an voll einzugliedern – nicht wahr, Chet?“
Chet nickte brav. „Ja, Boss.“ Dann grinste sie Alsth bedeutungsvoll an. „Wir haben hier alle ein Herz für.... jungfräuliche Talente.“
„Nein, das hat sie jetzt gerade nicht gesagt“, murmelte Nylla und wiederholte damit genau Alsths Gedanken.
„Neue Leute mit viel Potential – so wie Sie – fördere ich normalerweise sogar noch schneller“, erklärte Torx weiter in diesem schleimigen Tonfall, den er vermutlich für gutmütig hielt. „Sie haben sich aber gerade einen.... etwas ungünstigen Moment ausgesucht, sich uns anzuschließen. Ich verfolge nämlich zur Zeit ein paar größere.... Pläne. Die nächsten Tage könnten recht aufregend werden hier auf unserer kleinen Station – und nicht nur hier. Deswegen bin ich im Moment ein bisschen vorsichtiger als sonst. Ich hoffe, Sie sehen mir das nach.“
Was für Pläne könnte er damit wohl bloß meinen, dachte Alsth ironisch. Er wollte gerade erwidern, dass er für diese Vorsicht Verständnis hatte – doch Torx deutete mit einem kurzen Wink des Zeigefingers an, dass er noch nicht fertig war.
„Außerdem.... haben wir zur Zeit ein kleines Problem mit unserem Sicherheitssystem“, fuhr er fort und Alsth musste plötzlich seine ganze Überwindungskraft einsetzen, um nicht merklich zusammen zu zucken. „Irgendein Fehler bei der Verriegelung meines Büros. Aber keine Sorge, wahrscheinlich ist es nur ein kleiner Bug, der sicherlich bald behoben ist. Trotzdem müssen wir natürlich alles in Betracht ziehen und Sie werden sicher verstehen, dass wir Neuankömmlinge wie Sie unter diesen Umständen vorerst mal nicht an die ganz großen Sachen ranlassen.“
„Oh nein. Glaubst du, er weiß es?“ fragte Nylla erschrocken.
Das fragte Alsth sich gerade auch und dieser Gedanke machte ihm wirklich Sorgen. Es schien jemandem wie Torx nicht ähnlich, gegenüber einem neuen Anwärter Sicherheitsprobleme zu erwähnen – außer er hatte dabei irgendwelche Hintergedanken. Vielleicht hatte Torx ihn nur herbestellt, um ihn mit dem Sicherheitsproblem zu konfrontieren und eine verräterische Reaktion zu erhaschen.
Nun, von ihm würde Torx keine bekommen.
„Ich habe es nicht eilig“, entgegnete Alsth ruhig. „Nur irgendwann werde ich mir schon wieder was dazu verdienen müssen. Wenn Sie mir versprechen, dass ich schon in den nächsten Wochen den ein oder anderen Flug für Sie machen kann, bin ich zufrieden. Wenn nicht, muss ich mich eventuell anderswo umsehen....“
„Wissen Sie was? Ich verspreche es Ihnen!“ Torx nickte bekräftigend, völlig überzeugend wirkte er auf Alsth jedoch nicht. Dann reichte Torx ihm die Hand. „Gut, das war es fürs Erste. Ich werde über Ihre Fortschritte auf dem Laufenden bleiben und in den nächsten Tagen sprechen wir uns wieder.“
Alsth schlug ein. „Vielen Dank.“ Er nickte Chet noch kurz zu, drehte sich dann um und wollte zur Tür gehen.
Doch dann ergriff Torx noch einmal das Wort: „Ach, eine Sache noch.... falls es Sie interessiert....“
Eigentlich hatte Alsth sich so schnell wie möglich aus dem Staub machen wollen. Die Bemerkung zum Sicherheitssystem hatte ihn merklich beunruhigt. Doch er zwang sich dazu, sich noch einmal umzudrehen. „Ja?“
Torx winkte ab, um zu signalisieren, dass er diesen Nachtrag nicht für wirklich wichtig hielt. „Zufällig hatte ich heute Mittag kurz die Gelegenheit, mich mit Triena zu unterhalten. Komischerweise konnte sie sich aber an jemanden wie Sie gar nicht mehr erinnern. Seltsam, nicht war? Ich hatte bisher nie den Eindruck, dass die Gute vergesslich wird – aber vielleicht hatten Sie vorhin recht damit, sich über ihr Alter lustig zu machen.... Die Jüngste ist sie wohl nicht mehr....“ Sein Gesichtsausdruck wirkte während seiner Worte unschuldig wie der eines Babys.
Da es Alsth plötzlich die Sprache verschlagen hatte, zuckte er nur mit den Achseln und zeigte Torx ein kurzes, zustimmendes Grinsen.
Dann drehte er sich wieder um und gab sich beim Rausgehen große Mühe, nicht so auszusehen, als wäre er in besonderer Eile....
„Er weiß es“, sagte Nylla grimmig. „Da bin ich mir ganz sicher!“
Alsth war nach dem Gespräch mit Torx in sein Quartier zurückgekehrt. Nun saß er auf dem Bett und versuchte sich mit Nylla zu beratschlagen. „Wenn er wirklich weiß, dass ich es war, der in sein Büro eingebrochen ist, und dass meine Geschichte mit dieser Triena nur ausgedacht ist, warum hat er mich dann nicht gleich gefangen nehmen lassen? Das ergibt doch keinen Sinn.“
„Das ist ganz typisch für Torx!“ Man hörte Nylla deutlich ihre Sorge an. „Er liebt es, seine Opfer erst mal schmoren zu lassen oder in Sicherheit zu wiegen. Irgendwann schnappt seine Falle dann aber zu und zwar blitzschnell! Bei mir war es genauso! Da ist nicht sofort irgendein Alarm losgegangen – es ist erst mal gar nichts passiert. Erst nach ein paar Tagen hat er mich zu ihm bestellt und mich damit konfrontiert. Er hat alles so arrangiert, dass ich eigentlich unmöglich entkommen konnte. Es war pures Glück, dass es mir trotzdem gelungen ist!“
Alsth fühlte sich immer unbehaglicher. Irgendwie konnte er die ganze Situation nicht so recht einschätzen. „Bist du ganz sicher, dass er mich wirklich schon entlarvt hat? Vielleicht will er mir einfach nur auf den Zahn fühlen, weil ich neu auf der Station bin. Und dass ich bei Triena gelogen habe, heißt ja noch nicht, dass ich ein Spion bin oder gar ein Cop....“
Nylla zögerte eine Sekunde. „Nein.... natürlich nicht....“, gab sie zu. „Aber es ist ja nicht so, dass Torx immer handfeste Beweise braucht, bevor er jemanden aus dem Weg räumt. Manchmal reicht ihm schon ein Verdacht völlig aus.“
„Na gut, na gut....“ Alsth stand auf und lief ein bisschen in seinem Quartier auf und ab. „Es wären jetzt noch fünf Tage bis zur Impulspause.... Wie viele davon bleiben mir jetzt noch? Wann, glaubst du, wird Torx etwas gegen mich unternehmen, wenn er einen Verdacht hat?“
Nyllas Antwort kam sofort: „Egal, ob Verdacht oder Gewissheit, du kannst dir absolut sicher sein, dass Torx irgendetwas unternehmen wird – und zwar eher früher als später. Sein großer Plan ist so wahnsinnig wichtig für ihn, da kann er keinen noch so kleinen Unsicherheitsfaktor gebrauchen. Du solltest also davon ausgehen, dass dir nur noch sehr wenig Zeit bleibt. Ein Tag – allerhöchstens zwei.“
Alsth hätte lieber eine andere Antwort gehört, musste aber zugeben, dass alles, was Nylla sagte, für ihn Sinn ergab. Er grübelte einen Augenblick angestrengt nach, während er weiter hin und her lief.
Dann sagte er schwermütig: „Wir sollten nicht vergessen, es geht hier um das Schicksal dieses ganzen Sonnensystems. Es wäre leichtfertig, einfach nur darauf zu warten, dass Torx mich unschädlich macht. Am besten sollte ich sofort etwas unternehmen! Auch wenn es noch so riskant und radikal ist....“
„Und was hast du vor? Willst du die Raumstation in die Luft jagen?“
Alsth hielt kurz inne. „Ich wüsste nicht, wie ich das anstellen sollte – und ob es Torx wirklich aufhalten würde. Ich hatte eher an so was wie.... bewaffnet in sein Büro stürmen, auf das Überraschungsmoment hoffen, die Wachen ausschalten und Torx als Geisel nehmen gedacht. Das entspricht zwar nicht ganz den Vorschriften, aber die Direktorin wird das sicherlich durchgehen lassen, wenn ich dafür....“
„Nein!“ Nyllas Zwischenruf kam sehr entschlossen. „Auf keinen Fall!“
„Nicht?“ fragte Alsth überrascht nach. „Was spricht dagegen? Hat Torx irgendein Verteidigungssystem, von dem ich noch nichts weiß? Oder traust du mir nicht zu, dass ich es mit seinen Wachleuten aufnehmen kann?“
„Ich.... hab einfach kein gutes Gefühl dabei!“ versuchte Nylla sich zu erklären. „Wenn du einfach in sein Büro stürmst, wird irgendwas Schlimmes passieren, glaub mir!“
Alsth musste trotz des Ernstes der Situation auflachen. „Was ist, hattest du eine Vorahnung?“
„So was Ähnliches“, erwiderte Nylla bierernst.
„Okay....“ Alsth zuckte mit den Achseln. „Aber eigentlich hast du recht. Ich sollte so ein Risiko nicht eingehen, wenn so viel auf dem Spiel steht. Vor allem.... wenn ich noch einen viel weniger riskanten Ausweg habe....“ Er ließ sich wieder auf der Bettkante nieder und starrte schwermütig in die Luft. „Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig als Chets Angebot anzunehmen und....“
„Nein!“
„Das passt dir also auch nicht“, brummte Alsth sarkastisch. „Möchtest du mir dann vielleicht einen Gegenvorschlag machen?“
„Ich dachte, du wolltest nicht....“ Nylla stockte. „Es ist.... das mit Chet würde wahrscheinlich sogar funktionieren. Wenn du plötzlich nichts mehr dagegen hast, dann.... Es kann mir ja egal sein. Ich werde mir dann einfach die Ohren zuhalten oder so. Oder ich schalte kurz die Verbindung ab. Dir wird in dieser Zeit schon nichts passieren. Dass du bei der Anstrengung plötzlich einen Herzinfarkt....“
„Nylla“, unterbrach Alsth sie. „Ich warte immer noch auf einen besseren Vorschlag!“
„Ja, ich weiß.... Moment, mir fällt etwas ein! Wie wäre es, wenn ich einen Ablenkungsangriff fliege? Ich komme an der Station vorbei und schicke Torx eine kurze Nachricht. Wenn er merkt, dass ich noch lebe und vor seinem Tor herumstampfe, wird er mit Sicherheit sofort alle seine Wachleute hinter mir herhetzen und du hast dann leichtes Spiel mit ihm!“
Alsth rümpfte die Nase. „Abgesehen davon, dass ich keine Zivilisten und schon gar keine potentiellen Kronzeugen ihr Leben riskieren lassen darf, bezweifle ich, dass du damit weit kommen wirst. Du allein mit einem halben, experimentellen Raumschiff gegen eine Horde von Torx’ Leuten und seine automatischen Abwehrgeschütze – das geht niemals gut aus!“
„Du solltest mir schon etwas mehr zutrauen! Und selbst wenn ich draufgehen sollte – wenn du dafür das Anbis-System retten kannst, hat es sich doch gelohnt....“
Alsth hielt überrascht inne. War es möglich, dass sie das gerade wirklich ernst gemeint hatte?
„Ach komm. Soll ich dir abkaufen, dass du jetzt plötzlich selbstlos geworden bist? Ich denke, so gut sollte ich dich inzwischen schon kennen. Warum machst du mir so einen Vorschlag?“
„Weil du gesagt hast, ich soll einen anderen Vorschlag machen. Da hast du einen.“
„Oh, vielen Dank. Das hat uns wirklich weiter gebracht!“ Alsth stand auf. „Okay, weißt du was? Gleich müsste Chet Feierabend haben. Ich denke, ich werde sie suchen und ihr sagen, dass ich ihr Angebot annehme.“ Er seufzte laut. „Es wird schon alles gut gehen und vielleicht.... wird es sogar schön....“
„Wenn du wirklich meinst, dass es das Richtige ist.... tja.... viel Spaß.... mir ist es wirklich egal....“ Anscheinend wusste Nylla nicht mehr so recht, was sie dazu noch sagen sollte.
Alsth verließ sein Quartier und stieg in den Lift. Er würde einfach im Mannschaftsraum warten, bis Chet dort zum Abendessen auftauchte.
„Alsth....“, begann Nylla dann noch einmal, als er sich im Lift befand. Sie riss ihn dadurch aus seinen Grübeleien.
„Was gibt es?“
„Ich wollte nur sagen, dass ich meinen Vorschlag wirklich ernst gemeint habe. Mit meinem Ablenkungsmanöver, meine ich. Ich glaube wirklich, dass ich das hinbekomme. Und wenn nicht.... mein Gott.... ich will eigentlich nicht miterleben, wie Torx Diktator wird.... und irgendwie war ich mir schon immer sicher, dass ich nicht besonders alt werden würde.... Überleg es dir einfach noch mal....“
Alsth wollte schon wieder ablehnen, irgendetwas an Nyllas Tonfall hielt ihn aber davon ab. Stattdessen erwiderte er einfach: „Werde ich machen. Ich kann Chet ja notfalls immer noch kurzfristig absagen.“
„Gut.“ Mehr sagte Nylla nicht mehr dazu.
Als der Lift anhielt, stieg Alsth nachdenklich aus und begann sich die Worte zurecht zu legen, die er gleich an Chet richten würde. Er kam zu dem Ergebnis, dass ein schlichtes „Okay, wann soll ich kommen?“ wahrscheinlich ausreichen würde.
Gruth stampfte durch die Gänge der Raumstation und studierte dabei gedankenverloren die Fotos, die Kerry ihm vorgestern geschickt hatte.
Schon mehrmals war er fast mit entgegenkommenden Stationsbewohnern zusammengestoßen, die ihm im letzten Moment aus dem Weg springen mussten, um nicht einfach von ihm umgerannt zu werden. Doch das war ihm gerade völlig egal.
Es war zum Haare ausraufen! Zwei Tage waren schon vergangen und er hatte absolut nichts herausgefunden. Weder darüber, was Nylla am Raumhafen gemacht hatte und wo sie nun abgeblieben war – noch über ihren mysteriösen männlichen Begleiter. Es schien fast, als wären beide vom Erdboden verschluckt worden!
Aber so leicht würde Gruth nicht aufgeben. Egal, wie lange es dauerte, irgendwann würde er Nylla wieder aufspüren! Und diesmal würde er nicht weich werden und sie erneut davonkommen lassen, das hatte er sich fest vorgenommen. Er würde sie auf der Stelle töten – auch wenn ihm bei dem Gedanken daran jedes Mal schwer ums Herz wurde.
Auf dem Weg zu seinem Quartier kam Gruth schließlich an dem von Chet vorbei. Ein paar Schritte, nachdem er ihre Tür passiert hatte, blieb er stehen. Er drehte sich um und blickte gedankenverloren ihr Türschild an.
Vor ein paar Tagen hatte sie ihm angeboten, mit ihm über sein Dilemma zu reden. Natürlich hatte er abgeschlagen. Aber je mehr er jetzt darüber nachdachte.... Sie konnte ihn vielleicht am besten verstehen. Sie war dabei gewesen und hatte immer wieder den Eindruck gemacht, als würde sie seine Gedanken erraten können. Dummerweise war sie aber charakterlich völlig anders als er – Gruth würde sogar fast sagen, sie war das genaue Gegenteil von ihm. Nein, wahrscheinlich würde sie es nie verstehen....
Gerade als er sich wieder abwenden wollte, ging ihre Tür auf und Chet kam heraus. Anscheinend wollte sie zum Abendessen aufbrechen.
„Oh, hallo, Großer!“ sagte sie, etwas überrascht, aber auch irgendwie vergnügt. „Was stehst du denn hier so herum?“ Dann ging ihr offenbar ein Licht auf. „Ach so, falls du lauschen wolltest, ob ich männlichen Besuch habe.... Nein, das was Clive überall herumerzählt, stimmt überhaupt nicht. Leider....“
Gruth fühlte sich etwas ertappt, wenn auch nicht aus dem Grund, den Chet vermutete – aber er versuchte sich das nicht anmerken zu lassen. „Verstehe“, sagte er nur.
Dann wandte er sich wieder ab und wollte seinen Weg fortsetzen.
„Jetzt warte doch mal!“ Chet machte ein paar schnelle Schritte, um sich vor ihn zu stellen und ihm den Weg zu versperren. „Renn doch nicht gleich wieder weg. Sag mal, gibt es vielleicht schon Neuigkeiten in Bezug auf deine kleine Freundin?“
„Ja“, erwiderte Gruth knapp.
„Und?“
„Und sie ist nicht meine kleine Freundin.“
„Nein, das....“ Chet knurrte amüsiert. „Schon klar. Aber willst du mir nicht erzählen, was du herausgefunden hast?“
„Nein.“
„Nein? Und wenn ich dir sage, dass ich es gerne wissen würde?“ Zu den lobenswertesten und zugleich nervigsten Eigenschaften von Chet gehörte zweifellos ihre Hartnäckigkeit.
Gruth überlegte, ob er sie einfach zur Seite schieben und den Weg zu seinem Quartier fortsetzen sollte. Natürlich würde ihn das nicht die geringste Anstrengung kosten – und Chet wusste das auch. Aber dann sah er ein, dass sie ihn wahrscheinlich nie in Ruhe lassen würde, wenn er so weiter machte.
Also sah er sie zum ersten Mal seit Beginn ihres Gesprächs direkt an und sagte: „Chet, du warst mir auf Anbis 2 wirklich eine große Hilfe, aber trotzdem ist Nylla jetzt meine eigene Angelegenheit. Ich habe sie entkommen lassen, ich muss sie wiederfinden.“
Er hoffte innerlich, dass sie sich damit zufrieden geben würde. Wie er sie aber kannte, würde sie jetzt nur noch aufdringlicher werden.
„Hast du das wirklich?“ fragte Chet plötzlich und kniff die Augen zusammen. „Sie entkommen lassen, meine ich?“
Ein Alarm klingelte in Gruths Schädel. „Wie meinst du das?“
Chet sah sich kurz im Gang um. Niemand schien in der Nähe zu sein, trotzdem senkte sie die Stimme, als sie weitersprach: „Weißt du, ich hab mir die ganze Sache noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Einiges passt da für mich nicht so recht zusammen: Warum war Nylla am Raumhafen? Und wie sind plötzlich all diese Sicherheitsleute auf uns aufmerksam geworden? Und nachdem wir zurück waren.... Warum wolltest du Torx partout nicht beichten, dass du deinen Auftrag vermasselt hast? Ich weiß ja nicht, es könnte natürlich alles nur Zufall sein, aber....“
Jetzt hatte Chet Gruths ungeteilte Aufmerksamkeit. Er rückte einen halben Schritt näher an sie heran und baute sich zu seiner vollen Statur auf. „Was willst du damit sagen?“ zischte er und warf ihr den bedrohlichsten Blick zu, zu dem er sich in der Lage fühlte.
Anstatt jedoch beunruhigt zu werden, zauberte Chet ein schmales Lächeln auf ihre Lippen. „Na ja.... vielleicht war Nylla ursprünglich gar nicht am Raumhafen. Vielleicht hast du aus irgendeinem Grund beschlossen, sie dorthin mitzunehmen, anstatt sie sofort an Ort und Stelle zu erschießen. Das wäre natürlich ziemlich dumm von dir gewesen. Es würde dir gar nicht ähnlich sehen, so etwas zu machen, aber....“
Für ein paar Sekunden, die Gruth wie eine Ewigkeit vorkamen, sagte keiner von beiden ein Wort. Sie blickten sich gegenseitig nur abschätzend an und versuchten, im Pokerface des anderen irgendeine verräterische Regung zu finden.
„Du magst sie“, sagte Chet dann leise und selbstsicher. „Du konntest sie nicht umlegen, weil sie dir etwas bedeutet. Hab ich recht?“
Gruths Stimme war im leisen, stetigen Summen des Energiekerns der Raumstation kaum noch zu hören, als er sagte. „Was willst du, Chet?“
„Keine Angst, ich werde Torx nichts von meinem Verdacht erzählen.“ Chet hob beschwichtigend die Hände. „Ich hab ihm ja auch nicht gepetzt, dass du deinen Auftrag vermasselt hast....“
Gruth griff schnell nach Chets Arm. Zum Glück brachte es sie dazu, schon mal zu reden aufzuhören – zumindest für den Augenblick. Er sah sich kurz um, dann sagte er: „Komm mal eben mit!“ und zog sie mit sich.
Chet ließ sich widerstandslos durch den Gang zur Tür von Gruths Quartier schleifen. Er öffnete die Tür, schob Chet hinein und schloss sie hinter ihnen beiden wieder.
„Also schön“, sagte er dann scharf – vielleicht eine Spur zu scharf. „Was ist dein Problem?“
Chet wirkte nicht im Geringsten eingeschüchtert – nicht einmal überrascht. Ihre Stimme klang ganz sanft, als sie weitersprach: „Mein Problem ist, dass ich nicht damit einverstanden bin, wie du mich behandelst, Gruth.“
Sie wandte sich um, lief ein paar Schritte und sah sich ein bisschen in Gruths Quartier um. Wenn er sich nicht irrte, war es das erste Mal, dass sie hier drinnen war. Gruths Zimmereinrichtung war relativ spartanisch und funktional – ganz so, wie er es mochte.
„Ich will nur, dass du endlich mal etwas offener zu mir bist“, fuhr sie fort. „Du isolierst dich immer viel zu sehr von allen anderen und musst ständig alles auf eigene Faust regeln. Und das finde ich einfach schade. Ich bin jetzt schon seit vielen Jahren deine Kollegin und wir haben seitdem mehr als einmal sehr gut zusammen gearbeitet. Und deswegen habe ich keine Lust mehr auf deine ständige Abweisung, Gruth. Ich will dir doch einfach nur helfen. Das ist alles.“
Für eine ganze Weile sah Gruth sie nur vollkommen ausdruckslos an. Dann sagte er: „Chet, wir haben das doch schon letztes Mal besprochen: Ich arbeite am besten allein. Das ist einfach meine Art. Und die Nylla-Sache.... Die muss ich wirklich selbst aus der Welt schaffen. Es ist eben so, dass.... Nun ja, was du vorhin gesagt hast....“ Er druckste herum.
„Ich hab genau ins Schwarze getroffen, nicht wahr?“ Ein selbstsicheres Lächeln stand auf Chets Lippen. „Du magst die Kleine wirklich sehr.“
„Chet“, erwiderte Gruth tadelnd. Sein Gesicht fühlte sich etwas warm an und er hoffte inständig, dass er nicht merklich rot wurde.
„Hey, ist doch nicht schlimm. Eigentlich finde ich es ziemlich süß. Natürlich ist es nicht gerade vorteilhaft für einen Attentäter, wenn ihm persönliche Gefühle in die Quere kommen. Aber wir sind eben auch nur Menschen. Selbst du, Großer – da war ich mir lange nicht ganz sicher, aber jetzt hab ich wohl den Beweis....“
„Das ist nicht lustig, Chet!“ ging Gruth erbost dazwischen. „Ich muss Nylla wiederfinden, bevor Torx davon Wind bekommt! Sonst bin ich erledigt!“
„Und wenn du sie gefunden hast?“ hakte Chet nach. „Wird es dann anders laufen, Gruth? Wirst du sie dann einfach erschießen können?“
„Ich muss!“ bellte Gruth aus. Dann atmete er laut aus – und wiederholte noch einmal deutlich leiser: „Ich muss....“
Doch Chet schüttelte langsam den Kopf. „Ich denke aber.... du wirst sie auch nächstes Mal nicht töten können. Ich würde dir ja anbieten, den Auftrag für dich zu erledigen, aber irgendwie glaube ich, dass dir das auch nicht passen würde. Du schiebst das Problem jetzt vor dir her, aber irgendwann wirst du eine Entscheidung treffen müssen: Was ist dir wichtiger? Nyllas Wohlergehen – oder deine Loyalität zu Torx. Darauf läuft es letztendlich....“
„Chet, ich will nur eins von dir wissen“, unterbrach Gruth sie.
„Ja?“
„Wirst du Torx unter gar keinen Umständen davon berichten? Dass ich womöglich nicht mehr loyal zu ihm bin?“
„Das sagte ich doch schon. Nein, ich werde ihm nichts erzählen.“
„Auch nicht, wenn ich dein Angebot zur Zusammenarbeit ablehne?“
Chet zögerte kurz, machte aber nicht den Eindruck, als würde sie ihn anlügen wollen. „Nein, auch dann würde ich nichts sagen, aber....“
„Gut. Dann ist dieses Gespräch beendet.“ Gruth lief zur Tür seines Quartiers und öffnete sie. „Guten Abend, Chet!“
Chet stampfte auf ihn zu und funkelte ihn aus nächster Nähe an. „Du sturer Esel!“ zischte sie wütend. „Was denkt du dir eigentlich, wie du mich behandeln kannst?“
Gruth antwortete nicht. Er sah nur mit steinerner Miene auf sie herab.
Es verging noch eine ganze Weile, in der beide sich ein Blickduell lieferten. Schließlich ließ Chet die Schultern sinken und ihre Gesichtszüge entspannten sich wieder. „Ich werde nicht weglaufen, Gruth“, sagte sie und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Du weißt, wo mein Quartier ist. Wenn du es dir anders überlegst, kannst du jederzeit vorbei kommen.“
Dann trat sie an ihm vorbei und verließ den Raum. Gruth blieb erst einmal regungslos stehen – und erst als die Tür hinter ihr wieder zuging, sackte er zusammen und atmete kräftig aus.
Irgendwie fühlte er sich nun erschöpfter als nach jedem Aufenthalt im Trainingsraum.
Alsth konnte sich gar nicht daran erinnern, wann er zum letzten Mal so aufgeregt war wie jetzt.
Er hatte die letzten Stunden damit zugebracht, sich auf seinen nächsten wichtigen „Einsatz“ vorzubereiten, obwohl diese Vorbereitung eher seelischer Natur war und er irgendwie das Gefühl hatte, dass sie nicht viel gebracht hatte.
Heute beim Abendessen war er auf Chet zugegangen und sie hatten ausgemacht, dass er gegen neun Uhr zu ihrem Quartier kommen sollte. Chet war sichtlich erfreut gewesen – nachdem sie zuvor irgendwie angefressen gewirkt hatte. Aber ihre miese Stimmung hatte sich schlagartig aufgehellt, als er verkündet hatte ihr Angebot annehmen zu wollen. Alsth wünschte nur, er könnte eine ähnlich ungetrübte Vorfreude empfinden....
Danach hatte Alsth übertrieben lange geduscht und war erst vor fünf Minuten aus dem Bad gekommen. Jetzt konnte er nur noch auf den Zeitpunkt seiner Verabredung mit Chet warten.
Nylla war während der ganzen Zeit ungewöhnlich ruhig gewesen. Bisher hatte sie ihre Funkverbindung zu ihm immer ausgiebig ausgenutzt und ihn oft ununterbrochen vollgequatscht. Sie hatte ihm irgendwelche Geschichten über ihre Schmugglerkollegen aufgetischt und Kommentare zu irgendetwas geliefert, was sie gerade eben im Komnetz gesehen hatte. Nichts wirklich wichtiges, aber Alsth mochte den Klang ihrer Stimme sehr gerne und hatte daher ihre Erzählungen genossen.
In den letzten Stunden hatte sie jedoch kaum ein Wort gesagt. Dabei wäre er über die Abwechslung gerade jetzt sehr dankbar gewesen, da die Warterei ihn geradezu verrückt machte.
Nachdem er zum hunderteinundfünfzigsten Mal auf die Uhr gesehen hatte und die Zeit immer noch nicht merklich verstrichen war, meldete sie sich dann aber doch mal wieder zu Wort:
„Und? Hast du darüber nachgedacht?“ Ihre Stimme klang völlig neutral, Alsth konnte keinen besonderen Unterton feststellen.
„Worüber?“ fragte Alsth, doch eine halbe Sekunde später fiel es ihm selber wieder ein. Er zuckte zusammen und hoffte, dass sie ihn jetzt nicht für einen achtlosen Rüpel hielt.
„Über mein Angebot. Dir ein Ablenkungsmanöver zu verschaffen. Du weißt es doch noch!“
„Natürlich“, erwiderte Alsth schnell. „Aber da gibt es eigentlich nicht mehr viel zu überlegen. Ich kann und darf dich nicht dieser Gefahr aussetzen. Außerdem ist Chet rein objektiv betrachtet der beste und risikoärmste Weg, an unsere Informationen zu kommen.“
„Na gut....“ Nyllas Zögern war der einzige kleine Hinweis darauf, dass ihr möglicherweise etwas durch den Kopf ging, was sie ihm verschwieg. „Dann sollte ich dich vielleicht noch darauf hinweisen, dass Chet eine recht.... seltsame Einstellung gegenüber Männern hat.“
Während Alsth noch überlegte, wie tief er in dieser Angelegenheit nachbohren sollte, erwiderte er schon mal beiläufig: „Du meinst, seltsam im Vergleich zu deiner?“
Nylla schwieg für eine Sekunde. Obwohl absolut nichts zu hören war, hatte Alsth doch irgendwie das Gefühl, es wäre ein missbilligendes Schweigen. „Du musst wissen, Chet hat mich vor ein paar Jahren einmal mit auf einen ihrer.... ‚Streifzüge‘ mitgenommen. Ich werde diesen Abend wahrscheinlich nie vergessen. Bedauerlicherweise.“
„Chet und du wart mal auf Männerjagd?“ Alsth grinste bei der Vorstellung. „Davon musst du mir unbedingt mal erzählen.“
„Nein“, sagte Nylla mit so entschiedener Stimme, dass Alsth die Hoffnung sofort aufgab, diese Geschichte jemals zu hören. „Es war nur einmal und sonst habe ich kaum mit ihr zu tun gehabt. Auf jeden Fall wollte ich dich nur mal vorwarnen.“
„Danke. Damit hat sich meine Vorfreude glatt noch mal verdoppelt“, brummte Alsth sarkastisch.
„Hey, du kannst es immer noch absagen, wenn du nicht willst!“
Schon wieder...., dachte Alsth nur, entschied sich aber dazu, diese seltsame Hartnäckigkeit nicht weiter zu kommentieren. Dann sah er noch mal auf die Uhr – und kam zu dem Entschluss, dass es vielleicht doch keine so schlechte Idee war, genauer nachzufragen. So würde zumindest die Zeit vergehen.
„Warum willst du unbedingt, dass ich mich von Chet fernhalte? Dass du nur um meine sensiblen männlichen Gefühle besorgt bist, kann ich mir nicht vorstellen. Also, was ist los?“
„Ich will doch gar nicht.... Ich hab dir doch schon gesagt, dass es mir völlig egal ist. Du kannst meinetwegen mit Chet und Yaan und Gruth und sogar Torx schlafen, wenn du denkst, das bringt dich in deinem Fall weiter. Ich glaube nur, dass mein Plan der bessere ist.“
„Und dass ist alles?“ hakte Alsth locker nach. „Wenn du nämlich eifersüchtig bist, dann....“
„Du blöder Arsch!!“ unterbrach Nylla ihn mit solcher Wut in der Stimme, dass Alsth erschrocken zusammen zuckte. „Was fällt dir überhaupt ein!?“
„Hey, ganz locker“, erwiderte Alsth vorsichtig. „Das war doch nur ein kleiner Scherz....“
„Auf deine dämlichen Scherze kann ich wirklich verzichten!“
„Aber....“
„Ihr denkt alle, dass ihr so furchtbar witzig seid! Das geht mir echt auf den Senkel! Du hast sie doch nicht mehr alle! Ihr Typen seid alle gleich!“
Seit Nyllas plötzlichem Ausbruch war Alsth erst einmal nur erschrocken und überrascht gewesen, aber nun spürte er den Zorn in sich hochsteigen.
„Das ist jetzt wirklich nicht dein Ernst!“ fuhr er zurück. „Die ganze Zeit, seit ich dich am Hals habe, bist du nur bockig und herablassend! Aber wenn ich mal so einen Mini-Witz auf deine Kosten mache, denn reagierst du so dermaßen überempfindlich? Komm mal wieder runter!“
„Ich habe dir geholfen!“ brüllte Nylla. „Ich war so dumm, dich bei deinem bescheuerten Fall zu unterstützen, obwohl ich dazu überhaupt keinen Grund gehabt hätte! Ihr habt mich schamlos erpresst, aber ich wollte sogar mein Leben für dich riskieren! Und jetzt muss ich mir so was anhören!“
Alsth war inzwischen so wütend geworden, dass ihm im Moment alles egal war. In so einem Fall war normalerweise immer Kheilo zur Stelle, um ihn zu beschwichtigen, nur dummerweise befand der sich gerade in Anbis City und musste sich mit dieser arroganten Kosmopol-Agentin herumärgern. „Wenn es dir nicht passt, dann verschwinde doch!“ schrie er.
„Weißt du was? Genau das werde ich tun!“ kam die abrupte Antwort. „Du hast mir nämlich nichts vorzuschreiben. Schließlich bist du nicht mein Vater!“
Ihr letztes Wort ließ Alsth aufhorchen und holte ihn wieder auf den Boden zurück. Er sagte etwas ruhiger: „Was hat denn dein Vater damit zu....“
Klick.
Das war das Geräusch, mit dem die Komverbindung deaktiviert wurde.
„Nylla?“ fragte Alsth. Dann wurde ihm klar, wie sinnlos diese Nachfrage war. Die Verbindung war deaktiviert, also konnte sie ihn nicht hören.
Nur ruhig, redete ihm eine innere Stimme ein. So dumm ist sie nicht. Warte nur ein paar Momente, dann wird sie die Verbindung wieder aktivieren. Und sich auf ihre Art mit einem pfiffigen Spruch entschuldigen.
Alsth wartete.
Nichts.
Immer noch nichts.
Wie lange hatte sie sich schon nicht mehr gemeldet?
Alsth blickte auf die Uhr – und sprang dann erschrocken auf. Seine Verabredung mit Chet stand an! Er hatte bereits eine Minute Verspätung!
Alsth hetzte zur Tür, blickte sich noch einmal um, ob er nichts vergessen hatte. Dann wurde ihm klar, dass er alles, was er bei seinem Treffen mit Chet brauchen würde, am Körper trug. Er hetzte auf den Gang hinaus in Richtung Lift.
Das mit Nylla war jetzt dumm gelaufen, aber er hatte jetzt keine Zeit mehr für sie. Wahrscheinlich würde sie eine Weile beleidigt in ihrem Raumschiff sitzen und sich irgendwann wieder beruhigen und die Verbindung reaktivieren. Jetzt konnte er ihre Zuhörerschaft für einige Zeit ohnehin nicht gebrauchen.
Danach würde sich schon alles aufklären. Falls notwendig würde er sich auch für den Spruch mit der Eifersucht entschuldigen, obwohl er den wirklich für sehr harmlos gehalten hatte. Ganz bestimmt flog sie jetzt nicht einfach davon und ließ ihn auf der Station zurück.
Hoffte er zumindest....
Erst nachdem er den Türmelder bereits betätigt hatte, fiel ihm auf, dass das der Moment gewesen war, ab dem es kein Zurück mehr gab. Irgendwie fühlte er sich völlig unvorbereitet.
„Moment, ich bin gleich da!“ erklang ihr Singsang gedämpft durch die Tür.
Ach, lass dir ruhig Zeit, schoss es ihm durch den Kopf.
Leider tat sie ihm diesen Gefallen nicht.
Als die Tür aufging, stand sie direkt vor ihm und belegte ihn mit einem Lächeln, das ihm eine richtige Gänsehaut bereitete. Sie trug einen weißen Bademantel aus einem dünnen, leicht glänzenden Stoff und obwohl er nicht – oder kaum – durchsichtig war, ging er jede Wette darauf ein, dass dies das einzige Kleidungsstück war, das sie momentan am Körper hatte. Der Bademantel reichte ihr nur bis zur Mitte der Oberschenkel, sodass er gute drei Viertel ihrer überaus wohlgeformten Beine unbedeckt ließ. Und da sie sich nicht die Mühe gemacht hatte, ihn besonders eng zuzubinden, ließ er auch den Blick auf einen hübschen Teil ihres Dekolletees frei.
Obwohl sie ihre Haare schon immer offen getragen hatte, wirkten sie im Augenblick noch lockerer und strähniger als bisher, einige Strähnen fielen ihr dabei über das Gesicht. Ihre ausdrucksstarken, eisblauen Augen belegten Alsth mit einem Blick, der genau die gewünschte Wirkung erzielte. Er war kein Experte für Make-Up, glaubte aber nicht, dass sie bei den Augen viel nachgeholfen hatte. Und zweifellos hatte sie das auch überhaupt nicht nötig.
Ihre Lippen dagegen hatte sie mit einem glänzenden, hellen Rosa beschmiert, das sich kaum von der Farbe ihrer Gesichtshaut abhob und das er bei Frauenlippen schon immer ganz besonders gemocht hatte. Er fragte sich ernsthaft, woher sie von dieser Vorliebe wusste.
„Hallo, Django“, sagte sie, freundlich, aber ohne besonders aufreizenden Tonfall. Gerade das machte ihn jedoch aus einem ihm unverständlichen Grund ausgesprochen an. „Komm doch rein!“
Sie vollführte eine einladende Geste, doch er blieb weiter wie angewurzelt vor ihr stehen. Es war geradezu unwirklich, wie attraktiv sie war – und der Gedanke, dass er ihr gleich noch sehr, sehr viel näher kommen würde, sorgte dafür, dass er sich plötzlich keinen Millimeter mehr bewegen konnte.
„Komm schon, jeden Moment kann jemand hier entlang kommen“, drängte sie. „Wir wollen doch nicht, dass schon wieder die ganze Station über uns tratscht!“ Sie nahm seine Hand und zog ihn zu sich heran.
Sofort wich die gesamte Kraft aus seinem Körper und sie konnte ihn ohne größere Schwierigkeiten in ihr Quartier hinein schieben. Mit einem leisen Zischen fuhr die Tür hinter ihm zu.
Für einen Moment schaffte er es, seinen Blick von ihr abzuwenden und sich ihr Quartier etwas näher anzusehen. Seine Aufmerksamkeit fiel sofort auf den gigantischen Videoschirm, der über mehr als die Hälfte der gegenüberliegenden Wand verlief. Sie hatte ihn auf Außensicht gestellt, sodass nun der gewölbte Horizont des roten Gasriesen sich langsam darauf drehte, direkt vor seinen Füßen, wie es schien. Das warme Licht des Planeten tauchte den gesamten Raum in einen rötlichen Schimmer.
Irgendwie hatte sie es auch noch geschafft, leichten Dunst in ihrem Quartier zu erzeugen, durch den das Licht noch verstärkt wurde. Es passte hervorragend zu ihrer Zimmereinrichtung, die fast nur in Rot-, Braun- und Orangetönen gefärbt war. Die Decke und große Teile der Möblierung waren scheinbar aus Holz und machten einen sehr edlen Eindruck. Ihr breites Bett war mit einem dunkelroten, samtigen Tuch bedeckt und sah äußerst einladend aus. Fast könnte man meinen, sie hätte die gesamte Einrichtung nur für diesen Abend ausgewählt. Aber er konnte sich durchaus vorstellen, dass dies genau ihrem Geschmack entsprach und sie sich hier drinnen auch alleine sehr wohl fühlen musste.
Dann bemerkte er einen süßlichen, zimtigen Geruch, der ihm in die Nase stieg. Es war ein sehr subtiler Duft, aber irgendwie hatte er das Gefühl, als würde er bei jedem Atemzug stärker werden und direkt in seinen Kopf steigen. Er blickte sich um und bemerkte einen kleinen, silbernen Topf mit löcherigem Deckel, der auf einem altmodischen Heizgerät auf ihrem Nachtkästchen stand und aus dem ein leichter Dampf stieg.
Sie bemerkte sein Interesse sofort. „Wunderst du dich, was das ist?“ fragte sie amüsiert. „Keine Sorge, es wird dir helfen, ein bisschen zu entspannen. Ein altes Familienrezept.“
„Aha....“, murmelte er. Etwas Entspannung konnte er gut gebrauchen, denn er merkte, wie seine Finger unkontrolliert zuckten – ein eindeutiges Zeichen für seine Nervosität. Doch dieser Geruch störte ihn eher, denn inzwischen schmeckte seine Zunge schon danach und der Dunst vertrug sich nicht so recht mit seinen Augen. Irgendwie schien sein Gehirn träger zu reagieren als sonst und er fragte sich, ob sie der einzige Grund dafür war. „Äh.... wie geht es jetzt weiter.... muss ich irgendwas.... oder....“
„Beruhige dich.“ Ihre Stimme gluckste erheitert. „Wir gehen die Sache ganz langsam an, das ist beim ersten Mal sehr wichtig. Entspann dich einfach und tu nur das, was du fühlst.“
Sie legte ihre Hand auf seine Brust und schob ihn rücklings auf einen gepolsterten Stuhl zu, der neben ihrem Bett stand. Mit den Fingerspitzen gab sie ihm einen leichten Stoß und ließ ihn so auf den Stuhl niedersinken. Mittlerweile spürte er deutlich, wie seine Hose ihm langsam zu eng wurde, und er erkannte an der Art und Weise, wie sie zufrieden an ihm hinunter sah, dass es auch ihr nicht entgangen war.
„Und dass du dich durchaus wohl fühlst, kannst du jetzt nicht mehr abstreiten“, fügte sie mit einem schelmischen Grinsen hinzu.
Alsth lächelte peinlich berührt. Sie stand nun genau vor ihm, sodass er direkt in ihren Ausschnitt blickte. Es war ein atemberaubender Anblick und es fiel ihm immer schwerer, einen klaren Gedanken zu fassen.
Dann merkte er, dass sie ihn an der Schulter fasste. Sie stützte sich auf ihn, während sie ganz langsam nach unten glitt und seitlich auf seinem Schoß Platz nahm. Dabei rutschte die eine Hälfte ihres Bademantels von ihrem rechten Bein und entblößte es fast vollständig.
Er blickte an ihr herunter und sah unbegreiflich viel nackte Haut. Irgendwie war ein letzter Zipfel ihres Bademantels zwischen ihre Beine gerutscht und verdeckte dadurch noch die ganz brisanten Regionen – aber immerhin konnte er sich nun endgültig sicher sein, dass sie sonst nichts mehr an hatte.
Doch dann fasste sie sein Kinn und hob seinen Kopf, sodass er ihr direkt in die Augen sehen musste – und sie waren wie ein Spiegel, der die gesamte Schönheit des Universums reflektierte. Er roch ihr erfrischendes Parfüm, das eine sehr willkommene Abwechslung zu dem Zimtgeruch war und ihn zu einem kräftigen, tiefen Atemzug veranlasste. Ihr verführerischer Blick, der ihn von Anfang an total fasziniert hatte, wirkte aus nächster Nähe noch tausend Mal intensiver und fesselnder als bisher.
„Ich hab gehört, dass Spätzünder oft die besten Küsser sind....“, flüsterte sie ihm ins Ohr, kurz bevor sich ihre Lippen berührten....
Es war natürlich nicht Alsths erster Kuss – er hatte während seiner Schulzeit ein paar Erfahrungen in der Richtung gemacht. Doch es waren keine besonders angenehmen Erfahrungen gewesen. Er erinnerte sich an feuchte Lippen und Schokoladenreste im Mundwinkel und einen ganz komischen Geschmack im Mund, der stundenlang nicht weggehen wollte. Deswegen hatte er es seitdem nie wieder ernsthaft versucht. Und nun, etwa zehn Jahre später – war es ein Erlebnis, das unterschiedlicher nicht sein konnte....
Ihre Lippen fühlten sich so weich an. Sie schmeckten nach.... nach Kirsche! Kam das von diesem Lipgloss? Wahrscheinlich.... Und da war ihr Zunge.... Feucht und salzig.... Aber nicht unangenehm.... Ganz und gar nicht unangenehm.... Nur dieser Zimtgeruch.... der war einfach überall.... aber das konnte ihm den Moment auch nicht vermiesen – dazu war er einfach zu göttlich....
Seine Zunge bewegte sich fast automatisch, ohne dass er groß darüber nachdenken musste. Er verlor jegliches Zeitgefühl und als sie sich wieder voneinander lösten, war er völlig außer Atem.
„Ich wusste es....“, hauchte sie und er konnte sich einfach nicht mehr daran erinnern, worauf sie sich dabei bezog.
Diese paar Sekunden – oder Stunden? – hatten ihn schon völlig geschafft. Dabei sollte das doch gerade erst der Anfang sein.... Wie sollte er das nur alles ertragen.... Dieser verfluchte Zimtdunst packte sein Gehirn in Watte und ließ ihn nicht los. Für einen Moment musste er sich große Mühe geben, seine Konzentration zu behalten.... und dann bemerkte er plötzlich, dass sie inzwischen damit begonnen hatte, sein Hemd aufzuknöpfen.
„Du darfst mich ruhig anfassen, wenn du willst“, raunte sie ihm zu, während sie den letzten Knopf löste. „Nur keine Hemmungen, es ist alles erlaubt.“
Sie schob beide Hände in sein geöffnetes Hemd hinein und strich mit den Fingerspitzen über seine Haut. So war er noch nie von einer Frau berührt worden – ab jetzt war alles völliges Neuland für ihn. Wie sie ihre Finger sanft über seine Brust wandern ließ, fühlte sich unbeschreiblich gut an. Chet machte noch eine Weile so weiter, dann zog sie das Hemd noch weiter auf und schob es von seinen Schultern herunter. Leise nach Luft schnappend befreite er seine Arme aus den Ärmeln und ließ es zu Boden fallen.
Dann begann er damit, ihren Vorschlag in die Tat umzusetzen, und ließ seine Hände auf ihren Oberschenkeln nieder. Sie waren das einzige, was er sich anzufassen traute, ohne auf der Stelle verrückt zu werden. Ganz sachte strich er über ihre Beine und fühlte ihre weiche, glatte Haut. Sie widmete sich unterdessen wieder seinem Oberkörper. Ihre Finger waren angenehm kühl auf seiner heißen Brust und es war atemberaubend, wie sie einfach so seine persönliche Privatsphäre missachteten.
Irgendwann rückte ihr Oberkörper noch ein Stück näher an seinen heran. Sie umschlang ihn mit ihren Armen und begann mit den Fingern über seinen Rücken zu streichen und mit seinem Schweiß auf seine Haut zu malen. Ihr Kopf senkte sich zu ihm, ihre Lippen küssten seinen Nacken und seine Augen froren in ihrem Ausschnitt fest, der sich durch ihr Vorbeugen weiter geöffnet hatte, als ihm eigentlich lieb war.
„Nur zu, Django“, wisperte sie ihm aus nächster Nähe ins Ohr. „Wag dich gerne weiter vor. Oder soll ich dir ein bisschen helfen? Hier, versuch das mal....“
Sie nahm seine Hände und führte sie weiter ihre Beine hinauf, an Stellen, wo er sich von selbst niemals hin getraut hätte. Sie führte ihn sogar bis unter ihren Bademantel und er schloss die Augen, unterbrach die visuellen Reize, die ohnehin zu viel für ihn waren, und fühlte nur. Und bei Gott, es fühlte sich wahnsinnig gut an.
Sie führte ihn so weit nach oben, dass er mit seinen Unterarmen den Stoffgürtel wegschob, der ihren Bademantel nur noch lose zusammen hielt. Der lockere Knoten löste sich und der Gürtel fiel zu Boden.
„Den nächsten Schritt darfst du ganz alleine machen“, flüsterte sie. „Lass dir Zeit und genieße es.“ Mit diesen Worten setzte sie seine Hände auf ihren Schultern ab.
Da saß er nun, halbnackt in einem fremden Quartier, auf dem Schoß eine Frau, die er erst vor zwei Tagen kennen gelernt hatte und eigentlich verhaften und einbuchten müsste. Doch stattdessen war er kurz davor, sie vollständig zu entkleiden. Er musste nur noch diesen Bademantel von ihren Schultern schieben.... Nur noch ein winziger Handgriff....
Eigentlich würde es auch gar keinen so großen Unterschied mehr machen, denn ihre Brüste waren ohnehin nur noch zur Hälfte bedeckt und ihr Schambereich sogar noch deutlich weniger. Schon jetzt war all diese Nacktheit und Weiblichkeit in dieser unmittelbaren Nähe für ihn kaum zu ertragen. Er hatte das Gefühl, als müsste er vor lauter Aufregung gleich explodieren.
Gleichzeitig verspürte er aber auch zunehmendes Unwohlsein. Das Brennen in den Augen und das dumpfe Gefühl im Schädel hatten sich inzwischen zu leichten Kopfschmerzen entwickelt – es konnte aber auch einfach daran liegen, dass sein Hirn nicht mehr genug durchblutet wurde.
Immerhin schien seine Zögerlichkeit sie nicht weiter zu stören. Sie hatte offensichtlich ihren Spaß da auf seinem Schoß und sein durchtrainierter nackter Oberkörper schien ihr sehr gut zu gefallen. Sie zeichnete mit ihren Fingern seine Muskeln nach, leckte sich dabei über die Lippen und wartete geduldig darauf, dass er etwas tat.
Also schön, Alsth – worauf wartest du noch....
Zitternd griff er mit beiden Händen nach dem Saum ihres Bademantels und begann ihn auseinander zu schieben – langsam und vorsichtig, als würde er eine Bombe entschärfen. Irgendwann begann der Stoff durch das Eigengewicht ganz von selbst von ihrer Schulter zu rutschen. Der Bademantel glitt langsam ihre Arme und Hüfte entlang nach unten und fiel schließlich lautlos auf den Boden....
Das war der Moment, als sein Verstand völlig den Geist aufgab.... sein Kopf pochte wie verrückt.... und nicht nur sein Kopf.... denn es war völlig unfassbar.... ihre Haut glänzte verführerisch im roten Licht des Gasriesen.... und sie lächelte ihn an, wie wohl nur eine Frau jemanden anlächeln konnte.... ihre Hüfte bewegte sich spielerisch hin und her, als sie ihre Sitzposition leicht veränderte.... ihre Brüste....
Ihre....
Er verspürte plötzlich den unheimlichen Drang, ihre Brüste zu berühren. Denn sie erschienen ihm so schön und formvollendet, dass er sich einfach selbst davon überzeugen musste, dass sie nicht nur ein Produkt seiner eigenen Fantasie waren. Doch als er die Hände danach ausstreckte, schlug sie sie ihm mit einem leichten Klaps zur Seite.
„Alles zu seiner Zeit“, flüsterte sie ihm zu.
Aus lauter Frustration hätte er am liebsten laut aufgeschrien. Ob sie sich vorstellen konnte, was sie ihm damit antat? Natürlich wusste sie es. Sie quälte ihn ganz absichtlich, um ihn noch heißer zu machen. Und es funktionierte hervorragend. Er versuchte noch einmal seine Hände auszustrecken und diesmal fing sie sie ab und schob sie sanft aber bestimmt zur Seite. Es war zum aus der Haut fahren.... Er wollte doch nur einmal fühlen....
„Gleich, Django, gleich.... Aber erst musst du es dir verdienen....“
Sie rutschte noch näher an ihn heran und legte seine Hände um ihren nackten Rücken. Dann schlang sie auch ihre Hände um ihn und drückte ihren Oberkörper fest an den seinen. Instinktiv tat er es ihr gleich und spürte ihre Wärme und ihre Rundungen. Als sie sich dieses Mal küssten, war es so intensiv, dass er später fest davon überzeugt war, für einen Moment tatsächlich bewusstlos gewesen zu sein.
Sie löste ihre Lippen gerade lange genug von ihm, um ihm ins Ohr zu raunen: „Jetzt bin ich erst mal an der Reihe....“
Woraufhin sie begann, ihre rechte Hand seinen Bauch entlang nach unten zu schieben. Alsth hielt vor Aufregung den Atem an. Er wusste ganz genau, worauf sie zusteuerte....
Ihre Finger gruben sich in seine Hose, glitten tiefer und immer tiefer und genau in dem Moment, als sie ihr Ziel fast erreicht hatten....
Genau in diesem Moment summte der Türmelder.
„Frell!“ fauchte Chet.
Während sämtliche Leidenschaft von ihr abfiel, kam in Alsth das Gefühl auf, als würde er viel zu früh aus einem aufregenden Traum erwachen.
Sie sprang auf und griff nach ihrem Bademantel. Alsth fragte sich, wie sie in so kurzer Zeit für so eine rasche Bewegung genügend Energie aufbringen konnte. Er selbst fühlte sich immer noch wie gelähmt....
„Ich komme sofort!“ rief sie laut, damit der Wartende draußen es hören konnte, dann senkte sie ihre Stimme und zischte Alsth zu: „Es ist besser, ich sehe nach, wer an der Tür ist, und wimmele ihn ab. Du verschwindest am besten so lange im Bad, wir brauchen ja nicht noch mehr Gerede.“
Leichter gesagt...., dachte Alsth, aber dann griff sie nach seinem Arm, zog ihn auf die Beine und schubste ihn auf die Badezimmertür zu. Fast wäre er einfach umgekippt, aber er fing sich gerade noch rechtzeitig und stolperte durch die Tür, die Chet hinter ihm zuschlug.
Zwei Sekunden später ging die Tür noch einmal auf und Chet warf ihm sein Hemd ins Gesicht. Und schlug die Tür wieder zu.
Alsth wartete noch einen Moment, ob sie wieder aufging, aber es tat sich erst einmal nichts mehr.
„Ja – genau so hab ich mir mein erstes Mal immer vorgestellt“, murmelte er grimmig.
Gruth stand mitten in seinem Quartier und starrte den Videoschirm an der gegenüberliegenden Wand strafend an.
Natürlich war ihm bewusst, dass der Videoschirm an seiner momentanen Misere keine Schuld hatte. Aber Gruth hatte das dringende Bedürfnis, jemandem die Schuld zu geben – und der Videoschirm war gerade in Reichweite und konnte sich nicht wehren.
Vor einer Stunde hatte er beschlossen, sämtliche Infos, die er über Nyllas Verbleib hatte, auf diesem Schirm zusammenzutragen. Nun, eine Stunde später, war der Schirm immer noch erschreckend leer und Gruth hatte schon viel zu lange nichts anderes gemacht, als untätig darauf zu starren.
Konnte es sein, dass Nylla das Anbis-System inzwischen verlassen hatte? Dass sie und ihr Begleiter am Raumhafen gewesen waren, würde schon mal dafür sprechen. In diesem Fall konnte sie inzwischen natürlich an so gut wie jedem Ort des bisher kartographierten Teils der Galaxie sein und er konnte die Hoffnung aufgeben, sie innerhalb absehbarer Zeit aufzuspüren.
Aber wenn es so war – warum war ihre ID dann am Raumhafen nicht registriert? Warum war sie in keinem öffentlichen Personentransporter gewesen – oder unterwegs mit irgendeinem Privatraumschiff?
Und warum konnte er nicht die geringsten Informationen über ihren mysteriösen Begleiter auftreiben? Kerry hatte ihm schon mitgeteilt, dass dieser Typ kein Polizist war, und Gruth selbst hatte es noch bei der Kosmopol, bei der Raumpatrouille und bei sämtlichen privaten Sicherheitsfirmen im Anbis-System versucht. Aber als ihm plötzlich ein Hackerabwehrsystem auf die Pelle gerückt und fast seinen Standort herausbekommen hatte, hatte er es lieber sein lassen. Diese Spur war also auch eine Sackgasse gewesen.
Ein neuer Ansatz musste also her. Aber so sehr er sich auch den Kopf zerbrach, es fiel ihm einfach nichts Brauchbares ein.
Zum fünften oder sechsten Mal kam ihm sein letztes Gespräch mit Chet wieder in den Sinn. Sie war ziemlich wütend gewesen, als er sie vorhin mal wieder hatte abblitzen lassen. Aber er stand zu seiner Entscheidung. Sie waren einfach viel zu unterschiedlich und sie würde ihn niemals verstehen können.
Plötzlich kam Gruth ein Gedanke. Vielleicht war gerade dieser große Unterschied zwischen ihnen eine gute Hilfe. Wenn er sie in seine Ermittlungen einbezog, würde sie vielleicht auf Ideen und mögliche Vorgehensweisen kommen, die ihm selbst niemals eingefallen wären. Gruth wusste, dass Chet einen ziemlich kreativen Geist hatte, der nicht selten in etwas ungewöhnlicheren Bahnen verlief.
Natürlich würde er ihr nicht sein Herz ausschütten oder über seine Gefühle reden oder etwas ähnlich Bescheuertes tun. Wenn er ihre Hilfe in Anspruch nahm, dann nur um neue Ideen zu ergründen. Ja, genau so würde er es machen!
Einen Entschluss gefasst, warf Gruth einen letzten vernichtenden Blick in Richtung Videoschirm und verließ dann sein Quartier. Er eilte den Gang hinunter, blieb vor Chets Tür stehen und betätigte kurzerhand den Türmelder.
Im Inneren tat sich erst einmal überhaupt nichts. Gruth wollte schon wieder gehen, da sie offenbar nicht zu Hause war. Dann hörte er jedoch ihre Stimme, die „Komme sofort“ oder so ähnlich rief. Also blieb er stehen und wartete. Wieder tat sich erst einmal gar nichts, aber schließlich öffnete sich die Tür und Chet stand im Bademantel vor ihm.
„Hallo, Großer“, begrüßte sie ihn.
„Oh, warst du schon im Bett?“ sprudelte er heraus. „Entschuldigung, ich wollte nicht stören. Am besten geh ich wieder.“
„Nein, nein, ich war noch nicht im Bett!“ sagte sie schnell. „Ich.... wollte mir nur gerade einen gemütlichen Abend machen. Bist du wegen meinem Angebot hier? Wenn ja, dann komm doch kurz rein.“ Sie warf einen unschlüssigen Blick auf ihre Badezimmertür und fügte dann hinzu: „Wenigstens für eine Minute.“
Ihre Hand vollführte eine einladende Geste und nach kurzer Überlegung stapfte er an ihr vorbei in ihr Quartier. „Na gut. Aber nur, wenn....“ Er unterbrach sich, schnüffelte und blickte dann in Richtung ihres Nachtkästchens. „Äh, Chet....“
„Einen.... sehr gemütlichen Abend“, korrigierte sie sich mit unschuldiger Miene.
Für mehrere Sekunden sah Gruth sie nur abschätzend an.
„Vielleicht sollte ich doch besser morgen....“, begann er und drehte sich wieder zur Tür um.
„Kommt gar nicht in Frage!“ Chet huschte schnell an ihm vorbei und baute sich zwischen ihm und dem Ausgang auf. „Jetzt bist du schon mal hier und ich lasse dich nicht eher weg, bis du mir nicht wenigstens einen Überblick über diese Nylla-Sache gegeben hast. So einfach kommst du mir nicht wieder davon!“
Gruth seufzte. „Also gut, wenn du darauf bestehst....“ Dann schilderte er ihr kurz und völlig objektiv, was er bisher herausgefunden hatte. Sie stand einfach nur da und hörte ihm aufmerksam zu. Nur einmal hielt er kurz inne und starrte sie nervös an. Chet schnitt eine verwirrte Grimmasse, blickte an sich herunter – und zog schnell ihren Bademantel wieder etwas weiter zu.
„Äh.... Okay, das war es eigentlich....“, fuhr er fort. „Diese Fotos vom Raumhafen sind bisher mein einziger wirklicher Anhaltspunkt. Falls du sie mal sehen willst....“
Er hielt Chet sein Notepad hin und sie beugte sich interessiert darüber.
„Ja, das ist sie zweifellos“, stimmte sie ihm zu, während er die Fotos durchscrollte. „Sehr schöne Fotos übrigens. Das ist doch schon mal besser als gar nichts, oder nicht?“
„Auch wieder wahr.“ Irgendwie fühlte er sich schon viel besser als noch vor zwei Minuten und er gratulierte sich innerlich zu seiner Entscheidung, Chet mit einzubeziehen. Irgendwie schaffte sie es immer, in allem etwas Positives zu sehen. Das war auch eins ihrer besonderen Talente. „Und hier ist noch ein größeres Bild von ihrem Komplizen.“
Er hielt ihr wieder das Pad hin und scrollte weiter. Sie sah sich das Foto ganz genau an....
Und brach plötzlich in einen heftigen Hustenanfall aus.
Es kam so unerwartet, dass Gruth erschrocken sein Pad fallen ließ. Er starrte Chet entgeistert an, während diese wie verrückt hustete und keuchte und irgendwie versuchte, wieder zu Atem zu kommen.
„Tut mir....“, brachte sie zwischen mehreren Hustern hervor. „Hab mich.... an.... meiner eigenen.... Spucke.... verschluckt....“
Gruth stand etwas ratlos hinter ihr und überlegte schon, ob er ihr vielleicht auf den Rücken klopfen sollte. Aber dann ließ der Anfall nach, Chet räusperte sich noch einmal gründlich, zog ihren Gürtel wieder zusammen und drehte sich dann wieder zu ihm um.
„Das kommt davon, wenn man gleichzeitig zu reden und zu schlucken versucht“, erklärte sie mit entschuldigender Miene. „Hab ich dich erschreckt?“
„Ein bisschen“, gab er zu und war einfach nur erleichtert, dass es nichts Ernstes war. Er bückte sich schnell und hob sein Notepad wieder auf.
„Okay, ich denke, ich werde mir mal ein paar Gedanken machen und dann können wir uns morgen in der Mittagspause oder so mal ausführlich besprechen.“ Chet wirkte wieder völlig gefasst, wie am Anfang ihres Gesprächs. „Wäre doch gelacht, wenn wir beide es mit vereinten Kräften nicht fertig bringen würden, die Kleine aufzuspüren.“ Sie schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln.
„Einverstanden.“ Plötzlich sah Gruth gar nicht mehr so schwarz. Das hatte sie echt prima hinbekommen. Chet war schon eine Klasse für sich, das musste er zugeben. „Dann bis morgen!“ Mit diesen Worten und einem kurzen Nicken drehte er sich um und verließ ihr Quartier.
„Tschüss, Großer!“ rief sie ihm noch nach, dann hörte er hinter sich, wie ihre Tür zufuhr.
Nylla, ich glaube, dass ich dir bald wieder dicht auf den Fersen sein werde, dachte er zuversichtlich, während er in sein eigenes Quartier zurückkehrte.
Als sich die Badezimmertür wieder öffnete, blickte Alsth in die Mündung einer N-Waffe, die auf ihn gerichtet war.
„Rauskommen!“ zischte Chet eisig. „Hände über den Kopf!“
Im Vergleich zu den vergangenen Minuten wirkte sie plötzlich wie eine völlig veränderte Person. Sie hatte sich schnell eine Jeans und ein einfaches T-Shirt übergezogen und von der Verführungskünstlerin von vorhin war nichts mehr zu erkennen – sie verhielt sich nun genauso knallhart und kompromisslos wie all ihre Kollegen auf dieser Station.
Alsth hatte das meiste, was im Nebenraum vor sich gegangen war, mitgehört und so überraschte ihn Chets Verhalten nicht mehr besonders. Okay, er steckte nun zwar ganz tief in der Tinte, aber wenigstens machte er dabei kein allzu verdattertes Gesicht.
„Hinsetzen!“ schnauzte sie ihn an und winkte mit der Waffe in Richtung des Stuhls, auf dem er gerade eben schon so gemütlich gesessen hatte. Als sie ihn dieses Mal zu ihm führte, konnte die Situation gar nicht unterschiedlicher sein als vorhin.
Kaum hatte er Platz genommen, presste sie auch schon die Waffenmündung gegen seine Schläfe und legte den Finger auf den Abzug. „Okay, ich gebe dir jetzt genau fünf Sekunden Zeit, mir einen guten Grund zu liefern, dir nicht auf der Stelle das Hirn aus dem Schädel zu pusten!“
Wie hatte das alles nur so schief laufen können? Er hatte damit gerechnet, dass Gruth oder Torx ihm früher oder später auf die Schliche kommen würden. Er war ja nicht naiv. Aber eingesperrt in diesem Badezimmer war es der denkbar ungünstigste Zeitpunkt gewesen, an dem seine Maskerade hätte auffliegen können.
Noch dazu waren seine geistigen und körperlichen Kräfte immer noch nicht ganz zurückgekehrt, was wohl auch daran lag, dass dieser Minikessel auf Chets Nachttisch immer noch dampfte.
„Drei.... zwei.... eins....“, zählte sie langsam.
„Du willst mich doch gar nicht umnieten!“ schoss es aus Alsth heraus, da es das einzige war, was ihm gerade einfiel. „Du hast etwas für mich übrig, gib es zu!“
„Wie kommst du darauf, dass ich etwas für dich übrig habe?“ fragte sie spöttisch, ohne die Waffe um einen Mikrometer zu bewegen. „Weil ich Sex mit dir wollte? Glaub mir, von dieser Idee hab ich mich inzwischen längst verabschiedet.“
„Weil ich dein Typ bin“, entgegnete Alsth. „Das hast du selber gesagt!“
„Du bist ein Cop, nicht wahr? Du bist hier, um den Absturz dieses Kosmopol-Schiffs aufzuklären. Ich habe in Anbis City ein paar deiner Kollegen kennengelernt. Ich war nicht besonders beeindruckt! Du hast schon etwas mehr drauf, das muss ich zugeben. Ich bin dir die ganze Zeit ziemlich auf den Leim gegangen.“
Sie stieß einen gequälten Laut aus. „Oh Gott, ich kann nicht glauben, dass ich fast mit dir ins Bett gestiegen wäre! Und um ein Haar hätte ich dir meinen Boss ans Messer geliefert! Deswegen wolltest du doch unbedingt an diese Daten auf seinem Computer, hab ich recht?“ Sie drückte ihm die N-Waffe noch fester gegen den Kopf. „Allein für deine Dreistigkeit sollte ich dich auf der Stelle abknallen!“
„Du tust es aber nicht. Und du hast mich nicht an Gruth verraten, obwohl es deine Pflicht gewesen wäre.“ Ungeachtet seiner inneren Anspannung schaffte Alsth es, eine völlig ruhige Stimme zu behalten. „Du kannst mich gut leiden, trotz meines Berufs, gib es ruhig zu.“
„Du irrst dich“, erwiderte Chet. „Wenn ich dich Gruth und Torx ausliefern würde, würden sie dich nach allen Regeln der Kunst ausquetschen. Und dann könnten sie herausfinden, dass ich Torx‘ Computer geknackt habe und dass ich über seine großen Pläne Bescheid weiß! Das würde mich nicht nur meinen Job kosten, das kann ich dir flüstern. Und genau deswegen kann ich dich auch unmöglich weiterleben lassen!“ Ihr Finger am Abzug begann sich zu krümmen....
„I.... ich weiß, wo Nylla ist!“ platzte es aus Alsth heraus. Es war seine letzte Möglichkeit.
Chets Hand entspannte sich. Dann ließ sie ganz langsam ihre Waffe sinken. „Na, das klingt doch schon viel besser“, stellte sie höhnisch fest.
„Du hast die Bilder gesehen, du weißt, dass ich mit ihr am Raumhafen war. Ich hab sie zu einem sicheren Versteck gebracht, wo ihr sie niemals finden würdet! Nicht ohne meine Hilfe!“ erklärte er.
„Wo?“ zischte Chet ungeduldig.
„Wenn du mich laufen lässt und ich mir sicher bin, dass niemand mir folgt, übermittle ich dir ihren Standort. So und nicht anders wird es laufen!“
„Das kannst du glatt vergessen, du Mistkerl“, erwiderte sie. „Entweder du sagst es mir auf der Stelle, oder dein Leben endet hier. Irgendwann werden wir sie auch ohne deine Hilfe finden.“
Doch Alsth blieb hartnäckig. „Vergiss es! Nyllas Aufenthaltsort gegen mein Ticket hier raus – so und nicht anders wird es laufen!“
„Falls du es noch nicht gemerkt hast: Du bist gerade in einer etwas ungünstigen Position, um solche kühnen Forderungen zu stellen. Ich denke, du bist hier völlig auf dich allein gestellt und ohne meine Hilfe würdest du niemals lebend von dieser Station kommen. Und das heißt: Ich habe hier die Oberhand, mein Freund!“
Da hatte sie leider recht. Doch selbst wenn er Nyllas Aufenthaltsort jetzt verraten würde, was er ohnehin niemals tun würde, würde sie ihn danach doch umlegen. Ihr blieb eigentlich gar nichts anderes übrig, das war klar. Und Alsth konnte jetzt nur noch bluffen....
„Wenn du denkst, dass die Polizei einen ihrer Leute einfach so im Alleingang ins feindliche Hauptquartier schickt, dann hast du dich aber gewaltig geschnitten“, sagte er zuversichtlich. „Ein komplettes Einsatzteam befindet sich ganz in der Nähe und wartet nur auf ein Zeichen. Sobald die merken, dass etwas nicht stimmt, werden sie in Null Komma Nichts diese ganze Station auseinandernehmen! Wenn du also noch heil aus dieser Sache rauskommen willst, solltest du mich auf der Stelle laufen lassen und dann so schnell wie möglich selbst hier verschwinden.“
„Du bist ein dreckiger Lügner!“ fauchte sie ihn an und hob wieder ihre Waffe.
„Wenn du mir nicht glaubst, bitte! Erschieß mich! In wenigen Minuten wirst du dich in einem Gefangenentransporter befinden, zusammen mit all deinen Kollegen, auf dem Weg in das sicherste Kosmopol-Gefängnis auf Borla! Ich wünsche dir dort eine gute Zeit!“
„Es reicht!“ schrie sie aufgebracht. „Ich hab genug von deinem dummen Geschwätz! Sag mir auf der Stelle, wo Nylla ist, oder du bist tot!“ Trotz ihrer Rage blieb ihre Waffe ganz ruhig auf seinen Kopf gerichtet....
Okay, das ist jetzt wohl nach hinten los gegangen, dachte er wie gelähmt. Er schloss die Augen....
Plötzlich erklang von weit weg ein dumpfer Schlag und eine Erschütterung ging durch die Station. Nur einen Moment später begann ein lauter Alarm zu heulen. Als Alsth die Augen wieder öffnete, sah er, dass Chet verwirrt in die Luft blickte.
Nach einigen Sekunden gab es einen weiteren Schlag und eine etwas stärkere Erschütterung. Dann hörten sie von irgendwoher Motorengeräusche, gefolgt von lauten, regelmäßigen Entladungen. Anscheinend war das Abwehrsystem der Station aktiviert worden.
Was zum Teufel geht denn jetzt ab? schoss es Alsth durch den Kopf und es war überdeutlich, dass Chet gerade genau dasselbe dachte.
Sie mussten nicht mehr lange auf eine Erklärung warten, denn kurz darauf erklang Gruths aufgeregte Stimme durch die Station:
„Achtung, Achtung, an alle! Nehmt sofort eine stabile Position ein! Sicherheit auf ihren Posten! Die Station wird angegriffen! Ich wiederhole: Die Station wird angegriffen!“
Episode 10: Ellis Island
Obwohl Vlorah schon völlig außer Atem war, biss sie die Zähne zusammen und rannte, so schnell sie konnte, auf das Shuttle zu, das gerade auf dem großen, freien Platz in der Mitte des Anwesens landete.
Fast wäre ihr durch den Gegenwind die kleine, schwarze Scherbe, die sie mit sich trug, aus der Hand geweht worden, aber sie konnte noch im letzten Moment reagieren und fester zupacken. Wenn sie dieses Ding verlor, wäre alles umsonst gewesen!
Sie erreichte das Shuttle gerade in dem Moment, in dem die Tür sich öffnete. Heraus sprang ein sehr schlanker, hochgewachsener Mann, der die typische schwarze Uniform eines Einsatzleiters der Polizei von Anbis City trug. Sofort, als er sie sah, zückte er seine Waffe und richtete sie auf die Kosmopol-Agentin.
„Agent Vlorah?“ rief der Mann mit einer befehlsgewohnten Stimme.
„Sie.... Kommissar Kheilo....“, brachte sie außer Atem hervor und zeigte aufgeregt hinter sich. „Sie müssen.... ihn sofort in ein Krankenhaus bringen!“
„Eins nach dem anderen, Agent. Als erstes muss ich Sie bitten, mir Ihre Waffe auszuhändigen.“
„Sie verstehen nicht! Er..... er ist mit einem starken, tödlichen Gift in Kontakt gekommen! Er muss auf der Stelle behandelt werden, sonst stirbt er!“
Der Mann überlegte eine Sekunde, dann streckte er den Arm nach hinten zur Shuttletür aus und winkte mit zwei Fingern. Sofort kamen zwei mit gelben Sanitäterwesten bekleidete Personen aus dem Shuttle gesprungen, die eine Antigravliege zwischen sich hertrugen. Sie rannten auf die reglose Gestalt zu, die etwa fünfzig Meter hinter Vlorah im Gras lag. Ihnen folgten drei weitere schwarz gekleidete Einsatzkräfte und stürmten auf die Villa zu.
„Darum kümmern sich meine Männer“, erklärte der Einsatzleiter ruhig. „Sie kennen doch sicherlich die allgemeine Vorgehensweise, Agent. Bitte tun Sie jetzt, was ich gesagt habe.“
„Ich habe meine Waffe nicht mehr“, erwiderte Vlorah und hob die Hände.
„Und was halten Sie da in der Hand?“
„Das ist ein sehr wichtiges Beweisstück!“ Ungeduldig hielt sie ihm für einen Moment die Scherbe vor die Nase „Das werde ich auf gar keinen Fall aus der Hand geben! Meine Waffe habe ich verloren. Sie können mich gerne durchsuchen, wenn Sie mir nicht glauben!“
Während der Einsatzleiter ihrem Vorschlag nachkam, blickte sich Vlorah besorgt um und sah, wie die beiden Sanitäter Kheilo auf die Liege legten und die Antigravitation einschalteten. Dann schubste einer der beiden die Liege an und eilte damit auf das zweite Shuttle zu, das gerade im Begriff war zu landen, während der andere den Einsatzkräften zur Villa folgte.
„Also gut“, sagte der Einsatzleiter. „Steigen Sie jetzt bitte ein!“
„Aber.... der Kommissar....“
„Ich bin sicher, meine Leute werden alles tun, was sie können. Sie helfen ihm am besten, wenn Sie jetzt einfach einsteigen und keine Probleme mehr machen!“
„Das gefällt mir nicht....“, murrte sie, drehte sich aber doch um und bestieg das Shuttle.
Der Einsatzleiter folgte ihr und schloss die Tür. „Wenn ich das sagen darf, Agent Vlorah“, erwiderte er emotionslos. „Das hätten Sie sich überlegen sollen, bevor Sie hier eingebrochen sind....“
Vlorah wurde in einen kargen Verhörraum in der Polizeizentrale gebracht und dort allein gelassen. Die anschließende Warterei kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Es gab keine Uhr in dem Raum und ihre elektronischen Geräte hatte man ihr abgenommen, deswegen hatte sie keine Ahnung, wie viel Zeit tatsächlich verstrich. Doch es nagte zunehmend an ihren Nerven. Hatte man sie in diesem Verhörraum einfach vergessen?
Irgendwann verlor sie die Geduld und klopfte gegen die verschlossene Tür. „Hallo?“ rief sie. „Könnte ich vielleicht mit irgendjemandem sprechen?“
Nichts passierte. Erst als Vlorah ein zweites Mal gegen die Tür hämmerte und noch lauter rief, öffnete sich die Tür schließlich und eine Wache in Polizeiuniform sah herein. Sie hatte eine R-Waffe in der Hand.
„Bitte treten Sie von der Tür weg“, befahl sie barsch. Hinter ihr entdeckte Vlorah noch eine zweite Wache, die auch ihre Waffe in der Hand hielt.
Vlorah wich schnell ein paar Schritte zurück. „Ich muss dringend mit einem Verantwortlichen sprechen! Es ist wirklich sehr wichtig....“
„Es wird in Kürze jemand hier sein, der Sie vernimmt. Bitte haben Sie noch etwas Geduld.“
„Wissen Sie, wie es Kommissar Kheilo geht?“
„Das weiß ich leider nicht, tut mir leid.“
„Und diese schwarze Scherbe, die ich Ihnen gegeben habe? Haben Sie sie zur Spurensicherung gebracht? Wurde sie schon untersucht?“
„Ich bin sicher, das klärt sich alles, wenn Ihre Aussage aufgenommen wird. Bitte bewahren Sie jetzt Ruhe.“
Daraufhin schloss die Wache die Tür einfach wieder.
Vlorah schnaubte. Wütend starrte sie noch eine Weile auf die Tür, dann nahm sie wieder auf einem der beiden Stühle Platz, die an dem kleinen Verhörtisch standen.
Diese Ungewissheit machte sie schier wahnsinnig! Falls Kommissar Kheilo tatsächlich ums Leben gekommen sein sollte, wusste Vlorah nicht, ob sie sich das jemals verzeihen konnte. Vor allem weil Kheilo doch von Anfang an gegen diese Operation gewesen war.
Vlorah erinnerte sich noch sehr gut an den Streit, den sie heute Mittag deswegen hatten....
„Ich kann nicht glauben, dass Sie mir allen Ernstes so einen hirnrissigen Vorschlag machen“, sagte Kheilo. Seine Stimme war relativ ruhig, doch an der Zornesröte in seinem Gesicht konnte Vlorah seine Verärgerung erkennen. „Ausgerechnet Sie, die ach so korrekte und vorschriftsmäßige Kosmopol-Agentin!“
Sie saßen wieder zusammen in Kheilos und Alsths Büro, in dem sich Vlorah in den letzten Tagen gut eingelebt hatte. Die Zusammenarbeit mit Kheilo war erstaunlich reibungslos verlaufen, wenn man die Umstände bedachte. Zumindest bis jetzt....
„Gerade dieser scheinbare Widerspruch sollte Sie doch eigentlich neugierig machen“, erwiderte Vlorah ruhig. Sie nahm an, dass sie am einfachsten zu Kheilo durchkommen würde, wenn sie absolut sachlich und zuversichtlich blieb. „Warum hören Sie sich meinen Vorschlag nicht erst einmal bis zu Ende an? Wenn Sie den gesamten Kontext verstehen....“
„Was gibt es denn da noch groß zu verstehen? Sie wollen in das Haus eines bekannten Politikers einbrechen, seine Privatsphäre verletzen und sein Eigentum stehlen! Wissen Sie eigentlich, gegen wie viele grundlegende Regeln unseres Berufs das verstößt? Das ist, als würde ein Arzt seine Patienten mit irgendwelchen Viren infizieren oder ein Psychiater die Mitschnitte seiner Sprechstunden im Komnetz veröffentlichen! Wie viel Perspektive muss man verlieren, um in Ihrer Position auch nur an so etwas zu denken!?“
Kheilo steigerte sich immer weiter in seine Empörung hinein. Irgendwie musste Vlorah ihn auf andere Gedanken bringen.
„Darf ich Ihnen vielleicht erläutern, was meiner Einschätzung nach in den nächsten zwei, drei Wochen in diesem Sonnensystem passieren wird?“ probierte sie es.
„Denken Sie etwa, ich weiß das nicht?“
„Doch, ich denke sogar, Sie wissen es noch besser als ich. Anbis City ist Ihr Revier, kaum jemand kennt sich hier besser aus. Sie wissen, wenn während der Impulspause Ihre Energieversorgung in feindliche Hand gerät, wird dem Stadtrat nichts anderes übrig bleiben, als Torx und Ellister die Kontrolle über Anbis City zu übergeben. Die beiden werden diese Stadt dann nach ihren Vorstellungen ausbeuten, ohne Rücksicht auf Verluste.“
„Und das gilt es zu verhindern.“ Kheilo hatte die Arme verschränkt – eine unbewusste Abwehrhaltung. „Das ist mir schon klar, aber....“
„Moment, warten Sie! Damit ist es noch gar nicht getan! Denn die Regierung auf Borla wird es sich nicht so einfach gefallen lassen, dass sich das Anbis-System von ihnen abspaltet. Sie werden in den nächsten Tagen die Raumflotte hierher schicken, um Anbis City zurückzuerobern. Man wird Torx und Ellister als Terroristen einstufen und auf keine ihre Forderungen eingehen. Sehr wahrscheinlich wird man es sogar darauf ankommen lassen, dass die Energieversorgung ausfällt. Das würde das gesamte Anbis-System ins völlige Chaos stürzen. Die Folgen wären Versorgungsprobleme, Plünderungen, Straßenkämpfe – vielleicht sogar ein ausgewachsener Bürgerkrieg!“
„Also, jetzt übertreiben Sie aber so langsam....“
„Nein, verstehen Sie mich nicht falsch. Nach einigen Wochen wird Borla hier wieder die Kontrolle haben, da bin ich mir vollkommen sicher. Auf lange Sicht haben Torx und Ellister selbst mit vereinten Kräften keine Chance. Aber bis dahin werden Hunderte, vielleicht Tausende Menschen tot sein und es wird Jahre dauern, bis diese Stadt sich davon wieder erholt. Wenn sie sich überhaupt je wieder erholen wird.“
Kheilo machte schmale Lippen und funkelte Vlorah eine ganze Weile lang nur stumm an. Dann sagte er: „Denken Sie, ich will nicht auch um jeden Preis verhindern, dass dieses Horrorszenario wahr wird?“
„Doch, das zweifle ich gar nicht an. Glauben Sie mir, ich verstehe Ihren Standpunkt gut. Sie denken, dass es einen anderen Weg geben muss. Sie wollen nicht die Gesetze brechen, um sie zu schützen. Das ist eine sehr richtige und lobenswerte Einstellung. Sie sind nur noch nicht so weit, um zu erkennen, dass wir so nicht mehr weiterkommen.“
„Vor allem hoffe ich immer noch auf Alsth. Wenn er Torx’ Plan vereiteln kann.... oder wenn er auf dieser Raumstation irgendwelche unumstößlichen Beweise für Ellisters Beteiligung findet....“
„.... dann bin ich genauso erleichtert wie Sie. Nur leider hat sich Ihr Partner seit seinem Abflug nicht mehr gemeldet. Was bedeutet, dass er bis jetzt nicht erfolgreich war. Er könnte kurz davor sein, die Beweise zu beschaffen, während wir hier sprechen. Er könnte aber genauso gut von Torx entlarvt worden sein und Sie wissen, was dann mit ihm passieren würde.“
„Wir sollten wirklich nicht vom Schlimmsten ausgehen....“
„Ganz im Gegenteil, Kommissar. Genau das sollten wir. Es ist geradezu unsere berufliche Pflicht.“
„Also schön.“ Kheilo lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Gehen wir doch mal vom Schlimmsten aus: Angenommen die einzigen beiden Menschen in dieser Stadt, die genug über diese Verschwörung wissen, um sie noch rechtzeitig verhindern zu können, werden bei einem Einbruch ins Haus eines Politikers ertappt. Wir landen hinter Gittern und werden von der Öffentlichkeit zerfleischt. Und dann werden wir auch nicht mehr dabei helfen können, dieses System zu schützen, wenn hier alles drunter und drüber geht.“
Doch Vlorah zeigte Kheilo nur eine trotzige Miene. „Wenn das Anbis-System tatsächlich von zwei Verbrechern übernommen wird, werden wir beide so oder so nicht mehr viel ausrichten können. Lieber versuche ich alles Menschenmögliche, um diese Katastrophe zu verhindern, anstatt damit leben zu müssen, dass ich sie vielleicht hätte aufhalten können.“
Kheilo seufzte. „Na gut, sagen wir einmal hypothetisch, wir ziehen das wirklich durch. Wir versuchen in Ellisters Anwesen einzubrechen, um Beweise gegen ihn zu beschaffen.“ Er stieß einen tonlosen Lacher aus. „Ehrlich gesagt: Wir würden nicht weit kommen. Es würde mich wundern, wenn wir überhaupt aufs Grundstück kämen – und selbst wenn, wären wir wahrscheinlich in fünf Sekunden von Secus umstellt.“
Mit diesem Einwand hatte Vlorah gerechnet. Sie hatte sich bereits ein bisschen über das Privatdomizil von Ellister informiert und wusste daher, dass es nicht einfach werden würde. Doch sie hatte schon einen Plan: „Ich bin anderer Meinung, Kommissar. Ich glaube, es könnte uns gelingen, innerhalb von zehn Minuten unbemerkt hinein und wieder heraus zu kommen.“
Kheilo schüttelte nur den Kopf. „Wissen Sie, wie Ellisters Anwesen in den Medien scherzhaft genannt wird?“
„Ich habe es gelesen. Sehr geistreich....“
„Ellis Island! So wird es genannt! Weil es für seine Abgeschiedenheit vom Rest der Stadt und die umständlichen Sicherheitsvorkehrungen berüchtigt ist. Und Sie glauben wirklich, wir beide könnten die knacken, ohne dass man uns bemerkt?“
Vlorah lächelte zuversichtlich. „Wir beide vielleicht nicht – aber ein neuer Verbündeter von uns womöglich schon....“
Kheilo senkte verwirrt die Augenbrauen. „Wovon reden Sie jetzt schon wieder?“
„Sie selbst haben mich auf diese Idee gebracht, als wir noch bei Ratsherrn Riggar zu Hause waren.“
„Riggar?“ Jetzt hatte Kheilo es begriffen. „So hatte ich das aber nicht gemeint....“
„Ratsherr Riggar ist der größte Konkurrent von Ellister, nicht nur im Stadtrat. Er hat auch jede Menge Einfluss in ganz Anbis City. Und vielleicht kann er uns auch bei unserem kleinen Einbruch helfen. Ich hätte da schon eine passende Idee....“
Kheilo presste die Lippen zusammen und starrte seinen Schreibtisch an. Als er schließlich wieder aufblickte, wirkte er plötzlich um zehn Jahre älter. „Also gut. Schießen Sie los....“
Ein großer Teil von Vlorah wünschte sich, sie hätte die ganze Idee in diesem Moment einfach verworfen. Dann würde sie jetzt nicht hier in diesem Verhörraum versauern und Kheilo wäre vielleicht nicht....
Die Zeit zog sich weiterhin quälend dahin, während Vlorah nichts anderes übrig blieb als zu warten. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es schon war – aber draußen hinter dem kleinen, vergitterten Fenster war es inzwischen schon stockdunkel geworden. Das verriet Vlorah, dass die Wartezeit ihr nicht nur so lang vorkam – sondern tatsächlich bereits mehrere Stunden verstrichen sein mussten.
Ihre Gedanken schweiften wieder ab zum heutigen Nachmittag, als sie diesen verhängnisvollen Plan geschmiedet hatten. Nachdem es Vlorah gelungen war, Kheilo wenn schon nicht vollends zu überzeugen, dann wenigstens zum Mitmachen zu bewegen, war es an der Zeit gewesen, ihren dritten Mitverschwörer in alles einzuweihen.
Dazu waren sie wieder zusammen zur Villa von Ratsherrn Riggar gefahren....
Die Villa wirkte wie ausgestorben, als Vlorah und Kheilo sie zum zweiten Mal am heutigen Tag betraten. Die meisten Sicherheitsleute und das Team der Spurensicherung waren bereits wieder abgezogen, Riggars Familie war in einem Hotel untergekommen und nur noch er selbst und zwei seiner Leibwächter waren in dem Haus geblieben.
Riggar führte sie auch direkt wieder in sein Arbeitszimmer im Seitenflügel, wo erneut alle an seinem Schreibtisch Platz nahmen.
„Wäre es nicht sicherer für Sie, wenn Sie ebenfalls für eine Weile ausziehen würden?“ wollte Kheilo wissen.
„Das hat mein Sicherheitschef auch gemeint“, brummte Riggar. „Aber.... ich kann hier nicht weg. Nach diesem schrecklichen Vormittag brauche ich einfach etwas Zeit für mich – und ich brauche diese vier Wände hier, um alles verarbeiten können.“
Für eine Weile starrte Riggar nur nachdenklich in die Luft. Doch dann setzte er sich ganz aufrecht hin und sah erwartungsvoll zwischen den beiden Ermittlern hin und her.
„Also? Warum sind Sie beide wieder hergekommen? Irgendwie glaube ich nicht, dass es Ihnen um weitere Details zu Martas Ermordung geht. Ihre Kollegen waren da schließlich schon sehr, sehr ausführlich.“
Vlorah und Kheilo warfen sich einen kurzen Blick zu. Kheilo machte dabei eine herausfordernde Kopfbewegung, nach dem Motto: Es ist Ihr Plan – erklären Sie es ihm!
„Na schön“, begann sie daher. „Als wir beide heute Morgen hier waren, konnten wir Ihnen noch nicht verraten, warum wir gegen Stadtratsmitglieder ermitteln. Das hat sich nun geändert. Die Wahrheit ist: Wir haben Grund zur Annahme, dass ein Ratsmitglied schon bald die Alleinherrschaft über das Anbis-System an sich reißen will.“
Riggars Augenbrauen schossen nach oben. „Nicht Ihr Ernst!“
„Leider doch“, entgegnete Vlorah. „Und Sie waren einer unserer beiden Hauptverdächtigen, weil Sie nach unseren Informationen den größten Einfluss im Stadtrat haben. Nach dem versuchten Mordanschlag auf Sie bleibt jetzt nur noch ein Verdächtiger übrig – nämlich Ihr größter Konkurrent im Rat....“
„Ellister“, sagte Riggar sofort.
Eine Sekunde später schoss er in seinem Stuhl nach vorne.
„Warten Sie mal!“ entfuhr es ihm. „Soll das heißen, dass Ellister für diesen Anschlag verantwortlich ist? Er hat Marta auf dem Gewissen!?“
„Im Moment sind das nur Mutmaßungen“, mischte Kheilo sich sofort ein. „Wir haben keinerlei Beweise. Und ehrlich gesagt.... ist genau das der Grund, warum wir Sie erneut sprechen wollten....“
Bisher war Riggars Aufmerksamkeit während des Gesprächs immer wieder abgedriftet, aber nun war er voll bei der Sache: „Aber das ist nicht nur so eine Spinnerei von Ihnen beiden. Sie haben doch einen ganz konkreten Tatverdacht gegen Ellister! So ist es doch!“ Riggar pustete einmal kräftig durch. „Dieser.... verfluchte.... Hurensohn!!“
„Wir werden Ellister des Mordes überführen, Ratsherr“, sagte Vlorah sofort energisch. „Und wir werden seine Machtergreifungspläne stoppen! Und Sie können uns dabei helfen!“
„Wenn Sie einverstanden sind“, fügte Kheilo schnell hinzu, wobei er Vlorah vielsagend ansah. „Es ist allein Ihre Entscheidung, ob Sie daran beteiligt sein wollen. Die Sache ist nämlich.... nicht ganz lupenrein....“
„Richtig, aber es geht um die Sicherheit des ganzen Systems und....“
„Lassen Sie den Ratsherrn doch erst einmal alles anhören und dann können wir....“
Riggar hob eine Hand. „Moment!“
Kheilo und Vlorah hielten inne. Wieder wechselte Riggars Blick zwischen ihnen hin und her – doch diesmal stand etwas anderes in seinen Augen. Eine gewisse Entschlossenheit.
„Er hat unsere Marta auf dem Gewissen“, sagte er dann mit deutlichem Zorn in der Stimme. „Sie war die reinste Seele in dieser verfluchten Stadt und jetzt ist sie tot. Und er hat sie umgebracht. Völlig egal, wie ich Ihnen beiden helfen kann, um diesen Mistkerl dranzukriegen – ich werde es tun! Sagen Sie mir einfach nur, was ich für Sie tun kann!“
Vlorah warf einen fragenden Blick zu Kheilo. Sind Sie jetzt zufrieden?
Kheilo seufzte resignierend. Und deutete Vlorah an fortzufahren.
Also wandte sie sich wieder an Riggar: „Was wissen Sie über Ellis Island?“
Riggar knurrte grimmig. „Der Wohnsitz meines.... werten Kollegen. Die Medien nennen ihn die sicherste Einrichtung in der ganzen Stadt – noch vor sämtlichen Banken und Serverfarmen. Angeblich ist Ellis Island vollkommen einbruchssicher.“
„Richtig. So heißt es.“ Vlorah zuckte mit keiner Wimper. „Wir haben vor, dort einzubrechen.“
Riggars Blick darauf war ziemlich unbezahlbar. „Ich schätze.... ich verstehe jetzt, warum Sie jede erdenkliche Hilfe brauchen“, bemerkte er trocken. „Und wie wollen Sie das anstellen.“
„Wie Sie gerade schon sagten, ist Ellis Island ein großes Thema in den Medien“, erklärte Vlorah. „Es war daher nicht schwer für mich, zu recherchieren, wie die Sicherheitssysteme in etwa aussehen. Die Presse war da über die Jahre sehr detailreich und hatte offenbar gute Quellen.“
„Und Sie meinen, einen Weg entdeckt zu haben?“
Vlorah nickte. „Der schwierigste Teil ist, unbemerkt ins Gebäude rein zu kommen. Das Außenareal ist nur so mit Kameras, Bewegungsmeldern und Sensoren aller Art gepflastert. Das zahlreiche Sicherheitspersonal konzentriert sich auch überwiegend auf die Grundstücksgrenzen.“
„Sie wollen also sagen, wenn man erst einmal im Inneren ist, hat man leichtes Spiel?“
„Es ist immer noch ein Wohnhaus“, betonte Kheilo. „Ellisters Familie und Angestellten leben dort, deswegen kann nicht jedes Mal ein Alarm losgehen, wenn jemand seinen großen Zeh ausstreckt. Wir gehen davon aus, dass wir uns im Inneren relativ leicht unbemerkt bewegen könnten, wenn wir uns nicht vollkommen dämlich anstellen.“
„Zumindest tagsüber“, fügte Vlorah hinzu. „Nachts ist das Sicherheitssystem auch drinnen unausweichlich – deswegen müssten wir es wohl oder übel am Tag versuchen, wenn alle im Haus noch wach sind.“
„Trotzdem müssen Sie immer noch erst einmal rein kommen“, wiederholte Riggar. „Wie wollen Sie das anstellen? Und vor allem: Wie kann ich dabei behilflich sein?“
Vlorah lächelte. „Ellis Island ist tatsächlich von allen Seiten perfekt geschützt. Von allen Seiten – aber nicht von unten.“
Riggar lehnte sich zurück. „Ich hoffe, Sie erzählen mir jetzt nicht, dass Sie einen Tunnel graben wollen.“
„Nein. Aber das Anwesen hat einen eigenen Zugang zur Metro, wie die meisten öffentlichen Gebäude der Stadt einen haben. Mit dem kleinen Unterschied, dass man Ellis Island nur erreicht, wenn man die richtigen Codes kennt, um die Tore zu öffnen, den Alarm abzuschalten und mit seiner Kabine den Durchgang zu passieren. Natürlich kennen wir diese Codes nicht. Das heißt: Noch nicht....“
„Ich glaube, ich ahne schon, worauf das hinaus läuft....“
„Es ist mir gelungen herauszufinden, welche Firma Ellister mit diesem privaten Metrozugang ausgestattet und auch die Sicherheitssysteme installiert hat. Und zufällig sind Sie ein Teilhaber dieser Firma. Wenn Sie also Ihre Beziehungen spielen lassen würden....“
„.... könnte ich Ihnen vielleicht eine Hintertür zu diesem Sicherheitssystem öffnen“, beendete Riggar den Satz.
„Und schon wären wir im Untergeschoss von Ellis Island – und damit im Inneren des Gebäudes“, schlussfolgerte Kheilo. „Dann müssten wir nur noch in Ellisters Bürotrakt an einen Computer gelangen, ohne dass man uns entdeckt. Und mit etwas Glück finden wir dort Beweise für seine Übernahmepläne – oder für den Anschlag auf Sie. Eins von beidem würde uns schon reichen.“
„Ich muss schon sagen, dass klingt tatsächlich sehr vielversprechend“, meinte Riggar. „Ich fange sofort damit an, ein paar Komgespräche zu führen....“
Vlorah wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sich plötzlich die Tür zu ihrem Verhörraum auftat. Die beiden Wachleute traten ein, wieder mit ihren Waffen in den Händen.
„Agent Vlorah, bitte folgen Sie uns. Die Direktorin möchte Sie sehen!“
„Na endlich!“ Vlorah sprang sofort auf.
Die Wachen führten sie zum Fahrstuhl und wählten das oberste Stockwerk. Nach einer kurzen Fahrt stiegen sie aus und gingen hinüber zum Büro der Polizeidirektorin.
Diese stand an der Glaswand hinter ihrem Schreibtisch und beobachtete die Lichter der nächtlichen Skyline von Anbis City. Sie drehte sich um, als Vlorah und die beiden Wachen herein kamen. Ihre Augen bohrten sich in die Kosmopol-Agentin – so als ob sie allein in ihrem Gesichtsausdruck eine Erklärung dafür zu finden versuchte, was da vor wenigen Stunden passiert war.
„Wie geht es Kommissar Kheilo?“ fragte Vlorah sofort. „Ist er....“
Die Direktorin unterbrach sie: „Einen Moment, Agent Vlorah!“ Dann wandte sie sich an die beiden Wachen: „Sie können auf Ihren Posten zurückkehren. Die Gefangene wird keine Probleme machen. Ich lasse Sie rufen, wenn das Gespräch zu Ende ist – und das kann wohl eine Weile dauern....“
Die Wachleute nickten und verließen zügig das Büro.
„Bitte, ich muss es wissen!“ drängte Vlorah, als die Tür hinter ihr zugefallen war. „Hat man dem Kommissar noch rechtzeitig helfen können? Falls er nicht überlebt haben sollte....“
„Es tut mir leid, ich weiß leider selbst nicht, wie es Kommissar Kheilo geht“, erwiderte die Direktorin. „Ich war bisher zu sehr mit dem restlichen Schlamassel beschäftigt, den Sie.... angerichtet haben.“ Der anklagende Tonfall in ihrer Stimme war deutlich herauszuhören. „Aber ich werde nach unserem Gespräch sofort im Krankenhaus nachfragen. Nehmen Sie doch erst einmal Platz!“
Die Direktorin wies auf die Stühle vor ihrem Schreibtisch. Vlorah starrte sie noch ein paar Sekunden unwillig an, seufzte dann aber und ließ sich auf einen davon niedersinken.
„Sie sollten wissen, dass Ellisters Büro schon angekündigt hat, uns verklagen zu wollen“, sagte die Direktorin streng. „Die Presse hat auch schon Wind davon bekommen, dass irgendwas passiert ist. Bisher konnten wir sie noch abwimmeln, aber das wird nicht mehr lange so bleiben. Gerade eben hat der Bürgermeister höchstpersönlich bei mir angerufen – und war gelinde gesagt fuchsteufelswild.“
„Es tut mir wirklich leid, dass ich Ihnen solche Unannehmlichkeiten bereitet habe. Es war sicherlich ein radikaler Schritt und....“
„Was um Himmels Willen haben Sie sich nur dabei gedacht?“ fuhr die Direktorin dazwischen. „Ins Anwesen eines Stadtratsmitglieds einzubrechen – dort so ein Chaos zu verursachen! Ist das etwa ein übliches Vorgehen bei der Kosmopol?“ Sie konnte nur den Kopf schütteln. „Und dass Kommissar Kheilo da mitgemacht hat, wundert mich noch mehr. Ausgerechnet er, der besonnenste Ermittler, den ich kenne. Wie um alles in der Welt konnten Sie ihn nur dazu überreden?“
„Frau Direktorin, bei allem Respekt – Sie wissen, was auf dem Spiel steht. Sie kennen alle Details unserer Ermittlungen. Ich wusste genau, was ich tat – und Kommissar Kheilo ebenso.“
Die Direktorin seufzte. „Ich nehme an, Ellister ist der, den Sie die letzten Tage gesucht haben. Der Mitverschwörer dieses Schmugglerbosses. Deswegen sind Sie in sein Haus eingedrungen, wahrscheinlich um Beweise gegen ihn zu finden. Liege ich da ungefähr richtig?“
„Völlig richtig.“ Vlorah nickte.
„Und?“ Die Direktorin machte eine erwartungsvolle Geste. „Haben Sie diese Beweise wenigstens gefunden?“
Vlorah druckste herum.
„Ich warte?“ Die Direktorin tippte sich demonstrativ aufs Handgelenk.
„Möglicherweise“, sagte Vlorah dann.
Die Direktorin kniff die Augen zusammen. „Möglicherweise? Was soll das denn bitte heißen?“
„Bitte, Frau Direktorin, wenn ich das alles von Anfang an und der Reihe nach erklären darf, werden Sie sicherlich verstehen, was ich meine. Unser.... Einbruch lief.... nun ja.... nicht annähernd so wie erwartet....“
Eine Weile sah die Direktorin sie nur prüfend an. Dann ließ sie sich resignierend in ihren Stuhl sinken. „Also schön, Agent Vlorah. Berichten Sie doch mal: Was ist da heute Abend in Ellisters Anwesen gelaufen?“
Vlorah gönnte sich einen Moment, um ihre Gedanken zu ordnen. Dann begann sie zu berichten....
„Der Code funktioniert“, stellte Vlorah erfreut fest.
Durch die Frontscheibe der Metrokabine konnten die beiden Ermittler erkennen, wie sich das massive Stahltor vor ihnen aufschob. Es machte den Blick auf einen engen, dunklen Tunnel frei, der nach ein paar Metern in völliger Schwärze endete.
Kurz darauf setzte sich die Kabine wieder in Bewegung und ruckelte langsam durch die gerade entstandene Öffnung in die Dunkelheit hinein. Sie befanden sich nun schon ein Stück außerhalb des öffentlichen Metronetzes der Stadt und offenbar lief der Magnettransport hier nicht ganz so reibungslos, deswegen bewegte sich die Kabine sehr ungleichmäßig voran.
Nach kurzer Fahrtstrecke kam wieder ein Tor in Sicht, das ziemlich genau so wie das letzte aussah.
„Okay, Nummer zwei.“ Kheilo hielt Vlorah sein Notepad hin und sie gab den zweiten Code ins Eingabefeld der Metrokabine ein.
Auch dieser Code zeigte sofort Wirkung – und diesmal kam ihnen nicht weitere Dunkelheit durch das geöffnete Tor entgegen, sondern ein kaltes, blaues Licht: Sie hatten den unterirdischen Bereich von Ellis Island erreicht.
Die Kabine ruckelte in einen Raum hinein, der ein bisschen wie eine kleine Tiefgarage aussah. Die Magnettrasse führte sie an drei weiteren abgestellten Metrokabinen vorbei zum nächsten freien Abstellplatz, wo sie schließlich stehen blieben.
„Also, da wären wir“, stellte Kheilo fest. Er versuchte locker zu klingen, aber Vlorah hörte ihm die Anspannung deutlich an.
Wenn in den nächsten Minuten irgendetwas schief ging, steckten sie beide in ganz ernsthaften Schwierigkeiten....
Nachdem sie ein paar Sekunden lang nur dagesessen und genau diesen Gedanken mit einem bedeutungsvollen Blick geteilt hatten, öffnete Kheilo schließlich eine der Kabinentüren und sie stiegen nach draußen.
Es war ziemlich kalt hier unten und roch ein bisschen nach Kalk oder etwas in der Art. Von irgendwoher klang leises Wassertröpfeln an ihr Ohr, ansonsten war es absolut still.
Nachdem Vlorah die Kabinentür hinter sich so leise wie möglich wieder zugeschoben hatte, deutete ihr Kheilo mit einem Nicken an, vorzugehen.
In den letzten Tagen ihrer Zusammenarbeit hatte Vlorah schnell herausgefunden, dass der Kommissar sich mit Waffen nicht sehr wohl fühlte. Es baumelte zwar eine Betäubungspistole an seinem Gürtel, aber er zog sie nicht, sondern überließ es Vlorah, die Vorhut zu übernehmen. Genau wie sie trug er eines der typischen schwarzen Einsatz-Outfits der Polizei von Anbis City inklusive Ausrüstungsgürtel, Kappe und Handschuhen, die sie aus dem Ausrüstungslager hatten mitgehen lassen – allerdings nicht ohne vorher sämtliche offiziellen Abzeichen abzuziehen.
Vlorah übernahm also die Führung mit gezogener R-Waffe, während Kheilo dicht hinter ihr blieb.
Die Metro-Garage endete in einer engen, grauen Treppe, die einen Bogen machte und nach oben führte. Sie hatte kein Geländer, also hielten sich Vlorah und Kheilo an den kalten Seitenwänden fest, während sie vorsichtig nach oben schlichen.
Sie gelangten auf diese Weise in den eigentlichen Keller des Anwesens. Noch bevor sie das Ende der Treppe erreicht hatten, klickte ein Bewegungsmelder und ließ eine Reihe von bläulich leuchtenden Lampen angehen, die einen langen Gang erhellten. Vlorah konnte nur hoffen, dass sie dadurch jetzt niemanden alarmiert hatten, der vielleicht irgendwo im Keller herumlief und sich nun wunderte, warum plötzlich die ganzen Lampen angegangen waren.
Aber immer noch war außer dem langsamen Wassertröpfeln und Kheilos leisem Atem hinter ihr nichts zu hören.
An den Seiten des langen Gangs waren eine Menge Türen, von denen die meisten geschlossen waren. Nur auf der rechten Seite standen zwei offen, die erste ein paar Schritte von Vlorah entfernt, die andere fast am Ende des Gangs. Daher kam offenbar das Tröpfeln.
Ganz hinten mündete der Gang in einer weiteren Treppe, die deutlich breiter war und mit einem dunkelroten Teppich belegt war. Von oberhalb der Treppe drang helles Tageslicht in den Gang.
Vlorah ging auf die erste offene Tür zu und spähte vorsichtig hinein. Mehrere Reinigungsroboter standen deaktiviert in der Mitte des Zimmers. Auf Regalen waren Werkzeuge und Kanister mit Reinigungsmitteln aufgereiht. Sonst war der Raum leer. Also gab Vlorah Kheilo ein Zeichen, dass die Luft rein war, und schlich weiter.
Kurz bevor sie den langen Gang passiert hatten, mussten sie auch an der zweiten offenen Tür vorbei. Genau wie vorher spähte Vlorah hinein und genau wie vorher war der Raum verlassen. Es war offenbar eine Waschküche, die im Moment aber außer Betrieb war. Eine halb geöffnete Schiebetür an der gegenüberliegenden Wand des Raums weckte Vlorahs Aufmerksamkeit, also deutete sie Kheilo an ihr zu folgen und trat in die Waschküche.
Als sie näher kam, erkannte sie, dass sich hinter der Schiebetür ein Wäscheschacht befand. Die eine Hälfte des Schachts endete auf Vlorahs Bauchhöhe in einem großen Korb, in dem ein paar Kleidungsstücke lagen. Die andere Hälfte ging bis zum Boden hinunter und hatte so etwas wie eine Aufzug-Bedienung. Der „Aufzug“ war allerdings für Menschen viel zu klein, also vermutete Vlorah, dass er für die Reinigungsroboter gedacht war, die sie vorhin gesehen hatte.
Kheilo sah Vlorah fragend an, deutete mit dem Kinn auf den Schacht und schaute dann kurz nach oben. Vlorah überlegte einen Moment, aber dann schüttelte sie den Kopf. Es würde wahrscheinlich viel zu viel Krach machen, diesen Schacht hochzuklettern. Sie wussten nicht, wo sie landeten, und konnten leicht in einer Lage entdeckt werden, in der sie nicht schnell genug reagieren konnten. Der lange Weg durch das Haus war trotz allem sicherer für sie.
Also kehrten sie in den Gang zurück und versuchten dort möglichst geräuschlos die Treppe hochzusteigen, die sie ins Erdgeschoss führte.
Als Vlorah weit genug oben war, um übers Geländer in den Raum über der Treppe blicken zu können, stellte sie fest, dass sie nicht weit von der Haustür des Anwesens in der Diele gelandet waren. Direkt über ihnen befand sich die nächste Treppe, die in den ersten Stock führte – und damit nach Vlorahs Informationen zu den Büroräumen, wo sich am wahrscheinlichsten ein paar Beweise finden lassen würden, die Ellister als Kollaborateur belasteten. Um diese Treppe zu erreichen, mussten sie wohl oder übel durch die Diele durch.
Gerade als Vlorah weiterschleichen wollte, hörte sie irgendwo ganz in der Nähe eine Tür aufgehen. Schnell duckte sie sich wieder nach unten und verharrte reglos in ihrer Position. Kheilo tat es ihr ein paar Stufen weiter unten nach.
Schritte waren zu hören und zwei Stimmen, die sich angeregt unterhielten.
„Was soll das heißen, sie sind zu matschig?“
„Ich kann damit keine Salzkartoffeln machen. Die Dinger fallen beim Kochen total auseinander!“
„Du hast sie eingekauft, jetzt musst du auch sehen, wie du damit zurecht kommst.“
„Und wenn wir sie einfach pürieren?“
„Der Ratsherr mag keinen Kartoffelbrei, das hat er schon so oft....“
Eine andere Tür schlug zu und die Stimmen drangen nur noch gedämpft an Vlorahs Ohr, bis sie ganz verstummten.
Vlorah hob ihren Kopf und vergewisserte sich, dass die Luft wirklich rein war, dann setzten sie sich wieder in Bewegung.
Die Diele allein war fast doppelt so groß wie Kheilos Büro und stand voll mit wertvoll aussehenden Vasen und Statuen. Der Boden schien aus Marmor zu sein, das Meiste davon wurde aber von dem dunkelroten Teppich bedeckt. Massiv aussehende Holztüren, die man mit der Hand öffnen musste, führten in die angrenzenden Zimmer. Die gewaltigste davon war die Haustür, die aber einen automatischen Öffner hatte.
Die beiden Einbrecher hielten sich allerdings nicht lange hier auf, da ihre Chance, unvermittelt entdeckt zu werden, hier natürlich am größten war. So schnell sie es geräuschlos fertig brachten, huschten sie zur nächsten Treppe weiter und stiegen vorsichtig in die nächste Etage hoch.
Der Flur im ersten Stock war ein vollständig mit Teppich ausgelegter T-förmiger Gang, der ein paar Meter von der Treppe entfernt nach links und rechts abknickte. Auch hier standen einige Kunstgegenstände herum und etliche größere Gemälde hingen an den Wänden. Die Türen hier oben waren deutlich schmaler und konnten sich automatisch öffnen. Deshalb mussten die beiden aufpassen, dass sie nicht zu nahe an eine davon herankamen und die Bewegungsmelder annahmen, sie würden eintreten wollen.
Von irgendwoher erklang plötzlich das Piepen eines Komgeräts, gefolgt vom gedämpften Murmeln einer geschäftig klingenden weiblichen Stimme. Aus einer anderen Richtung nahmen sie etwas wahr, das ein bisschen wie Mäusegetrappel klang – das charakteristische Geräusch, wenn jemand besonders gestresst auf dem Bedienfeld eines Computers herumhämmerte. Vlorahs Informationen schienen also richtig gewesen zu sein, hier oben befanden sich die Büroräume, von wo aus Ellisters gesamte Verwaltungs- und Medienabteilung arbeitete.
In so ziemlich jedem der Räume hier oben sollte man auf das gesicherte Computernetzwerk von Ellis Island Zugang bekommen. Jetzt mussten sie nur noch ein Büro finden, das unbesetzt war. Im ersten Teil des Flures hörte es sich schon mal schlecht an.
Sie schlichen also um die Ecke in den linken Quergang hinein, als Kheilo Vlorah am Ärmel zupfte, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Vlorah blickte sich um und entdeckte auf der anderen Seite des Gangs, hinter einem Rollwagen mit einem Stapel Handtücher, eine ähnliche Schiebetür wie im Keller in der Waschküche. Sie stand komplett offen und ein kurzer Blick hinein ließ Vlorah bestätigen, dass es sich um denselben zweigeteilten Wäscheschacht handelte, der von hier nach unten, aber auch weiter nach oben führte.
Hier wären sie also gelandet, wenn sie von der Waschküche hochgeklettert wären. Vlorah zuckte mit den Achseln. Sie hatten sich nun zwar eine anstrengendere Kletterpartie erspart, aber der kurze Schreckmoment unten in der Diele wäre vielleicht nicht nötig gewesen.
Vlorah wandte sich wieder um, denn sie hatte auf dieser Seite des Flurs schon etwas viel Interessanteres entdeckt: Die Bürotür ganz am Ende des Gangs. An der Seite der Tür wies nämlich ein Display darauf hin, dass im Raum im Moment kein Licht brannte.
Zwar war es erst früher Abend und die Dämmerung hatte noch nicht eingesetzt – doch bei allen anderen Zimmern im ersten Stock, an denen sie schon vorbei gekommen waren, war das Licht schon an. Deswegen bestand eine gute Chance, dass dieses spezielle Büro im Moment unbesetzt war. Allerdings gab es nur eine Möglichkeit, ihre Theorie mit Sicherheit zu bestätigen.
Vlorah hob ihre R-Waffe, nur für den Fall, dass sich doch jemand im dem Büro aufhielt, der entweder besonders lichtscheu oder besonders umweltbewusst war. Sie nickte Kheilo kurz zu – dann sprang sie auf die Tür zu.
Die Tür öffnete sich gerade noch rechtzeitig vor Vlorah, als sie ins Büro hinein stürmte. Sie schwenkte ihre Waffe schnell nach links und rechts, kontrollierte jeden Winkel des Büros. Und es war tatsächlich leer. Also senkte sie die Waffe und winkte Kheilo zu sich ins Zimmer.
Als der Kommissar im Inneren war, verriegelte Vlorah die Tür mit Hilfe des Kontrollfelds an der Seite und atmete dann erst einmal tief durch. Jetzt sollten sie für eine Weile ungestört sein.
„Okay, das ist erstaunlich reibungslos gelaufen“, flüsterte Kheilo.
„Freuen Sie sich nicht zu früh. Es gibt keine Garantie, dass Ellister tatsächlich Informationen über seine Übereinkunft mit Torx im Netzwerk des Anwesens gespeichert hat. Immerhin könnte dort auch jeder Büroangestellte drüber stolpern. Vielleicht müssen wir direkt in Ellisters Büro reinkommen.“
„Dass Ihnen bloß nicht im letzten Moment der Enthusiasmus abhanden kommt. Uns würde schon eine klitzekleine Aufzeichnung eines verdächtigen Meetings reichen. Oder Komgespräche zwischen Ellister und einer gewissen Raumstation im Orbit von Anbis 6. So gründlich kann niemand seine Spuren verwischen.“
„Die Kosmopol könnte das.“
„Aber natürlich kann sie das“, brummte Kheilo und trat auf einen der beiden Schreibtische im Raum zu, die mit einem Computer ausgestattet waren. „Na los, erledigen wir das schnell, ich fühle mich hier nicht sehr wohl.“
Kheilos letzter Satz übertönte beinahe das leise Klicken, das aus Richtung der Tür kam.
Zum Glück hatte Vlorah gute Ohren. Sie ging sofort hinter dem Schreibtisch, den sie gerade hatten benutzen wollen, in Deckung. Kheilo folgte ihr auf der Stelle.
Eine halbe Sekunde später fuhr die Tür zischend auf.
Die beiden Ermittler duckten sich hinter den Tisch und richteten ihre Waffen auf die offene Tür. Es kam jedoch niemand hindurch.
Einige Sekunden verstrichen, doch nichts tat sich. Vlorah, die instinktiv den Atem angehalten hatte, ging langsam die Luft aus. Sie begann wieder leise zu atmen, blieb aber sehr angespannt.
Kheilo warf ihr einen verwirrten Blick zu. Was ging hier vor sich? War die Tür nur aus Versehen aufgegangen, weil jemand daran vorbei gegangen war? Aber die Tür befand sich ganz am Ende des Gangs und Vlorah war sich absolut sicher, sie gleich nach dem Eintreten verriegelt zu haben.
Eine Minute ging vorüber, ohne dass die Tür sich wieder schloss oder dahinter auf dem Gang sich irgendetwas tat. Entweder spielte die Elektronik in Ellis Island verrückt, oder wer auch immer diese Tür geöffnet hatte, wartete darauf, dass die beiden Eindringlinge den nächsten Schritt machten. Zweifellos konnte er sich das auch leisten, denn Vlorah und Kheilo waren diejenigen, die hier im Nachteil waren. Und denen jede Verzögerung das Genick brechen konnte.
Eine weitere Minute verging ereignislos. Schließlich verlor Vlorah die Geduld und beschloss, etwas zu unternehmen.
Sie erhob sich und schlich auf die Tür zu. Nach jedem Schritt hielt sie für ein paar Sekunden an und horchte. Nichts. Als sie die Tür erreichte, blickte sie vorsichtig hinaus und überprüfte, ob sich jemand direkt daneben an der Wand versteckte. Niemand.
Vlorah horchte noch einen Moment, dann streckte sie ihre Hand nach der Türbedienung aus.
Eine elektrische Entladung fuhr aus dem Rand des Displays in ihren Körper!
Sie wurde zurückgeschleudert und konnte nicht anders als einen lauten, schrillen Schrei auszustoßen. Ihre Gliedmaßen zuckten unkontrolliert herum, während sie hart auf den Boden stürzte.
Genau zur selben Zeit zersplitterte das Fenster hinter dem Schreibtisch, wo Kheilo sich immer noch versteckte. Ein schwarzer Schatten kam durch das Fenster herein gesprungen und stieß seinen Fuß gegen Kheilos Hinterkopf. Der Kommissar kippte nach vorne und knallte mit der Stirn gegen die Tischkante.
Irgendwo zwischen verschwommenen, abgehackten Bildern und einem heftigen Stechen in ihrem Kopf erkannte Vlorah, dass es ein uniformierter Secu war, der sich offenbar von weiter oben im Gebäude abgeseilt hatte. Zwei weitere Secus kamen nun durch den Flur ins Büro gelaufen und richteten ihre Waffen auf die Eindringlinge. Diese lagen beide am Boden – innerhalb einer halben Sekunde waren sie komplett außer Gefecht gesetzt worden.
„Keine Bewegung!“ schrie einer der Secus. „Bleiben Sie liegen!“
Da sich Vlorahs Sehkraft und ihre Körperkontrolle nur sehr langsam wiederherstellten, ihr Kopf wie verrückt pochte und sie das Gefühl hatte, dass ihr Herz gleich zerplatzen würde, hätte sie ohnehin nichts anderes tun können. Auch Kheilo machte keine Anstalten, sich irgendwie zu widersetzen.
„Vier-fünf-zwei, Vier-neun-vier, nehmen Sie den beiden die Waffen ab!“
Einer der Secus, die durch den Flur gekommen waren, beugte sich zu Vlorah herunter und fischte ihr die R-Waffe aus der Hand. Der Secu, der durchs Fenster gekommen war, nahm sich Kheilo vor. Auf den zweiten Blick erkannte Vlorah nun, dass es eine Sie war.
Der dritte Secu, offenbar der Anführer des Trios, nahm sein Komgerät in die Hand und sprach kurz hinein: „Chef, hier Fünf-neun-neun! Wir haben jetzt alles unter Kontrolle!“
Kurz darauf hörte Vlorah Schritte, dann tauchten ein paar Beine im Flur auf und traten ins Büro zu den drei Secus herein.
„Agent Vlorah.“ Seine Stimme klang sehr vornehm und ziemlich verärgert und nur ein winziger Hauch Spott schwang darin mit. Aufgrund ihrer ausführlichen Ermittlungen in den letzten Tagen erkannte sie sie sofort wieder.
„Als wir der Kosmopol-Direktion auf Borla zugesichert haben, dass einer ihrer Agenten hier bei uns frei ermitteln darf, hätte ich nicht gedacht, dass das auch einen Einbruch in meine Privaträume beinhaltet“, fuhr Ellister fort. „Offenbar hätten wir das Kleingedruckte aufmerksamer durchlesen sollen.“
Irgendwie schaffte Vlorah es, sich auf die Seite zu drehen, sodass sie Ellister direkt ansehen konnte. Der Politiker war mit einem teuren Anzug bekleidet, hatte die Hände in den Hosentaschen und machte ein ziemlich finsteres Gesicht.
„Und Sie sind also einer der beiden Kommissare.“ Ellister blickte zu Kheilo hinüber. „Ich weiß gar nicht, worüber ich mich mehr ärgern soll: Dass die Kosmopol tatsächlich glaubt, sie könnte hier nach Belieben Bürgerrechte verletzen – oder dass einer unserer Leute dabei mitmacht!“
Irgendwie schaffte es Vlorah, sich langsam aufzusetzen. Sie blickte zu Kheilo hinüber, der eine große Platzwunde auf der Stirn hatte, aus der das Blut über sein halbes Gesicht lief – aber er war bei Bewusstsein. „Sparen Sie es sich bitte, hier den Moralapostel zu spielen“, brachte sie mit schwacher Stimme hervor. „Wo wir doch beide wissen, was Sie in letzter Zeit so alles geplant haben und über wie viele Leichen Sie dabei gegangen sind.“
„Unsinn.“ Ellister tat Vlorahs Anschuldigungen mit einer Handbewegung ab. „Und selbst wenn dem so wäre: Sie beide haben gerade dafür gesorgt, dass niemand mich wegen irgendetwas beschuldigen wird. Die ganze Stadt wird nur darüber reden, was sich die angeblichen Hüter des Gesetzes neuerdings alles erlauben und wie ich dabei zum Opfer wurde. Und ich werde höchstpersönlich dafür sorgen, dass Sie beide vor Gericht gestellt werden und nie wieder einen Arbeitsplatz bekommen, bei dem Sie keine Schürze tragen müssen.“
Mit einem kränklichen Ächzen schaffte es nun auch Kheilo, sich aufzusetzen. Er wischte sich mit einem Ärmel das Blut aus den Augen und blinzelte in Ellisters Richtung. „Ratsherr Ellister....“, flüsterte er sichtlich angeschlagen. „Sie sind.... festgenommen....“
Das brachte den Ratsherrn trotz seiner offensichtlichen Verärgerung dazu, laut aufzulachen. „Ganz im Gegenteil: Ich habe selbst bereits vor ein paar Minuten die Polizei gerufen. Jeden Moment wird eins Ihrer Einsatzteams hier sein und ihre eigenen Kollegen abführen dürfen.“
Er schüttelte den Kopf und stemmte die Hände gegen die Hüften. „Dass Sie tatsächlich angenommen haben, Sie könnten hier einfach reinspazieren, ohne dass wir das bemerken! Also wirklich! Natürlich sind sämtliche Räume in diesem Gebäude mit versteckten Kameras ausgestattet und werden rund um die Uhr überwacht! Erst vor wenigen Tagen haben wir noch ein kleines Verteidigungssystem installiert. Sie können sich glücklich schätzen, dass ich nicht beschlossen habe, Sie dafür als Versuchskaninchen einzusetzen. Aber die Medienwirkung wird nun mal stärker sein, wenn Sie von hier auf ihren eigenen Beinen stehend abgeführt werden!“
„Chef, was sollen wir jetzt mit ihnen machen?“ mischte sich der Secu ein, der sich als 599 bezeichnet hatte.
„Langsam. Erst mal sehen Sie nach, ob wir eventuell noch irgendwo einen weiteren Eindringling haben. Es würde mich doch sehr wundern, wenn sich nicht noch irgendwo der Partner des Kommissars herumtreiben würde. Und suchen Sie auch das Außengelände ab!“
„Alles klar, Chef.“ 599 drehte sich um und verschwand im Flur.
„Und Sie bringen die beiden bitte nach draußen, sobald sie wieder aufstehen können“, befahl Ellister den anderen beiden Secus. „Dort können sie warten, bis sie von ihren Leuten abgeholt werden.“
Mit diesen Worten drehte sich Ellister um und marschierte aus dem Raum. „Und geben Sie dem Kommissar etwas zum Abwischen!“ rief er noch über die Schulter, bevor er im Gang verschwand.
Die beiden Secus blieben in der Tür stehen und richteten weiter ihre Waffen auf ihre Gefangenen. Offenbar hatte keiner von ihnen Lust dazu, ihnen beim Aufstehen zu helfen.
Vlorah versuchte in die Hocke zu gehen, aber dann wurde ihr schwindlig und sie ließ sich wieder zurückfallen.
„Lassen Sie sich Zeit“, flüsterte Kheilo ihr zu. „Ich brauche auch noch einen Moment.“ Vlorah glaubte, den Ansatz eines Zwinkerns in seinen Augen gesehen zu haben.
Also versuchte sie sich zu entspannen und einigermaßen die Kontrolle über ihre Gliedmaßen und ihren Verstand zurück zu bekommen. Zwei, drei Minuten saßen sie nur da, während die Secus weiter stumm vor ihnen standen und sie nicht aus den Augen ließen. Irgendwann nickte Kheilo Vlorah zu und sie stellten sich gleichzeitig vorsichtig auf die Beine. Kheilo wankte kurz und Vlorah glaubte für einen Moment, er würde wieder umfallen, aber dann fing er sich wieder.
„Na gut, dann wollen wir mal“, sagte die weibliche Secu und wedelte mit ihrer Waffe in Richtung der Tür. „Abmarsch!“
„Ihr Chef meinte, Sie sollten mir etwas zum Abwischen geben“, wandte sich Kheilo an den männlichen Secu, während sie nach draußen in den Flur traten.
„Hab aber nichts zum Abwischen da“, brummte dieser mürrisch.
Kheilo wies mit dem Kinn in Richtung des Rollwagens, auf dem der Stapel Handtücher lag. „Und was ist damit?“
Als der Secu kurz in die Richtung des Wagens blickte, zwinkerte Kheilo ihr wieder zu, dieses Mal deutlicher. Offenbar hatte er etwas vor.
Der Secu dachte einen Augenblick nach, dann zuckte er mit den Achseln und beugte sich zu den Handtüchern hinüber. Und genau in dem Moment, als wieder Leben in Kheilos Körper kam, erkannte Vlorah plötzlich, was er vorhatte.
Der Kommissar musste sich schwächer gestellt haben, als er wirklich war, denn nun verpasste er dem Secu einen erstaunlich kräftigen Stoß mit der Schulter.
Vlorah ahnte die Bewegung der weiblichen Secu voraus und hängte sich mit ihrem ganzen Gewicht an den Arm, den sie ausgestreckt hatte. So ging der Schuss aus ihrer Waffe in den Fußboden.
Der männliche Secu wurde durch Kheilos Stoß völlig überrascht und drohte das Gleichgewicht zu verlieren. Er versuchte sich am Rollwagen festzuhalten, doch der gab sofort nach und setzte sich in Bewegung.
Kheilo gab dem Wagen einen zusätzlichen Schub, wodurch der Secu endgültig sein Gleichgewicht verlor – und genau in den offenen Wäscheschacht hineinfiel. Das Echo seines Schreis hallte durch den Schacht, gefolgt von lautem Scheppern, als der Secu unten im Wäschekorb landete.
Inzwischen rangen seine Kollegin und Vlorah um die Waffe, die die Secu immer noch in der Hand hielt. Doch im Gegensatz zu Kheilo hatte Vlorah ihre Schwäche nicht gespielt und drohte das Kräftemessen zu verlieren.
Gerade, als die Secu ihre Waffe wieder auf Vlorahs Kopf gerichtet hatte, stieß der Rollwagen von hinten gegen ihre Beine. Das verschaffte Vlorah die Möglichkeit, das Blatt noch einmal zu wenden. Als die Secu abdrückte, traf sie mit dem Strahl aus ihrer Waffe nicht ihre Gegnerin, sondern sich selbst. Sie sank bewusstlos zu Boden und Vlorah nahm ihre Waffe an sich.
Sie nickte Kheilo dankbar zu, der den Rollwagen gestoßen und ihr damit sehr geholfen hatte.
Der winkte aber schnell ab. „Wir müssen sofort hier verschwinden! Kommen Sie!“
Er rannte los durch den Flur und stürzte die Treppe hinunter, Vlorah dicht hinter ihm mit ihrer erbeuteten Waffe. Wenn es stimmte, was Ellister gesagt hatte, war ihre Flucht wahrscheinlich schon wieder entdeckt worden und sie konnten sehr schnell mit den nächsten Secus rechnen. Oder mit diesem neuen Verteidigungssystem, von dem Ellister gesprochen....
In diesem Moment erreichten sie die Diele im Erdgeschoss und Vlorah vernahm plötzlich ein leises Summen. Sofort war ihr klar, dass sie genau dieses Geräusch heute schon einmal gehört hatte. In den Augenwinkeln erkannte sie rechts von Kheilo eine Bewegung, doch der Kommissar schien davon nichts zu bemerken.
„Zur Seite!“ schrie sie, riss die Waffe hoch und traf die kleine, schwebende, schwarze Kugel, die Kheilo gefährlich nahe gekommen war.
Die Drohne gab ein stotterndes Summen von sich und für einen Moment schien es, als würde sie tatsächlich einfach zu Boden fallen.
Doch dann bremste sie ihren Fall ab und drehte ihre Öffnung blitzschnell auf Kheilo zu.
Dieser hechtete zur Seite und packte eine der Marmorstatuetten, die in der Diele herumstanden. Die Drohne passte sich sofort an seine Bewegung an und sauste auf ihn zu....
Kheilo nahm seine ganze Kraft zusammen und schleuderte die Statuette gegen die Drohne.
„Nein!“ schrie Vlorah.
Aber es war zu spät: Die Drohne und die Statuette krachten zusammen gegen die Wand neben Kheilo, wodurch die Drohne zwischen Wand und Statuette eingequetscht wurde und zerbrach.
Die farblose Flüssigkeit aus dem Inneren der Kugel spritzte heraus. Das meiste davon regnete auf Wand und Fußboden herab, aber einige Tropfen trafen auch Kheilo.
Innerhalb kürzester Zeit brach der Kommissar zusammen.
„Kheilo!“
Doch Vlorah blieb keine Verschnaufpause, denn in diesem Moment fuhr die massive Haustür auf und 599 stürmte herein. Beide rissen gleichzeitig die Waffen hoch und Vlorah schaffte es, einen Hauch eher zu feuern. 599 fiel zu Boden, sein Schuss ging gegen die Decke.
Vlorah sprang auf die Haustür zu und kickte den Schirmständer, der daneben stand, in ihren Weg, sodass sie blockiert wurde und offen blieb.
„Bitte, Kheilo, halten Sie durch!“ krächzte Vlorah. Schnell ließ sie ihre Waffe fallen, packte einen seiner Arme mit beiden Händen und zog ihn über den Marmorboden zur Haustür.
Doch dann hielt sie noch mal inne, lief zu der Wand zurück, wo die Drohne zerborsten war, schnappte sich aus den Überresten die größte Scherbe und nahm sie an sich. Wieder packte sie Kheilos Arm und zog ihn nach draußen.
Die kühle Abendluft wehte Vlorah entgegen, aber sie ließ sich keine Zeit, um die willkommene Erfrischung zu genießen. Sie zerrte Kheilo die kleine Treppe hinunter, über den Gehweg und in den gepflegten Rasen hinein. Doch langsam verlor sie ihre Kraft und irgendwo im Hinterkopf wurde ihr bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, wo sie Kheilo überhaupt hinbringen sollte.
Als sie das Rauschen eines sich nähernden Shuttles hörte, ließ sie Kheilo schweren Herzens im Gras liegen und rannte los....
„Und den Rest kennen Sie“, schloss Vlorah ihren Bericht ab. „Ich wurde verhaftet und musste eine halbe Ewigkeit warten, bevor ich zu Ihnen gebracht wurde. Und der Kommissar wurde ins Krankenhaus geflogen, nehme ich an.“
„Jetzt verstehe ich“, sagte die Direktorin, nachdem sie lange geschwiegen und Vlorahs Ausführungen zugehört hatte. „Kommissar Kheilo wurde also von einer dieser Killerdrohnen angegriffen. Und er hat das gleiche Gift abbekommen, das Riggars Kindermädchen getötet hat!“
Vlorah beugte sich vor und sah die Direktorin eindringlich an. „Bitte, ich muss endlich erfahren, ob man ihm noch helfen konnte! Die Giftmenge, mit der er in Kontakt gekommen ist, war nicht so groß wie bei dem Kindermädchen und als er ins Shuttle gebracht wurde, hat er wohl noch gelebt, aber....“
„Ja, ja, ich verstehe.“ Die Direktorin griff sofort zu ihrem Computer. „Und jetzt will ich es auch unbedingt wissen. Ich rufe auf der Stelle im Krankenhaus an!“
In diesem Moment ertönte eine Stimme aus Richtung Bürotür: „Nicht nötig.“
Vlorah fuhr herum – und erblickte Kheilo, der putzmunter in der Tür stand.
„Ko.... Kommissar!“ entfuhr es ihr. „Wie....“
Kheilo kam näher zum Schreibtisch und nickte den beiden Frauen gelassen zu, die ihn verblüfft anstarrten. Sie waren beide so in ihre Diskussion vertieft gewesen, dass sie gar nicht gehört hatten, wie die Tür aufgegangen war.
„Nun ja.... Anscheinend war das, was mich da erwischt hat, gar kein Gift, sondern nur irgendein Betäubungsmittel“, erklärte Kheilo. „Ich habe nur eine Weile geschlafen und bin dann im Krankenhaus aufgewacht. Und dann habe ich Stunden damit zugebracht, die Wachleute zu überreden, mich hier her zu bringen.“ Er warf einen säuerlichen Blick zur Tür, hinter der ein paar Wachen herumstanden und aufmerksam ins Büro hinein sahen.
Vlorah konnte es immer noch nicht richtig glauben. „Aber.... diese Drohne.... das war auf jeden Fall dasselbe Modell wie in Riggars Haus....“
Kheilo nickte. „Nur offenbar war sie mit einem anderen Inhalt gefüllt. Sonst wäre ich vermutlich innerhalb von Sekunden tot gewesen – wie Riggars Kindermädchen.“
„Dann können Sie wohl von Glück sagen, dass Sie noch mit dem Leben davon gekommen sind.“ Die Direktorin war schon wieder voll im Vorgesetzten-Modus. „Ich habe es Agent Vlorah schon gesagt – was Sie beide sich da geleistet haben, wird noch ernste Konsequenzen haben.“
„Frau Direktorin, letztlich war das alles allein meine Idee und der Kommissar war von Anfang an dagegen“, erwiderte Vlorah sofort. „Ich übernehme daher die volle Verantwortung für....“
„Nein, Agent Vlorah“, unterbrach Kheilo sie. „Ich habe dem Einsatz zugestimmt und war genauso daran beteiligt. Ich war mir des Risikos bewusst und habe entschieden, dass wir es eingehen müssen....“ Er machte ein bedauerndes Gesicht. „Leider sind wir gescheitert. Wir konnten keine Beweise für Ellisters Machenschaften besorgen....“
„Vielleicht doch!“ Vlorah hob ihren Zeigefinger. „Kommissar, Sie haben das nicht mitbekommen – aber ich konnte ein Bruchstück der Drohne sicherstellen, die Sie angegriffen hat.“
Kheilo hob die Augenbrauen. „Wirklich? Das ist hervorragend! Damit könnten wir nachweisen, dass Ellister mit dem Mordanschlag auf Riggar in Verbindung steht!“
Der Direktorin ein Licht auf. „Ach, Sie meinen diese schwarze Scherbe, die Sie unbedingt noch der Spurensicherung übergeben wollten, bevor wir Sie in Gewahrsam genommen haben.“
„Ganz genau!“ sagte Vlorah. „Ihre Leute werden sicherlich feststellen, dass diese Scherbe und die Drohne aus Riggars Haus aus derselben Produktionsreihe stammen. Und ich gehe stark davon aus, dass sie Neuentwicklungen sind, die noch nirgendwo sonst auf dem Markt zu finden sind. Das heißt, wenn Ellister als einziger solche Drohnen besitzt, kommt nur er als Auftraggeber des Mords in Frage!“
Die Direktorin zog eine skeptische Grimasse. „Ihnen ist doch hoffentlich klar, dass die Staatsanwaltschaft ein kleines Problem damit haben wird, einen Beweis anzuerkennen, der aus einem Einbruch zweier Ermittlungsbeamten in den privaten Wohnsitz eines....“
„Schon klar. Aber das ist auch gar nicht nötig! Geben Sie die Ergebnisse der Spurensicherung einfach an die Presse weiter und an sämtliche Ratsmitglieder. Dann wird Ellister nämlich nie im Leben mehr zum Dictus gewählt werden. Und damit hätten wir diesen Teil von Torx’ Plan schon mal vereitelt....“
Noch ging Vlorahs Zuversicht nicht auf die Direktorin über. „Wir können immer noch nicht nachweisen, dass diese Drohnen in Ellisters Auftrag gebaut, programmiert und losgeschickt wurden. Vermutlich wird Ellister einfach behaupten, er wäre genauso ein Ziel gewesen wie Riggar.“
„Aber wenn wir in einigen Ratsmitgliedern Zweifel säen können, müsste das schon reichen“, meinte Kheilo. „Vor allem da wir auch Riggar auf unserer Seite haben. Und vergessen Sie nicht: Alsth ist auch immer noch da draußen. Vielleicht findet er sogar noch eindeutigere Beweise für Ellisters Machenschaften....“
In diesem Moment trat eine der Wachen, die bisher vor dem Büro gewartet hatten, auf den Schreibtisch zu. „Entschuldigen Sie die Störung, aber der Stellvertretende Direktor meinte, dass Sie das sofort erfahren sollten.“ Sie drückte der Direktorin ein Notepad in die Hand.
Die Direktorin sah sich den kurzen Text auf dem Notepad an. Ihr Gesicht verfinsterte sich immer weiter. Schließlich legte sie das Pad nieder und blickte ernst zu Vlorah und Kheilo auf.
„Vor wenigen Minuten wurde eine größere Energieentladung im Orbit von Anbis 6 registriert“, sagte sie tonlos. „Offenbar ist Torx’ Raumstation gerade eben explodiert....“
Episode 11: Ebene 13
Nylla kam sich vor wie ein unreifes Kleinkind.
Sie saß im Pilotensessel der Tawain 1 und dachte an etwas zurück, was ihr Mentor Wetzke ihr vor einigen Jahren mal gesagt hatte. Es war, als sie gerade begonnen hatte, sich schon ganz groß und erwachsen zu fühlen und auch zu verhalten – also ungefähr mit zwölf Jahren.
Da hatte Wetzke mal gegrinst und ihr gesagt: „Weißt du, was ich inzwischen heraus gefunden habe? Kein Mensch wird jemals wirklich erwachsen. Die meisten bekommen nur irgendwann die dumme Angewohnheit, so zu tun, als wären sie es.“
Nylla hatte das damals natürlich nur für einen blöden Spruch gehalten, doch in genau diesem Augenblick kam ihr zum ersten Mal der Gedanke, dass er womöglich Recht gehabt haben könnte.
Wie war es nur so weit gekommen, dass sie auf so einen harmlosen Scherz von Alsth so reagiert hatte? In den letzten Wochen war sie einmal fast eine Luftschleuse hinausgejagt, etliche Male beschossen, bedroht und gefangen genommen worden und mindestens zwei Mal schien ihr Leben vorbei gewesen zu sein und in all diesen Situationen war sie furchtbar stolz auf ihre Coolness gewesen. Und jetzt das. Sie konnte es sich nicht erklären.
In den letzten Minuten hatte sie sich gefragt, ob Alsth vielleicht einen empfindlichen Nerv bei ihr getroffen hatte. Ob sie sich ihm auf ihrer gemeinsamen Mission weiter geöffnet hatte, als es klug gewesen wäre. Ob es ihr wirklich wichtig war, was dieser Cop von ihr dachte. Ob in seiner beiläufigen Bemerkung nicht vielleicht ein Fünkchen Wahrheit steckte.
Auf all diese Fragen hatte sie eine eindeutige Antwort gefunden: Nein, das war es alles nicht. Es musste definitiv einen anderen Grund geben. Nur welchen?
Nylla wusste jedoch, dass sie in dieser Situation darauf erst einmal keine gute Antwort finden würde. Nicht, wenn sie einfach weiter in ihrem Pilotensessel saß und in den Weltraum hinaus starrte.
Am besten wäre es wohl, wieder Kontakt zu ihm aufzunehmen. Leider wusste sie nicht, ob Alsth vielleicht noch sauer auf sie war. Sie musste zuerst in Erfahrung bringen, woran sie war, bevor sie sich wieder bei ihm meldete.
Kurzerhand beugte sie sich zur Komanlage der Tawain 1 vor und stellte den Komkanal zu Alsth so ein, dass er nur eine einseitige Verbindung aufbauen würde. So konnte sie hören, was er gerade tat, aber er würde sie nicht hören.
Das erste, was sie hörte, als sie den Knopf drückte, war absolute Stille. Sie wartete, ob irgendwas passieren würde – aber ein, zwei Minuten vergingen, ohne dass auch nur das geringste Geräusch zu hören war.
Na toll, das hat es echt gebracht....
Sie wollte die Verbindung schon wieder deaktivieren, doch dann hörte Nylla plötzlich ein dumpfes Geräusch.
Anschließend ertönte Chets Stimme: „Raus kommen!“
Oh Gott, das hab ich ja ganz vergessen, war Nyllas nächster entsetzter Gedanke. Die sind ja gerade beim....
„Hände über den Kopf!“ Chets Stimme klang schon ziemlich kalt und befehlerisch. „Hinsetzen!“
Ich hätte ja nie gedacht, dass die beiden auf diese Nummer stehen. Okay, bei Chet wundert mich eigentlich gar nichts, aber Alsth....
Nylla beugte sich zum Abschaltknopf, um sich den Rest dieser.... Auseinandersetzung zu sparen. Doch dann hörte sie etwas, was ihre Bewegung augenblicklich erstarren ließ:
„Okay, ich gebe dir jetzt genau fünf Sekunden Zeit, mir einen guten Grund zu liefern, dir nicht auf der Stelle das Hirn aus dem Schädel zu pusten!“
Erschrocken lehnte sie sich zurück und horchte weiter. Sehr schnell wurde klar, was da gerade vor sich ging: Offenbar hatte Chet Alsth irgendwie entlarvt und drohte jetzt damit, ihn zu erschießen!
Sofort fühlte Nylla sich schuldig. Wenn sie nicht so kindisch gewesen wäre, wäre er jetzt vielleicht nicht in dieser Situation! Sie musste dringend etwas unternehmen!
Nylla hörte dem Gespräch zwischen Alsth und Chet nur noch mit einem Ohr zu und überlegte sich inzwischen, was sie jetzt tun konnte. Auf jeden Fall musste sie schnell reagieren, denn es klang nicht so, als hätte Chet noch besonders viel Geduld!
Mein lieber Alsth, das wird dir nicht gefallen.... aber es ist die einzige Möglichkeit! Und immer noch besser als wenn sie dich jetzt erschießt!
Während diese Gedanken durch ihren Kopf wanderten, aktivierte sie schon den Antrieb der Tawain 1, beschleunigte und setzte einen Kurs auf Torx’ Raumstation. Sie überprüfte mit einem kurzen Seitenblick schnell die Einsatzbereitschaft von Waffen und Schilden und wechselte schließlich in den Gefechtsmodus.
Mit entschlossener Miene blickte sie nach vorne, wo die Station recht schnell größer wurde. Inzwischen mussten deren Sensoren ihren Anflug entdeckt haben, es gab also keinen Rückzieher mehr.
„Home, sweet home....“, murmelte sie.
Dann begann sie zu feuern.
„Achtung, Achtung, an alle! Nehmt sofort eine stabile Position ein! Sicherheit auf ihren Posten! Die Station wird angegriffen! Ich wiederhole: Die Station wird angegriffen!“
Gruths Durchsage war kaum verhallt, als Chet Alsth am Hemd packte und ihn zwang aufzustehen.
„Das sind deine Leute, nicht wahr?“ zischte sie und drückte ihm die Waffe an die Brust. „Dabei hätte ich schwören können, dass das gerade eben ein Bluff war!“
Das war es eigentlich auch...., dachte Alsth. Er hatte keine Ahnung, wer ausgerechnet jetzt einen Angriff auf diese Raumstation durchführte – aber er konnte Chets Fehleinschätzung zu seinem Vorteil nutzen.
„Das ist deine letzte Chance, Chet“, erwiderte Alsth völlig ruhig. „Gib mir die Codes zu Torx’ Computer und ich werde dafür sorgen, dass sie dich nicht kriegen!“
Chet packte noch fester zu und riss ihm fast das Hemd vom Leib. „Geiseln sollten nicht so viel reden! Das kann ungesund werden! Du wirst dafür sorgen, dass ich von hier wegkomme – und zum Dank dafür werde ich dich vielleicht nicht erschießen!“
Sie ist ziemlich nervös.... Vielleicht hat sie in ihrer Wachsamkeit nachgelassen....
Möglichst unauffällig streckte Alsth die Hände nach hinten aus und bekam die Lehne des Stuhls, auf dem er gesessen hatte, zu fassen. Und tatsächlich war Chet so damit beschäftigt, ihn finster anzustarren, dass sie es nicht bemerkte....
Jetzt oder nie!
Mit einem kräftigen Ruck riss er den Stuhl herum und schleuderte ihn gegen Chets Unterarm. Sie stieß einen lauten Schmerzensschrei aus, die Waffe flog ihr aus der Hand und landete auf dem Boden.
Alsth packte die Lehne fester und hieb mit den Stuhlbeinen auf Chet ein, die nach zwei gut platzierten Treffern zu Boden ging. Schnell hechtete er zur Seite, ergriff die fallen gelassene Waffe und richtete sie genau in dem Moment auf Chet, als diese gerade wieder auf die Beine kam.
Innerhalb weniger Sekunden hatte er den Spieß umgedreht.
„Jetzt machen wir das ganze Spiel mal anders herum“, knurrte er. „Du begleitest mich jetzt zum Büro von deinem Boss, gibst die Codes für mich ein, ich nehme mit, was ich brauche.... und dann sehen wir beide zu, das wir zum Henker noch mal hier raus kommen!“
„Du kannst mi....“
„Und je mehr Zeit wir beide jetzt mit Plappern verbringen, desto weniger Zeit bleibt dir gleich für deine Flucht. Hast du mich verstanden?“
Nach zwei Sekunden Bedenkzeit nickte Chet schließlich mit grimmiger Miene. „Ich schätze, meinen Arbeitsplatz hier kann ich sowieso vergessen....“
„Richtig.“ Alsth wedelte mit der Waffe. „Also dann los!“
Auf dem Weg durch die Station stießen Alsth und Chet auf kein bisschen Widerstand. Ein paar Schmuggler und sogar ein anderer Wachmann kamen an ihnen vorbei gelaufen, doch keiner achtete groß auf sie. Falls sie die Waffe in Alsths Hand überhaupt bemerkten, gab es offenbar gerade wichtigere Dinge, um die sie sich Sorgen machten.
Dabei schien es eigentlich, als ob der Angriff auf die Station inzwischen zu Ende war. Es gab keine Erschütterungen mehr und die Verteidigungsgeschütze standen still. Alsth fragte sich erneut, wer dieser Angreifer war, der hier für so viel Aufsehen sorgte. Das, was Chet glaubte, war es jedenfalls nicht....
Plötzlich erinnerte er sich an etwas – nämlich an den Vorschlag, den Nylla ihm vor ein paar Stunden gemacht hatte: Diese Station anzugreifen, um ihm eine Ablenkung zu verschaffen. Dass nun genau das passierte, konnte eigentlich gar kein Zufall sein....
Im nächsten Moment war Alsth sich ganz sicher: Nylla war die mysteriöse Angreiferin! Doch ihr Angriff hatte nicht sehr lange gedauert. Was bedeutete das? War sie sofort wieder abgehauen? Oder....
Auf jeden Fall sollte er besser einen Zahn zulegen! Er wies Chet an, schneller zulaufen.
Als sie schließlich die berühmte Tür mit dem Stierkopf erreichten, ließ er Chet vorgehen. Synchronen Schrittes wagten die beiden sich in den kleinen Vorraum hinein. Er war leer.
„Weiter!“ Alsth scheuchte Chet mit der Waffe voran.
Doch gerade, als sie den Vorraum zur Hälfte durchquert hatten, schob sich hinter ihnen plötzlich die Tür zu. Ein leiser Schließmechanismus war zu hören. Sie waren eingesperrt!
Noch bevor Alsth überhaupt reagieren konnte, ging vor ihnen die andere Tür auf, die in Torx’ Büro führte. Der Blick auf den großen Schreibtisch in der Mitte des Raumes wurde frei, hinter dem ein zufrieden grinsender Torx saß.
Neben ihm standen ein sehr überraschter Gruth und noch zwei weitere bewaffnete Wachleute. Einer von beiden war Clive, die andere eine Frau, die nach Nyllas Beschreibung nur Yaan sein konnte.
„Guten Abend, Django und Chet!“ begrüßte Torx sie. „Möchtet ihr euch nicht zu unserer kleinen Runde hinzugesellen?“
Seine Durchsage war kaum verhallt, da wurde Gruth schon zu Torx ins Büro gerufen. Der Befehl kam überraschend – normalerweise wäre es jetzt seine Aufgabe, die Verteidigung gegen diesen ominösen Angreifer zu koordinieren.
Aber sein Boss würde schon wissen, was er tat. Als er schließlich bei Torx ankam, waren Clive und Yaan schon da. Torx hielt sich nicht mit vielen Worten auf, sondern aktivierte stattdessen einen ganz bestimmten Schalter an seinem Schreibtisch. Jeder, der jetzt in den Vorraum zu seinem Büro kommen würde, würde darin wie in einer Mausefalle gefangen sein.
Es dauerte nicht lange, bis die Falle zuschnappte. Und als die Tür zum Nebenraum sich auftat, standen dort Chet und dahinter.... der Kerl von dem Foto!
„Hab ich es mir doch gedacht, dass Sie hinter diesem Angriff stecken!“ sagte Torx höhnisch, während Chet und ihr Begleiter, letzterer mit gehobener Waffe, langsam ins Büro herein kamen. „Ein wirklich armseliger Angriff, muss ich aber sagen. Nur so ein kleines, mickriges Schiff.“
Was geht hier vor!? Gruth war so verblüfft, dass er seine Kinnlade kaum noch unter Kontrolle halten konnte. Das war Nyllas Begleiter vom Raumhafen und er war hier! In ihrer Gewalt! Torx hatte geschafft, was ihm in den letzten Tagen einfach nicht gelungen war!
„Ich hatte wirklich mehr von Ihnen erwartet“, fuhr Torx fort, während er lässig mit seinen Fingern auf dem Schreibtisch herumtippelte. „Schließlich haben Sie es geschafft, meine Station zu infiltrieren, meine Leute zu täuschen und sogar zweimal in mein Büro einzubrechen. Ich habe wirklich eine Weile gebraucht, um herauszufinden, wer Sie sind und was Sie hier wollen, Django! Oder sollte ich besser sagen, Kommissar Alsth?“
Kommissar!? Der Kerl war Polizist?! Wie konnte das sein? Kerry hatte doch gesagt, er wäre keiner.... und Gruth hatte höchstpersönlich noch einmal die Personaldatenbank der Polizei durchforstet! Er konnte das alles einfach nicht glauben, was hier gerade passierte!
„Ich darf Sie übrigens darüber informieren, dass unsere Verteidigungsanlagen Ihr lächerliches Schiffchen inzwischen zerstört haben. Wenn Sie später auf dem Weg aus unserer Luftschleuse hinaus noch irgendwo eine Staubwolke sehen, dürfen Sie ihr zuwinken.“ Torx lehnte sich zurück und saugte genüsslich Alsths entsetzten Gesichtsausdruck auf. „Und was machen Sie jetzt? Nehmen sich eine meiner Leibwächter als Geisel und kommen hier her, um mich zu bedrohen? Denken Sie wirklich, das würde bei mir funktionieren?“
Torx warf einen finsteren Blick zu Chet hinüber: „Dabei hätten Sie eigentlich längst herausfinden müssen, dass Chet meine schlechteste Angestellte ist. Sie ist unzuverlässig. Hedonistisch. Und illoyal. Wenn Sie sie erschießen, tun Sie mir fast schon einen Gefallen. Das war absolut keine gute Arbeit, Herr Kommissar.“ Er schüttelte den Kopf, als wäre er ein Lehrer, der vom Prüfungsergebnis seines Schülers enttäuscht ist.
„Ich könnte Sie auch einfach erschießen“, knurrte Alsth. „Wie gefällt Ihnen dieser Plan? Dann wären Ihre Machenschaften eindeutig am Ende!“
Doch Torx ließ sich kein bisschen beeindrucken: „Sehen Sie sich doch mal um. Ich habe zwar in Ihrer Akte gelesen, dass Sie ein recht guter Schütze sein sollen, aber gegen drei meiner Leute hätten Sie beim besten Willen keine Chance. Sie wären tot, bevor Sie überhaupt mit dem Finger zucken könnten.“
Während dieser Alsth ein ziemlich wütendes Gesicht machte, fühlte Gruth sich immer unbehaglicher in seiner Haut. Dieser Kerl hatte eine direkte Verbindung zu Nylla, er war mit ihr unterwegs gewesen und konnte als einer der wenigen bestätigen, dass sie noch lebte. So lange er hier war, bestand die größte Gefahr, dass Torx alles herausfinden würde – wenn er das nicht schon längst hatte!
„Nehmen Sie jetzt besser Ihre Waffe runter“, sagte Torx ruhig. „Bevor einer meiner Leute noch einen nervösen Finger bekommt.“
Langsam senkte Alsth seinen Arm, bis die N-Waffe in seiner Hand auf den Boden zeigte.
Torx nickte zufrieden. „Sehr gut. Und jetzt legen Sie das Ding bitte auf meinen Tisch und schieben es zu mir herüber.“
Zähne knirschend befolgte Alsth Torx’ Anweisungen und achtete dabei genau darauf, keine unbedachte Bewegung zu machen. Torx nahm die Waffe an sich und ließ seine Finger mit ihr spielen. „Sehen Sie, so lässt es sich doch viel besser unterhalten.“
„Äh, Boss, das.... ist meine Waffe“, meldete sich Chet kleinlaut. „Er hat sie mir abgenommen, als er mich als Geisel.... wenn ich sie vielleicht wiederhaben.....“
„Sei still, Chet!“ fuhr Torx sie an. „Weißt du, was ich gerade von Clive erfahren habe? Dass ihr beide jetzt nicht das erste Mal zusammen seid! Ihr habt euch in den letzten Tagen mehrmals getroffen und euch wohl sehr angeregt unterhalten und dabei ganz geheimnisvoll getan. Angeblich hat man euch sogar einmal in flagranti hier in meinem Büro erwischt! Kannst du mir das erklären?“
„Ich habe nicht mit ihm zusammen gearbeitet, ich.... fand ihn einfach nur süß“, erwiderte Chet mit einem vorsichtigen Lächeln. „Ich wusste nicht, dass er ein Bulle ist! Sonst hätte ich mich nie mit ihm eingelassen, ehrlich!“
„So, so....“ Irgendwie schien Torx nicht überzeugt.
Gruth fragte sich, ob vielleicht mehr dahinter steckte als seine übliche Paranoia. Aber Chet – eine Verräterin? Das konnte er sich einfach nicht vorstellen....
Obwohl, wenn er so darüber nachdachte, hatte sie in letzter Zeit auch in den Gesprächen mit ihm ziemlich wenig Loyalität zu ihrem Boss gezeigt.... Und vorhin in ihrem Quartier....
Gruths Augenbrauen schnellten nach oben.
Dieser Hustenanfall vorhin! Genau in dem Moment, als sie das Foto dieses Polizisten gesehen hatte! Jetzt war es Gruth klar: Das war kein Zufall gewesen!
Du Miststück!
Gruth stierte Chet wütend an – doch die konnte gerade nicht auf ihn achten, schließlich wurde sie immer noch von Torx durchlöchert: „Wie wäre es, wenn ich mal unseren Kommissar frage? Wird der mir deine Geschichte wohl bestätigen?“
Chet warf einen unruhigen Blick zu Alsth hinüber. Gib es ruhig zu, dachte Gruth grimmig. Du hast mit ihr gemeinsame Sache gemacht, da gibt es keinen Zweifel!
Alsth sah Chet einige Sekunden nachdenklich an, dann sagte er: „Sie hat damit nichts zu tun. Sie war bloß eine nette Abwechslung während meines Aufenthalts hier. Schließlich hab ich auch mal Feierabend.“
Jetzt war Gruth regelrecht verblüfft. Warum beschützt er sie!? Chet zu verraten wäre seine letzte Chance gewesen, seine aussichtslose Situation noch irgendwie zu verbessern. Aber die hatte er jetzt einfach verspielt....
Auch Chet schien über Alsths Antwort überrascht zu sein. Anscheinend hatte sie erwartet, dass er sie beschuldigen würde.
Torx blickte noch eine Weile misstrauisch zwischen Chet und Alsth hin und her, doch dann ergriff Alsth wieder das Wort: „Also gut, reden wir Klartext, wenn wir schon dabei sind. Ich bin ein Polizist aus Anbis City, das haben Sie richtig erkannt. Und soll ich Ihnen etwas sagen? Wir wissen alles! Wir wissen, dass Ihre Leute die Zella abgeschossen und in die Luft gejagt haben. Wir wissen bescheid über Ihren Plan, dieses System zu übernehmen. Und wir wissen von Ihrer Zusammenarbeit mit einem der einflussreichsten Politiker von Anbis City. Während wir hier sprechen, knöpfen meine Kollegen sich den gerade vor. Das heißt, von ihm können Sie keine Unterstützung mehr erwarten. Tut mir leid, aber ich muss Ihnen mitteilen, dass Ihr ganzer schöner Plan den Bach runter geht.“
Doch Torx ließ sich nicht aus der Fassung bringen. „So? Wenn Sie wirklich alles wissen, wie Sie behaupten, warum versuchen Sie dann so angestrengt, meinen Computer zu knacken? Und was diesen Feigling von Politiker betrifft: Seine Unterstützung wäre hilfreich gewesen, aber es geht auch so. Es wird höchstens einen etwas größeren Verlust an Menschenleben geben, doch das ist zu verkraften. Und alles, was Sie auf dieser Station herausgefunden haben, wird auch nie jemand erfahren. Gruth!“
Gruth schreckte auf und trat einen Schritt nach vorne.
„Ich glaube, unser Gast möchte aufbrechen. Eskortiere ihn doch bitte zur Luftschleuse!“
Überaus erleichtert über diesen Befehl atmete er innerlich auf. Das war es! Das Gespräch war beendet, Torx hatte nichts über Nylla erfahren und Gruth würde nun persönlich dafür sorgen, dass es auch so blieb.
Natürlich würde er Alsth jetzt nicht einfach so die Luftschleuse hinaus jagen. Vorher würde er ihn auf jeden Fall noch ein bisschen über Nyllas Aufenthaltsort ausquetschen....
Er trat auf Alsth zu und baute sich vor ihm auf. Doch gerade, als er ihn an der Schulter packen wollte, piepte plötzlich Torx’ Computer: Jemand wollte sich über das stationsinterne Komnetz bei ihm melden.
Torx schnaubte genervt. Er beugte sich vor und betätigte eine Schaltfläche. „Wer will jetzt was?“ bellte er seinen Computer an.
„Hallo, Torx!“ ertönte eine vertraute Stimme im Raum, die Gruth auf der Stelle den Magen umdrehte und seine schlimmsten Befürchtungen wahr werden ließ. „Hier spricht dein Gewissen!“
„Was?!“ schrie Torx überrascht. „Aber.... du bist tot!“
„Ganz recht, Torx“, sprach die Stimme weiter. „Ich bin tot. Und das ist deine Schuld. Du hast dein Killerkommando auf mich gehetzt. Nachdem ich fast zehn Jahre meines jungen Lebens dafür verschwendet habe, dir jeden Wunsch zu erfüllen, jeden noch so gefährlichen Auftrag für dich zu erledigen und pausenlos mein Leben zu riskieren, damit du kräftig absahnen konntest, hast du mich einfach abserviert. Und weißt du warum? Wegen einer Kleinigkeit! Weil ich zum ersten Mal in meinem Leben einen winzigen Fehler gemacht habe. Weil du ein verbitterter, paranoider Psychopath bist, der niemandem vertrauen kann. Ich war noch so jung, mir hätte ohnehin niemand etwas geglaubt und deine tollen Geheimnisse haben mich nie interessiert, aber das hat dich alles nicht gestört! Du hast mich eiskalt ermorden lassen!
Aber trotz all deiner Bemühungen konntest du mich nicht ganz töten. Hörst du diese Stimme? Es ist der Teil von mir, den ich dir zurück gelassen habe. Mein persönlicher Racheengel. Und seine Aufgabe ist es, dein Leben zu zerstören, so wie du meins zerstört hast. Hör mich an, Torx! Du wirst keine ruhige Minute mehr haben! All deine Pläne werden sich in Luft auflösen! Und deine Station ist dem Untergang geweiht! Ich kann dafür sorgen! Hast du gehört, Torx? Ich werde diese Station vernichten!“
Mit diesen Worten wurde die Verbindung beendet.
Für die nächste halbe Minute war es so still in Torx’ Büro, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Niemand rührte auch nur einen Finger. Die einzige Veränderung im Raum war Torx’ Gesichtsfarbe, die ganz langsam von Kreidebleich über ein gesundes Rosa bis hin zu einem tiefen Purpurrot wechselte.
Dann schlug Torx plötzlich mit der Faust auf seinen Computer und brüllte in das eingebaute Mikrofon: „Torx an alle! Wir haben einen Eindringling auf der Station! Die meisten von euch werden sie sicher noch kennen, sie heißt Nylla! Sie hat uns alle verraten und ist sehr gefährlich! Demjenigen, der mir ihren Kopf bringt, verspreche ich eine saftige Belohnung! Torx Ende!“
Währenddessen zerbrach sich Gruth fieberhaft den Kopf, wie er noch heil aus dieser Sache entkommen sollte. Er musste irgendwie seine beiden Wachkollegen ausschalten, die Mausefalle im Vorraum abschalten und dann....
„Gruth“, hörte er seinen Boss sagen. Seine Stimme klang ganz leise und emotionslos, in völligem Gegensatz zu seiner eben gesprochenen Durchsage. „Kannst du mir das bitte erklären?“
Gruth stand immer noch mit dem Rücken zum Schreibtisch da. Alsth und Chet blickten ihn an, beide mit einer undeutbaren Miene. Hinter sich hörte er Clive und Yaan den Atem anhalten.
„Nein“, erwiderte Gruth.
Er bemühte sich, ähnlich leise und emotionslos zu klingen, konnte jedoch das Zittern aus seiner Stimme nicht völlig verbannen.
„Nein?“ Gruth kannte seinen Boss inzwischen so gut, dass er genau wusste, wie sehr dieser im Inneren brodeln musste. „Gerade eben habe ich die Stimme einer jungen Frau gehört. Das hat mich sehr überrascht. Schließlich hat mir vor kurzem jemand erzählt, er hätte sie getötet. Gruth, kannst du mir erklären, seit wann Tote sprechen können?“
Vorsichtig und von den drei Personen in seinem Rücken unbemerkt schob Gruth seine Hand in Richtung seiner rechten Hüfte, wo seine N-Waffe am Gürtel hing. Er zog sie nicht, berührte sie nicht einmal, sondern ließ nur die Finger in ihrer Nähe kreisen.
„Nein“, erwiderte er. Diesmal war er mit seiner Leistung schon etwas zufriedener.
„Erinnerst du dich noch, warum ich dich damals ausgewählt habe?“ fragte Torx als nächstes. Er klang dabei fast schon mitleidig. „Ich kannte deine Eltern. Mit beiden habe ich Seite an Seite im Krieg gekämpft. Deinem Vater musste ich an seinem Sterbebett das Versprechen geben, mich um dich zu kümmern. Und das habe ich. Denn du hast dich als hundertprozentig loyal erwiesen. Ich habe dich zu meinem Leibwächter gemacht und war mit deiner Arbeit immer voll und ganz zufrieden.
Und jetzt stell dir meine Überraschung vor: Du hast mich angelogen! Und zwar nicht nur einmal, sondern während der letzten Tage praktisch die ganze Zeit! Du hast deinen Auftrag nicht erfüllt. Und zwar nicht nur einmal, sondern gleich zweimal! Du hast meine gesamten Pläne gefährdet, weil eine Person, die du getötet zu haben vorgabst, jetzt plötzlich quicklebendig auf meiner Station herumläuft. Gruth, hast du eine Ahnung, wie es so weit kommen konnte?“
Ganz langsam begann Gruth sich umzudrehen. Zuerst sah er Yaan auf der linken Seite des Tisches, die ihre Hand in Richtung ihrer Waffe geschoben hatte und jederzeit ziehen konnte. Die Überraschung war ihr über das ganze Gesicht geschrieben. Yaan war eine ziemlich gute Schützin und würde ihn nicht verfehlen, aber wenn er sie als erstes anvisierte, würde er vielleicht schneller sein. Vielleicht.
Dann sah er Torx in seinem Sessel sitzen. Seine Gesichtsfarbe hatte sich etwas normalisiert, doch Gruth wusste, dass er innerlich kein bisschen ruhiger war als nach Nyllas Durchsage. Die Hände hatte Torx auf die Tischplatte gelegt, zwischen seinen Fingern steckte immer noch die Waffe, die er Alsth abgenommen hatte. Doch Torx war es nicht gewöhnt, mit einer Waffe umzugehen, denn er überließ das Schießen sonst immer seinen Leuten. Vielleicht würde Gruth es schaffen, hier heraus zu kommen, bevor Torx auf die Idee kam, das Ding in seiner Hand zu gebrauchen. Vielleicht.
Und rechts stand schließlich Clive und machte ziemlich denselben Eindruck wie Yaan. Clive war ein eher durchschnittlicher Schütze. Vielleicht würde er Gruth verfehlen, wenn es hart auf hart kam. Vielleicht.
„Nein“, sagte Gruth erneut.
Wieder war es für ein paar Sekunden völlig still im Raum, dann stellte Torx die Frage, auf die es ankam: „Warum?“
Gruth atmete tief durch. Nur seine Finger ließ er nicht entspannen, sondern hielt sie die ganze Zeit in Position. Wenn er jetzt die Waffe ziehen würde, würde er vielleicht durchkommen. Vielleicht.
Dies war die einzige Chance, die sein Boss ihm geben würde. Gruth wusste, dass das sehr gnädig war. Jeder andere außer ihm würde diese Möglichkeit nicht bekommen.
„Ich konnte es nicht“, sagte er. Das Zittern in seiner Stimme war verschwunden. „Nylla ist die talentierteste Schmugglerin, die ich kenne. Und sie ist einer der besten Menschen, die ich kenne. Und sie ist erst neunzehn. Zugegeben, sie hat sich ziemlich daneben benommen und Dinge erfahren, die sie nichts angehen. Aber sie hat es nicht verdient zu sterben.“
Torx dachte darüber nach, was Gruth gesagt hatte, und nickte dann. „Da hast du vielleicht sogar recht“, urteilte er schließlich.
Gruth sah, wie Clive und Yaan aufatmeten und sich etwas entspannten. Sie kannten ihren Boss eben nicht so gut wie er.
„Aber das hattest nicht du zu entscheiden, Gruth!“ fuhr Torx fort. „Deine Aufgabe war es, meine Aufträge zu erfüllen. Du solltest immer ehrlich zu mir sein. Und du hast versagt. Erschießt ihn!!“
Sofort griffen Yaan und Clive nach ihren Waffen. Wenn Gruth es ihnen gleich täte, hätte er vielleicht eine Chance zu entkommen. Vielleicht.
Vielleicht aber auch nicht.
Deswegen ging er stattdessen blitzschnell in die Hocke und sprang geduckt auf Clive zu. Zwei Energiestrahlen zischten über seinem Rücken hinweg. Beide hätten ihn getroffen, wäre er stehen geblieben.
Gruth packte mit beiden Händen Clives Füße und warf ihn nach hinten um. Clive knallte mit dem Kopf auf den Boden, seine Kiefer schlugen aufeinander und er stieß einen verkümmerten Protestlaut aus. Gruth ging gebückt hinter dem Schreibtisch in Deckung, wodurch Yaan keine freie Schussbahn mehr hatte.
Schnell griff er über den Schreibtisch und fand den Schalter, der die Mausefalle deaktivierte. Er schlug darauf ein und brachte sich schnell wieder in Sicherheit. Keinen Moment zu früh: Yaans zweiter Schuss fegte nur Millimeter über seinem Kopf hinweg.
Dann stemmte Gruth seine beiden Handballen gegen die Unterseite der Tischplatte. Er nahm alle Kraft zusammen, die er in seinem Körper finden konnte, und riss den gesamten Tisch mit einem ohrenbetäubenden Brüllen nach oben.
Kabel wurden aus dem Boden gerissen und Torx’ Computer flog im hohen Bogen davon und schepperte gegen die Wand, als der Schreibtisch auf die Seite kippte. Alles ging so schnell, dass Yaan keine Zeit mehr hatte zu reagieren. Denn der Tisch hatte noch genügend Schwung, um noch einmal zu kippen – direkt auf sie zu!
Yaans schriller Aufschrei wurde durch das Knacken zahlreicher ihrer Knochen unterbrochen, als der massive Tisch sie unter sich begrub. Nur noch ihre Füße und auf der anderen Seite die Hand, in der sie die Waffe hielt, ragten unter der Tischplatte hervor. Doch von dieser Waffe hatte Gruth nichts mehr zu befürchten.
Während Gruth in den Augenwinkeln bemerkte, dass Clive sich wieder rührte, machte er einen Satz auf Torx zu, der verdattert auf seinem Stuhl saß und noch nicht so ganz kapiert hatte, was hier gerade geschah. Er stieß mit dem Fuß gegen Torx’ Sessel, wodurch dieser mit samt seinem wehrlosen Besitzer nach hinten umkippte. Gleichzeitig griff er nach seiner Waffe, zielte auf Clive und schoss. Der Wachmann erschlaffte in seiner Bewegung und blieb reglos liegen.
Woraufhin Gruth sich aus dem Staub machte. Weder Chet noch Alsth machten irgendwelche Anstalten, ihn aufzuhalten. Gerade als er aus dem Vorraum auf den Gang hinaus stürmte, hörte er Torx’ lautes Brüllen: „Hiergeblieben!!“ und eine Waffenentladung.
War Torx also auch endlich auf die Idee gekommen, seine Waffe zu verwenden. Nur leider viel zu spät: Gruth war längst außer Reichweite.
Nachdem Gruth weg war, hatte Torx sich aufgerappelt und war mit gezogener Waffe hinter ihm her gerannt – und zwar mit einem Affenzahn, den man dem alten, schmächtigen Mann gar nicht zugetraut hätte.
Damit verblieben nur noch Alsth und Chet im Raum. Zumindest waren sie die einzigen, die sich noch rührten.
Alsth warf Chet einen abschätzenden Blick zu....
Chet erwiderte den Blick....
Dann setzten sich beide in Bewegung.
Alsth hechtete zu Clive hinüber, der eindeutig tot war. Er riss ihm die Waffe aus der Hand und schwang sie in Chets Richtung.
Chet hechtete zu Yaan hinüber, deren Zustand ziemlich ungewiss war. Sie riss ihr die Waffe aus der Hand und richtete sie auf Alsth.
Das Ergebnis war eine typische Patt-Situation: Die beiden standen sich mit aufeinander gerichteten Waffen gegenüber.
„Du willst mich erschießen, obwohl du gerade eben mein Leben gerettet hast?“ fragte Chet.
„Du willst mich erschießen, obwohl ich gerade eben dein Leben gerettet habe?“ entgegnete Alsth.
Sie blickten sich herausfordernd an.
„Darf ich dich was fragen, Django.... Alsth?“
„Du fragst dich, warum ich dich vorhin nicht verpfiffen habe, stimmt’s?“
„Ich hätte dich als jemand eingeschätzt, der jede gute Gelegenheit ausnutzt. Wenn du mich als Verräterin entlarvt hättest, hätte das vielleicht für genug Ablenkung gesorgt, um dir Zeit für einen Fluchtversuch zu verschaffen. Das war eine gute Gelegenheit, aber du hast sie nicht ausgenutzt.“
„Ich kann doch nicht die Frau, an die ich beinahe meine Unschuld verloren hätte, ans Messer liefern!“ erwiderte Alsth kühn. „Außerdem brauche ich dich noch. Du erinnerst dich: Die Codes für Torx’ Computer! Wenn du so freundlich wärst....“
„Vergiss es. Inzwischen habe sogar ich kapiert, dass du keine Armee vor unserer Tür hast. Nur eine kleine, gerissene Schmugglerin. Ich werde aber nicht so lange hier bleiben, bis deine Armee tatsächlich hier auftaucht.“
Sie warf einen skeptischen Blick auf den Computer, der ziemlich ramponiert in einer Ecke des Büros herumlag. „Außerdem sieht dieses Ding nicht so aus, als könnte man damit noch groß was anfangen. Gruth hat ganze Arbeit geleistet. Deswegen gedenke ich jetzt, hier zu verschwinden.“
„Ich könnte dich trotzdem immer noch erschießen“, merkte Alsth an und wedelte demonstrativ mit seiner Waffe.
„Na und? Ich dich auch!“
Fünf Sekunden hielten sie dieses Spiel noch durch. Dann mussten sie beide grinsen und senkten ihre Waffen gleichzeitig.
„Vorhin in meinem Quartier hattest du recht“, sagte Chet. „Ich will dich eigentlich gar nicht umnieten.“
„Gut zu wissen. Ich dich übrigens auch nicht.“
Chet nickte ihm lächelnd zu, dann wanderte ihr Blick zur Seite. „Kannst du mir kurz mal helfen?“
Alsth folgte ihr zu dem umgekippten Schreibtisch, unter dem Yaans Gliedmaßen hervorragten. Ächzend hob er den Schreibtisch, der wirklich höllisch schwer war, kurz an, sodass Chet die bewusstlose Frau darunter hervorziehen konnte.
„Sie lebt“, stellte Chet fest. „Du hast nicht zufällig Lust, mir zu helfen, sie hier rauszubringen? Alleine schaff ich das wohl nicht.“
„Tut mir leid, ich muss mich um andere Dinge kümmern....“ Alsth beugte sich zu Yaan herunter und begutachtete sie schnell. „Sieht nach einigen Knochenbrüchen aus. Aber sie verliert kein Blut und ihr Puls ist stabil. Sie wird wohl durchkommen, bis meine Leute hier sind.“
Chet stand auf. „Na gut. Ich werde aber sicher nicht so lange warten. Ich hänge nämlich an meiner Freiheit....“
Sie begutachtete Alsth für einen Moment und sagte dann: „Pass auf: Weil du für einen Cop gar nicht so übel bist und ich eine vernünftige Frau bin, gebe ich dir einen kleinen Tipp: Zufällig hab ich mir alle Daten, die du unbedingt haben willst, schon durchgesehen. Und ich glaube, ich weiß, wonach du suchst und wo du es finden kannst: Schau dich doch mal auf Ebene 13 hier auf der Station um! Da wirst du eine hübsche Überraschung erleben!“
„Ebene 13? Okay, danke....“
Die beiden nickten sich zu und Chet machte sich daran zu gehen. Doch dann hielt sie noch einmal inne und drehte sich wieder zu Alsth um. Sie kam näher, schlang ihre Hände um seinen Nacken und küsste ihn ausgiebig.
Diesmal war die Wirkung nicht mehr ganz so extrem wie bei den ersten beiden Malen, doch es haute ihn immer noch um. Als er wieder zu sich kam, war Chet verschwunden....
„Nylla, bist du da?“ ertönte Alsths Stimme aus dem Komlink
Auf ihrem Weg durch die Station hatte Nylla kaum Probleme gehabt. Schließlich waren die meisten Stationsbewohner Schmuggler wie sie. Sie kannten Nylla alle seit Jahren und konnten Torx‘ Durchsage daher nicht allzu viel abgewinnen. Keiner von den Schmugglern, die Nylla in den Gängen traf, machte auch nur irgendwelche Anstalten sie aufzuhalten. Nur vor Gruths Wachmannschaft musste sie sich in Acht nehmen.
Bisher hatte Nylla erst eine Wache getroffen. Sie hatte ihr von hinten eine übergebraten und ihr die Waffe abgenommen. Mit dieser Waffe im Anschlag marschierte sie zügig, aber immer noch sehr vorsichtig, durch die Gänge.
„Hier bin ich!“ antwortete sie. „Wie ich hörte, ist dein Treffen mit Torx recht gut für dich ausgegangen.“
„Für mich schon, für andere weniger. Danke übrigens für die Ablenkung. Und was ist mit dir? Torx wollte mir schon weiß machen, er hätte die Tawain 1 zu Staub zerschossen.“
„Das hat er auch! Aber erst nachdem ich an der Station angedockt und mein Schiff verlassen hatte. Auf dem Heimweg musst du mich übrigens mit deinem Schiff mitnehmen.“
„Wird gemacht! Wo bist du gerade?“
„Ich hatte eigentlich vor meine Drohung wahr zu machen und bin unterwegs zum Stationsreaktor auf der 12. Ebene.“
„Ah, sehr gut, dann bist du ja schon fast richtig! Chet hat mir gesagt, wir sollen uns mal die 13. Ebene anschauen.“
Nylla blieb schlagartig stehen. „Was? Und ich dachte, ich hätte mich verhört!“
„Stimmt irgendwas nicht?“
„Alsth.... es gibt keine 13. Ebene! Die Reaktorebene ist die unterste, darunter sind nur noch die Gravitationsgeneratoren und ein paar Leitungen! Auch mit dem Lift kannst du nur 12 Ebenen erreichen!“
„Was? Bist du dir sicher?“
Nylla stöhnte genervt auf. „Alsth, ich habe 15 meiner bisherigen 19 Lebensjahre auf dieser verdammten Station verbracht! Ich kenne hier jeden Winkel!“
„Oh, natürlich. Schon gut. Und was sollen wir jetzt machen?“
„Keine Ahnung....“ Nylla ließ ihren Blick schweifen. Zufällig blieb er dabei an einer ganz bestimmten Stelle hängen.
Alsth redete inzwischen weiter: „Vielleicht kann ich Chet noch mal einholen und....“
„Warte mal!“ unterbrach Nylla ihn. „Ich glaube, ich hab mich geirrt! Ich kenne wohl doch nicht jeden Winkel....“
„Äh.... willst du mir als Unwissendem vielleicht erklären, was du meinst?“
„Jetzt, wo du mich mit der Nase drauf stößt: Hier auf der 12. Ebene, gibt es tatsächlich zwei oder drei Türen, von denen ich nicht weiß, was dahinter ist. Eine davon ist zufällig direkt vor mir. Ich hab mich schon als Kind immer gefragt, wo sie wohl hin führt. Bisher hatte ich aber nie die Gelegenheit dazu, es heraus zu finden.“
„Gratuliere, die hast du jetzt!“ erwiderte Alsth aufgeregt. „Kannst du sie öffnen?“
Nylla rüttelte an der Tür. Sie war verschlossen. Nirgendwo war ein Schloss zu erkennen oder ein Display, wo man einen Code eingeben konnte. Nylla hatte auch wenig Hoffnung, mit ihrer erbeuteten Waffe hier irgendwas erreichen zu können.
Plötzlich hörte sie von der Tür ein lautes Klicken. Dann sprang sie schlagartig auf.
Irgendjemand hatte offenbar gerade einen Öffnungsbefehl gegeben. Nylla sah sich um und horchte, registrierte aber niemanden in der Nähe.
Also entweder, jemand hat eine der anderen „verbotenen“ Türen geöffnet, wodurch diese hier auch freigeschaltet wurde – oder auf dieser Station spukt es....
„Sie ist offen“, erwiderte sie auf Alsths Frage.
„Sehr gut! Bleib, wo du bist! Ich bin in zwei Minuten da!“
„Beeil dich, ich bin schon ganz neugierig!“
„Mach ich. Übrigens, wegen diesem Spruch vorhin mit der Eifersucht....“
„Vergiss es einfach.“
„Okay.“
Nylla verschränkte die Arme und blickte in den dunklen Raum hinter der geöffneten Tür hinein. Es war ein ziemlich kleiner Raum und in einer Ecke erkannte sie ein rundes Loch im Boden sowie das obere Ende einer Leiter, die in das Loch hinein führte.
Hmm.... Jetzt, wo ich schon fünfzehn Jahre darauf gewartet habe zu erfahren, was dahinter ist, könnte man meinen, ich könnte auch noch zwei Minuten warten....
Andererseits trieb sich dort unten irgendjemand herum und vernichtete womöglich alle Beweise, wenn sie jetzt noch länger wartete.
Nylla zuckte mit den Achseln und bestieg die Leiter.
Gruth hatte gerade den Bereich der Station erreicht, an dem die meisten Schiffe angedockt waren, als er von hinten eine laute Stimme hörte:
„Hey, Gruth! Weißt du, was hier vor sich geht?“
Gruth hielt an und drehte sich um. Joe, einer der dienstältesten Schmuggler auf der Station, kam auf ihn zu gerannt. Er blieb vor Gruth stehen und sah ihn fragend an.
„Zuerst dieser Angriff, dann Torx’ komische Durchsage und jetzt seh ich dich hier, wie du dich scheinbar aus dem Staub machst. Irgendwas geht hier doch nicht mit rechten Dingen zu!“
Gruth dachte kurz darüber nach, wie viel er Joe verraten konnte. „Das ist eine lange Geschichte.... und wir haben vielleicht nicht mehr viel Zeit“, sagte er dann.
Inzwischen hatten sich zwei weitere Schmuggler zu Joe hinzu gesellt, um Gruths Erklärung zu hören.
Warum soll ich ihnen eigentlich nicht die Wahrheit sagen, schoss es ihm durch den Kopf. Torx‘ Geheimnisse zu bewahren war so in seiner DNA verwurzelt, dass er es ganz automatisch machte – aber das war nun wohl obsolet geworden....
„Ich kann euch nur sagen, dass diese Station nicht mehr sicher ist“, fuhr er daher fort. „Leute, wir sind aufgeflogen! Unser Boss hat es in letzter Zeit etwas übertrieben und die Kosmopol ist auf uns aufmerksam geworden. Ich rechne damit, dass es hier in der Gegend bald nur so von Patrouillenschiffen wimmeln wird, die uns ausräuchern wollen!“
Weitere Leute hatten sich der kleinen Gruppe angeschlossen und hörten erschrocken zu. Es überraschte Gruth nicht besonders, dass er so viele Schmuggler hier in der Nähe der Docks traf. Sicherlich hatten die meisten von ihnen bei Nyllas kurzem Angriff vorhin sofort ihre Schiffe aufgesucht und schon mal die Triebwerke warmlaufen lassen. So waren sie eben.
„Hört zu, Leute“, fuhr er fort. „Am besten, ihr packt so schnell wie möglich eure Sachen, sagt jedem Bescheid, der euch wichtig ist, und macht, dass ihr von hier verschwindet! Und kommt nie wieder hier her zurück! Diese Station ist so gut wie tot, das kann ich euch versichern. Ihr müsst euch wohl eine andere Arbeit suchen. Ich habe gehört, Ombro sucht wieder jede Menge Leute. Also, seht zu, dass ihr die Kurve kratzt!“
Gruth musste die Schmuggler nicht zweimal bitten. Kaum hatte er zu Ende gesprochen, setzten sich alle eilig in Bewegung und rannten in verschiedene Richtungen davon. Nur eine Person blieb vor ihm stehen und blickte ihn lächelnd an.
„Sieht so aus, als wären wir doch nicht so verschieden, wie du immer dachtest, Großer!“
„Ja. Anscheinend sind wir beide Verräter“, erwiderte Gruth mürrisch.
„Ach komm“, lachte Chet. „Wir sind eben nicht so seelenlos, dass wir uns voll und ganz einem Kerl wie Torx unterwerfen. Und gib es zu, du hast es aus Liebe getan. Ich eigentlich auch, wenn man es so formulieren will....“ Sie wartete, ob Gruth etwas erwidern wollte, aber dieser blieb still. „Und? Hast du Torx erschossen?“ fragte sie dann.
„Nein, er ist mir nicht gefolgt. Zumindest habe ich irgendwann Deckung gesucht und auf ihn gewartet, aber es kam niemand. Dann bin ich hier hergekommen.“
„Komisch“, wunderte sich Chet. „Ich dachte wirklich, du wärst der Grund, warum er in diesem Tempo aus seinem Büro gestürmt ist. Aber egal. Es ist eben Torx, wir müssen ja nicht alles verstehen, was in seinem kranken Hirn so vorgeht.“
Gruth war zwar etwas anderer Ansicht, wollte dieses Thema aber nicht weiter vertiefen. „Wo willst du jetzt hin, Chet?“
Chet zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung. Aber ich werde garantiert nicht einen Psychopathen wie Torx durch den nächsten austauschen und zu Ombro überlaufen. Wahrscheinlich werde ich das Anbis-System erst mal verlassen, irgendwo untertauchen und dann sehen wir weiter. Und du?“
Gruth seufzte. In den letzten Minuten war eine große Last von seinen Schultern gefallen. Alle seine Verpflichtungen hatten sich in Luft aufgelöst. Er musste Nylla nicht mehr finden und töten, er musste nicht mehr alles tun, um seinen Boss zufrieden zu stellen, und er war nicht mehr für den Schutz einer ganzen Raumstation verantwortlich.
Andererseits waren genau diese Verpflichtungen bisher sein ganzes Leben gewesen. Und jetzt, wo das alles weg war, fehlte ihm jede Perspektive. Er blickte Chet niedergeschlagen an. „Ich weiß es nicht.“
Chet legte ihren Kopf zur Seite. „Du wirst es schon packen, Großer!“
Gruth wollte sich schon verabschieden und gehen, doch Chet war noch nicht ganz fertig. „Du weißt schon, dass Nylla hier auf der Station ist?“
Gruth hielt inne und zog die Augenbrauen ein. „Natürlich. Schließlich habe ich ihren Funkspruch mitgehört. Worauf willst du hinaus?“
„Weißt du, du hast dir in den letzten Tagen so viele Probleme wegen ihr gemacht. Eigentlich hättest du sie schon längst töten sollen, aber in gewisser Weise verdankt sie dir ihr Leben. Und du verdankst ihr, dass du endlich von Torx losgekommen bist. Du kannst es drehen und wenden, wie du willst, aber du hast sie ins Herz geschlossen. Zwischen euch gibt es eine Verbindung. Hier und heute hast du vielleicht die letzte Möglichkeit, etwas daraus zu machen.“
Chet blickte ihn erwartungsvoll an, doch Gruth wusste nicht, was er sagen sollte. Er wusste nicht einmal, was er darüber denken sollte. Also erwiderte er ihren Blick nur stumm.
„Na gut“, winkte Chet dann ab. „Es ist deine Entscheidung. Ich für meinen Teil sehe jetzt zu, dass ich meinen süßen Hintern hier raus schaffe! Leb wohl, mein Großer!“
Mit diesen Worten schlang Chet ihre Arme um Gruth und drückte ihn fest an sich. Er schloss die Augen und genoss ihre Umarmung in vollen Zügen. Dann lösten sie sich voneinander und Gruth sah Chet zu, wie sie in Richtung der Dockschleusen verschwand.
„Mach es gut“, murmelte er.
Jetzt war er alleine hier. Chet war weg. Die meisten Schmuggler waren geflohen oder gerade dabei, ihre sieben Sachen zu packen. Von seinen anderen Kollegen war niemand zu sehen. Es war nun auch für ihn Zeit zu verschwinden.
Entschlossen machte er sich auf den Weg zu seinem Schiff.
Nach drei Metern blieb er stehen. Seine Füße wollten sich nicht bewegen. Dabei waren sie eigentlich voll funktionstüchtig.
„Das wirst du mir büßen, Chet!“ seufzte er.
Dann drehte er sich um und rannte in die entgegengesetzte Richtung.
Nylla tauchte in die Dunkelheit ein und befand sich plötzlich in absoluter Schwerelosigkeit.
Sie hielt kurz inne, bis sich ihre Augen an die schwachen Lichtverhältnisse hier unten gewöhnt hatten und die leichte Übelkeit, die sie wegen der plötzlichen Verwirrung ihres Gleichgewichtssinns verspürte, sich wieder legte.
Sie musste sich nun ganz an der Unterseite der Raumstation befinden – sogar unterhalb der Gravitationsgeneratoren und damit nicht mehr in deren Einfluss. Eigentlich hatte sie jetzt keine besonders große Lust auf ein Antigrav-Training, aber es blieb ihr wohl nichts anderes übrig.
Vorsichtig hangelte sie sich bis zum unteren Ende der Leiter weiter. Ihre Füße landeten auf einem dicken Rohr. Offensichtlich gab es hier unten keinen richtigen Fußboden. Aufgrund der fehlenden Schwerkraft brauchte es natürlich auch keinen. Das Rohr verlief quer zur Leiter auf beiden Seiten weiter in die Dunkelheit hinein, bis sie es nicht mehr sehen konnte.
Überhaupt war alles um sie herum voller Rohre, dicker Bündel mit Polymerfaserkabel und Abdeckgitter, die noch mehr Rohre und Kabelbündel verbargen. Über ihr – oder zumindest dort, wo oben wäre, wenn hier dieselben Gravitationsverhältnisse wie im Rest der Station geherrscht hätten – erkannte sie den Schatten großer zylinderförmiger Maschinen. Auch einige Meter direkt gegenüber der Leiter sah sie einen großen Kasten, der leise und periodisch summte.
Da ihre momentan einzige Lichtquelle von oberhalb der Leiter kam – aus dem Gang eine Etage über ihr – und nur einen schmalen Kegel um die Leiter herum ausleuchtete, hatte sie keinerlei Vorstellung davon, wie groß der Raum war, in dem sie gelandet war. Und ob hier unten noch irgendetwas anderes war als Maschinen und Leitungen.
Aber Chet hatte ja gesagt, dass sie hier etwas finden würden. Irgendetwas, was ihnen verraten würde, wie Torx’ vollständiger Plan aussah. Also musste sie sich wohl oder übel durch die Dunkelheit vorantasten und einfach herumsuchen.
Nylla stieß sich von der unteren Sprosse der Leiter ab und schwebte langsam auf eins der kleineren Rohre zu. Sie klammerte sich mit beiden Händen daran fest und verhinderte so, dass sie einfach unkontrolliert durch den Raum schwebte. Langsam hangelte sie sich am Rohr entlang weg von der Leiter, bis es hinter einer Abdeckplatte verschwand. Dann segelte sie zu einem Bündel aus vier oder fünf dicken Kabeln hinüber, das sie weiter in den Raum hinein führte. Ihrem Gefühl nach bewegte sie sich an der Wand eines ziemlich großen Raums entlang, aber sicher sein konnte sie sich nicht.
Irgendwie wirkte die Luft hier unten ausgesprochen trocken und steril, mehr noch als sonst auf der Raumstation. Es war ziemlich unangenehm, selbst für jemanden wie Nylla, die in einer künstlich erzeugten Atmosphäre aufgewachsen war. Soweit sie das erkennen konnte, war alles hier sehr, sehr sauber, eigentlich unüblich für einen Maschinenraum. Wenn sie da an die Wartungsröhren in ihrem eigenen Raumschiff dachte....
Als auch das Kabelbündel sie nicht mehr weiter brachte, hielt sie nach der nächsten guten Greifmöglichkeit Ausschau. Dummerweise hatte sie sich schon so weit vom Eingang entfernt, dass sie nicht einmal mehr dunkle Schatten erkennen konnte. Sie tastete mit ihren Füßen in alle Richtungen, fand aber nichts, was ihr dabei helfen würde, kontrolliert vom Fleck zu kommen. Sackgasse.
Es half alles nichts. Sie musste sich auf gut Glück in den Raum hinein fallen lassen und darauf hoffen, dass sie irgendwann auf etwas traf, das sie davon bewahrte, ewig wie eine Flipperkugel herum zu hüpfen.
Gerade, als sie sich abstoßen wollte, bemerkte sie plötzlich etwas. Eine zweite Lichtquelle. Ein ganz leichter Schimmer, der aus der entgegengesetzten Richtung der Leiter kam und im Gegensatz zum gelblichen Licht der Stationsbeleuchtung mehr ins Blaue ging.
Dann wollen wir diesem Licht doch mal einen Besuch abstatten.
Nylla richtete sich ungefähr in die Richtung aus, in der sie glaubte, dass sich die zweite Lichtquelle befand, und stieß sich ab wie ein Schwimmer vom Beckenrand.
Sie machte sich bereit, jeden Moment auf der gegenüberliegenden Seite irgendwo gegen zu stoßen, doch stattdessen schwebte sie immer weiter und weiter. Im Grunde hatte sie überhaupt keine Ahnung, welche Geschwindigkeit sie momentan hatte, und irgendwie hatte sie auch die beiden Lichtquellen völlig aus den Augen verloren.
Ganz plötzlich, vom einen auf den anderen Moment, verlor sie komplett die Orientierung, hatte das Gefühl, als würde sie in eine Schlucht ohne Boden fallen, immer weiter bis ins Unendliche. Aber schließlich, nach schier endlosen Sekunden, traf sie auf eine Wand.
Gleichzeitig vernahm sie ein paar kleine Geräusche. Leises Geklapper, das Erste überhaupt, was ihre Ohren hier unten abgesehen vom dumpfen Maschinensummen wahrnahmen. Für einen Augenblick glaubte sie sogar, menschlichen Atem zu hören.
Sie versuchte irgendwie, sich an der völlig glatten Wand festzuhalten und sich dabei eine definierte Richtung zu geben, auf die Geräusche zu, was ihr natürlich nur bedingt gelang. Nun entdeckte sie auch endlich das blaue Licht wieder. Es war genau dort, wo die Geräusche herkamen....
Ein Hindernis, das ihr bisher die Sicht verdeckt hatte, verschwand plötzlich und ein Monitor kam in Nyllas Blickfeld, schätzungsweise etwa zehn, fünfzehn Meter entfernt vor ihr. Das war also die blaue Lichtquelle. Nachdem sie nun wieder einen guten Orientierungspunkt hatte, fiel es ihr nicht mehr schwer, in dem Zwielicht ein Rohr auszumachen, an dem sie sich problemlos festhalten konnte.
Vorsichtig hangelte sie sich an dem Rohr entlang auf den Monitor zu und versuchte dabei, möglichst geräuschlos zu bleiben.
Eine Person befand sich direkt vor dem Monitor und schien sehr beschäftigt zu sein. Sie bearbeitete mit der rechten Hand ein größeres Bedienfeld unterhalb des Monitors. In der linken Hand hielt sie einen kleinen, rechteckigen Gegenstand vor sich.
Kurz darauf erkannte Nylla, dass es ein Notepad war, von dem ebenfalls ein bisschen Helligkeit ausging. Die Person war nur noch ein paar Meter von ihr entfernt und hatte ihr den Rücken zugedreht. Vielleicht konnte sie sich unbemerkt an sie heranschleichen und sie überrumpeln.
Gemessen an der Grabesstille, die bisher geherrscht hatte, kamen ihr die scheppernden Geräusche, die im nächsten Moment hinter ihr ertönten, geradezu wie ohrenbetäubender Krach vor. Sie schreckte zusammen und die Person am Monitor tat es ihr gleich.
Von hinten hörte Nylla etwas, das nach einem unterdrückten Fluch klang. Gefolgt von weiterem Lärm.
„Wer ist da?“ kam es von vorne. Diese Stimme kannte Nylla: Die Person am Monitor war ganz eindeutig Torx!
Seltsamerweise verpasste ihr diese Erkenntnis einen Stich in der Magengegend – zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren, in denen sie diesen Kerl kannte, hatte sie Angst vor einer Begegnung mit ihm....
Plötzlich blitzte etwas hell auf und Nylla kniff die Augen zusammen. Torx hatte eine Taschenlampe eingeschaltet und leuchtete damit in den Raum hinein.
„Kommen Sie auf der Stelle heraus!“
Ehe Nylla daran denken konnte, in Deckung zu gehen, erfasste sie der Lichtschein. Ihre Augen protestierten heftig aufgrund der plötzlichen Veränderung der Lichtverhältnisse.
„Du!!“ bellte Torx aufgebracht. Für einige Sekunden brachte er nur gutturale, würgende Laute von sich, dann brüllte er wieder, diesmal noch wütender, fast schon wahnsinnig: „Duuu!!“
„Hallo, Boss“, erwiderte Nylla und versuchte ihrer Stimme einen möglichst vergnügten Unterton zu verpassen. „Lange nicht gesehen!“ Sie winkte ihm leichtherzig zu. Vielleicht schaffte sie es ja, seinen Kopf vor Wut zum Explodieren zu bringen, dann wäre das Problem erledigt. „Ich glaube, das letzte Mal war.... Moment mal.... ja, genau, als du mich töten wolltest!“
Aber statt noch wütender zu werden, schien sich Torx auf einmal wieder zu entspannen – was jedem, der ihn ein bisschen kannte, wie ein Wunder vorkommen musste.
„Nylla! Ich hätte wissen müssen, dass von allen erbärmlichen Schmugglern, die ich beschäftige, du mir den meisten Ärger machen würdest. Ich hätte meinem Instinkt trauen und dich und deinen Vater sofort wieder rauswerfen sollen, als ihr bei mir aufgetaucht seid.... Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr, es lässt sich ohnehin nicht mehr ändern.“
Deswegen war er also so ruhig: Offenbar hatte er sein Scheitern bereits akzeptiert – oder verdrängt, was angesichts dessen Tragweite wahrscheinlicher war – und plante womöglich bereits seine nächsten Schritte....
„Wenigstens bekomme ich jetzt noch die Gelegenheit, dich dafür bezahlen zu lassen!“ Plötzlich hatte Torx eine Waffe in der Hand und richtete sie direkt auf Nylla.
Wo hat er die auf einmal.... Während sie vor Schreck gefror und in den Lauf der Waffe starrte, versuchte sie sich zu erinnern, wo die jetzt herkam. Richtig, die hat er Alsth abgenommen. Und Alsth hat sie vorher wiederum Chet abgenommen. Was bedeutet, dass es eine tödliche Waffe ist....
„Noch irgendwelche geistreichen letzten Worte?“ fragte Torx höhnisch.
Nylla zwang sich dazu, nicht die geringste Bewegung zu machen. Am liebsten würde sie auf der Stelle die Waffe ziehen, die an ihrem Gürtel hing. Aber sie konnte unmöglich schneller sein als er.
„Ach, weißt du was? Eigentlich will ich sie gar nicht hören!“ Torx’ Finger krümmte sich um den Abzug.
Ein Schuss erklang, der Nyllas Trommelfelle protestieren ließ. Doch er kam nicht aus Torx’ Waffe. Sondern aus einer anderen Richtung, von irgendwoher aus der Dunkelheit.
Der Energiestrahl zischte einen halben Meter über Torx‘ Kopf hinweg. Nylla wusste sofort, dass der Schütze nicht treffen, sondern nur für Ablenkung sorgen wollte.
Torx fuhr herum und schoss vier, fünf Mal in die Dunkelheit hinein, in die Richtung, aus der der Schuss gekommen war. Das gab Nylla genügend Zeit, sich hinter eine Abdeckplatte zu retten und ihre Waffe zu ziehen.
„Wer ist da?!“ brüllte Torx.
Seine Stimme kam immer noch aus Richtung des Monitors. Nylla streckte ihren Kopf aus der Deckung und hob die Waffe. Wenn sie einen perfekt gezielten Schuss abgeben konnte.... Aber Torx war nicht zu sehen. Nylla duckte sich wieder. Wo ist der Kerl hin?
„Antworten Sie!“ schrie Torx weiter. Er schoss erneut ein paar Mal in den Raum hinein.
Nach einigen Sekunden traute sich Nylla wieder, ihren Kopf zu heben. Sie suchte nach irgendeinem Zeichen von Torx und erkannte schließlich, dass er sich hinter dem Pult mit dem Monitor versteckt hatte. Leider in einer zu ungünstigen Position für einen perfekten Treffer. Zumindest schwebte seine Taschenlampe immer noch in der Nähe des Computerpults und warf einen kreisenden Lichtstrahl in den Raum, wie bei einem Leuchtturm.
Aber wenn sie den Schuss irgendwo reflektieren könnte, sodass er doch traf.... Sie war so auf Torx konzentriert, dass sie von dem zappelnden Körper völlig überrascht wurde, der plötzlich mit voller Wucht gegen sie stieß.
Sie wurde aus ihrer Deckung gerissen und schrammte zusammen mit ihrem Angreifer ein paar Meter den Boden entlang, bis sich ihr Fuß in einem Kabelbündel verfing. Hektisch begann sie mit dem Griff ihrer Waffe auf den neuen Gegner einzuschlagen. Sie durfte ihm keinen Moment zum Reagieren geben!
„Nylla!“ zischte er, während er versuchte, ihre Schläge mit den Armen abzuwehren. „Nylla.... Hör auf!“
Nylla hielt inne.
„Oh. Du bist es....“
Alsth nahm die Arme herunter und starrte sie wütend an. Nylla erwiderte den Blick mit entschuldigender Miene.
Eine Waffenentladung fuhr über ihrem Kopf hinweg und ließ sie einmal mehr zusammen zucken. Fast hätte sie vergessen, dass Torx noch da war.
Schnell befreite sie ihren Fuß aus dem Kabelbündel und brachte sich selbst und Alsth wieder hinter ihre Abdeckplatte in Sicherheit.
„Tut mir sehr leid“, flüsterte sie ihm zu. „Was musst du dich auch so auf mich stürzen? Fast hätte ich dich erschossen!“
Alsth rieb sich den Kopf. „Autsch.... Entschuldige bitte den Cop aus Anbis City, der zum letzten Mal als Kind im Vergnügungspark in einem Raum ohne Schwerkraft war.“
„Ach so....“ Darauf hätte Nylla auch selbst kommen können: Nicht jeder hatte von klein auf unzählige Weltraumspaziergänge unternommen, so wie sie.
„Du solltest doch auf mich warten, bevor du hier rein kommst!“ murrte Alsth. „Du kannst von Glück sagen, dass ich es irgendwie geschafft habe, dich einzuholen und noch rechtzeitig zu verhindern, dass dein alter Arbeitgeber dich erschießt!“
„Danke! Aber warum hast du dich nicht über Kom gemeldet?“
„Das habe ich, aber du hast nicht geantwortet!“
Erst jetzt fiel Nylla auf, dass sie die leichte Druckstelle in ihrem rechten Ohr, wo der Sender für die Komverbindung zwischen ihr und Alsth angebracht war, nicht mehr spürte. In der ganzen Aufregung war ihr das völlig entgangen. Wahrscheinlich hatte er sich irgendwann in den letzten Minuten aufgrund der fehlenden Schwerkraft gelöst und war einfach davon geschwebt.
„Sie sind dieser verfluchte Polizist, nicht wahr?“ erklang plötzlich Torx’ Stimme. „Sie hatte ich schon komplett vergessen!“
Nylla wollte schon etwas erwidern, aber Alsth packte sie am Arm und legte einen Finger auf seinen Mund. Dann zeigte er ihr mit Handzeichen an, dass er Torx ablenken würde, während sie sich ihm aus einer anderen Richtung nähern sollte. Nylla nickte und begann sich im Schutz der Abdeckplatten am Boden entlang zu hangeln.
„Den Spruch höre ich öfters!“ erwiderte Alsth nun auf Torx’ letzten Satz.
„Ich hätte Sie sofort erschießen sollen. Wenn man nicht alles selbst macht....“
Alsths und Torx’ Stimmen waren eine gute Orientierungsmöglichkeit für Nylla, während sie versuchte, sich in eine bessere Position zu begeben. So musste sie nicht unbedingt immer einen von beiden im Blickfeld haben.
„Was ist das da überhaupt für ein Computer?“ fragte Alsth. „Muss ja sehr wichtig sein, wenn Sie auf Ihrer Flucht extra den weiten Umweg hier her machen.“
„Das hat Sie überhaupt nicht zu interessieren!“
„Ihr Plan hat sich in Luft aufgelöst, Torx. Ihre Untergebenen haben sich gegen Sie gewandt und Sie sind ruiniert – und doch scheint es für Sie im Moment nichts Wichtigeres zu geben, als diese Daten zu sichern. Die müssen wirklich mordswichtig sein! Irgendein großes Geheimnis, das Ihnen eine Menge Geld bringen könnte, nicht wahr?“
Ganz abrupt hielt Nylla inne. In ihrem Kopf klingelte etwas ganz laut. Alsth hat Recht!
„Da irren Sie sich gewaltig!“ war Torx’ Reaktion darauf.
„Und ich glaube, ich liege goldrichtig! Ein sehr netter Mensch hat mir nämlich verraten, dass ich hier Hinweise darauf finden kann, wie Sie diese ganzen Kraftwerke da draußen in Ihre Gewalt bringen wollen. Was wäre, wenn Sie diesen Plan auch jetzt noch ausführen könnten? Vielleicht brauchen Sie die Hilfe von Gruth und Ihren restlichen Leuten gar nicht. Vielleicht können Sie sich all diese Kraftwerke immer noch ganz alleine unter den Nagel reißen! Selbst wenn Sie Ihren Putsch nicht mehr durchziehen könnten, wäre es immer noch ein sehr lohnendes Ziel und ein gutes Druckmittel gegen jeden, der Ihnen an den Kragen will!“
Und genau das ist auch der einzige Grund, warum Torx sich noch nicht längst aus dem Staub gemacht hat, dachte Nylla. Warum er immer noch hinter diesem Pult hockt und es tatsächlich riskiert, es allein mit zwei überlegenen Gegnern aufzunehmen!
„Sie reden absoluten Unsinn!“ rief Torx gerade, aber irgendetwas in seiner Stimme war ausgesprochen verräterisch. „Ich wollte hier nur noch schnell etwas erledigen....“
Dieser Computer musste für ihn wichtiger als alles andere sein, wichtiger als diese Station, wichtiger als seine Schmugglergeschäfte, sogar wichtiger als seine eigene Sicherheit! Aber was wäre, wenn ich einfach....
Nylla grinste.
Alsth wollte Beweise. Er wollte einen Verbrecher überführen und einen Fall abschließen. Nylla dagegen war das völlig egal. Alles, was sie wollte, war, dass Torx für das bezahlte, was er ihr angetan hatte. Dass sie ihn nie wieder sehen, nie wieder vor seinen Killern fliehen musste. Sie wollte ihn vernichten.
Dann schauen wir doch mal, was jetzt passiert, dachte Nylla, während sie ihre Waffe auf den Computer richtete. Vielleicht fliegt uns ja gleich alles um die Ohren....
Nylla schoss.
Fünfzehn Minuten später verging die gesamte Raumstation in einem gleißenden Feuerball.
Episode 12: Untergang
Nylla schoss.
Der Computer platzte auf und Funken ergossen sich in alle Raumrichtungen.
Sie schoss ein zweites und drittes Mal. Die Verkleidung des Computers schmolz unter ihren Schüssen weg. Aus den Löchern sprühten weitere Funken.
Nylla schoss immer wieder in schneller Abfolge. Erst als das Pult aus dem Inneren heraus zu brennen begann, hörte sie auf.
Sekundenlang herrschte absolute Stille. Eine ausgesprochen befriedigende Stille, wie Nylla fand.
Dann fing Torx an zu wimmern und irgendwie klang das sogar noch viel befriedigender: „Was..... was hast du getan? Was hast du getan, du kleines.... dummes.... bösartiges.... Miststück!! Du..... Du.... du hast uns gerade alle getötet!“ Torx wurde immer hysterischer. „Wir sind alle tot! In einer Minute.... Du hast uns umgebracht!!“
Im Zwielicht der Taschenlampe sah Nylla Torx‘ tiefrote, schweißnasse Halbglatze glänzen. Auf einmal fühlte sie sich gar nicht mehr so gut, stattdessen begann ein sehr mulmiges Gefühl in ihr hochzusteigen. Was meinte er damit?
„Ich muss hier raus!“ brüllte Torx. „Ich muss sofort hier raus!!“
Schneller, als sie es ihm zugetraut hätte, flog Torx aus seiner Deckung heraus und verschwand in die Richtung, die von Nylla und Alsth wegführte. Bevor Nylla reagieren und mit ihrer Waffe auf ihn zielen konnte, war er weg. Sie hörte nur noch sein panisches Keuchen, das sich zügig entfernte.
Dieser Weg würde ihn nicht zu dem Einstieg führen, durch den Nylla diese Ebene betreten hatte. Wahrscheinlich wollte er zu dem Zugang zurück, über den er selbst hier herunter gekommen war. Nylla wusste, dass es noch mindestens zwei weitere Zugänge geben musste.
Jetzt kannst du es zu Ende bringen! Hinterher!
Nylla fuhr hoch und wollte ihm schon nachfliegen. Doch dann packte sie jemand am Kragen und riss sie herum: Alsth! Mit der anderen Hand drückte er ihre Waffe von sich weg.
„Das hast du ganz prima hingekriegt!“ zischte er sie erbost an. „Was hast du dir dabei gedacht?“
Nylla versuchte ihn zur Seite zu stoßen, doch er war erstaunlich kräftig. „Er wird entkommen!“ schrie sie.
„Und wir sollten zusehen, dass wir auch hier verschwinden!“ Alsth ließ sie los. „Aber zuerst schnappst du dir dieses Notepad dort drüben!“ Er zeigte auf eine Stelle neben dem brennenden Computer. „Torx hat es zurückgelassen und vielleicht hat er schon einige Daten überspielen können, die uns vielleicht weiterhelfen!“
Nylla entdeckte das herumschwebende Notepad, flog darauf zu und fischte es aus der Luft. Zufällig kam ihr dabei auch Torx’ Taschenlampe in die Quere und sie nahm sie ebenfalls an sich.
„Und jetzt weg hier, los!“ drängte Alsth. „Keine Ahnung, was Torx da gefaselt hat, aber ich will wirklich nicht warten, bis wir es herausfinden!“
Sie kehrte zu ihm zurück und reichte ihm das Pad. Dabei konnte sie nicht anders als ihm einen schuldbewussten Blick zuzuwerfen.
Doch seine anfängliche Wut schien zumindest schon ein bisschen verraucht zu sein. Er lächelte sogar leicht, als er ihren Arm ergriff und deutlich ruhiger sagte: „Ich hoffe, du kannst uns beide hier raus bringen. Ich hab keine Lust, hier noch mal so durch die Gegend zu eiern.“
Nylla nickte erleichtert und begann mit Alsth im Schlepptau loszuschweben. Sie wollte zu der Leiter zurück, über die sie hier herunter gekommen war. Ein Teil von ihr wäre zwar lieber doch noch Torx gefolgt, aber am schnellsten würde es nun mal auf dem Weg gehen, den sie schon kannte. Die Taschenlampe half ihr ungemein dabei, ihre Orientierung zu behalten.
Gerade, als der Lichtkegel mit der Leiter vor ihr auftauchte, hörte sie ein leises Summen. Es war nicht so ganz auszumachen, wo es herkam.
Alsth zupfte sie am Ärmel. Sie folgte seinem Blick und entdeckte drei kreisrunde Schatten, die zwischen Rohren und Maschinen aufgetaucht waren und sich auf den Lichtkegel zu bewegten. Sie leuchtete sie mit der Taschenlampe an. Es waren tennisballgroße, schwarze Kugeln, die offenbar einen eigenen Antrieb hatten. Vielleicht automatische Sonden.
Eine vierte Kugel tauchte im Licht ihrer Taschenlampe auf, dann eine fünfte. Und sie befanden sich alle genau in ihrem Fluchtweg.
„Ich wette, als Torx eben so ausgeflippt ist, hat er genau diese Dinger gemeint“, knurrte Alsth. „Herzlichen Dank auch, Nylla!“
„Gern geschehen....“, murmelte Nylla, während ihr ungutes Gefühl immer weiter wuchs. Skeptisch starrte sie die fünf kleinen Kugeln an, die da vor ihnen in der Luft schwebten. Weder sie noch Alsth wagten es, sich zu bewegen.
„Wir sollten diesen Dingern lieber nicht zu nahe kommen“, schlug Alsth vor. „Vielleicht schießen sie auf uns!“
„Gefährlich sehen sie aber nicht aus“, flüsterte Nylla.
„Das sind passende letzte Worte, wenn du mich fragst....“
„Angsthase“, murmelte Nylla, aber insgeheim musste sie ihm zustimmen.
Eine der Kugeln begann direkt auf ihre Position zuzuschweben. Nylla nahm das zum Anlass, sich schlagartig umzudrehen und sich und Alsth in die entgegengesetzte Richtung zu manövrieren. Also doch hinter Torx her....
Sie kehrten zu dem brennenden Computer zurück und wählten die gegenüberliegende Richtung. Als Nylla an dem zerstörten Monitor vorbei kam, bemerkte sie plötzlich, dass er noch Energie hatte und zum Teil aktiv war. Die meisten Leuchteinheiten, vor allem in der Mitte, waren verkohlt oder verdampft, aber am Rand funktionierten noch einige, sodass Nylla sogar ein paar Buchstaben erkennen konnte:
„Ac.....ng,
Feh....ktion!
Droh..... tiviert!“
„Drohnen?“ fragte Alsth, während sie nach dem richtigen Weg suchten. „Glaubst du....“
In diesem Moment kam eine der Kugeln mit immenser Geschwindigkeit an ihnen vorbei geschossen. Sie flog einen Bogen und kam dann erneut auf sie zu.
„Weg hier!“
Blitzschnell umklammerte Nylla Alsths Taille und stieß sich mit aller Kraft vom Boden ab. So befanden sie sich schon einige Meter entfernt, als die Kugel ein lautes Zischen von sich gab und eine weiße, tränenförmige Druckwelle in den Raum schoss. Sie stießen an die Decke und Alsth konnte ein Kabel ergreifen, das aus einem Metallgitter heraushing.
Die Druckwelle unter ihnen wurde schnell schwächer und als sie auf Rohre und andere feste Widerstände stieß, erkannte Nylla erstmals, dass sie aus einer Flüssigkeit bestand. Wegen der Schwerelosigkeit war das nicht sofort erkennbar gewesen. Leider sah sie zugleich auch, dass die Drohne wieder Geschwindigkeit aufnahm und auf sie zu steuerte.
Nylla nahm ihre Waffe vom Gürtel und schoss. Die Drohne platzte auf und eine weitere weiße Druckwelle, diesmal kugelförmig, breitete sich unter ihnen aus.
„Verdammt!“ rief Alsth entsetzt. „Was hast du uns da auf den Hals gehetzt?“
Anstatt zu antworten, riss Nylla ihre Waffe herum und schoss auf eine weitere Drohne, die sich inzwischen aus einer anderen Richtung genähert hatte. Dann griff sie mit den Händen in das Gitter über ihnen und begann sich daran in die Richtung zu hangeln, in der sie einen weiteren Ausgang vermutete.
„Ich schlage vor, du hältst uns den Rücken frei!“ rief sie.
Das mulmige Gefühl, das sie seit Torx’ überstürzter Flucht hatte, verwandelte sich langsam in leichte Panik. Sie wollte es lieber nicht laut aussprechen, aber wenn diese Flüssigkeit tödlich war.... Wenn die anderen Ausgänge auch versperrt waren..... Wenn sie ewig hier herumirrte, ohne den richtigen Weg zu finden, während diese Drohnen immer mehr und mehr wurden....
Ihr Herz machte einen Hüpfer, als ein weiterer Lichtkegel mit einer Leiter vor ihr auftauchte. Da war ihr Ausgang – und er war frei!
Sie machte einen besonders kräftigen Satz und schoss mit Alsth zusammen auf die Leiter zu, die sie in Sicherheit bringen würde. In zwei Sekunden war sie hier raus....
Lautes Knarren kam von der Leiter. Einen Augenblick später fiel sie komplett auseinander!
Fünf, sechs Teile waren aus ihr herausgebrochen und schwebten langsam davon. Zwei Brocken stießen gegen Nylla und sie wischte sie hektisch zur Seite. Was ist das denn jetzt schon wieder?
Ein Glück, dass sie schwerelos waren und die Leiter nicht brauchten! Sie ergriff ein Stück einer Strebe, das nicht abgebrochen war, und gab sich und ihrem Begleiter Schwung nach oben. Als sie durch das Loch in der Decke flogen und die Schwerkraft wieder einsetzte, reichte ihr Schwung gerade noch so, dass sie sich an der oberen Kante festhalten konnten. Gemeinsam zogen sie sich über den Rand nach oben.
Nylla hatte als erste wieder festen Boden unter den Füßen. Sie sprang auf und half Alsth ebenfalls hoch. Er zog sie sofort ein paar Meter vom Loch weg und schoss auf die Drohne, die ihnen gerade hinterher kam.
Nun da sie sich wieder im Einfluss der Gravitationsgeneratoren befanden, war der Inhalt, der aus der zerstörten Drohne spritzte, schon eher als Flüssigkeit zu erkennen. Sie regnete in einer Wolke aus kleinen, weißen Tröpfchen auf den Fußboden herunter.
„Wir müssen zu meinem Schiff!“ keuchte Alsth. „Und sofort hier verschwin....“
Sein letztes Wort wurde durch einen lauten Knall überdeckt, als keine fünf Meter von ihnen entfernt eine Computerkonsole explodierte. Nylla erschrak und stieß gegen Alsth.
Die Leuchtstreifen an der Decke des gesamten Gangs flackerten und wurden kurz darauf dunkel – noch so eine merkwürdige Fehlfunktion! So langsam hatte Nylla den Verdacht, dass diese Drohnen nicht das Einzige waren, was sie durch die Zerstörung dieses Computers ausgelöst hatte....
„Komm!“ Nylla hob ihre Taschenlampe und zerrte Alsth hinter sich her. „Die Dockstationen sind sieben Decks über uns!“
Sie rannten durch den Gang, Nylla voran, Alsth ihr auf den Fersen. Nylla bog links ab, dann rechts, dann stand sie vor dem Lift.
Ein schockiertes Keuchen entwich ihrer Kehle.
Die Steuerkonsole für den Lift war nur noch ein qualmendes Loch in der Wand. Die Hälfte der Außentür war in den Gang hinein gefallen, ihre Ränder sahen ähnlich korrodiert oder zerfressen aus wie die Bruchstücke der Leiter vorhin. Die Liftkabine selbst befand sich zur Hälfte auf ihrer Etage, die untere Hälfte verschwand aber im Boden. Sie sah merkwürdig verbeult aus, so als wäre sie abgestürzt.
„Mist!“ Nylla wollte schon zum nächsten Lift weiterrennen, aber Alsth hielt sie auf.
„Warte! Ich glaube kaum, dass es bei den anderen Lifts besser aussieht, was auch immer hier passiert ist!“ Er hob ihren Arm, sodass sie mit der Taschenlampe in den Liftschacht hinein leuchtete. Das Licht fiel auf eine Leiter.
„Aber was wenn die auch so auseinander bröckelt wie die Leiter vorhin, während wir an ihr hochklettern?“ widersprach Nylla. „Dann sind wir geliefert!“
„Wir müssen es riskieren! Anders werden wir hier nicht mehr rauskommen!“ Als würde er seine Worte durch eine Tat untermauern wollen, riss er aufs Neue seine Waffe hoch und fegte eine weitere Drohne, die sich ihnen nähern wollte, aus der Luft.
Nylla starrte skeptisch auf die Leiter und wusste nicht, was sie tun sollte. Vielleicht könnten wir durch einen der Belüftungsschächte klettern – wie vor einigen Wochen, als ich Torx belauscht habe.... Aber nein, das würde viel zu lange dauern....
„Jetzt komm schon!“ Alsth schob sie auf die halb offene Lifttür zu, umgriff mit beiden Händen ihre Taille und hob sie hoch, sodass ihr kaum etwas anderes übrig blieb, als auf die Kabine zu steigen. Seufzend drehte sie sich um und half Alsth dabei, zu ihr hochzuklettern.
„Du zuerst!“ forderte er.
„Wir werden draufgehen!“
„Das werden wir wahrscheinlich sowieso!“
Nylla resignierte, steckte die Taschenlampe zwischen ihre Zähne und begann den langen Aufstieg.
Sieben Stockwerke hatten sie zu überwinden. Nylla kletterte hastig voran und Alsth blieb ihr dicht auf den Fersen, seine Hände immer nur eine Sprosse unter ihren Füßen. Die ganze Zeit lauschte sie dabei nervös auf das charakteristische Summen, das ihr verraten würde, wenn sich eine dieser teuflischen Drohnen näherte. Es kam ihr so vor, als würde die Kletterei eine Ewigkeit dauern und als würden sie kaum vorankommen.
Sie zählte die Türen, an denen sie vorbei kamen, um den richtigen Ausstieg nicht zu verpassen. Während sie eine Sprosse nach der nächsten ergriff, einen Fuß über den anderen setzte, rasten ihr viele Gedanken durch den Kopf....
Ich hätte nicht auf den Computer schießen sollen. Dann wäre das alles nicht passiert....
Aber wer weiß, was Torx dann gemacht hätte. Was er mit diesen Drohnen vorgehabt hatte....
Zwei....
Ich hätte ihm sofort folgen sollen! Vielleicht hätte ich ihn erschießen können. Jetzt läuft er immer noch frei herum....
Er wird mich weiter suchen und zur Strecke bringen. Dann war alles völlig umsonst....
Vorausgesetzt, ich komme überhaupt lebend hier raus....
Was war das?
Eine Drohne?
Drei....
Diese Leiter ist irgendwie instabil. Gleich wird sie....
Was ist wohl der Grund, dass hier Leitern und Türen auseinander brechen? Diese Drohnen sind wohl wirklich nicht das einzige, was hier herumgeistert....
Und die Elektronik! Warum ist die ganze Elektronik ausgefallen? Warum ist der Lift abgestürzt?
Vielleicht ist Torx ja schon tot. Vielleicht hat ihn eine seiner eigenen Drohnen erwischt oder er ist eine Leiter herunter gefallen, so wie wir beide gleich....
Vier....
Eigentlich war mein Leben gar nicht so schlecht....
Ich hatte immer Gesellschaft, war nie wirklich allein....
Okay, die letzten drei Wochen waren die Hölle, aber....
Wenn Torx nicht gewesen wäre.... Ich hasse ihn! Diese ständigen blöden Missionen. Immer dieser Stress wegen den Patrouillen....
Mein Vater hatte schon recht damit, hier zu verschwinden. Hätte ich auch tun sollen....
Ich kann ihm nicht verübeln, dass er von mir weg wollte....
Fünf....
Eigentlich mochte ich hier überhaupt niemanden. Keinen einzigen von diesem ganzen Schmugglerpack....
Das ist unfair. Ein paar waren ganz nett....
Alsth ist auch sehr nett. Ich hätte ihm....
Knarren. Nyllas Puls schoss schlagartig nach oben. Die Leiter vibrierte zwischen ihren Fingern.
Nur noch ein Deck....
Sie legte noch einen Zahn zu, hetzte die Leiter hinauf. Wenn sie nur noch ein paar Sekunden hielt....
Ihre Füße hingen plötzlich in der Luft, als ein Stück der Leiter unter ihr herausbrach und nach unten fiel. Panisch strampelte sie herum und versuchte, sich nur mit den Händen weiter hoch zu ziehen.
„Alsth!“ schrie sie entsetzt. Er war direkt in dem Bereich, der gerade wegbröckelte....
Weiteres Knarren erklang unter ihr. Und noch ein sehr hässliches Geräusch, wie wenn Metall überstrapaziert wurde. Dann ein lauter Knall, fast wie ein Glockenschlag. Und Stille.
„Aaalsth!!“
Nur mit großer Kraftanstrengung gelang es Nylla, wieder mit allen vier Gliedmaßen stabilen Halt auf der Leiter zu finden. Sie huschte ein paar Sprossen nach oben, nahm die Lampe aus dem Mund und leuchtete nach unten.
Ein großes Stück der Leiter, etwa sieben Sprossen und die dazugehörigen Längsstreben, hatte sich aus der Wandverankerung gelöst und sich in den Schacht hinein gebogen. Das Leiterstück war groß genug, dass sein oberes Ende die gegenüberliegende Schachtwand erreicht hatte. Nun hing das Leiterstück fast waagerecht im Schacht eingeklemmt und Alsth baumelte daran herunter. Er hielt sich mit beiden Händen an einer der Sprossen fest und schwang mit den Füßen in der Luft herum.
„Oh mein....“, entfuhr es Nylla. „Warte, ich versuche zu dir zu kommen!“
„Nein....“ Alsth keuchte vor Anstrengung. „Du musst.... kletter weiter! Geh.... zum Schiff....“
„Das kannst du vergessen!“
„Doch.... Geh.... Ich werde.... hier unten.... mein Glück versuchen....“ Er begann sich an dem Leiterstück entlang zu hangeln, auf den unteren, noch stabilen Teil der Leiter zu. Direkt daneben befand sich eine Tür, die zu einem Deck der Station führte. Zum siebten, wenn Nylla richtig gezählt hatte.
„Aber da unten sitzt du fest! Da gibt es keinen Ausgang!“
„Ich probiere einfach.... einen der anderen.... Aufzugschächte aus!“ Inzwischen hatte er die stabile Leiter und die Tür zu Ebene 7 erreicht und zerrte daran, um sie aufzukriegen. „Einer wird bestimmt.... noch ganz sein! Starte schon mal.... den Motor, ich bin gleich bei dir!“
Er hatte die Tür weit genug aufbekommen, dass er sich durchquetschen konnte. Bevor er verschwand, streckte er noch einmal die Hand durch den Spalt und winkte ihr zu. „Viel Glück!“
Und weg war er.
„Dir auch viel Glück“, murmelte Nylla mit einem dicken Kloß im Hals. Sie wusste, dass sie ihn aller Wahrscheinlichkeit nach nie wiedersehen würde.
Immer wenn ich zu jemandem eine Bindung aufbaue.... Und ich war schon so blöd zu denken, dass es diesmal anders laufen könnte....
Obwohl ihr der Zeitdruck bewusst war, rührte Nylla sich eine ganze Weile nicht und starrte auf die halb offene Tür, durch die Alsth gerade verschwunden war.
Doch dann schüttelte sie den Kopf, biss wieder auf die Taschenlampe und kletterte entschlossen weiter.
Es war jetzt nicht mehr weit bis zur richtigen Ausgangstür und Nylla legte den Weg in wenigen Sekunden zurück. Sie lehnte sich zur verschlossenen Tür hinüber und versuchte ihre Finger in den Schlitz zwischen den beiden Türhälften zu zwängen – aber plötzlich hatte sie ein tellergroßes Stück der Tür in der Hand! Es war einfach rausgebrochen! Fast wäre sie dadurch von der Leiter gepurzelt.
Vorsicht, Nylla!
Offenbar war diese Tür auch spröde geworden. Das hieß, was auch immer dafür verantwortlich war, hatte es schon irgendwie hier hoch geschafft....
Sie riss noch ein paar mehr Brocken aus der Tür, bis das Loch groß genug war. Dann schlängelte sie sich durch und befand sich endlich in einem Gang auf der fünften Ebene. Erfreut stellte sie fest, dass hier oben das Licht noch an war. Vielleicht breitet es sich doch nicht so schnell aus, wie ich befürchtet habe.
Alsths Schiff, die Tawain 2, befand sich hier an einem der Docks der Station. Dummerweise genau auf der anderen Seite dieser Ebene. Sie musste jetzt noch ein paar hundert Meter hier in den Gängen zurücklegen. Aber verglichen mit dem, was sie gerade hinter sich hatte, sollte das eigentlich kein so großes Problem mehr sein....
In dem Moment begann ein lauter Alarm durch die Station zu dröhnen. Einer, den Nylla noch nie zuvor gehört hatte.
Es war eindeutig nicht der Gefechtsalarm, der bei feindlichen Angreifern oder Eindringlingen ausgelöst wurde. Aber was dann?
Oh nein! Der Evakuierungsalarm!
Das bedeutete, dass der Stationsreaktor gerade dabei war zu überlasten und dass er wahrscheinlich in kürzester Zeit in die Luft gehen würde! Sie konnte aber nur raten, wie viel Zeit ihr noch blieb. Vielleicht fünf Minuten, vielleicht auch nur zehn Sekunden....
Wie von der Tarantel gestochen begann Nylla loszurennen. Sie stolperte fast, weil ihre eigenen Füße nicht mehr hinterher kamen, fing sich aber wieder und versuchte sogar, noch einen Zahn zuzulegen.
Sie kam zu einer Einmündung und bog nach rechts in einen langen Gang ab. Der führte an der Seite der Station entlang über ihre gesamte Länge. Nur noch einmal rechts.... dann das richtige Dock suchen....
Aber dann ging der Alarm auch schon wieder aus. Sicherlich nicht, weil die Gefahr beseitigt war. Wohl eher, weil die Steuerelektronik der Sirenenanlage schlapp gemacht hatte. Stattdessen drang plötzlich das Geräusch entweichender Luft an ihr Ohr....
Zwei Meter rechts vor ihr brach plötzlich die Wand weg. Ein riesiges Loch tat sich auf und zog Nylla zu sich, wollte sie in die gähnende Leere des Weltraums hinaus schleudern.
Mit aller Kraft kämpfte sie dagegen an, doch der Sog war gewaltig. Es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis die Kräfte sie verlassen würden....
Ein Rumpeln erklang direkt hinter ihr und sie wusste genau, was das bedeutete. Sie stieß einen wilden Schrei aus, holte die letzten Reserven aus ihren Beinen heraus und stemmte sich gegen den Luftsog. Gerade noch so schaffte sie es unter der Drucktür hindurch, bevor sie zufiel. Gerettet!
Doch als sie wieder aufstehen wollte, fuhr ein stechender Schmerz durch ihr linkes Bein. Sie musste sich durch die übermäßige Anstrengung wohl etwas gezerrt haben. Sie versuchte ihre Beine behutsam zu belasten. Ihr rechtes Bein schien in Ordnung zu sein, aber mit dem linken konnte sie im Moment kaum auftreten.
Was aber noch schlimmer war: Ihr Zugang zu den Docks war blockiert! Der einzige andere Weg würde sie noch einmal um die komplette Station herum führen, wo sich jeden Moment wieder ein Schlund vor ihrer Nase öffnen konnte....
Nein! Es gibt noch einen Weg: Die Lagerhalle!
Die große Lagerhalle auf Ebene 5 lag mitten in der Station und hatte zwei Eingänge – einen auf Nyllas Seite und einen bei den Docks! Das war ihre beste Möglichkeit!
So schnell sie konnte, humpelte sie los, den Gang zurück und wieder um die Ecke. Ein paar Meter weiter hielt sie vor einer sehr breiten automatischen Tür an. Sie schlug auf den Öffner, jubelte innerlich, weil er noch funktionierte, und betrat die Halle.
Rote Notlichter beleuchteten den großen, langen Raum, in dem alles voller Pakete und Kisten stand. Hier hatten die Schmuggler immer ihre Waren abgeliefert, die sie für Torx besorgt hatten, oder die Waren mitgenommen, die sie verscherbeln sollten. Ob wohl noch etwas von meinem eigenen Zeug hier herumsteht? Wahrscheinlich nicht, schließlich ist mein letzter Ausflug schon Wochen her....
Sie humpelte an den vielen großen und kleinen Kisten vorbei, die relativ chaotisch in dem Lagerraum aufgestapelt waren und fast schon ein kleines Labyrinth bildeten. Nach einigen Schritten stellte sie erfreut fest, dass der Schmerz in ihrem linken Bein langsam aber stetig wieder nachließ. Sie kam immer schneller vom Fleck und als sie die Halle fast zur Hälfte passiert hatte, konnte sie schon wieder fast normal auftreten.
Erneut ging ein Alarm los. Dieses Mal schienen es der Evakuierungs- und der Gefechtsalarm gleichzeitig zu sein. Wahrscheinlich war die Steuerung jetzt vollkommen durcheinander geraten.
Trotzdem sollte ich keine Zeit verlieren. Ob ich wohl schon wieder rennen kann?
Sie legte einen Zahn zu und ihr Bein machte mit. Dann noch ein bisschen schneller und noch ein bisschen.... Na also!
Sie hatte schon fast wieder ihre volle Laufgeschwindigkeit erreicht, als sie plötzlich mit jemandem zusammenstieß, der gerade hinter einem hohen Kistenstapel aufgetaucht war. Sie schrieen einstimmig auf, mehr vor Schreck als vor Schmerz. Nylla kippte nach vorne um, der andere nach hinten – dabei verlor er irgendwas, das scheppernd über den Boden schlitterte.
Hastig ging Nylla auf alle Viere und krabbelte schnell hinter die nächste große Kiste. Der andere machte sich in die Gegenrichtung davon. Inzwischen hatte Nylla auch erkannt, wer es war: Torx!
Und er hatte seine Waffe verloren! Sie war unter irgendeinen Kistenstapel gerutscht!
Inzwischen war Nylla gefühlsmäßig so durch den Wind, dass sie nicht mal mehr wusste, ob sie gerade wahnsinniges Glück oder wahnsinniges Pech hatte. Da war ihr verhasster Ex-Auftraggeber ihr tatsächlich noch einmal vor die Füße gefallen – und er war jetzt unbewaffnet! Der überwältigende Teil von ihr wollte eigentlich einfach nur hier raus. Und doch....
„Boss!“ schrie sie und nahm ihre Waffe vom Gürtel.
Sie begann dabei in die Richtung zu laufen, in die sie ohnehin musste, und schaute sich nach allen Seiten um und hinter jede Kiste.
„Boss, wo bist du!?“
„Erstaunlich....“, erklang eine sehr erschöpft und kraftlos klingende Stimme von irgendwoher. In der großen Halle gab es ein zu starkes Echo, um die Richtung bestimmen zu können. „Nach allem.... was passiert ist.... nennst du mich immer noch.... Boss!“
Nylla glaubte hinter sich ein Geräusch zu hören und drehte sich blitzartig um. Nichts.
„Tja, was soll ich sagen?“ erwiderte sie, während sie weiterging. „Ich bin eben sehr nostalgisch!“
„Vor allem hast du.... mehr Leben als eine Katze! Wie hast du es nur.... geschafft, hier.... rauf zu kommen?“ Nylla blieb stehen und lauschte. Wo zum Teufel war der Kerl? „Bei allem, was hier gerade.... passiert?“
Alsth hatte nicht so viel Glück...., dachte sie und spürte einen Stich im Magen.
„Weißt du – was du mit diesen Drohnen bezwecken wolltest, versteh ich ja noch!“ rief sie. „Aber dieses Metall zerfressende und Elektronik zerstörende Zeugs ist mir ein absolutes....“
Eine Luftbewegung von der Seite ließ Nylla zusammenzucken und in die Hocke gehen. Es war Torx, der irgendeine große Stange in den Händen hatte, die er auf sie zu schleuderte. Er verfehlte sie um Haaresbreite und verlor durch seinen eigenen Schwung fast sein Gleichgewicht.
Nylla riss ihre Waffe herum und schoss. Sie traf aber nur die Kiste, hinter die Torx gerade gestolpert war. Wie war das mit den Leben einer Katze?
„Na komm schon, Bo.... Torx! Bringen wir es hinter uns!“
Sie schlich auf die Kiste zu, hinter der er hockte, und hielt dabei ausreichend Abstand, sodass sie auf jede neue Überraschung reagieren konnte.
Und diese Überraschung kam auch.
Nur leider nicht von Torx.
Zu spät bemerkte sie das Summen von links. Zu langsam schwenkte sie den Arm mit der Waffe herum. Die Drohne war schon zu nahe.
Ihr Schuss ging ins Leere. Ihre Hand stieß gegen die schwarze Kugel, die dadurch ein Stück weggeschleudert wurde. Aber nicht weit genug. Als sich die Öffnung an der Drohne auftat und die Wolke herausspritzte, war Nylla immer noch knapp in ihrer Reichweite....
Ihr blieb gerade noch genug Zeit, das lästige Flugobjekt endgültig abzuschießen. Dann merkte sie auch schon das schnell stärker werdende Schwindelgefühl. Ihr Blick wurde trüb und ihre Beine schwach. Sie fiel auf die Knie.
Nein, nicht jetzt....
Vor ihr registrierte sie eine Gestalt, die langsam und vorsichtig auf sie zutrat.
„Waren diese Dinger also doch noch zu etwas gut“, hörte sie eine Stimme, scheinbar kilometerweit entfernt.
Ihr fiel ein, dass sie noch eine Waffe in der Hand hielt, versuchte die Augen aufzuhalten und ihren Arm zu der Gestalt hochzuheben. Sie sammelte ihre gesamte Willenskraft zusammen. Auf keinen Fall durfte sie jetzt aufgeben!
Langsam klärte sich ihr Blick wieder und sie spürte, wie sie etwas mehr Kraft in die Finger bekam. Sie schoss, aber Torx war schon längst wieder in Sicherheit gesprungen. Sie versuchte auf den Knien ein Stück in seine Richtung zu robben, erreichte damit aber nur, dass sie nach vorne umkippte. Ihre Hände klatschten auf den Boden. Schnell hob sie die Hand mit der Waffe wieder und richtete sie auf Torx’ Deckung.
Dich krieg ich noch, du....
Eine dritte Person war plötzlich in ihren Augenwinkeln aufgetaucht. Eine sehr große, breite Person, die einige Meter von Nylla und Torx entfernt stand und auch eine Waffe gehoben hatte. Nylla drehte ihren Arm zu ihr hinüber und richtete die Waffe auf sie.
Wer ist das? Alsth? Zielt er auf mich oder auf Torx? Sie konnte es nicht erkennen, ihr Blick wurde schon wieder trüber und ihre Konzentration ließ wieder nach.
Sie musste irgendwas tun. Sie wusste, dass sie nur noch Sekunden hatte, bis sie das Bewusstsein verlor.
„Du kommst wie gerufen!“ hörte sie Torx’ entfernte Stimme. „Na los, Gruth! Erschieß sie!“
Gruth! Nylla krümmte ihren Finger um den Abzug. Zumindest versuchte sie es, aber stattdessen konnte sie ihn nur zum Zittern bringen. Kurz darauf zitterten auch die anderen Finger. Und dann der ganze Arm.
„Erschieß dieses Miststück, Gruth! Wenn du sie jetzt beseitigst, heißt das, dass du deinen Auftrag im Prinzip noch erfüllt hast! Ich werde dir deinen Fehler verzeihen und dich wieder als meinen Leibwächter akzeptieren. Und dann fangen wir wieder ganz von vorne an! Wir beide, Gruth!“
Nylla biss die Zähne zusammen, versuchte verzweifelt, irgendwo in ihrem Kopf noch einen klaren Fleck zu finden. Das Zittern wollte einfach nicht aufhören. Nur einen Augenblick noch, flehte sie ihren Verstand an. Nur noch so viel, um abdrücken zu können. Mehr will ich doch gar nicht!
„Tu es endlich!“ schrie Torx.
Ein Schuss erklang. Im selben Moment wurde Nylla schwarz vor Augen. Sie spürte nur noch, dass ihr Gesicht den Boden berührte. Ein großer, dunkler Schatten fiel über sie. Und dann schwebte sie in der Luft, es kam ihr so vor, als würde sie davongetragen werden. Eine unglaublich starke Empfindung von Geborgenheit und Zufriedenheit strömte auf sie ein. Sie fühlte sich einfach rundum wohl. Jetzt konnte sie beruhigt einschlafen....
Bevor Gruth die schwerste Entscheidung seines Lebens traf, hatte er innerhalb weniger Minuten bereits zahlreiche Entscheidungen getroffen, die ihm deutlich leichter gefallen waren.
Auf der Station zu bleiben und noch ein paar alte Rechnungen zu begleichen, anstatt mit Chet zu fliehen, gehörte nicht dazu, denn das war nicht seine Entscheidung gewesen. Viel mehr hatte er das Gefühl gehabt, dass er gar keine andere Wahl hatte. Er konnte es selbst nicht richtig begreifen.
Danach war seine erste Entscheidung gewesen, einen der Zugänge aufzusuchen, die auf Ebene 13 hinunter führten. Er wusste, dass Torx dorthin gehen würde. Denn Gruth selbst war abgesehen von seinem Boss der einzige, der den gesamten Plan kannte, mit allen Verzweigungen und Hintertüren.
Als er schließlich auf Ebene 12 an einer der speziellen Türen angekommen war, hatte er festgestellt, dass sie schon geöffnet war. Er hatte sogar gerade noch gesehen, wie Nyllas Komplize – dieser Kerl von dem Foto, den er die letzten Tage verzweifelt gesucht hatte, obwohl er die ganze Zeit direkt vor seiner Nase gewesen war – in den Schacht hinunter stieg.
Die Polizei ist also unserem Geheimnis dicht auf der Spur. Das heißt, Nylla ist vielleicht auch in der Nähe, hatte er daraus geschlossen.
Dennoch hatte er sich dazu entschieden, nicht hinunter zu steigen. Dort unten gab es kein Licht und Gruth hatte keine Taschenlampe dabei und war weit davon entfernt, sich dort blind zurecht zu finden. Außerdem war es sehr wohl möglich, dass Torx oder Nylla oder dieser Polizist Ebene 13 längst über einen der anderen beiden Zugänge wieder verlassen würden, während er selbst noch da unten herumsuchte.
Nein, das wäre viel zu riskant....
Er war eine Weile in der offenen Tür gestanden und hatte auf das dunkle Loch im Boden gestarrt, unsicher, was er jetzt tun sollte. Dann war ihm eine Idee gekommen.
Wenn Torx fertig ist, wird er so schnell wie möglich mit seinem Schiff verschwinden wollen. Dasselbe gilt wohl für Nylla und ihren Freund.
Also hatte er eine weitere Entscheidung getroffen: Er war zur nächsten allgemein zugänglichen Konsole gelaufen, hatte auf die Andockprotokolle zugegriffen und nach einem Raumschiff gesucht, das erst vor wenigen Tagen zum ersten Mal an der Station angedockt hatte. Es war nicht schwer zu finden gewesen, ein unregistriertes Schiff mit einem recht merkwürdigen Design.
Ebene 5, Hauptdock, Reihe 4, Schleuse 7.
Wo Torx’ Privatshuttle war, wusste er natürlich: An seiner persönlichen Dockschleuse in der Nähe seines Büros auf der obersten Ebene. Da Gruth sich aber nicht zweiteilen konnte, war seine nächste Entscheidung, vor welchem der beiden Schiffe er warten sollte.
Torx’ Schiff kann ich auch sehr einfach aus der Entfernung aufspüren, weil ich seine Signatur kenne. Vielleicht kann ich sogar mit Nylla zusammen die Verfolgung aufnehmen und dadurch gleich ihr Vertrauen gewinnen....
Kurzentschlossen war er mit dem Lift auf Ebene 5 hochgefahren, um an ihrem Raumschiff auf Nylla zu warten.
Der Lift hatte kaum angehalten und Gruth hatte kaum einen Fuß nach draußen gesetzt, als plötzlich das Licht in der Aufzugkabine ausgegangen war. Auf dem Bedienfeld hatten merkwürdige Zeichen aufgeleuchtet– und die Kabine war urplötzlich wie ein Stein nach unten gestürzt!
Im allerletzten Moment hatte Gruth sich noch komplett nach draußen retten können. Die Oberseite der Kabine war ihm dabei am rechten Unterschenkel entlang geschrammt, was höllisch weh getan und eine hässliche Schürfwunde hinterlassen hatte. Wäre er nur einen Sekundenbruchteil langsamer gewesen, wäre er mit dem Lift abgestürzt!
Was geht denn hier auf einmal vor?
War es vielleicht ein Attentatsversuch von Nylla oder Torx gewesen? Aber woher hätte einer der beiden wissen sollen, dass er gerade im Lift war, und wie hätten sie es fertig bringen sollen, ihn abstürzen zu lassen?
Dann hatte er eine neue Entscheidung getroffen, die er im Nachhinein bitter bereute: Er war zur nächsten Konsole gegangen, um herauszufinden, ob sich jemand ins Computersystem der Station eingehackt hatte und wo derjenige sich befand. Doch schon nach kurzer Überprüfung hatte er erkannt, dass kein Hacker für die Fehlfunktion verantwortlich war – sondern etwas ganz anderes.
Gruth wusste genau, was es war. Und ein kalter Schauer lief ihm den Rücken herunter.
Jemand hat die Naniten freigesetzt – hier auf der Station!
Ich muss sofort hier weg!
Kaum hatte er diesen Gedanken gefasst – da explodierte die Konsole direkt vor seiner Nase!
Gruths Kopf verschwand in einer Rauchwolke. Er torkelte ein paar Schritte zurück, aber es war ohnehin schon zu spät. Seine Lungen rebellierten von dem Qualm, seine Ohren dröhnten von dem lauten Knall, doch das Schlimmste war das heftige Stechen in seinen Augen.
Gruth verlor jedes Zeitgefühl, es gab nur noch Schmerz und Schwindel. Als er dann irgendwann wieder etwas klarer wurde, stellte er fest, dass er noch auf den Beinen stand. Irgendwie hatte er es geschafft nicht umzukippen. Allmählich vergingen der Schwindel und das Klingeln in den Ohren wieder, nur ein heftiges Stechen in einem seiner Augen wollte nicht wieder verschwinden.
Er griff sich vorsichtig an den Kopf und bemerkte dabei, dass etwas in seinem linken Auge steckte. Panik erfasste ihn – er versuchte das Ding zu entfernen, doch das Stechen wurde dadurch nur schlimmer. Als er die Hand wieder herunter nahm, stellte er fest, dass er sich in den Finger geschnitten hatte.
Hastig tapste er auf eins der Metallverdecke an der Wand zu, in dem er sich spiegelte – und wandte seinen Blick sofort wieder entsetzt ab: Eine Plastikscherbe in der Größe einer Spielkarte steckte in seinem linken Auge! Es sah fürchterlich aus und vermutlich würde er damit nie wieder sehen können....
Er konnte nicht anders, als die Scherbe zwischen zwei Finger zu nehmen und sie mit einem kräftigen Ruck herauszuziehen. Er wollte schreien, doch die Schmerzen waren so groß, dass nur ein leeres Ächzen aus seiner Kehle drang. Er taumelte, lehnte sich an die Wand und rutschte daran herunter.
Die Scherbe lag vor ihm auf dem Boden, bedeckt mit seinem Blut. Sie musste von der Außenverkleidung der Konsole abgesprungen sein, als sie explodiert war.
Obwohl er wusste, dass die Zeit drängte und dass es praktisch in jeder Sekunde mit der ganzen Station vorbei sein konnte, war er eine ganze Weile auf dem Boden sitzen geblieben und hatte sich von dem Schock zu erholen versucht. Übelkeit und ein heftiges Schwächegefühl hatten ihm zu schaffen gemacht.
Irgendwann hatte er dann aus seinen Hosentaschen ein halbwegs sauberes Stofftaschentuch herausgekramt. Er hatte es so gut es ging um die linke Seite seines Kopfes gewickelt, sodass sein zerstörtes Auge bedeckt war. Dann war er mühsam wieder hochgekommen und hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. Sein Ziel war immer noch die Dockschleuse auf Ebene 5.
Auf dem Weg waren mehrere Alarme losgegangen und wieder verklungen. Die Naniten mussten bereits weit ins System eingedrungen sein – was keine gute Nachricht war. Es würde nicht mehr viel Zeit bleiben, bis sie ins Kontrollsystem des Stationsreaktors eindringen würden – und niemand konnte voraussehen, was dann passieren würde....
Diese Erkenntnis hatte ihn zu der Entscheidung geführt, seinen ursprünglichen Plan aufzugeben und sich lieber selbst so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen.
Als oberster Wachmann der Station hatte er freien Zugriff auf eine Hand voll Shuttles, die auch für längere Hyperraumstrecken ausgerüstet waren. Seine Entscheidung, welches der Shuttles er nehmen wollte, hatte ihn an einer der Türen zur Frachthalle vorbeigeführt.
Die Tür war offen gewesen. Und gerade, als er daran vorbei gekommen war, waren mehrere Schüsse und laute Stimmen im Raum dahinter zu hören gewesen.
Die Stimmen hatten ihn trotz der Eile und der Panik, in der er sich befand, abrupt zum Stehen gebracht: Es waren Nyllas und Torx’ Stimmen....
Er hatte seine Waffe gezückt und war in die Frachthalle hinein getreten. Und da waren sie beide! Sein langjähriger Boss und engster Vertrauter, den er hintergangen hatte und der ihn dafür töten wollte. Und die junge, freche Schmugglerin, die er einfach nicht hatte töten können – eine Schwäche, für die er bitter bezahlt hatte.
Torx hockte hinter einer großen Kiste, sichtlich erschöpft. Und Nylla kniete einige Meter davor, hatte eine Waffe in Torx‘ Richtung gehoben und sah nicht minder geschafft aus.
Mehr noch, es wirkte fast so, als würde sie darum kämpfen, bei Bewusstsein zu bleiben. Und sie schien den Kampf zu verlieren, denn sie fiel nach vorne um und blieb wie ein kleines Kind auf allen Vieren auf dem Boden hocken.
In dem Moment entdeckte Torx ihn. Zuerst schien er verärgert, doch dann hellte sich seine Miene schlagartig auf.
„Du kommst wie gerufen!“ rief er ihm zu, so als wären alle Ereignisse der letzten Minuten nie geschehen. „Na los, Gruth! Erschieß sie!“
Gruth war so daran gewöhnt, dieser Stimme zu gehorchen, dass er fast schon automatisch seine Waffe wie befohlen auf Nylla richtete. Sie hockte immer noch in Vierfüßlerstellung da und hatte ihre Waffe bereits zu Gruth herüber geschwenkt. Doch ihre Hand zitterte kräftig und anscheinend war sie sogar schon zu schwach dafür, den Finger um den Abzug zu krümmen.
Gruth machte ein paar langsame Schritte auf die beiden zu. Was sollte er jetzt tun?
„Erschieß dieses Miststück, Gruth!“ wiederholte Torx seinen Befehl noch eindringlicher. „Wenn du sie jetzt beseitigst, heißt das, dass du deinen Auftrag im Prinzip noch erfüllt hast! Ich werde dir deinen Fehler verzeihen und dich wieder als meinen Leibwächter akzeptieren. Und dann fangen wir wieder ganz von vorne an! Wir beide, Gruth!“
Diese Worte waren wie Balsam für Gruths Seele. Wie Zauberworte, die gesprochen, seine Gedanken schlagartig erhellten. Er hatte in den letzten Minuten alles verloren geglaubt, sein bisheriges Leben war zu Ende gewesen, vor ihm war nichts. Zu allem Überfluss hatte er eins seiner Augen verloren und mit ihm fast sein letztes bisschen Hoffnung.
Doch plötzlich gab es wieder einen Ausweg. Er würde nur abdrücken müssen. Dann würden er und Torx von hier fliehen und sie würden wie damals vor fast zwanzig Jahren wieder ihr eigenes Reich aufbauen. Alles würde wieder gut werden....
Doch war das nicht einfach nur Wunschdenken? Selbst wenn Torx es wirklich ehrlich meinte – sie wurden von der Kosmopol gesucht, ihr gesamtes Kapital würde mitsamt dieser Raumstation zugrunde gehen und alle Schmuggler, die sie beschäftigt hatten, waren bereits weg und würden sich neue Auftraggeber suchen. Und dieser Plan B, den Torx im Moment verfolgte, war sehr wahrscheinlich ohnehin zum Scheitern verurteilt, vielleicht sogar selbstmörderisch.
„Tu es endlich!“ fuhr Torx ihn noch einmal heftiger an.
Diesmal widerstand er jedoch der Stimme.
Dieser Mann repräsentierte alles, was in seinem Leben falsch gelaufen war. Für ihn hatte Gruth Leute umgebracht, war ins Visier sämtlicher wichtiger Sicherheitsdienste geraten und hatte alles verloren. Für ihn hatte er sein ganzes Leben geopfert und seine eigenen Wünsche und Träume zurückgesetzt – und wofür? Damit der Kerl in einem Anflug von Größenwahn innerhalb weniger Wochen alles zerstört hatte, nur um dann ihm, Gruth, alle Schuld in die Schuhe zu schieben?
Er schwenkte die Waffe zu Torx hinüber. Wenn er jetzt abdrückte, würde eine gewaltige Last von seinen Schultern fallen. Dann würde es keine Verpflichtungen mehr geben, keine erdrückende Vergangenheit mehr, er wäre endlich frei und könnte sein Leben richtig beginnen. Vielleicht sogar mit Nylla in seiner Nähe....
Er blickte Torx direkt ins Gesicht, das eine Mischung aus Schreck und Verblüffung zeigte. Wie lange hatte er dieses Gesicht jeden Tag gesehen?
Moment mal....
Was tue ich hier?
Nylla hasste ihn. Er hatte sie töten wollen. Sie würde ihn ihrem Freund dem Polizisten ausliefern und der würde ihn für den Rest seines Lebens in eine Zelle stecken. Seit sie ganz klein war, war Gruth für sie nur ein Handlanger von Torx gewesen, so etwas wie der dritte Arm ihres ehemaligen Auftraggebers, den sie inzwischen verachtete. Und daran konnte er überhaupt nichts ändern.
Er schwenkte die Waffe zurück zu ihr. Er sah, wie ihr die Augen zufielen und ihr Arm mit der Waffe immer heftiger zitterte. Es würde ohnehin gleich vorbei sein, wenn er nicht bald eine Entscheidung traf....
Und das ist auch das Problem, nicht wahr? Plötzlich fiel jegliches Gewicht von ihm ab. Es geht hier nicht um mich! Diese Entscheidung hat mit mir nichts mehr zu tun. Für mich gibt es keine Zukunft, ganz egal, was ich jetzt tue....
Ich kann hier nur noch eine Kleinigkeit zu Ende bringen. Etwas, das ich vor drei Wochen angefangen habe....
Gruth drückte ab.
Ein seltsames Gefühl durchströmte ihn. Etwas, was er noch nie gespürt hatte. Eine wohltuende Leichtigkeit in seinem Kopf – trotz der immer noch heftigen Schmerzen in seinem linken Auge. Und auf einmal war es so angenehm still. Und das obwohl schon wieder so ein eindringlicher Alarm durch die Station hallte.
Er trat auf Nyllas reglosen Körper zu und blickte lächelnd auf sie herab. Jetzt hast du es überstanden, meine Kleine, dachte er friedlich. Jetzt kannst du dich ausruhen.
Er hob sie hoch, legte sie sich über die Schulter und machte sich wieder auf den Weg.
Während er schnell, aber nicht hastig, durch die Gänge der leeren, verlassenen Station eilte, dachte er an die Situation von vor über drei Wochen zurück. Damals war alles fast genau so gewesen. Er hatte die bewusstlose Nylla in den Armen gehabt und war durch diese kargen, immergleichen Gänge gelaufen.
Damals hatte er sie zur Luftschleuse bringen und in den Weltraum pusten sollen. Inzwischen wusste er mit absoluter Gewissheit, dass er diesen Auftrag nie hätte zu Ende bringen können. Vielleicht wäre allen Beteiligten viel Ärger erspart geblieben, wenn er sie gleich zu einem Schiff gebracht hätte, mit dem sie hätte fliehen können.
Diesmal würde er nicht wieder den gleichen Fehler machen.
„Torx ist tot, Nylla“, flüsterte er ihr zu. Er wusste nicht, ob sie ihn überhaupt hören konnte, aber es spielte gar keine Rolle. „Niemand ist jetzt noch hinter dir her!“
Leider stellte er kurz darauf fest, dass das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Denn plötzlich tauchten eine ganze Reihe von tennisballgroßen, schwarzen Kugeln vor ihm im Gang auf. Doch Gruth war fest davon überzeugt, dass die ihn nicht mehr aufhalten konnten.
Er hob seine Waffe und begann eine nach der anderen abzuschießen. Er wusste, dass die Flüssigkeit, die beim Zerplatzen in alle Richtungen spritzte, bewusst so zusammengesetzt war, dass sie sich schnell verflüchtigte. So sollte sichergestellt werden, dass wirklich nur die Personen getroffen wurden, die auch als Ziel programmiert waren. Solange keins von den Dingern ihm zu nahe kam, konnten sie ihm nichts antun.
Als er hinter sich ein charakteristisches Summen hörte, drehte er sich um und begann, auch die Drohnen abzuschießen, die sich ihm von der anderen Seite näherten. Er ging dabei rückwärts weiter und hielt Nylla so gut es ging fest.
„Ich weiß, dass du schon viel durchgemacht hast in deinem kurzen Leben“, sagte er währenddessen ruhig. „Ich habe während der ganzen Zeit miterlebt, wie du aufgewachsen bist. Wir hatten zwar nie viel direkt miteinander zu tun, aber diese Raumstation ist ein Dorf und irgendwann hört man jede Geschichte, ob man will oder nicht.“
Er kam zu dem Shuttle, mit dem er mit Nylla fliehen wollte. Aber sofort erkannte er, dass es nicht mehr zu gebrauchen war. Die beiden Luftschleusenluken waren komplett zerfressen und sobald jemand versuchen würde, mit dem Schiff von der Station abzudocken, würde die Atmosphäre flöten gehen.
Aber es gab noch Ausweichmöglichkeiten. Das nächste Shuttle war ganz in der Nähe.
Also machte er sich auf den Weg und fegte dabei die nächsten paar Drohnen aus der Luft. Vermutlich waren sie beide die letzten Menschen auf dieser Station. Und das bedeutete, dass die Dinger nun allesamt hinter ihnen her waren.
„Ich weiß nicht, wie du darüber denkst. Über die ganzen schlimmen Dinge, die dir passiert sind. Vielleicht hast du das Gefühl, das wäre dir alles recht geschehen, dass du einfach kein besseres Leben verdient hast. Aber das stimmt nicht. Niemand hat es verdient, so früh in seiner Kindheit schon solche Schicksalsschläge ertragen zu müssen. Niemand. Und du erst recht nicht.“
Die nächste Drohne, die er abschoss, war ihm schon gefährlich nahe gekommen. So nahe, dass ihm etwas schwindlig wurde und ihm seine Arme und Beine deutlich schwerer wurden. Aber das war gar nicht so schlimm.
„Man muss kein guter Beobachter sein, um zu bemerken, wie die Menschen auf dich reagieren. Wie ein Raum voller Leute sich verändert, sobald du ihn betrittst. Wenn du in den Mannschaftsraum gekommen bist, musstest du dich immer nur kurz umblicken und vielleicht einen Satz sagen und schon hatten wirklich alle viel bessere Laune. Es war jedes Mal eine wahre Freude, das zu beobachten. Und mir hat es selbst immer sehr gut getan, wenn ich das Glück hatte, dabei zu sein.“
Plötzlich stand Gruth vor einer Drucktür, die ihm den Weg versperrte. Die hatte sich automatisch geschlossen, als sich vermutlich dahinter ein Leck in der Außenwand der Station gebildet hatte. Diese dämlichen kleinen Biester....
Sein Weg zum nächsten Shuttle war versperrt. Alle anderen befanden sich nicht auf dieser Ebene und Gruth hatte keine Ahnung, ob irgendein Lift noch zu gebrauchen war. Aber das war völlig egal, denn es gab noch eine andere Möglichkeit.
Auf jeder Ebene hatte die Station ein paar Fluchtkapseln. Nicht so viele, um im Notfall jeden Bewohner retten zu können – und erst recht nicht so viele, wie eigentlich gesetzlich vorgeschrieben waren. Aber für Nylla und ihn würde es reichen.
„Du hältst dich vielleicht für eine vollkommen unbedeutende Person. Jeder, der dich ein bisschen kennt, sollte das aber besser wissen. Du bist ein ganz besonderer Mensch, Nylla. Ohne dich wäre das Universum ein ganzes Stück ärmer, das kannst du mir glauben.“
Nach dem letzten Treffen mit einer der Drohnen hatte seine Konzentration merklich nachgelassen. Deswegen reagierte er immer langsamer auf das Auftauchen einer neuen. Drei, vier von ihnen konnte er noch rechtzeitig abschießen, aber die nächsten zwei kamen ihm so nahe, dass er sogar einen leichten Tau auf seiner Haut spürte.
Er würde nicht mehr lange durchhalten, aber das spielte keine Rolle mehr.
„Wahrscheinlich bin ich der Letzte, der das Recht dazu hat, dir das alles zu sagen. Wahrscheinlich bin ich auch der Letzte, dem du das glaubst. Aber du hast es verdient, es zu wissen und dich deswegen gut zu fühlen. Du hättest es verdient, die Bewunderung zu genießen, die alle um dich herum für dich haben. Du hättest für alles Positive, was du anderen Menschen gibst, jedes Glück der Welt verdient. Und du hättest es verdient, stolz auf dich zu sein.“
Als er den Bereich mit den Fluchtkapseln erreichte, konnte er sich kaum noch auf den Beinen halten. Aber das machte nichts. Er hatte es fast geschafft.
Er öffnete die Schleuse, nahm Nylla von seiner Schulter, blickte ihr noch ein paar Sekunden in ihr schlafendes Gesicht und als sein Blick trüb wurde, schob er sie in die Kapsel hinein.
Dann erwischte ihn eine Drohne, die er nicht einmal mehr bemerkt hatte, mit voller Wirkung. Er knickte ein und blieb auf dem Boden hocken. Er hatte keine Kraft mehr, die Drohne abzuschießen oder irgendetwas anderes zu tun. Sein Bewusstsein entglitt ihm langsam, doch das war gar keine so üble Sache. Nur noch eins war zu tun.
Gruth nahm all seine Reserven zusammen und schaffte es, den Schalter zu erreichen, der Nyllas Fluchtkapsel schloss. Auch den Schalter für den Start der Kapsel konnte er noch betätigen, bevor er endgültig zusammenklappte.
„Flieg, kleines Mädchen!“ wisperte er erschöpft. „Flieg!“
Dann war es vorbei.
Torx’ Raumstation explodierte in einem blendend hellen, lautlosen Aufflackern.
Zu diesem Zeitpunkt war Alsth schon weit genug von der Station entfernt, sodass die Schockwelle von der Explosion kaum die Schilde seines Schiffs belastete.
Er hatte es geschafft, einen der anderen Aufzugschächte hochzuklettern, wo die Leiter noch intakt gewesen war – zumindest innerhalb der beiden Decks, die er noch zu bewältigen hatte. Von dort war es nicht mehr weit bis zu seinem Schiff gewesen.
Allerdings hatte er sich gewaltig erschrocken, als er seine Dockschleuse erreicht hatte und Nylla noch nicht da gewesen war. Trotzdem hatte er die Tawain 2 betreten und schon mal den Antrieb hochgefahren. Er hatte die Station gescannt, ihre ID jedoch nicht finden können – was aber auch nicht so verwunderlich war angesichts des großen, pulsierenden Energieflecks im unteren Teil der Station, der immer größer wurde.
Der Schiffscomputer hatte mehrere Warnungen ausgespuckt, dass er sich schleunigst aus dem Staub machen sollte. Der Stationsreaktor hätte quasi jede Sekunde den kritischen Punkt erreichen können. Trotzdem hatte Alsth noch ein paar Minuten an der Dockschleuse gestanden und auf Nylla gewartet. Doch sie war nicht gekommen. Schließlich hatte er schweren Herzens die Schleuse geschlossen und war losgeflogen.
Obwohl er genau wusste, dass er keine Wahl gehabt hatte, kam er sich dafür jetzt hundeelend vor.
Bis ein neues Energiezeichen auf seinem Bildschirm auftauchte. Alsth hielt den Atem an. Ein kleines Schiff? Ohne Antrieb? Nein! Eine Fluchtkapsel!
Er flog darauf zu, stellte hastig die Dockverbindung her, sprang von seinem Pilotensitz auf und lief zur Schleuse hinüber.
Und da lag sie! Sie war bewusstlos, aber am Leben und, soweit er es erkennen konnte, unversehrt. Es war wie ein kleines Wunder.
Er trug sie ins Schiff herein und legte sie hinter dem Pilotensitz auf dem Boden ab. Dann dockte er wieder von der Fluchtkapsel ab und setzte einen Kurs auf Anbis 2. Hier war jetzt endlich alles erledigt.
Nach einigen Minuten merkte er, wie sie sich regte. Er sprang wieder auf, kniete sich neben sie und hob sie mit einem Arm in eine sitzende Position.
„Nylla?“ fragte er vorsichtig. „Alles okay?“
Nylla blinzelte benommen und war sichtlich orientierungslos. Sie griff instinktiv nach seinem anderen Arm und atmete mehrmals tief durch.
„Wo.... Was.... ist passiert?“
„Keine Sorge! Du bist in Sicherheit! Torx’ Raumstation gibt es nicht mehr und wir sind unterwegs nach Hause.“
Erst nachdem er das gesagt hatte, fiel ihm ein, dass diese Raumstation ihr Zuhause gewesen war. Er konnte sich nicht mal ansatzweise vorstellen, wie sie sich jetzt fühlen musste.
Nylla schüttelte verwirrt ihren Kopf. Sie blickte ins Leere, als würde sie sich an etwas sehr Wichtiges erinnern wollen.
Alsth versuchte, möglichst locker zu klingen, um sie ein bisschen abzulenken: „Wir haben zwar nicht ganz das, was wir uns erhofft hatten.“ Er nahm das Notepad, das sie Torx abgenommen hatten, aus der Hosentasche und wedelte damit vor Nylla herum. „Aber wir haben zumindest das hier. Wenn wir wieder in der Zentrale sind, werden wir uns das ganz genau ansehen. Vielleicht finden wir heraus, was du uns da auf den Hals gehetzt hast und wie das Torx hätte helfen sollen, die ganzen Kraftwerke zu übernehmen. Aber eigentlich wäre das auch egal, schließlich haben wir ja dafür gesorgt, dass Torx keine Gelegenheit mehr dazu haben wird, seinen Plan in die Tat....“
„Ich hab alles gehört....“, murmelte Nylla plötzlich.
Alsth stockte in seinem Monolog und sah sie verdutzt an. „Was?“
Doch sie beachtete ihn kaum und starrte einfach weiter in die Leere.
„Warum hat er das gesagt?“ fuhr sie mit leiser, tonloser Stimme fort. „Das verstehe ich nicht....“
„Äh, Nylla? Wer hat was gesagt?“
„Und er hat alles ernst gemeint! Zumindest klang es so, aber.... Das kann doch nicht sein....“
Alsth verstand nur Bahnhof und musste unwillkürlich lachen. „Du scheinst mächtig was abgekriegt zu haben. Vielleicht solltest du dich erst mal ausruhen und....“
„Dass jemand so über mich denken könnte....“ Alsth bemerkte, wie Nyllas Augen wässrig wurden. „Dass jemand so.... so viel für mich.... Für mich!“
„Hey....“ Alsth strich mit der flachen Hand über ihren Rücken. „Was ist denn los? Du hast allen Grund zu feiern! Es ist vorbei! Wer wird denn ausgerechnet jetzt Trübsal blasen?“
Zum ersten Mal sah Nylla Alsth direkt an. Tränen liefen ihr über die Wangen. „Er hat mir das Leben gerettet, Alsth!“ brachte sie hervor. „Gruth, er hat.... er ist gestorben, um mich zu retten! Kannst du dir das vorstellen?“
Dann konnte sie sich nicht mehr zurückhalten und begann laut zu schluchzen. Alsth setzte sich neben sie auf den Boden, nahm sie in die Arme und hielt sie einfach fest. Sie drückte sich gegen ihn, ihren Kopf an seine Schulter gelehnt, und ihr Rücken zitterte.
So blieben sie die ganze Zeit sitzen, bis ihr Schiff in die Atmosphäre von Anbis 2 eintrat.
Epilog
Der kleine Hörsaal in der Polizeiakademie von Anbis City war zu etwa zwei Dritteln mit Zuhörern gefüllt.
Vlorah kannte die wenigsten von ihnen, aber man hatte ihr gesagt, dass etwa die Hälfte davon Presseleute waren. Die andere Hälfte waren irgendwelche mehr oder weniger hohen Tiere aus dem Verwaltungs- oder Sicherheitsapparat der Stadt. Vlorah hatte keine Ahnung, warum die alle unbedingt persönlich hier sein mussten, aber irgendeinen plausiblen Grund würde es wohl dafür geben.
Immerhin kannte sie aber drei der Anwesenden: Die Polizeidirektorin und Kommissar Kheilo, die links neben ihr am Tisch auf der Bühne saßen und in die versammelte Menge hinein blickten – und Kommissar Alsth, der in der zweiten Reihe Platz genommen hatte und mit verschränkten Armen und einem leichten Lächeln auf den Lippen in seinem Sitz lümmelte.
Gerade erklärten Kheilo und die Direktorin der Menge, wie Torx und Ellister die Impulspause hatten nutzen wollen, um die Energieversorgung des Systems zu kapern und dadurch die Macht in Anbis City zu übernehmen.
„Lange wussten wir nicht, wie Torx es mit seinen begrenzten Ressourcen schaffen wollte, in einer halben Stunde sieben Kraftwerksstationen gleichzeitig einzunehmen“, sagte die Direktorin. „Aber mittlerweile sind wir etwas schlauer. Kommissar Alsth hier vorne hat uns mit den nötigen Informationen versorgt.“ Sie deutete zu Alsth hinüber, der ein übertriebenes Grinsen aufsetzte und nach hinten in den Raum hinein winkte. „Darüber wird uns unsere Kollegin von der Kosmopol mehr erzählen können. Agent Vlorah?“
Damit ging das Wort an Vlorah über. Sie erhob sich von ihrem Platz und ging näher an den großen Videoschirm hinter ihr heran, um gleich ihre Hände zum Zeigen verwenden zu können. Kurz räusperte sie sich und begann dann zu sprechen:
„Wir haben in den letzten Tagen ein Notepad ausgewertet, das Kommissar Alsth von seinem Einsatz mitgebracht hat. Mit den Daten darauf konnten wir die letzten Informationslücken schließen und wissen nun, wie Torx‘ und Ellisters vollständiger Plan ausgesehen hätte.“
Sie drückte den kleinen, elastischen Ball, den sie in den Fingern hielt, woraufhin auf dem Videoschirm einige technische Darstellungen erschienen.
„Die beiden wollten auf zwei unterschiedliche Technologien zurückgreifen, um innerhalb kürzester Zeit und ohne viel Personal sämtliche Kraftwerke in ihre Gewalt zu bringen. Sowohl Torx als auch Ellister haben jeweils eine der Technologien beigesteuert.“
Vlorah drückte ein weiteres Mal den Ball, woraufhin eine der Darstellungen vergrößert wurde: Ein kugelförmiger Apparat mit einer auffälligen Öffnung an einer Stelle.
„Eine von Ellisters Sicherheitsfirmen hat diese Drohne entwickelt. Sie kann gezielt Personen ansteuern und sie mit einem Betäubungsmittel besprühen. Die Bewusstlosigkeit tritt innerhalb sehr kurzer Zeit ein. Ellister hat seine Firma angewiesen, diese Entwicklung noch geheim zu halten, daher hatte bisher nur er Zugriff auf sie.“
„Normalerweise enthalten die Drohnen Betäubungsmittel“, ergriff Kheilo das Wort. „Ellister hat jedoch ein spezielles Exemplar mit einem tödlichen Gift gefüllt und damit einen Anschlag auf Ratsherrn Riggar verübt. Dabei kam Riggars Kindermädchen ums Leben, wie Sie alle wissen.“
Vlorah nickte. „Richtig. Die Konstruktionspläne von Kommissar Alsths Notepad stimmen sowohl mit dem Exemplar überein, das den Anschlag auf Ratsherrn Riggar ausgeführt hat, als auch mit einem weiteren Exemplar, das wir in Ratsherrn Ellisters Anwesen.... sichergestellt haben. Damit können wir zweifelsfrei nachweisen, dass Ellister in alles verwickelt ist.“
Wieder drückte Vlorah auf ihren kleinen Ball. Diesmal wurde eine andere Darstellung vergrößert: Ein Gebilde, das ein bisschen wie eine Mischung aus einem Käfer und einem Mikrochip aussah. Ein daneben dargestellter Maßstab im Nanometer-Bereich sollte deutlich machen, dass dieses Ding mikroskopisch klein war.
„Und das ist die Technologie, die Torx beigesteuert hat: Naniten. Winzige Roboter, die mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen sind. Irgendwie muss Torx es geschafft haben, mehrere Nano-Druckmaschinen zu stehlen oder auf dem Schwarzmarkt zu erwerben, mit denen er Millionen von Naniten produzieren konnte. Ein ziemlich großer Coup für einen Schmugglerboss wie ihn.“
Sie betätigte nochmal ihren Ball und eine Darstellung von Anbis 6, des großen roten Gasriesen, und den sieben Kraftwerksstationen in dessen Orbit erschien hinter ihr.
„Und so hätte der Übernahmeplan nach unseren Erkenntnissen grob ausgesehen: Die Drohnen hätten die Kraftwerke gleichzeitig angeflogen, wobei jede eine gewisse Anzahl von Naniten auf ihrer Oberfläche mitgeführt hätte. Die Naniten hätten Löcher durch die Außenhülle gefressen, groß genug, sodass die Drohnen ins Innere eingedrungen wären.“
Während sie das erklärte, lief hinter ihr eine simple grafische Animation durch, die ihre Worte veranschaulichte.
„Die Kraftwerke verfügen zwar über ein ausgeklügeltes Sicherheitssystem: Sensoren, die Lecks sofort erkennen können, und ein Leitungsnetz, mit dem Dichtungsmittel an jeden Ort der Hülle befördert werden kann, um innerhalb von Sekunden jedes Loch zu stopfen. Doch die Zeit hätte trotzdem locker gereicht, damit die Drohnen mit ihren winzigen Passagieren hätten durchschlüpfen können.“
Die Animation war zu Ende und Vlorah setzte sich wieder auf ihren Platz.
„Sie ahnen sicher schon, wie es dann weitergegangen wäre“, fuhr sie fort. „Die Drohnen hätten sämtliche Belegschaften der Kraftwerke ausgeschaltet und die Naniten hätten sich ins Stationssystem eingeklinkt und die Kontrolle übernommen. Torx hätte dann leicht alle Kraftwerke gleichzeitig aus sicherer Entfernung steuern können, ohne weiteres Personal zu benötigen.“
„Nach der Impulspause hätte er mit unserer Regierung Kontakt aufgenommen und ihnen gedroht, der ganzen Stadt den Saft abzustellen“, fügte Kheilo noch hinzu. „Außerdem hätte er zu diesem Zeitpunkt schon das Personal von sieben Kraftwerken als Geiseln in seiner Gewalt gehabt. Im Grunde hätte er jede beliebige Forderung stellen können, wir wären ihm hilflos ausgeliefert gewesen.“
„Glücklicherweise konnte er diesen Plan nie in die Tat umsetzen. Stattdessen wurden alle Drohnen und alle Naniten auf seiner eigenen Station freigesetzt, aufgrund eines kleinen.... Missgeschicks einer.... freiwilligen Mitarbeiterin....“ Vlorah blickte zu Alsth hinüber, der sichtlich darum bemüht war, ein Lachen zu unterdrücken.
„Sie können sich vielleicht vorstellen, was los war, als all diese Dinger auf einer einzigen, kleinen Station freikamen“, knurrte Kheilo. „Noch dazu vollkommen unkontrolliert. Die Naniten haben sämtliche Elektronik lahmgelegt und die Baustruktur angegriffen und schließlich wurde auch der Stationsreaktor in Mitleidenschaft gezogen. Innerhalb kürzester Zeit wurde die Raumstation komplett vernichtet. Wir gehen davon aus, dass Torx dabei umgekommen ist.“
„Und gegen Ratsherrn Ellister hat die Staatsanwaltschaft von Anbis City bereits Anklage erhoben“, ergänzte die Direktorin. „Er befindet sich zur Zeit in polizeilichem Gewahrsam. Ich denke, damit hätten wir alles Wesentliche zusammengefasst....“ Sie sah ihre beiden Tischnachbarn fragend an und die nickten beide zur Bestätigung. „Gut. Das heißt, falls Sie jetzt noch Fragen haben, dann wäre jetzt der richtige Zeitpunkt dafür....“
Alsth wartete draußen vor dem Saal auf Kheilo und Vlorah.
„Das habt ihr toll gemacht“, bemerkte er grinsend.
„Oh, vielen Dank“, brummte Kheilo, während sie neben der Tür stehen blieben. „Ich frage mich, wie die Polizei ihre Leute dazu motivieren will, Fälle abzuschließen, wenn sie dann immer diese öden Pressekonferenzen geben müssen.“
Sie sahen zu, wie sich der Hörsaal langsam leerte und die Zuhörer sich alle in verschiedene Richtungen davon machten.
„Du solltest dich lieber nicht beschweren“, bemerkte Alsth. „Müsstest du nicht eigentlich längst im Knast sitzen? Mir ist zu Ohren gekommen, dass ihr in meiner Abwesenheit ein bisschen.... über die Stränge geschlagen habt. Aber jetzt bist du immer noch auf freiem Fuß und darfst mit deinem Polizeiausweis herumwedeln.“
Kheilo versuchte ein unschuldiges Gesicht aufzusetzen. „Tja.... ich schaue auch schon seit drei Tagen jede Stunde nach, ob eine Nachricht von der Staatsanwaltschaft da ist, aber irgendwie.... kommt da nichts....“
Alsth schüttelte fassungslos den Kopf. „Oh Mann“, sagte er mit gespielter Empörung. „Diese Typen haben einfach alle kein Rückgrat.“
„Glaubst du wirklich, die trauen sich nicht, mich einzubuchten?“
„Ich sag dir eins: Wenn wir vorher gewusst hätten, welche Vorteile es bringt, ein ganzes Sonnensystem zu retten, hätten wir das schon viel früher gemacht.“
Darüber mussten die beiden lachen.
„Was ist mit Ihnen, Agent?“ wollte Kheilo dann wissen. „Schon irgendwelche Kommentare aus Borla erhalten?“
„Keine offiziellen, wenn Sie das meinen. Allerdings ist es der Führung der Kosmopol nicht so fremd, dass man unter extremen Bedingungen manchmal gewisse Grenzen überschreiten muss. Sie ahnen gar nicht, was uns da alles während unserer Ausbildung mit vorgehaltener Hand zugeflüstert wurde....“
„Ach ja?“ Alsth war plötzlich sehr neugierig. „Erzählen Sie doch mal!“
Vlorah wollte schon etwas erwidern, als die Direktorin als eine der letzten Personen aus dem Hörsaal trat. „Ah, sehr gut, Sie sind noch hier. Ich möchte Ihnen allen noch einmal für Ihre hervorragende Arbeit in den letzten Tagen danken. Es ist immer eine nette Abwechslung, wenn man der Presse mal etwas fast ausnahmslos Positives berichten kann. Geben Sie meinen Dank auch an Ihre Schmugglerfreundin weiter.“
Sie schüttelte allen dreien die Hand.
„Eins noch, das ich fast vergessen hätte“, sagte sie dann. „Agent Vlorah, kurz bevor ich hier her gekommen bin, habe ich eine Nachricht von einem gewissen Direktor Shimmy von der Kosmopol bekommen. Er möchte, dass Sie sich so schnell wie möglich mit ihm in Verbindung setzen.“
Die Direktorin nickte ihnen noch zu, dann machte sie sich auf den Weg zum Ausgang.
„Oh, jetzt gibt’s Ärger“, flüsterte Alsth mit bedrohlicher Stimme.
Vlorah warf ihm einen Blick zu, der hoffentlich nicht zu amüsiert und stattdessen ausreichend tadelnd aussah. „Ich sollte das am besten gleich erledigen. Ich weiß nicht, ob ich Sie vor meiner Abreise noch einmal sehen werde, also.... Machen Sie es gut.“
Während sie den beiden Kommissaren die Hand reichte, sagte Alsth schnippisch: „Sie können es wohl gar nicht erwarten, von hier wegzukommen, nicht wahr?“
„Das ist ziemlich offensichtlich“, raunte Kheilo ihm durch geschlossene Lippen zu.
Vlorah überlegte kurz. „Wenn ich auch die Zusammenarbeit mit Ihnen insgesamt als ausgesprochen abwechslungsreich und interessant empfunden habe....“
„Jetzt kommt’s....“, zischte Alsth in Kheilos Richtung.
„.... werde ich mich trotzdem freuen, wenn ich endlich wieder in meinen eigenen vier Wänden auf Borla die Füße hochlegen kann. Also dann, gutes Gelingen Ihnen beiden.“
„Gute Reise“, riefen Kheilo und Alsth ihr einstimmig hinterher, während sie davonging.
Dann begannen die beiden langsam in die Richtung zu schlendern, die sie zurück zum Hauptgebäude führen würde.
„Fährst du jetzt nach Hause?“ fragte Alsth.
„Ja“, nickte Kheilo. „Meine Frau hat schon meinen ganzen freien Nachmittag verplant, glaube ich.“
„Dann viel Spaß.“
„Danke. Und du? Ich nehme an, du hast noch etwas zu erledigen....“
Alsth grinste. „Richtig, ich habe vor, unserer.... wie hat Vlorah sie vorhin genannt? .... freiwilligen Mitarbeiterin noch einen Besuch abzustatten!“
Kheilo erwiderte das Grinsen. Alsth nahm eine Codekarte aus der Hosentasche und wedelte damit herum. „Ich habe hier noch eine Kleinigkeit für sie.“
„Dann will ich dich mal nicht aufhalten.“
Alsth wollte schon loslaufen, aber Kheilo hielt ihn doch noch einmal an. „Moment noch! Wenn ich dir vielleicht in dieser Sache noch einen Rat geben darf....“
„Was gibt es, Opa?“
„Als Experte für Frauen mit einer.... eher ungewöhnlichen Vergangenheit....“
„Oh Gott, was kommt denn jetzt?“
„Ich will nur sagen, dass ich sehr wohl mitbekommen habe, wie unzertrennlich ihr auf eurem gemeinsamen Ausflug geworden seid und dass das garantiert nicht so bleiben wird, wenn wir wieder einen neuen Fall bekommen und sie wieder in die Weltgeschichte hinaus fliegt.“
„Das ist mir schon klar“, erwiderte Alsth, deutlich ernster als in den Minuten zuvor. „Worauf willst du eigentlich hinaus?“
Kheilo blickte Alsth einige Zeit an und suchte nach der richtigen Formulierung. Dann entschied er sich, dass die einfachsten Worte fast immer die besten waren: „Wenn man jemanden gern hat, kann es nie schaden, wenn der oder die das auch weiß.“
Kheilo kannte seinen Partner sehr gut und konnte genau erkennen, dass er irgendeinen trotzigen Widerspruch auf den Lippen hatte. Aber dann lächelte er nur und deutete ein Nicken an. „Also gut, dann bis morgen.“
Damit machte er sich auf den Weg und schien dabei deutlich schneller zu laufen als sonst.
Kheilo sah ihm nach und schmunzelte.
Nach einigen Tagen Ruhepause fühlte Nylla sich deutlich erholter und kraftvoller als in den ganzen drei Wochen davor. Ein kurzer Blick in den Spiegel bestätigte ihr, dass sie auch genau so aussah.
Man hatte ihr ein paar Klamotten gegeben, mit denen sie sich auch auf der Straße blicken lassen konnte, ohne allzu großes Aufsehen zu erregen. Sie war gepflegt und herausgeputzt und hatte sogar endlich mal wieder ihre Haare waschen können. Gerade steckte sie sie mit ihrer silbernen Haarspange nach hinten, als es an der Tür klopfte.
„Einen Moment!“ rief sie und kam aus dem kleinen Badezimmer. „Ich muss noch schnell die Knarre verstecken!“
Sie war wieder in der Polizeizentrale in dem Sicherheitsquartier, das sie schon vor ihrer Rückkehr zu Torx’ Raumstation bewohnt hatte. Die Tür ging auf und Alsth trat herein.
„Ich bin hier, um die Gefangene zu überführen“, begrüßte er sie grinsend.
„Ach Mann, gerade wo ich mich hier eingelebt habe.“ Sie versuchte traurig zu klingen, aber sein Grinsen war so ansteckend, dass sie einfach nicht anders konnte als es strahlend zu erwidern. „Und ich bin noch gar nicht mit Packen fertig!“
„Na los, Abmarsch“, drängte Alsth, der natürlich wusste, dass Nylla gar kein Gepäck hier hatte.
Nylla ließ sich das nicht zweimal sagen und so verließen sie zusammen das Zimmer.
Als sie an der Wache vor ihrer Tür vorbeikamen, winkte sie ihm lächelnd zu. „Tschüss, Volter! Wünsch deiner Mutter gute Besserung von mir!“
Der Wachmann nickte mit freundlichem Gesicht. „Werde ich. Tschüss, Nylla!“
Während sie weitergingen, blickte Alsth sie verdutzt an. „Muss ich das jetzt verstehen?“
„Ich war jetzt drei Tage lang in diesem öden Zimmer und es gibt absolut nichts zu tun. Da wird man sich wohl noch ein bisschen mit dem Personal unterhalten dürfen.“
„Aha.“
„Und ich darf jetzt wirklich so einfach hier raus spazieren?“
Sie erreichten den Lift und Alsth drückte den Rufknopf. „Tja.... So gerne ich und meine Kollegen dich für irgendwas einbuchten würden, wir haben überhaupt nichts gegen dich in der Hand. Wir können dir keine deiner früheren Schmuggeleien nachweisen – und die ganze Zeit, während du hier warst, warst du entweder auf der Flucht vor Leuten, die dich töten wollten, oder du hast uns bei unseren Ermittlungen geholfen.“
„Hey, stimmt ja.“ Der Lift kam an und sie stiegen ein. „Ich hab euch mächtig geholfen. Dafür müsste ich doch eigentlich jetzt eine Belohnung bekommen – oder nicht?“
Sie sah Alsth gespannt an, der plötzlich seine Lippen zusammenkniff, so als müsste er ein Lächeln unterdrücken.
„Möglicherweise“, sagte er dann vieldeutig, während er die Taste für den obersten Stock betätigte. Die Lifttüren schlossen sich wieder und sie begannen nach oben zu fahren.
„Wie, möglicherweise? Krieg ich jetzt was oder nicht?“
„Nun ja.... Okay, es gibt eine kleine Überraschung....“
„Ha! Und was für eine?“
„Wirst du gleich sehen. Aber versuch bitte nicht allzu enttäuscht zu sein.“
„Na gut. Und wo gehen wir jetzt hin?“
„Aufs Dach!“ In dem Moment hielt der Lift an und Alsth marschierte los, während die erstaunte Nylla kurz vergaß, ihm hinterherzukommen.
„Hey!“ Nylla rannte ein paar Schritte, um zu ihm aufzuschließen.
Sie gingen auf eine Glastür zu, die aus dem Gebäude hinaus auf eine große, freie Ebene führte. Als sie hindurchtraten, wehte ihnen ein kräftiger, frischer Wind entgegen, der Nyllas Haare aufwirbelte. Sie mussten jetzt ganz oben auf dem höchsten Gebäude der Polizeizentrale sein, denn der Ausblick war atemberaubend: Die Turmspitzen der Skyline von Anbis City und darüber ein strahlend blauer Himmel.
„Was soll das jetzt, Alsth? Für was für eine Art von Belohnung musst du mit mir aufs Dach steigen?“
„Sieh doch selbst!“
Nylla blickte in die Richtung, die Alsth ihr anzeigte. Sie entdeckte ein Landefeld, offensichtlich für die Shuttles der Polizei, auf dem auch ein paar davon herumstanden. Aber dahinter, ganz in der Ecke, stand ein weiteres Schiff, das nicht ganz dem Design der anderen entsprach. Und trotzdem erkannte sie es sofort wieder.
„Die Landario!“ entfuhr es ihr, während sie vor Freude und Überraschung kaum den Mund zubekam. „Ihr habt sie repariert!“
„Der Früchtekorb, den du bekommst, ist schon an Bord....“
Nylla stürzte sich auf ihn und umarmte ihn überschwänglich. Dann stürmte sie los, auf ihr Schiff zu. Alsth schlurfte ihr grinsend hinterher.
Sie lief einmal um das Schiff herum und betrachtete es staunend. „Sie sieht wie nagelneu aus! Ihr habt sogar den Kratzer hier vorne abgedichtet!“
„Wenn die Polizei irgendein herrenloses Fahrzeug oder Fluggerät beschlagnahmt, dann ist es Standardprozedur, es neu herzurichten und es dann über eine Agentur zum Verkauf anzubieten“, erklärte Alsth. „Kheilo und ich konnten die Zuständigen aber dazu überreden, es aus ihrer Bestandsliste zu nehmen. Schließlich ist es ja immer noch dein Schiff.“
Nylla kam wieder zur Einstiegsrampe nach hinten und gab ihren Öffnungscode ein. Sie erschrak ein bisschen, als die Anzeige rot blieb.
„Natürlich wurden auch sämtliche Codes geändert.“ Alsth nahm eine Karte aus seiner Hosentasche. „Hier hast du die neuen.“
Nylla nahm die Codekarte hastig an sich, suchte die richtige Kombination heraus und gab sie in die kleine Konsole ein. Diesmal wurde die Anzeige sofort grün und die Rampe tat sich auf. Sie sprang hinauf, noch bevor sie den Boden erreicht hatte, und lief in ihr Raumschiff hinein. Es roch nach frischer Farbe und Desinfektionsmittel und alles war wirklich blitzblank. Aber sonst war es genau so, wie sie es verlassen hatte.
„Jetzt muss ich nur noch zugeben, dass das mit dem Früchtekorb nur ein Scherz war“, sagte Alsth, der ihr hinterher kam.
Nylla blickte fragend zu ihm hinüber. Dann kam ihr eine Idee und ihre Miene hellte sich wieder auf.
„Hey“, rief sie. „Lust auf eine kleine Spritztour?“
Vlorah saß in ihrem Hotelzimmer mit ihrem Computer auf den Knien und wartete darauf, mit Direktor Shimmy verbunden zu werden.
Sie musste nicht lange warten.
„Ah, Agent Vlorah.“ Shimmys Kopf erschien auf ihrem Bildschirm. Er hatte wie immer seine typische überernste Miene aufgesetzt und seine Vollglatze war wie immer schweißnass, obwohl er eigentlich nicht so aussah, als hätte er gerade etwas körperlich Anstrengendes getan. Als er sprach, erklang seine vertraute hochgestochene Stimme, die ein bisschen den Eindruck machte, als wäre er noch im Stimmbruch. „Mit Ihnen wollte ich reden.“
„Was gibt es, Direktor?“
„Zunächst einmal: Gute Arbeit, Agent! Mit der Zerschlagung dieser Schmuggler-Einrichtung und der Aufrechterhaltung der Ordnung im Anbis-System haben Sie der Kosmopol einen großen Erfolg beschert und die Grenzgebiete des menschlichen Besiedlungsraums ein bisschen sicherer machen können.“
„Vielen Dank, Direktor. Ich möchte dazu nur anmerken, dass ich ohne die Hilfe der örtlichen Polizei nicht so effektive Arbeit hätte leisten können. Ihnen gebührt mindestens genau so viel Dank.“
Shimmy machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich bin sicher, dass das so ist. Aber darüber wollte ich gar nicht mit Ihnen reden. Es geht da um eine Sache, die mir ehrlich gesagt ziemliches Unbehagen bereitet – und den Leuten, mit denen ich schon darüber gesprochen habe, geht das sehr ähnlich.“
„Wenn es um meinen Einbruch in dieses Privatanwesen geht: Dazu möchte ich erklären, dass ich keine andere Möglichkeit gesehen habe, innerhalb der knappen Frist an die notwendigen Beweise zu kommen, und dass ich es als meine Pflicht als Kosmopol-Agentin angesehen habe, alles zu tun, um....“
Shimmy unterbrach sie ungeduldig. „Das habe ich überhaupt nicht gemeint. Ganz im Gegenteil: Sie haben bewiesen, dass Sie Ihr eigenes Wohl nicht über die großen Ziele stellen, sondern sogar Ihre Karriere opfern würden, wenn es notwendig ist. Und außerdem wäre es ohnehin die Angelegenheit der örtlichen Rechtsprechung im Anbis-System.“
„Oh....“ Jetzt fragte Vlorah sich wirklich, worauf Shimmy hinaus wollte. „Gut, aber worum geht es dann?“
Shimmy beugte sich näher an seinen Monitor heran und wirkte auf einmal noch ernster und humorloser als sonst: „Wir waren alle sehr beunruhigt darüber, dass es theoretisch möglich ist für ein einzelnes Individuum, ein ganzes Sonnensystem in seine Gewalt zu bringen und sich womöglich auch noch von Borla abzuspalten. Alles, was dieser Kerl offenbar dafür gebraucht hat, waren ein paar Spielzeuge, die er sich irgendwo zusammengeklaut hat, und die Hilfe einer einzigen wichtigen Person im Regierungsapparat des Systems.“
„Äh, Direktor, ganz so ist es nicht....“
„Eigentlich hat es bisher so ausgesehen, als würden wir dieses verdammte Schmugglerproblem langsam in den Griff bekommen. Doch jetzt müssen wir erfahren, dass es da offenbar eine komplette Schmugglerhochburg gegeben hat, von der wir bis vor wenigen Wochen noch nicht einmal wussten. Und höchstwahrscheinlich ist sie nicht die einzige da draußen. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie viele solcher versteckter Schmuggler-Stationen es in den Randsystemen noch gibt! Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, Agent Vlorah, aber bei mir verursacht das gewaltige Kopfschmerzen.“
Vlorah nickte schnell. „Auch ich war über das Ausmaß dieses Falls sehr erschrocken, als ich allmählich mehr darüber erfahren habe. Und umso erleichterter bin ich jetzt, dass wir es, zumindest in diesem Fleckchen des Weltraums, in den Griff bekommen haben.“
Shimmy lehnte sich wieder zurück. „Nun, das ist der Unterschied zwischen uns, Agent. Als Direktor kann ich mich nicht einfach nur mit einem Teilerfolg zufrieden geben. Man erwartet eine Reaktion von der Kosmopol. Und nicht nur von uns, auch von unserer Regierung.“
„Das leuchtet mir alles ein. Aber warum erzählen Sie mir das? Was habe ich damit zu tun?“
„Sie wissen, dass die Politik für gewöhnlich sehr träge reagiert. Deswegen haben wir uns dazu entschieden, den Politikern mit gutem Beispiel voran zu gehen. Wir wollen mittelfristig in jedem der Systeme, in denen unserer Einschätzung nach die Gefährdung am größten ist, eine eigene, permanente Vertretung aufbauen. Ein Büro mit einem oder zwei Agenten, die sich mit den örtlichen Begebenheiten auskennen und im Notfall sofort reagieren können.“
Langsam ahnte Vlorah, worauf dieses Gespräch hinauslaufen könnte. Sie wusste nicht so ganz, ob sie darüber lachen oder weinen sollte.
„Damit wollen wir den Politikern und der Öffentlichkeit klarmachen, dass etwas getan werden muss“, fuhr Shimmy fort. „Dass der Griff auf die Randsysteme verstärkt und die Vernetzung mit Borla erhöht werden muss, damit so eine Beinahe-Katastrophe wie im Anbis-System nicht eines Tages wirklich passieren kann. Und was wäre wohl medienwirksamer, als wenn wir direkt dort anfangen, wo der Vorfall passiert ist, der uns wachgerüttelt hat: Im Anbis System!“
„Ähm, Direktor Shimmy....“
„Ich möchte daher schon bald – am besten innerhalb weniger Wochen – so eine erste Kosmopol-Außenstelle in Anbis City einrichten. Und da Sie, Agent Vlorah, bereits eingängige Erfahrungen dort gesammelt haben, außerdem schon mit den wichtigen Personen der Stadt und den sonstigen Begebenheiten vertraut sind.... und vor allem, da Sie bereits so gute Arbeit geleistet haben – auch, wie Sie selbst sagten, in Zusammenarbeit mit den örtlichen Sicherheitskräften – schlage ich vor, dass Sie unsere ständige Vertreterin in Anbis City werden.“
Jetzt war es raus. Vlorah seufzte innerlich. Sie hätte so etwas kommen sehen müssen.
„Also, was sagen Sie, Agent?“
Während Shimmy sie erwartungsvoll anblickte, versuchte Vlorah, irgendwelche Worte zu finden, die weder unverschämt noch quengelig klingen sollten. „Direktor.... ich empfinde Ihr Vertrauen in mich zwar als sehr schmeichelhaft und stimme auch grundsätzlich mit Ihrer Einschätzung überein, dass die Kosmopol hier im Rand aktiver werden muss.... Jedoch habe ich in Borla ein Leben aufgebaut, das ich nur ungern so kurzfristig und unvermittelt aufgeben möchte. Außerdem....“
Shimmy hielt plötzlich irgendwas in der Hand, das er vorher unter dem Computer liegen gehabt haben musste. „Ich habe hier Ihre Akte, Agent. Soweit das hier vermerkt ist, sind Sie ledig und kinderlos. Damit fällt das Problem, eine Familie zurücklassen oder gegebenenfalls zum Umzug überreden zu müssen, bei Ihnen weg. Was Ihre übrige Verwandtschaft angeht: Ihre Schwester.... sitzt im Gefängnis.... wenn ich richtig lese, lebenslänglich.... und Ihre Eltern sind vor Jahren von Borla weggezogen....“
„Aber....“
„Ich finde hier auch keinen Vermerk, dass Sie in irgendeinem Verein oder Verband engagiert sind. Da müsste also auch niemand auf Sie verzichten.“ Shimmy legte die Akte wieder weg und sah Vlorah eindringlich an. „Sie wissen, theoretisch kann die Kosmopol frei über den Einsatzort ihrer Agenten entscheiden. Meistens wird aus Kulanz darauf verzichtet, sie von ihren Wurzeln loszureißen. Aber bei allem Respekt, so tief scheinen Ihre Wurzeln hier gar nicht zu sein. Und wenn nicht Sie den Job übernehmen, dann muss ich jemand anderen finden, der vermutlich deutlich mehr aufgeben müsste als Sie und sich zudem noch in einem völlig unbekannten System zurecht finden müsste. Das wollen Sie doch hoffentlich keinem Ihrer Kollegen antun.“
„Ich.... verstehe....“ Langsam wurde Vlorah klar, dass sie offenbar nicht mehr aus dieser Nummer rauskam. Nicht ohne ihren Dienst zu quittieren. „Natürlich nicht.“
„Dann sind wir uns also einig? Hervorragend! Jetzt kommen Sie erst einmal zurück nach Borla, Agent, um Ihren Abschlussbericht abzugeben. Und dann möchte ich, dass Sie Ihre Sachen packen und sich im Anbis-System eine feste Bleibe aufbauen. Ihre neuen Bekannten von der örtlichen Polizei werden Ihnen sicherlich gerne dabei helfen, eine hübsche Wohnung zu finden.“
Ja, ganz bestimmt, dachte Vlorah grimmig. Die werden ein paar nette Kommentare für mich haben....
„Also dann, wir sehen uns im Laufe der nächsten Tage noch persönlich, dann besprechen wir alle Details.“
Damit wurde die Komverbindung beendet.
Und während Vlorah auf den schwarzen Bildschirm starrte, kam ihr ein Gedanke, der ihr in letzter Zeit beunruhigend häufig durch den Kopf ging:
Na toll....
Die Landario brauste über die Savannenlandschaft von Anbis 2 hinweg. Der neue Antrieb lief ausgezeichnet und sogar beinahe geräuschlos.
Nylla saß auf ihrem neuen Pilotenstuhl und bediente die Kontrollen, Alsth lümmelte daneben auf der Armlehne, hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt und blickte nach vorne auf das fast einheitliche Hellgrün unter ihnen hinaus.
„Fliegen wir nicht ein bisschen zu tief?“ fragte er.
„Ich dachte, ich darf hier fliegen, wo ich will, außer über der Stadt.“
„Schon, aber.... na egal.“ Alsth beschloss, das Thema zu wechseln. „Hast du dir schon irgendwelche Gedanken gemacht, was du jetzt tun willst, wo du frei bist und deine alte Stelle gestrichen wurde?“
Nylla wiegte gedankenvoll den Kopf. „Verschiedene Ideen, nichts Handfestes. Obwohl, jetzt, wo ich wieder ein Schiff habe....“ Dabei erschien wieder dieses besondere Leuchten in ihren Augen.
„.... willst du das System verlassen?“ Alsth konnte nicht verhindern, dass eine gewisse Enttäuschung in ihm aufstieg.
Nylla zuckte mit den Achseln. „Vielleicht. Aber eigentlich.... denke ich ernsthaft daran, zu dieser alten Kaserne zurückzukehren, wo ich mich in den drei Wochen nach meiner Flucht versteckt habe.“
„Du meinst, bei diesen Gesetzlosen im Norden vor der Stadt? Ich dachte, du warst nicht allzu begeistert davon, dort festzusitzen.“
„Ja, schon.“ Nylla zuckte mit den Achseln. „Aber da wurde ich von Attentätern verfolgt, mein Antrieb war im Eimer und ich war mit den Nerven ziemlich am Ende. Aber jetzt sieht es anders aus. Jemand, der ein eigenes, voll funktionstüchtiges Raumschiff hat, kann dort sehr nützlich sein. Ich kann Passagiere befördern, Besorgungen erledigen, Waren abliefern.... eigentlich genau das, was ich bisher gemacht habe. Nur dass ich diesmal mein eigener Herr sein werde, anstatt die Befehle eines größenwahnsinnigen Psychopathen ausführen zu müssen.“
Sie blickte kurz zu Alsth hinüber. „Außerdem sind es keine Gesetzlosen, sondern nur Leute, die ihr eigenes Ding durchziehen und sonst einfach in Ruhe gelassen werden wollen.“
„Klingt ja ganz so, als hättest du dich schon von ihrer Lebensweise begeistern lassen.“
„Nicht unbedingt. Ich glaube nur, dass sie meine Dienste gut brauchen könnten.“
Alsth war jedoch weiterhin eher skeptisch. „Du weißt aber schon, dass nicht alles, was diese Leute machen, wirklich so einwandfrei legal ist. Da sind schon ein paar finstere Typen dabei. Und irgendwie müssen sie auch ihr Geld verdienen, um über die Runden zu kommen. Nur mit Hütchenspielen und Schrottsammeln werden die kaum ihre kompletten Bedürfnisse decken können. Gut möglich, dass du also schon bald wieder unsere Einrichtungen von innen siehst. Und nächstes Mal wird die Unterkunft wahrscheinlich nicht ganz so bequem werden.“
„Ich werde schon aufpassen und meinen Kopf möglichst aus dem größten Ärger raushalten. Wenn ich ein Talent habe, dann ist es das. Also keine Sorge.“
Alsth beschloss, es dabei zu belassen. Sie würde schon wissen, was sie tat. Und der Vorteil wäre, dass sie immer noch auf dem Planeten bleiben würde. Er hätte es schade gefunden, wenn sie einfach so auf Nimmerwiedersehen verschwunden wäre.
Sie waren nach Norden abgebogen und flogen jetzt über den Pol hinweg. Dem Hellgrün war ein ins Orange gehendes Goldgelb gewichen – die Sandwüste, die die beiden Polbereiche des Planeten bedeckte.
„Na? Wollen wir mal ausprobieren, ob dieses Ding auch weltraumtauglich ist?“
„Entscheide selbst. Du sitzt am Steuer.“
„Okay.“
Nylla tippte einen neuen Kurs ein und der gelbe Streifen auf dem Sichtschirm verschwand nach unten und wich einem tiefen Blau, das immer dunkler wurde und schließlich in weiß gesprenkeltes Schwarz überging.
Alsth beugte sich näher an Nylla heran, um zu sehen, wo sie hin wollte. Als er ihr Ziel erkannte, zog sich seine Magengegend unwillkürlich zusammen. Ich verstehe. Du brauchst einen Schlussstrich.
Sie saßen den restlichen Flug still nebeneinander und nach einigen Minuten kam die große, rote Kugel von Anbis 6 in ihr Sichtfeld und wurde immer größer. Nylla schwenkte die Landario in einen hohen Orbit ein und ließ dann die Sensoren arbeiten.
Viel schien von der einstigen Raumstation nicht mehr übrig zu sein. Sie entdeckten nur noch ein paar einzelne, kleine Trümmer, die weit verteilt herumschwebten. Die meisten Überreste waren vermutlich schon in den Planeten gestürzt und dort in den gewaltigen Atmosphärenstürmen aufgerieben worden.
Nylla starrte gedankenverloren in den Weltraum hinaus. Hier hatte sie ihre Kindheit verbracht, ihre Jugend, praktisch ihr ganzes Leben. Alsth versuchte sich vorzustellen, wie er sich fühlen würde, wenn sein Zuhause zerstört werden würde. Es wollte ihm aber nicht so recht gelingen.
„Willst du vielleicht für einen Augenblick allein sein?“ fragte Alsth vorsichtig. „Ich kann so lange in den hinteren Teil des Schiffs gehen.“
„Nein, schon gut....“ Nylla schüttelte den Kopf, veränderte ihre Miene aber nicht. „Hier gibt es sowieso nichts mehr zu sehen. Ich wollte mich wahrscheinlich nur selbst davon überzeugen, dass ich den ganzen Mist endlich hinter mir habe....“
„War es denn wirklich alles so schlimm?“ Alsth spürte ihre Traurigkeit und bekam sofort das Bedürfnis, sie irgendwie aufzuheitern. „Ich meine, gab es nicht auch schöne Seiten an deinem Leben hier?“
Nylla zwang sich zu einem dünnen Lächeln. „Die gab es schon, schätze ich. Es war nicht unbedingt das Paradies, aber es war schon in Ordnung. Trotzdem bin ich irgendwie froh, dass es jetzt vorbei ist....“
„Froh siehst du aber nicht unbedingt aus.“
Sie seufzte tief. „Bisher hab ich mir immer gesagt: Das ist dein Leben, Nylla. Das ist es, wofür du auf der Welt bist. Und mehr ist für dich nicht drin. Aber kürzlich hat mich jemand auf den Gedanken gebracht, dass das vielleicht gar nicht so sein muss. Dass ich vielleicht noch etwas anderes aus meinem Leben machen könnte....“
Das Lächeln, das sie nun auf den Lippen hatte, wirkte schon etwas ehrlicher. „Ironisch, nicht wahr? Der einzige Mensch auf dieser verdammten Station, der wirklich was für mich übrig hatte, war der stocksteife Leibwächter meines verhassten Chefs, den ich erst so wirklich wahrgenommen habe, nachdem er für mich gestorben ist.“
Dieser Satz berührte etwas in Alsth und schien lauten Protest von ihm zu verlangen. „Ich glaube wirklich nicht, dass er der einzige war, der dich mochte.“ Er erinnerte sich daran, was Kheilo vorhin gesagt hatte, und zwang sich dazu hinzuzufügen: „Ich mag dich zufällig auch ganz gern.“
Dafür bekam er von ihr ein drittes, diesmal absolut aufrichtiges und vollständiges Lächeln geschenkt, das etwas im Inneren seiner Brust warm werden ließ. Womöglich hattest du Recht, alter Mann.
„Danke, dass du das sagst“, sagte sie vergnügt. „Wahrscheinlich würdest du deine Meinung ändern, wenn du mich hundertprozentig kennen würdest.“
„Das bezweifle ich“, beteuerte er ihr. Er fühlte sich auf einmal sehr gut und das ließ ihn Mut schöpfen. „Ich meine, ich weiß, dass du deine Dämonen hast, mit denen du kämpfen musst. Vielleicht mehr als die meisten anderen Menschen. Ganz sicher mehr als ich mit meinem Ottonormal-Lebenslauf. Aber das macht mir überhaupt keine Sorgen. Im Gegenteil, ich finde es nur umso bewundernswerter, wie gut du dich im Griff hast und wie freundlich und normal du trotz allem geblieben bist. Das zeugt von einer starken Persönlichkeit.“
„Ach, jetzt hör aber auf.“ Sie wirkte nun ziemlich verlegen, was Alsth ausgesprochen niedlich fand. „Vielleicht sollten wir wirklich langsam zurückfliegen, sonst bin ich bald genauso rot wie dieser Planet da vorne.“
Damit schwenkte sie die Landario herum und setzte einen neuen Kurs.
Das breite Lächeln blieb aber in ihrem Gesicht kleben und auch Alsth war absolut zum Lächeln zumute.
So blieben sie die ganze Zeit sitzen, bis ihr Schiff in die Atmosphäre von Anbis 2 eintrat.
Ende
Episodenübersicht
Prolog
Episode 1: Der Absturz
Episode 2: Die Agentin
Episode 3: Der Unterschlupf
Episode 4: Alarm am Raumhafen
Episode 5: Vernehmung
Episode 6: Der Plan
Interlude: Der Auslöser
Episode 7: Das Angebot
Episode 8: Das Attentat
Episode 9: Der heiße Stuhl
Episode 10: Ellis Island
Episode 11: Ebene 13
Episode 12: Untergang
Weitere Abenteuer aus Anbis City gibt es bei www.anbis-city.de
Tag der Veröffentlichung: 25.10.2020
Alle Rechte vorbehalten