Cover

Anfang

                                                         1

Ich bin Mike. Der Furchtlose, der Unbeugsame, der Starke, der Fansievolle, der edle Recke, das weiße Pferd, der erste Gaul im Stall – wobei der Stall vor Unrat starrt, Spinnweben in Hüfthöhe an den Wänden prangen, ein Schlag auf den Boden (man sollte sich aber dessen gewiss sein, dass man dazu eine Staubschutzmaske trägt; denn sonst hat man dann hinterher mindestens einen Dauerhustenanfall)den ganzen Stall zum Leben in Liliputanerformen erweckt – kurzum ich bin Mike. Der Chaot unter den nicht-so-Chaoten, der Verrückte unter den nicht-so-Verrückten, der Blinde unter den Weniger-Blinden. Wirklich? Na gut, ich bin tatsächlich Mike, der zu 100% behindert ist – v. a. gebehindert -, also nicht nur ein bisschen, sondern vollkommen; und der deswegen auch die Pflegestufe I hat. Zwar meinte meine Betreuerin, mir gebühre Pflegestufe II; aber da muss man ja mit 2 Köpfen unterm Arm kommen, aus denen noch was rausgucken sollte, das man besser nicht anfasst und dazu noch mit einem rosa Schleifchen umgürtet ist.

 

Alter: 24

Er geht durch die Straßen, durch die Straßen einer Stadt, in der er schon seit 21 Jahren lebt. Doch scheinbar kennt ihn hier keiner. Denn von überallher schallt es unhörbar und doch überdeutlich: besoffen, besoffen, besoffen ...

         Vor drei Jahren war es noch ganz anders: Er wurde für voll genommen, lebte sich aus vor allem in weiblicher Gesellschaft, ihm wurde Respekt gezollt wie an sich jedem pubertierenden Menschen. Doch dann zogen plötzlich dicke smoghafte Schwaden über sein Leben, veränderten alles, machten ihn zu einer anderen Kreatur: Eines Nachts kam er auf die "anrüchige" Idee, anderen auf der Autobahn helfen zu wollen, als diese angefahren worden waren. Versteht sich, dass er dafür bezahlen musste, ja fast sein Leben herzugeben hatte. Am Ende nur vier Wochen Koma, nur auf einer Seite völlige Lähmung, nur verringerte Augenstärke, wenn auch stark, wenn auch nicht mehr fähig zur Kommunikation mit anderen, wenn auch Wackelkrankheit an Kopf und Gliedern. Doch sprechen lernte er wieder, aber wenigstens seine Artikulation blieb verwaschen.

         Jetzt verlor er sein Elternhaus. Von seinem Vater - seine Eltern waren geschieden - hatte er schon seit Jahren nichts mehr gehört, seine Mutter ließ ihn nun ebenso im Stich. Vorher schon war das Verhältnis arg zerrüttet - er war nur ein geduldetes Kind -, doch jetzt endgültig aus.

         Trotzdem: Die Erde drehte sich weiter, sein Leben drehte sich weiter, er drehte sich weiter, erlaubte es sich nun, alles zu riskieren, alles auf eine Karte zu setzen. "Aus diesem sumpfigen Dreckloch herauskommen!", hieß sein Joker. Und - man sollte es kaum glauben - er schaffte es tatsächlich, vom Rollstuhl an die Krücken umzusteigen.

         Jetzt: Auf zu Bekannten - Umzug. Er musste. Seine Mutter. Aber bald: 1000.-DM leichter.

 

Mit einem Krüppel kann man das ja machen, nicht??

 

Dann: Krankenhaus ade, zurück in die eigene Wohnung. Allein. Die im vierten Stock (juheisassa), kein Wasser (braucht man nicht), keine Heizung (ist doch eh warm im Sommer), Toilette eine halbe Treppe tiefer (Hüttentür auflassen, Hüttendeckel auflassen, weit- und zielschiffen; trainieren für die Deutsche Meisterschaft). Und er noch immer an Krücken. Dazu beklaut von Leuten, die sich von ihm als Freunde beschreien ließen. Auch von der Mutter, seiner eigenen, die inzwischen wieder scheinheilig angekrochen gekommen war. Woraufhin er sie wiedermal-endgültig abstieß.

 

Au Backe, irgendwas macht er falsch!

 

Und die Versprechungen: behindertengerechte Wohnung, Unterstützung jeglicher Art, ihn besuchen kommen, ... Natürlich versuchte er, sich an jeden Strohhalm zu klammern, der sich ihm da bot, scheinbar bot. Doch -

 

kein Zielwasser, der Gute

 

- er griff meistens ins Leere. Ganz selten, dass das, was man ihm versprach, auch gehalten wurde: Von seiner Sprachtherapeutin, seinem Arzt, von der Tochter seines Arztes sowie dessen Krankenschwester und deren Sohn, auch von einer ältliche Frau aus Hennigsdorf. Sie sorgten dafür, dass sein Kopf über der Oberfläche des Isolationssumpfes blieb. Aber sein Körper - der steckte noch immer dort drin, wo er hingehört.

         Auch seine ehemalige Verlobte - von der er sich schon vor seinem Unfall trennen musste - wollte ihn noch weiter in den Sog dieses Sumpfes hinabstoßen. Zwar hatte sie den Kontakt mit ihm wieder aufgenommen und er wünschte sich egal was passiert, sie zurückzubekommen - denn sie zu lieben, kein Ende war je in Sicht. Nur, als sie ihn das erste Mal sah, ... Sparen wir uns eine nähere Beschreibung dazu. - Sie ist Krankenschwester, ja, allerdings, aber deswegen ... die Illusion ist gewichen.

         Nach relativ kurzer Zeit hatte er es geschafft, wieder ohne Krücken zu laufen. Zwar war er Kandidat - und das der Allererste - für eine Fluggesellschaft, aber er stabilisierte sich, flog immer weniger, seine Beine begannen sich daran zu gewöhnen, dass sie seinen Körper wieder allein zu tragen hatten. Doch etwas blieb: der ataktische - sprich: stelzige - Gang, welcher für solche, die mit einem geistigen Armutszeugnis behaftet waren - und das waren und sind verdammt viele - wie der Gang eines Besoffenen aussieht.

         Doch war er es je? Ich glaube nicht! Nur - in Cran Canaria zum Beispiel wurde er am Tage angelächelt, in der Nacht als Säufer verschrien; bei der Fahrt mit seinem VW, als die Lenkung bei einem Überholvorgang zu schleudern anfing, geschah das Gleiche - trotz Behindertenkennzeichens; an einer Tankstelle, an der er jemanden etwas fragte, bekam er es wieder zu hören und dazu, dass er ja deswegen nichts kapiere. Und unzählige andere Beispiele gesellten sich hinzu. So wurde er auf seinem Behindertenfahrrad oft verspottet: "Guck dir mal diese Schüssel an!" oder "Der fürchtet sich vorm Fliegen!" oder "Als Besoffener kannst du damit herrlich fahren!" oder es wurde einfach gelacht. Und manchmal wurde er deswegen aggressiv. Schweinerei, nicht? Zum Beispiel stand er im Bus kurz vor einer Haltestelle auf, wollte zum Ausgang streben. Doch in dem Moment fuhr der Bus durch ein Schlagloch, worauf sich Gleichgewichtsprobleme bei ihm einstellten. Nun fiel er über eine Frau, die er dabei leicht touchierte. Die Frau aber schrie: "Ni so viel saufen!" Da sah er rot, der Böse, und ließ seine Faust bei ihr einrasten.

         Und jetzt? Er traut es sich immer noch, durch die Straßen zu gehen, und das, obwohl sich bei ihm die Gleichgewichtsprobleme keineswegs verzogen haben. Aber er hat sich im Griff. Und er wagt es sogar, den Leuten, die ihm entgegenkommen, genau in die Augen zu sehen: Viele schauen ihm zuerst ins Gesicht. "Hoi, da ist nichts, ich habe keine zurückgebliebenen kosmetischen Schäden." Dann wandert ihr Blick zu seinen Füßen. "Hach ja, meine Hosen, die auffallenden, oder ... was ist es sonst?" Doch dann wird ihr Blick abweisend grinsend. Und er weiß: "Aha, ich bin mal wieder als Besoffener erkannt worden." Andere bleiben stehen, einige von denen kriegen Maulsperre und schütteln den Kopf, oder tuscheln bei seinem Anblick mit den Nächsten. Oder es wird einfach gelacht. Nu nu, der dämliche Besoffene.

         Und was die Mädchen oder Frauen oder - salopp gesagt - Weiber betrifft: Es ist nicht mehr so wie früher, dass er sich im Gemüsegarten austoben will; er will eine, die aber richtig und vollkommen. Doch he, wer soll so was wie ihn ertragen? "Du bist nicht hässlich geworden, ganz im Gegenteil, es liegt nur an deiner Behinderung. Ich würde es auch nicht über mich bringen." Eine Bekannte, die muss es ja wissen. Denn sie sieht schnucklig aus, hatte jedoch das Glück, dass er ihr nicht auf den Geist ging: Sie ist verheiratet, soeben, frisch, noch verliebt.

         Zweimal hatte er auch schon eine zündende Idee: Er wollte sich das Leben nehmen. Das erste Mal wurde er davor bewahrt. Beim zweiten Mal klappte es nicht, das Messer war zu stumpf - "Blödmann! Selbst sich umbringen kann er nicht!" Doch so ganz klammheimlich und intrigant und eine fiktive Pest heraufbeschwörend stellt sich mir die Frage: Was ist das für eine Gesellschaft, was für Menschen beinhaltet sie, dass er unschuldig und einfach so zum Untermenschen degradiert wird? Dass er mit Diskriminierung beworfen wird, auf dass er platze wie eine gleichzeitig von fünf Kanonenkugeln getroffenen Zwergdrossel? Oder hätte er sich, nur, weil er anderen Menschen helfen wollte, einbuddeln sollen? Ja, das hätte er wohl tun sollen. Denn: Sich nicht wieder aufzurappeln wäre doch für viele die bequemste Lösung gewesen! Aber: Capito, komm her, bitte bitte! Und geh dann zu den anderen! Danke, danke! Denn auch "Krüppel" haben Hoffnungen, Sehnsüchte, Wünsche, haben Triebe, haben Gefühle, die sie in sich spüren, die sie nach außen tragen möchten, haben auch noch Stolz, hört hört, und kämpfen, kämpfen, kämpfen um sich selbst und um andere, um das, was ihnen geblieben ist, zu erhalten und zu verbessern.

         Aber ... dürfen das Untermenschen überhaupt? Darf das ein Krüppel überhaupt? Ich kann mich ja irren - aber ist es nicht so? Diskriminierung und Dummheit haben doch den gleichen Nenner! Oder habt Ihr ein anderes Wort für das, was ich Diskriminierung nenne??

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         Arschgeigen – was ist das?

         Ich möchte Euch ein paar Geschichten erzählen. Von Arschgeigen! Die es mal waren. Heute lecken sie eben kackende Musrinnen aus und verlangen anschließend nach Nachschlag. Zwar ist es subjektiv, solche Leute „Arschgeigen“ zu nennen; aber ich glaube, das sind wirklich welche. Also nicht nur zu mir oder zu anderen Behinderten, die müssen bestimmt von noch viel mehr – wenn nicht sogar allen – mit der Pinzette angefasst werden. Oder sollte man da nicht eher einen Skalpell nehmen? Vielleicht hat man ja Glück und erwischt dabei die schwärenden Ekelpakete in ihnen; wenn sie nicht völlig durchwachsen sind.

         Arschgeigen – was ist das? Das ist doch ein fettes Ekelpaket, das sich vo9n unterbelichteten Hirnlappen manipulieren lässt. Die aber nicht seine eigenen sind, nee nee, das nicht. Denn immerhin ist dann derjenige der Arsch, auf dem gefiedelt wird.

         Will man das aber mal selbst probieren, sollte man das nicht allzu wörtlich nehmen. Denn sonst kann es leicht Striemen auf dem Arsch geben, ein zerklüftetes Gebiet also. Und manche verwechseln das auch noch. Weil ihr Gesicht und ihr Arsch sich sehr ähnlich sehen. Wie sagt meine Freundin immer: „Dem hat ein Spatz ins Gehirn geschissen!“ Tja, und raus kommt dann also bei der Nachttopfbeleuchtung – die in den Wohnzimmern der mit stark minimiertem Geldbeutel versehenen Bürger vorherrschend ist - ein zerfurchtes Gesicht; dann könnten andere noch denken, man denkt nach. Also nein, das wäre ja Rufschädigung! Man stelle sich nur mal vor, ein denkender Arsch. Zum Schluss haben wir noch knutschende Zehen.

         Hört gut zu und das richtig, denn ich erzähle euch von einer kleinen Anzahl von Kotzbrocken – die dann zu Arschgeigen mutierten -, die man ja gerade als Behinderter (weniger) fast tagtäglich erlebt. Es ist doch immer wieder ein Ohrenschmaus mit ballernden Herzkränzchen, wenn man als Körperbehinderter als unzurechnungsfähig abgestempelt wird; und das auch noch von Leuten, bei denen der Inhalt der grauen Zellen noch in den Eileitern der Mutter steckt. Oder was dachtet ihr, wie mein Besoffenenimage zustande gekommen ist? Ja, wirklich, das auf ihrem Arsch fiedelnde Heer der mit Abrissbirnen behafteten Rhinozerosse – die aussehen wie Ankylosaurier – hat sich da zu einer Demo zusammengerottet. Man kann es nur nicht sehen! Aber wie sagte der große Meister schon: „Das Böse ist hier und überall!“ Man kann das auch zusammenfassen mit „Dummheit kennt keine Grenzen!“ Und ja, „liebe“ Arschgeigen, seid Euch dessen gewiss: Nachwuchsprobleme habt ihr keine; es wird immer welche geben, die Eure Standarte aufrecht halten, eure „Ehre“ beschützen.

         Da waren doch mal zwei Exemplare von Euch im Fitnesscenter zu Zittau. Sie saßen auf den Ergometern und versuchten, ihren Rennsemmeln ein genehmigbares Ambiente zu geben. Und dabei kamen sie auf mich zu sprechen.

         „Der ist Student in Dresden“, wusste der Eine zu berichten.

         „Ja, ich weiß, der ist nämlich von hier. Aber wie lange er noch Student is´ …“

         „… keine Ahnung. Wer weiß, wann ihn die Uni raushaut. Der ist doch ständig besoffen!“

         „Stimmt! Wer weiß, wie oft … he, guck mal die da vorne. Die hat Titten, da verschläfst Du jeden Wecker.“

         „Und ja, jetzt kommt sie auf uns zu. Der gucken doch schon die Haare aus der Schlüpper. Die hat bestimmt ´ne feuchte Möse.“

         Die Weisheit mit einem Schild obenauf, bei dem danebensteht „Ich bin der Klügste!“ hat gesprochen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 03.10.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Biografie Mike Scholz, geb. am 12.11.1968. wohnhaft in Dresden. 88 Facharbeiter mit Abitur, 1998 Studium an TU DD. 90 Unfall - schwerbehindert. Im November 2005 1. Buch „Krüppelmemoiren“ beim AM-Verlag, 2011 2. Auflage beim culpa-Verlag. Dresden, 7.11.2013

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