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Kribbeln

Tauche mit ein in das Reich der Liebe mit einigen ihrer vielfältigen Spielarten.

 

Liebe deinen Nächsten! – Aber lass dich nicht erwischen.

 

Menschen mit Phantasie
langweilen sich nie.

 

 

 

Maria und Paul speisen im Hotel ›Atlantic‹, zwei Tische sind durch Pflanzen abgetrennt fast wie ein Separee. Ein portugiesischer Abend wird geboten. Das Essen, Cozido à portuguesa, schmeckt vorzüglich. Schwerer Portwein rundet ihr Liebesmahl angenehm ab. Liebesmahl, weil sie den Tag feiern, an dem Maria vor vielen Jahren dem Drängen Pauls zum ersten Mal nachgab.

Träumend lauschen sie danach dem schwermütigen Fado. Auf der kleinen Bühne singen einige Sängerinnen und Sänger zur Gitarre. Das erweckt auch bei den einheimischen Gästen ›Saudade‹, das nostalgische Gefühl, etwas Geliebtes verloren zu haben und zu wissen, die Sehnsucht nach dem Verlorenen niemals stillen zu können, da es wohl nicht wiederkehren wird.

»Weißt du noch, wie wir auf unserer Hochzeitsreise an der Algarve abends in der Taverne so gern dem Fado lauschten? Für uns Verliebte war er nicht wehmütig, sondern zum Träumen. Ach, diese herrlichen warmen Abende!«, erinnert sich Paul.

»Aber die Tage waren auch nicht langweilig. Denk doch nur, damals in den Dünen. Wir hatten so eine schöne Kuhle, wo wir vom Strand aus nicht gesehen werden konnten. Die Sonne brannte auf uns. Und du warst so mit mir beschäftigt und hast nicht gemerkt, dass oberhalb von uns ein Wanderweg vorbei führte und ein paar Jungs uns die ganze Zeit zuschauten«, kichert Maria.

»Du hättest mir halt mit deinen Schenkeln nicht die Ohren so fest zuhalten dürfen«, lacht Paul. »So haben die Bürschchen halt was Nützliches gelernt. Wahrscheinlich haben sie sich danach irgendwo in den Dünen zusammen einen runtergeholt. Die waren sicher noch ohne Mädchen.«

Maria hat sich extra so angezogen, dass Pauls Blick immer wieder zu ihrem verlockenden Ausschnitt gezogen wird. Pauls Hand liegt auf ihrem Schenkel und streichelt ihn verstohlen. Auch am Tisch nebenan kann ein junges Paar nicht die Finger voneinander lassen. Immer wieder rückt die Frau ihren Rock zurecht und schaut verlegen zu ihnen herüber.

Paul lässt noch einmal Wein kommen und dreht seinen Stuhl so, dass er das Paar unauffällig im Blick hat. Als die zwei nach einiger Zeit schließlich gehen, meint er: »Die haben es aber eilig. Sie war ja recht verlegen.«

»Sie weiß eben, was sich in so einem vornehmen Lokal gehört «, lächelt Maria.

»Du warst nicht immer so dezent. Erinnerst du dich noch, damals im Kino? Ich hatte deinen Rock ganz hoch geschoben und der Lurer in unserer Reihe setzte sich auf einmal in den Sessel neben dich, um ja alles sehen zu können.«

»Oh, wie hatte ich Angst, dass er mitmachen will.«

»Und ich, dass die Platzanweiserin mit der Taschenlampe kommt.«

»Und du mochtest den Film gar nicht zu Ende anschauen, sondern so schnell wie möglich mit auf meine Bude.«

»Na, sehr gesträubt hast du dich ja nicht gerade, erst beim Fingern im Kino und nachher auf der Bude.«

»Ach hör lieber auf damit, wir sind hier in der Öffentlichkeit. Schauen wir lieber, dass wir heimkommen.«

Aber Paul lässt sich noch viel Zeit, bis er sein Glas ausgetrunken hat und sie schließlich aufbrechen.

 

Sie spazieren durch die Nacht nach Hause. Wie zur Krönung des Abends leuchtet ein großer Vollmond und spiegelt sich im Wasser, als sie sich auf der Brücke küssen.

Maria fröstelt und Paul legt ihr den Arm um die Schultern.

»Für eine Maiennacht ist es ganz schön frisch«, murrt Paul.

 

Zuhause wäscht sich Maria sorgfältig und beduftet sich an allen Stellen, an die ihr Paul möglicherweise seine Nase stecken würde.

Sie schlüpft ins Bett und schmiegt sich an Paul.

»Du hast lange gebraucht im Bad«, murmelt Paul. »Wie spät ist es eigentlich?«

»Eins durch.«

Paul gähnt.

»Du wolltest und wolltest ja nicht heimgehen. – Und jetzt bist du müde«, schnappt Maria.

»Ja, jetzt bin ich müde«, sagt Paul und dreht sich weg.

»Schlaf gut.«

»Du auch.«

 

Maria kann nicht einschlafen. Enttäuscht wälzt sie sich im Bett immer wieder hin und her. »Ausgerechnet an diesem Jahrestag!«, schimpft sie in Gedanken. »Was ist denn los mit ihm? In der letzten Zeit passiert das immer öfter so. Verbraucht die Leitung seines Sanatoriums wirklich alle seine Kraft? Ist er krank? Warum sagt er nichts? Oder ist es etwas anderes? Braucht er mich nicht mehr?«

Sie möchte doch öfter wieder zu den Sternen fliegen, völlig außer Atem kommen. Soll jetzt mit ihren fünfzig Jahren ihr Liebesleben schon vorbei sein? Ihr ist zum Heulen.

 

 

Als Maria am nächsten Morgen wach wird, ist Paul schon in die Klinik verschwunden. Sie betrachtet sich nackt im Badezimmer im Spiegel. Sie sieht doch aus, wie jede gesunde Mittfünfzigerin, die Kinder geboren hat. Natürlich ist sie in den Jahrzehnten ohne allzu große Aufregungen und ohne Katastrophen etwas fülliger geworden, wie die meisten Frauen. Für ein Fitness-Studio hat sie sich allerdings nie die Zeit genommen. Aber sie ist immer noch so beweglich, lebhaft und impulsiv wie früher.

Sie zweifelt: »War es vielleicht doch ein Fehler, einen fünfzehn Jahre älteren Mann zu heiraten?«

Paul war bereits ein erfolgreicher Chefarzt. Sie hatte zwar ihr Studium, einige wenige Berufsjahre sowie eine kurze Liebschaft hinter sich, aber noch nicht viel wirkliche Lebenserfahrung. Dann kamen die Kinder, Paul machte sich selbständig und sie kümmerte sich um die Kinder und den Haushalt, wie damals so üblich.

Seitdem wird ihr Leben wie bei allen länger verheirateten Paaren längst von Routine bestimmt. Auch ihr Liebesleben: Sie schlafen zwar noch miteinander, oder versuchen es wenigstens, aber für Maria deutlich zu selten. Vorbei ist es mit den Verrücktheiten der Quickies im Freien oder der Artistik im Auto mit dem Risiko entdeckt zu werden; vorbei mit dem Spaß in der Badewanne oder auf dem Esstisch. Immer häufiger siegt die Bequemlichkeit über Phantasie und Experimente.

 

Maria liebt ihren Mann nach wie vor, aber im Bett ist es für sie nicht mehr befriedigend. Immer wieder mal fragt sie sich: »Merkt er das überhaupt? Ich müsste mal mit ihm darüber reden. Aber wie kann ich das am Besten anfangen? Das Thema ist heikel. Zu leicht könnte er da etwas missverstehen. Ich kann ihm doch, erst recht in seinem Alter, nicht einfach sagen, dass er im Bett nicht genügend bringt.«

So wartet Maria weiter auf eine passende Gelegenheit und die richtige Stimmung.

 

Beim Frühstück ruft Maria ihre beste Freundin Susanna an. »Grüß dich, Susi. Ich brauch mal wieder jemanden zum Reden. Hast du heute Nachmittag Zeit?« – »Heute geht’s. Komm um drei zum Kaffee, ja?«

Sie kennen sich seit ihrer Schulzeit. Später saßen sie oft beieinander auf den Spielplätzen und passten auf ihre Kinder auf oder warteten miteinander vor dem Kindergarten auf die Kleinen. Als Teenager waren sie bei ihren Liebschaften zufällig nie Konkurrentinnen um den selben Mann. So haben sie sich immer schon über Liebe und Leid und auch ihre intimsten Probleme ausgetauscht. Auch als Susanna in den Nachbarort zog, blieb die Verbindung erhalten.

 

Dann fährt Maria ins Büro der Medikamentenhilfe und bespricht mit ihren Helferinnen die Vorbereitung für die nächste Spendensammelaktion. Seit die Kinder aus dem Haus sind, hat sie mit einigen weiteren ehrenamtlichen Helferinnen diese kleine Wohltätigkeitsorganisation aufgebaut, die Medikamente für ein Kinderkrankenhaus in Indien beschafft. Sie wirbt Spenden ein, kauft die Medikamente und sorgt für den Versand. Sie hat sich trotz ihrer Hausfrau-und-Mutter-Karriere ihr Selbstbewusstsein, ihre Selbständigkeit und ihren Unternehmungsgeist bewahrt.

 

Anschließend bei Susanna überreicht Maria ihr eine Orchidee mit weiß-lila Blüten, die sie selbst gezogen hat. Susanna bietet ihr zum Kaffee selbst gemachten Kuchen an.

»Oh, lieber nicht, ich täte ja zu gerne – er riecht ja auch soo gut –, aber bei mir gehen die Kalorien direkt auf die Hüften. Paul sagt zwar immer, er liebt meine weichen Rundungen. Aber mir reichen sie jetzt schon.«

»Dabei habe ich doch einiges mehr zu bieten, als du Maria«, lacht Susanna. »Aber ich bin nicht zum Verzichten geboren. Das mache ich dann, wenn ich neunzig bin.« Sie war immer schon eine quirlige und lebenslustige Person, die keine Vergnügung ausließ.

 

Bei ihrem Geplauder über den neuesten Klatschartikel in einer Frauenzeitschrift über Scheidungsgerüchte eines Traumpaars aus ihrer Jugendzeit kann Maria unauffällig das Gespräch auf ihr Sorgenthema lenken. »Warum trennen die sich noch nach so langer Zeit?«

»Die Zeitungsfritzen meinen, er habe eine Jüngere. Die übliche Spekulation, das alte Klischee der Journalisten. Nur weil sie selbst in jeder Stadt eine andere vögeln. Sie ist doch eh' soviel jünger als er. – Nein, meistens sind die Ursachen doch viel trivialer: Langeweile, Routine, Phantasielosigkeit im Bett, Sehnsucht nach Veränderung, nach was Neuem.«

»Er ist doch auch schon um die siebzig«, erinnert sich Maria.

»Na ja, das Stehvermögen lässt schon viel früher deutlich nach. Das merkt doch jede von uns. Die ehelichen Vergnügungen werden seltener und manche der Frauen denken dann, es liege an ihnen. Wie alt ist eigentlich dein Paul?«

»Bald siebzig. – Susi, bitte lass das aber wirklich nur unter uns bleiben: Ich bin zur Zeit etwas angefressen, weil es mit Paul so selten geworden ist. Er ist immer zu müde – oder tut wenigstens so. Und wenn er wirklich mal zu mir kommt, wird er gleich schlaff.«

»Na und? Das passiert meinem Richard auch – und der ist zehn Jahre jünger als dein Paul. Irgendwie ist das doch ungerecht und saublöd: Bei uns erwacht die Liebeslust nach dem Wechsel neu und zu gleicher Zeit werden unsere Männer müder. – Wie ist Paul denn sonst? Er hat dich doch immer so lieb umsorgt. Hat er sich verändert?«

»Nein. Er ist eigentlich so fürsorglich und liebevoll wie früher. Nur eben im Bett ...«

»Wart ihr schon beim Arzt?«

»Nein, erst muss ich doch mit Paul darüber reden. Vielleicht ist es ihm noch gar nicht so aufgefallen oder einfach nicht wichtig genug oder er traut sich nicht darüber zu sprechen, wie ich ja auch. Ohne dass wir es merken, wirkt doch immer noch unsere streng katholische Erziehung. Man redet nicht über Sex. Das müssen wir erst noch überwinden.«

»Unter uns Frauen ist's etwas leichter«, bestätigt Susanna.

 

Susanna nimmt sich noch ein Kuchenstück.

»Wie war denn Euer Pfingsturlaub?«, erkundigt sie sich nach einer Weile.

»Auf Losinj war es schon richtig warm, fast subtropisch. Es waren auch schon ziemlich viele Touristen dort. Wir hatten eine recht komfortable Unterkunft und mit gutem Essen. Da merkt man wohl auch den italienischen Einfluss.«

»Und was habt ihr so gemacht? Viel gewandert?«

»Ja, auch. Aber Paul wollte meist lieber im Meer baden. Ihn zog es vor allem an den FKK-Strand. Aber mir behagte es nicht so recht.«

»Warum? Das ist doch heutzutage nichts Anrüchiges mehr.«

»Ja schon, aber irgendwie geniere ich mich halt doch noch, mich da nackt den Blicken fremder Leute auszusetzen. Stehst ja doch immer in Konkurrenz zu jungen, schicken, schlanken und knackigen Frauen.«

»Geh, na und? Wir sind doch auch noch knusprig – mein Richard schwärmt es mir jedenfalls vor.«

»Paul hat heimlich natürlich auch viel herum geschaut. Er hat extra eine Sonnenbrille aufgesetzt – das macht er sonst nie – und getan, als ob er liest. Hat aber nur sehr selten umgeblättert«, kichert Maria. »Einmal hat ein junges Paar in unserer Nähe im Wasser so geturtelt, dass er sich die Zeitung hat über die Hose legen müssen.«

 

Susanna gießt noch einen Kaffee ein und fragt vorsichtig: »Könnte es denn sein, dass Paul noch eine andere hat?«

»Unwahrscheinlich. Ich müsste das doch irgendwie merken.«

»Dann arbeitet er vielleicht wirklich nur zu viel. Wie läuft's denn in eurer Reha-Klinik?«

»Das Sanatorium läuft gut. Paul hat offenbar viel Geduld und Einfühlungsvermögen in die Psyche seiner Patienten und besonders der Patientinnen. Wahrscheinlich werden sie gerade dadurch in unserer Klinik so rasch wieder gesund. Jedenfalls landen immer wieder Kisten mit Wein als Danke-Schön bei uns im Keller.«

»Als ich ihn das letzte Mal sah, wirkte er auf mich ja auch ganz locker und entspannt – so gar nicht gestresst wie die anderen.«

»Vielleicht hat Paul ja auch einen ganz anderen Grund: ich reize ihn nicht mehr genug?«, zweifelt Maria. »Das würde er natürlich kaum zugeben. Aber wie soll ich das herausbekommen?«

»Mei, was macht müde Männer munter? Wie reagiert er denn auf Reizwäsche? In ›Dessous & Lingerie‹ neben der Apotheke hing lange ein nettes Schild: ›Wir Frauen müssen wieder lernen, die Männer auf das neugierig zu machen, was sie schon kennen.‹«

»Er schaut möglichst unauffällig schon hin, wenn ich abends unterm Hausmantel darin herumlaufe. Er fummelt dann manchmal an mir. Aber nachher im Bett ...«

»Und Sexspielzeug? Vibrator?«, hakt Susanna nach.

»Ich hab mich noch nicht getraut, einen zu kaufen«, gesteht Maria verschämt.

»Du kannst ihn doch im Internet bestellen. Er kommt dann als neutrales Päckchen.«

»Hmm. Aber das müsste ich auch erst mit ihm bereden. Nicht dass er dann durch diesen Wink mit dem Zaunpfahl eingeschnappt ist.«

»Maria, erzähl du das aber auch nicht weiter: Wir haben damit viel Vergnügen. Mein Richard spielt damit an mir herum und ich komme auf höchste Touren. Irgendwann hat er einen Steifen und wenn es dann zu schnell geht, bekomme ich ja auf alle Fälle auch mein Vergnügen«, bekennt Susanna, angeregt durch das erotische Gespräch, freimütig und fährt fort: »Für uns ist ein gemeinsamer Orgasmus immer eine Kraftquelle für unser Zusammenleben. Das klingt jetzt hochgestochen, ist aber so.«

»Du magst so ein Spielzeug also?«, fragt Maria.

»Allerdings. Aber weißt du auch, warum es trotz der Vibratoren noch Männer braucht?«, fragt Susanna grinsend.

»Warum?«

»Weil ein Vibrator keinen Rasen mähen kann.«

»Und keine Bilderhaken einschlagen«, lästert Maria.

Dann rührt sie eine Weile schweigend im Kaffee. Mit Bedauern erinnert sie sich, wie oft sie früher die Vorschläge von Paul abgewimmelt hat, in ein Nachtlokal oder in einen erotischen Film zu gehen. Auch in eine Pärchensauna mochte sie damals nie gehen. Ob sie heute mitgehen würde? Paul schlägt so etwas aber schon lange gar nicht mehr vor. Heute würden sie das auch sowieso nicht mehr tun, aus Angst von jemanden aus ihren honorigen Kreisen gesehen zu werden.

 

Als sie sich beim Abschied umarmen, meint Susanna: »Maria, wenn's mal nicht klappt, hat das zum Glück nichts mit der Liebe zu tun. Mein Richard hat aus seiner Jugendzeit den Spruch: ›Meine Hand ist mein bester Freund.‹ Aber ich weiß, auf die Dauer reicht das nicht. Wenn gar nichts von deinen Tricks hilft, musst du ihn halt zu mir schicken«, schlägt Susanna – nicht ganz ernst gemeint – lachend vor.

 

 

Paul ruft aus der Klinik an: »Heute Abend nach dem Essen kommt Benedikt kurz vorbei. Er hat wohl wieder eine Patientin für unsere Klinik vermittelt und möchte wahrscheinlich ein Trinkgeld. Wir haben doch bestimmt noch genug Rotwein im Keller?«

»Ja, eine ganze Kiste, von der Patientin aus Sizilien«, erwidert Maria. »Ich glaube, auch noch etliche weitere Flaschen von anderen Patienten.«

 

Benedikt, ein lebhafter Typ, kam in letzter Zeit öfter zu kurzen Besuchen. Meist hatte er mit Paul geschäftliche Dinge zu bereden. Wovon er lebt, ist unklar. Er ist zwar leidenschaftlicher Fotograf, aber von seinen Fotoaufträgen kann er wohl kaum leben. Über die Klinik hat er ein recht ansprechendes Werbefaltblatt gestaltet. Derzeit spielt er mit dem Gedanken, für den Gewerbeverband eine Broschüre über alle Gewerbetreibenden der Stadt zu erstellen. Er kennt ja sehr viele davon – besonders auch die Frauen, wie manche neidisch murmeln. Da hofft er auf Pauls Fürsprache im Gewerbeverband für seinen Auftrag.

Maria hält ihn für mindestens dreißig Jahre jünger als Paul. Sie kennt ihn als jemanden, der mit seiner Redegewandtheit leicht Kontakte knüpft. Seine einfühlsame und fröhliche Art wird besonders von den Frauen geschätzt.

Nach dem Geschäftlichen im Büro stoßen sie im Wohnzimmer mit Maria auf ein Glas Wein an.

»Das wäre jetzt ein schönes Motiv: der Rotwein im Glas, die sich widerspiegelnden Kerzen und Marias nachdenkliches Gesicht im Hintergrund«, schwärmt Benedikt. »Aber es ist ziemlich schwer, in einem Foto den Ausdruck in einem Frauengesicht einzufangen, den man im Augenblick empfindet.«

»Ich bin wohl auch gar nicht mehr so fotogen«, lächelt Maria verlegen, aber fühlt sich doch geschmeichelt.

»Oh, das sehe ich nicht so. Junge Gesichter sind noch leer. Viel interessanter sind Gesichter, die schon etwas erfahren haben, aber andererseits noch neugierig, noch nicht resigniert sind, noch etwas wollen«, erwidert Benedikt. »Mit zwanzig Jahren hat jeder das Gesicht, das die Natur ihm gegeben hat, mit fünfzig das Gesicht, das ihm das Leben gegeben hat.«

»Du bist der geborene Charmeur«, spottet Maria.

»Warum machst du nicht mal ein paar Fotos von Maria?«, fragt Paul.

»Gute Fotos brauchen aber ihre Zeit, anders als Schnappschüsse. – Na, traust du dich, Maria?«, lächelt Benedikt sie an. Ihn lockt natürlich gleich ein neuer Auftrag, vermutet Maria. Natürlich ist sie auch ein kleines bisschen eitel. Vielleicht ergeben sich ein paar Porträtfotos, mit denen sie angeben können. Zweifelnd wiegt sie den Kopf.

»Also, übermorgen um zwei hätte ich Zeit«, ergreift Benedikt die Chance, da Maria nicht ablehnt.

 

 

Beim ersten Fototermin plaudert Benedikt zuerst mit Maria am Kaffeetisch auf der Terrasse. »Bist du schon oft fotografiert worden – ich meine, so allein, als Hauptmotiv, nicht bei irgendwelchen Schnappschussfotos?«

Maria denkt nach. »Nicht wirklich.«

»Auch nicht von Paul?«

»Na ja, am Anfang unserer Ehe schon«, erinnert sie sich.

Benedikt grinst: »Da fotografieren wohl alle Männer ihre Frauen sehr intensiv – und nicht nur ihr Gesicht.«

Maria wird es heiß, wenn sie an ihre damaligen Fotositzungen denkt. Schon ihr erster Freund hatte bald angefangen, ihre damals noch sehr mädchenhaften Formen möglichst unverhüllt zu bewundern und auf Zelluloid zu bannen. Das war seinerzeit noch sehr anrüchig, aber was tut man nicht alles, wenn man frisch verliebt ist. Außerdem gab es ja die Belohnung nach dem Fotografieren und natürlich auch später beim Betrachten der entwickelten Bilder.

Auch Paul hat am Anfang solche Fotos von ihr gemacht. Sie waren sicher künstlerisch nicht besonders wertvoll und manchmal vor Aufregung auch etwas verwackelt. Es war ja auch eine Überforderung, das begehrte Objekt im Auge zu behalten und an all die nötigen Einstellungen am Fotoapparat zu denken. Allerdings hat er das Interesse daran im Laufe der Zeit verloren. Oder lag das daran, dass sie, Maria, immer zu g'schamig tat?

Peinlich war dann oft das Abholen der Bilder im Fotogeschäft. Sie wurden zwar maschinell entwickelt, aber manchmal wurden sie dem Kunden aus dem Umschlag heraus auf die Theke gelegt. Da musste man den Packen mit gleichgültiger Miene blitzschnell umdrehen und wieder einstecken. Nachdem aber jährlich viele Millionen derartiger Fotos geknipst wurden, haben solche Situationen ihre Peinlichkeit allmählich verloren. Jetzt im Zeitalter des Internets und der Digitalfotografie gelten sowieso ganz andere Maßstäbe.

 

Benedikt wählt auf der Terrasse für Maria einen gut beleuchteten Platz mit ruhigem Hintergrund. Der Himmel ist etwas bedeckt, ideales Nachmittagslicht für Porträtaufnahmen. Sehr sanft wendet er ihren Kopf in verschiedene Stellungen und betrachtet sie prüfend. Sie ist in Gedanken noch bei den Erinnerungen an ihre damaligen Fotositzungen. Sie spürt aber sehr intensiv seine Fingerspitzen an Schläfen und Wangen, wenn er ihren Kopf bewegt, an ihrer Kehle, wenn er ihn etwas anhebt, an ihren Ohren, wenn er eine Haarsträhne zurecht rückt. Gekonnt macht er kleine Komplimente, wie reizvoll diese oder jene Partie ihres Kopfes ist.

Maria muss sich jeweils in ernste, fröhliche, nachdenkliche oder freudige Stimmungen versetzen. Dabei wird natürlich auch gescherzt und gelacht. Einige der Porträtaufnahmen hält Benedikt für brauchbar. Nur mit ihren schmachtenden, sehnsüchtigen und verführerischen Mienen ist er gar nicht zufrieden und meint, da müsse sie schon noch einmal

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Siegfried Haberletzer
Bildmaterialien: Siegfried Haberletzer
Tag der Veröffentlichung: 25.03.2013
ISBN: 978-3-7309-1732-9

Alle Rechte vorbehalten

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