Ich bin die Leeze von Lisbeth. Ich bin ihr Prinzessinnenfahrrad, und ich bringe sie überall hin, wohin sie möchte. Insbesondere bringe ich sie nach Hause, immer wenn wir irgendwo gewesen sind.
Wenn wir in der Stadt waren, zum Beispiel auf dem Markt am Samstag oder "bummeln" wie Lisbeth das nennt - ich bummel dann ja nicht, ich warte, bis sie damit fertig ist. Wenn wir also aus der Stadt nach Hause fahren, nehmen wir fast immer denselben Weg. Lisbeth fährt gern die Promenade entlang. Ich auch, es ist schön dort, und wir Leezen sind dort meistens unter uns. Naja, gemeinsam mit Joggern und Kinderwagenschiebern, mit Spaziergängern, Inlinern und was da so alles rollt und geht - nur Autos dürfen dort nicht fahren, unter den Linden. Die Promenade führt ganz um unsere Stadt herum, nur leider nicht bis zu Lisbeths Haus. Deshalb müssen wir sie verlassen. Und uns wieder unter den Autoverkehr mischen.
Ich weiß immer schon vorher genau, wo sie abbiegen möchte und dass sie jetzt den Hals reckt, um über die Autodächer hinwegzuspähen, ob wir dort in der nächsten Straße Gegenverkehr haben werden oder nicht. Heute kommt uns jemand entgegen. Als wir in die Straße einbiegen und ganz normal auf der rechten Seite weiterfahren wollen, nimmt das Auto fast die ganze Straßenbreite ein. Für uns bleibt nur ein schmaler, ein sehr schmaler, ein - uh - zu schmaler Streifen Straße, durch den Lisbeth uns jetzt quetschen muss.
Du liebe Güte, Lisbeth! So eng ist das hier doch sonst nicht!
Ängstliches Gemurmel von Lisbeth und auch aus dem Auto ist zuhören, es ist wirklich eng! Ich gebe mir alle Mühe, und Lisbeth auch, das Gleichgewicht zu halten und nirgends anzustoßen. Plötzlich blockiert mein Vorderrad.
Nichts dreht sich mehr.
Nein, jetzt kann ich uns nicht mehr halten. Wir schlittern ein Stück weiter, das Auto ist jetzt vorbei, und dann klatschen wir mitten auf die Straße.
Aua.
Von Lisbeth wieder ein Stöhnen, aber ich glaube, es ist ihr nicht viel passiert. Wir waren ja nicht aehr schnell. Und während ich noch warte, dass sie ihre Knochen sammelt und sich unter mir herauspult, höre ich den Autofahrer laut schimpfen. Er hockt vor einem Hinterrad seines Wagens und schreit, seine Felge sei "... im Arsch! Die kostet 1500 Euro!" Und Lisbeth müsse das bezahlen.
Lisbeth bewegt sich unter mir heraus, und die blonde Beifahrerin aus dem Auto ist zu ihr gekommen und sagt, sie solle sich lieber erstmal nur langsam bewegen. Sie will wissen, ob meiner Lisbeth etwas passiert ist.
"Ich glaube nicht", sagt Lisbeth. Aber sie bleibt lieber erstmal sitzen. Mitten auf der Straße. Die ist hier nicht sehr breit, und Autos parken auf beiden Seiten, und schon kommt wieder ein Auto, das will vorbei.
Nun lasst sie doch erstmal in Ruhe aufstehen!
Und während der Mann von den angefahrenen Auto immer noch schimpft, und von Geld und Polizei redet, hilft die blonde Frau, mich beiseite zu schieben.
Schieben geht leider nicht mehr. Das Vorderrad ist blockert. Sie müssen mich tragen.
Tut mir so leid, Lisbeth!
"Dann rufen Sie doch die Polizei", sagt Lisbeth schließlich entnervt zu den angefahrenen Fahrer.
"Was ist denn los mit dir?" frage ich das Auto, "wie kann denn eine Felge bei sowas kaputt gehen?" Aber es redet nicht, zumindest nicht mit mir. Es brummt nur leise, das klingt wie "porrrrrsche porrrrsche."
Dies ist ein Rennwagen: ein breites, flaches Ding, das eigentlich dazu gedacht ist, schnell zu fahren und gut auszusehen. Und nun steht es hier, in einer kleinen vollgeparkten Straße, mit startbereitem Autofahrer und blonder Beifahrerin, und es muss warten. Klar, dass sie das nicht gern tun und vor sich hin knurrt.
Lisbeth hat sich aufgerappelt und der Fahrer fragt von Handy her, ob sie einen Krankenwagen brauche. Die Polizei wolle das wissen.
"Nein", sagt Lisbeth. Das ist doch schonmal gut. Also ist sie nicht verletzt. Und ich?
Irgendwas ist mit meinem Vorderrad nicht in Ordnung. Eine Felge, die kaputt gehen könnte, habe ich nicht, aber irgendwie hat sich vorne alles um die Nabe gewickelt und verkeilt. Bremszug, Lichtschnur, die Gabel fühlt sich komisch an und die Kugeln im Lager lagern auch nicht mehr richtig. Da muss Lisbeth mich wohl zu Piet bringen, in die Werkstatt, damit der das repariert. So teuer wie die Felge werde ich nicht sein.
"Hey", spreche ich nochmal das Auto an, "kostet deine Felge wirklich so viel? Da könnte man ja drei Leezen für kaufen!"
"Porrsche", brummt der Rennwagen wieder. "Porrsche", als sei das ein Wort.
Der Autofahrer schimpft immer noch. Ob Lisbeth versichert sei, will er wissen. Sie verneint. Wie sie das dann bezahlen wolle? Seine Felge, die tausendfünfhundert Euro kostet. Ob sie das in Raten zahlen könne?
Lisbeth sagt nichts. Vielleicht überlegt sie grade, wieviel meine Reparatur wohl kostet.
Jetzt holt der Mann sein Handy raus und fängt an, zu fotografieren. Sher genau untersucht er den Kotflügel seines Autos, dann fotografiert er mich und alles mögliche andere auch.
Schließlich warten wir alle auf die Polizei. Und die braucht eine Weile. Es ist Samstag, da sind viele Menschen in der Stadt unterwegs, und mit dem Autokommt nicht gerade flott voran. Und wenn niemand verletzt ist, findet die Polizei es auch nicht besonders eilig. Der Mann schimpft immer noch, und Lisbeth schweigt.
Irgendwann bleiben zwei Leute bleiben stehen und bewundern sein Auto. Das gefällt ihm. Nun schimpft er nicht mehr. Das gefällt mir.
Lisbeth steht nur da, guckt vor sich hin auf den Boden. Sie sitzt jetzt am Rand der Straße an einem Mäuerchen. Mich hat sie beiseite gezogen, damit wir nur ja kein Auto mehr am Vorbeifahren stören, und ich glaub, sie ist ziemlich niedergeschlagen. Aber jetzt kommt ja gleich die Polizei. Normalerweise mögen wir die nicht so gerne, denn die nehmen es immer sehr genau mit all den Vorschriften, an die sich Radfahrer so halten müssen. Ich weiß nicht, ob Lisbeth wirklich immer alles richtig macht. Aber wer macht das schon!
Hat sie hier etwas falsch gemacht?
Wir fahren doch immer hier entlang. Wenn das verboten wäre, hatte Lisbeth sich längst einen anderen Weg ausgesucht. An dieser Stelle kommt uns oft ein Auto entgegen, und das war noch nie ein Problem. Die Straße ist im Prinzip breit genug für ein Auto und eine Leeze. Klar, dieser Rennwagen ist ein bisschen breiter als ein normales Stadtauto, aber so sehr nun auch nicht.
Inzwischen kümmert sich die blonde Beifahrerin um Lisbeth.
"Ist alles in Ordnung?" fragt sie. "So ein Schock kann auch etwas verzögert kommen. Nicht dass Sie hier noch umkippen, vielleicht setzten Sie sich lieber hin."
Lisbeth bleibt stehen, nimmt aber ein Bonbon an, dass die Dame ihr anbietet. Sie reden ein bisschen miteinander. Ich weiß Lisbeth erstmal in Sicherheit und döse ein. Wie immer, wenn ich wieder warte.
Dann ist die Polizei da. Ein Polizeiauto, aus dem zwei uniformierte Männer aussteigen, ein alter und ein junger. Der Mann geht sofort auf sie zu und spricht mit ihnen, und er ist wieder sehr aufgeregt. Dann kommen die beiden zu uns, und der ältere spricht Lisbeth an, wie denn ihre Sicht der Dinge sei. Und Lisbeth erzählt, wie es war.
Mich fragt keiner, ich bin nur einfach kaputt.
Dann erklärt der ältere Polizist, wer jetzt was falsch gemacht hat. Anscheinend hätte Lisbeth warten und das Auto vorbeilassen müssen. Aber das Auto hätte auf der rechten Straßenseite fahren müssen. Dann hätten wir kratzerlos vorbeigepasst. Wie sonst auch immer. "Rechtsfahrgebot" sagt der Polizist und "Deutschland".
Die gewichtigen Wörte beenden den Ärger des Mannes. Jetzt schimpft er nicht mehr, will aber immer noch Geld, zumindest Zusagen will er, von Lisbeth. Die sagt aber nichts. Sie schließt mich an ein Gitter an und geht zu Fuß nach Hause.
Ich kann sie ja nicht fahren. Sie kann mich nicht einmal mehr schieben, weil sich mein Vorderrad nicht dreht. Der Porrsche aber brummt jetzt nochmal richtig und zieht ebenfalls von dannen. Ob er in Zukunft weiter rechts fährt?
Ein paar Tage später holt Lisbeth mich ab. Sie bringt ein Taxi mit, einen großen Mercedes mit einem riesigen Kofferraum. Der Fahrer des Taxis räumt den Kofferraum leer, damit ich hineinpasse.
"Na, dann bringen wir die alte Dame mal zum Doc", sagt er, als er mich hinein hebt. Und während wir zu Piet in die Werkstatt fahren, fällt mir ein, was er damit gemeint hat. Klar, ich bin ein Damenrad. Und sehr jung bin ich auch nicht mehr.
Piet braucht nur ein paar kundige Griffe, um genau festzustellen, was mir fehlt.
Lisbeth ist ebenso erleichtert wie ich, als er den ganzen Stress mit dem Porrsche und dem wütenden Mann auf einen groben Kostenvoranschlag und einen Termin reduziert. Freitag kann Lisbeth mich wieder heile abholen! Das ist doch prima.
Ob Lisbeth dem Mann noch Geld gegeben hat, hat sie mir nicht erzählt. Das Auto ist uns bisher auch nicht wieder begegnet. Es kam nicht aus Münster.
Tag der Veröffentlichung: 21.06.2018
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