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Kapitel 1

Kapitel 1

 

 

Johann konnte den Blick nicht abwenden.

Es war dasselbe Phänomen wie bei einem Autounfall auf der anderen Seite der Autobahn. Auf schnurgerader Strecke legten plötzlich alle eine Vollbremsung hin, um zu gaffen. Um das Handy zu zücken und verstörende Fotos zerquetschter oder gar brennender Autos zu schießen. Von Blut und Zerstörung.

Blut konnte Johann hier weit und breit nicht entdecken. Was die Zerstörung anging...

Er hatte gedacht, dass Eugen ihm bereits beim Schlussmachen das Herz gebrochen hatte, aber da hatte er sich offenbar geirrt. Es dürfte nicht so scheiß wehtun, ihn beim Küssen, Flirten und Schäkern mit einem anderen zu sehen. Trotzdem tat es das.

Hastig drehte Johann den Kopf zur Seite und schaute aus dem Fenster der Trambahn, als er schon zum zweiten Mal dem Blick von Eugens neuester Flamme begegnete. Noch vor wenigen Wochen hatte er es großartig gefunden, dass Eugen nur ein paar Hundert Meter von seiner WG entfernt wohnte. In einer Stadt wie München erleichterte das vieles. Spontane Besuche zum Beispiel. Oder spontanen Sex.

Johann biss die Zähne zusammen und schloss die Augen. Er wünschte, er würde zu den Leuten gehören, die in öffentlichen Verkehrsmitteln wie mit Scheuklappen versehen auf ihr Handy starrten. Dann hätte er Eugen vielleicht gar nicht bemerkt.

Die Tram wurde langsamer, als sie die nächste Haltestelle anfuhr. Johann hatte nicht mitbekommen, welche. In seinen Ohren echote das aufdringliche Gekicher von Eugens Neuem.

Es kann nicht mehr lange dauern. Die müssen doch gleich aussteigen.

Johann öffnete die Augen und blickte zur Anzeige hoch. Noch eine Station, bis Eugen aussteigen musste. Zwei bis zur Endstation. Das schaffst du. Obwohl er auf einmal das Gefühl hatte, als wäre die Luft in der Tram extrem dünn geworden. Sie war zumindest viel zu warm. Zu viele Menschen in dicken Winterklamotten und ein Fahrer im kurzärmligen Hemd, der die Heizung bis zum Anschlag aufgedreht haben musste.

Wieder dieses Kichern, gefolgt von unmissverständlichen Schmatzlauten. Leise gemurmelte Worte.

Johann bemühte sich nach Kräften, aber plötzlich hatte er die beiden zwei Reihen vor sich im Vierer wieder im Blick – und schaute direkt in die himmelblauen Augen von Eugens Neuem.

Ein ganz anderer Typ als er selbst. Blond, blauäugig und schmal, fast dürr. Dazu ein Augenbrauenpiercing und tätowierte Finger mit mehr Ringen, als seine Arbeitskollegin Dana trug. Das hatte Johann gesehen, als er Eugen übers Gesicht gestrichen hatte, kurz bevor er die Hände in seinen dunklen Locken vergraben hatte.

»Hast du ein Problem?«, fragte der Blonde mit provozierendem Unterton.

Johann zuckte ertappt zusammen und schüttelte abgehackt den Kopf, während sich die beiden Fahrgäste in der Reihe vor ihm sowie die zwei anderen im Vierer stirnrunzelnd zu ihm umdrehten. Hitze stieg ihm in die Wangen. Inzwischen schien die Luft in der Bahn dickflüssig wie Sirup zu sein.

Und dann zog Eugen zum ersten Mal, seit Johann eingestiegen war, den Kopf weit genug von dem Blonden zurück, um seine Umgebung wahrzunehmen. Noch während er sich umsah, fragte er: »Was ist...?« Die restlichen Worte blieben ihm im Hals stecken, als er Johann bemerkte.

Scheiße. Hätte er heute bloß früher Feierabend gemacht. Oder wenigstens das Rad genommen. Dann müsste er sich jetzt nicht wünschen, dass sich die Erde auftun und ihn verschlucken möge.

Eugens volle Lippen bildeten ein formvollendetes O, das stumm zwischen ihnen in der Tram hing.

Da er sonst nicht weiter reagierte und Johann immer noch von allen Seiten angestarrt wurde, fiel ihm nichts Besseres ein, als kurz die Hand zu heben und »Hi« zu krächzen.

»Hi«, erwiderte Eugen hölzern.

»Du kennst den Kerl?«

»Mein Ex.«

Johann würgte an dem Kloß in seinem Hals, als sich einige der neugierigen Blicke in mitleidige verwandelten. Der Blonde riss so verblüfft die Augen auf, dass es komisch ausgesehen hätte, würde sich Johann nicht so beschissen fühlen.

»Dein Ex?!«

Geht′s vielleicht noch lauter? Falls irgendjemand nicht mitbekommen hatte, dass Johann der Verlierer in dieser Konstellation war.

Eugen zuckte die Schultern. »Wir wohnen leider in derselben Nachbarschaft.«

Leider.

»Ja, aber...« Netterweise verkniff sich der Blonde den Rest, aber sein Blick, mit dem er Johann über die Sitzreihen hinweg musterte, sprach Bände. Offenbar war auch ihm soeben aufgefallen, dass sie außer Eugen nichts gemein hatten. So, wie Eugen bis eben an dem Blonden geklebt hatte, hatte der sich bestimmt noch nie anhören müssen, dass er ein Klammeraffe war. Oder eine Glucke. Oder ein Langweiler. Oder Tentakelarme hatte. Oder nervte.

»Wie geht's, Joe?« Die Frage stellte Eugen aus reiner Höflichkeit. In seinem Gesicht hätte nicht mehr Desinteresse stehen können, wenn gerade eine Ente in den Olympiasee gekackt hätte.

Außerdem war die Frage überflüssig. Mit Sicherheit sah Johann aus, wie er sich fühlte. Trotzdem sagte er: »Gut, und selbst?«

»Kann nicht klagen.« Er legte dem Blonden einen Arm um die Schultern und zog ihn näher an sich, sodass die dicken Jacken leise raschelten. »Das ist Kai.«

Was kümmert mich das? Artig hob Johann noch mal grüßend die Hand. »Hi. Johann.«

Kai hob die Augenbrauen, sagte aber nichts dazu. Stattdessen blickte er aus dem Fenster in die Dunkelheit. »Hey, bei welcher Haltestelle müssen wir noch mal raus?«

Eugen sah ebenfalls hinaus. »Chiemgau... Fuck. Ich hab gar nicht mitbekommen, dass wir gerade noch mal angehalten haben.«

Johann auch nicht, sonst hätte er die zwei mit Freuden drauf hingewiesen. Jetzt mussten sie zusammen an der Endhaltestelle aussteigen. »Egal. Dann lauft ihr von der Schwanseestraße aus. Sind nur ein paar Minuten mehr.«

Kais Augen wurden schmal. »Danke für die Info.«

»Entschuldige. Das weißt du natürlich.«

Allerdings war er sich da plötzlich nicht mehr so sicher, wenn der Typ nicht mal wusste, an welcher Haltestelle sie aussteigen mussten. So oft konnte er noch nicht bei Eugen zu Hause gewesen sein. Vielleicht waren sie noch nicht lange zusammen? Vielleicht war das zwischen ihnen gar nichts Festes, sondern was Unverbindliches?

Machst du dir gerade ernsthaft Hoffnungen? Nach allem, was er dir an den Kopf geknallt hat? Mario würde ihm dafür eine Kopfnuss verpassen. Und Fritzi auch – zu Recht.

Die letzten Meter bis zur Endhaltestelle breitete sich bleiernes Schweigen in der Trambahn aus, das sich sowohl ein paar Reihen nach vorne als auch nach hinten ausdehnte. Alle schienen darauf zu warten, dass die spannende Unterhaltung zwischen ihnen weiterging.

Wie ein Autounfall, in der Tat.

Dann erreichten sie endlich die Haltestelle Schwanseestraße und sämtliche Fahrgäste strömten nach draußen in die kalte Abendluft. Johann trat nur eine Handvoll Leute hinter Eugen und Kai auf den Bahnsteig, die zu seiner Bestürzung auf ihn gewartet hatten.

»Tja, dann... war schön, dich mal wiedergesehen zu haben«, sagte Eugen, was die Situation noch unangenehmer machte, obwohl Johann nicht geglaubt hatte, dass das möglich war.

»Hm-hm.«

Kai wippte ungeduldig mit dem rechten Bein und schlang sich demonstrativ den Schal enger um den Hals. »Mir ist kalt. Willst du hier festfrieren?«

»Nein, wir können.«

Sofort wirbelte Kai herum und entfernte sich ein paar Schritte.

»Euch noch einen schönen Abend«, rief Johann ihnen hinterher, nachdem sich auch Eugen umgedreht hatte.

Einen schönen Abend? Hast du noch alle Latten am Zaun?

Johann konnte sich genau vorstellen, wie die beiden den Abend verbringen würden. Entweder gab es Sex und dann etwas zu essen bei einem Netflix-Film auf Eugens Smart-TV – oder umgekehrt. Je nachdem, wie hungrig sie waren. Wobei das Essen geliefert werden würde. Eugen kochte nicht. Und da sie schon wieder aus dem Stadtzentrum raus waren, würde er auch nicht essen gehen wollen. Die Lokalitäten in Giesing entsprachen nicht seinem Geschmack. Nicht hip genug, nicht angesagt genug. Dafür ging er lieber ins Glockenbachviertel oder nach Schwabing. Außerdem bewahrte ihn das Essen vor dem Fernseher vor einer Unterhaltung.

»Danke, dir auch«, rief Eugen über die Schulter zurück, ohne sich zu ihm umzudrehen.

Kai hakte sich ruppig bei ihm unter und zerrte ihn vorwärts. »Was war das denn für ein Vogel?«, fragte er nicht gerade leise. Johann hätte schon taub sein müssen, um ihn nicht zu hören. »Und mit dem warst du mal zusammen? Wie viele Jahrhunderte ist das denn her?«

Eugen lachte dieses kleine, sexy, dunkle Lachen, durch das Johann damals auf ihn aufmerksam geworden war. Das war sogar in einer Schwulenbar gewesen – was ihm eine deutliche Warnung hätte sein müssen. Keine Bekanntschaft, die er in einer Bar oder einem Club geschlossen hatte, war zu etwas Ernsthaftem geworden. Wenigstens hatte sich Eugen erst nach einem knappen halben Jahr von ihm getrennt.

In Johanns Augen ein sehr schönes, halbes Jahr. In Eugens offensichtlich nicht.

»Du wirst lachen, noch gar nicht so lange. Inzwischen weiß ich auch nicht mehr, was mich geritten hat. Der Typ ist so eine Klette! Wenn der neben dir liegt, kriegst du beim Schlafen kaum Luft, weil er dich erdrückt.«

»Selbst im Bett, Joe. Selbst im Bett kannst du nicht die Finger von mir lassen – und das meine ich nicht im positiven Sinn, weil deine Libido eine echte Trantüte ist. Aber zufällig gibt es Menschen, die nicht mit einer Klette an der Backe schlafen können.«

Kai stieß Eugen an. »Igitt, hör auf. Ich will mir nicht vorstellen, wie du mit dem Sex hast.«

Und Johann wollte sich das nicht länger anhören.

Abrupt wandte er sich ab und ging schnellen Schrittes nach Hause. Er wollte jetzt nur noch zurück in die WG und hoffte inständig, dass Mario und Fritzi da waren. Er wollte nicht in eine dunkle, stille Wohnung heimkehren und vor dem Fernseher versauern. So was war er nicht gewohnt. Das ließ ihn bloß in Grübeleien versinken und in letzter Zeit war er immer seltener gerne mit sich und seinen Gedanken allein.

Wahrscheinlich hatte er deshalb heute auch so lange gearbeitet.

Nur heute?

Er beschleunigte seine Schritte und erreichte schließlich das Mehrfamilienhaus, in dessen fünftem Stock sie eine sagenhafte Wohnung mit Dachterrasse hatten.

Zugegeben, jetzt im Winter brachte ihnen das nicht viel, die Miete war unfassbar hoch und die Zimmer teilweise extrem beschissen geschnitten, aber trotzdem hätte Johann in keiner anderen WG dieser Stadt wohnen wollen. Er war immer noch für den Zufall dankbar, der ihn damals zum Mitbewohnercasting von Fritzi und Mario geführt hatte – und für das unverschämte Glück, dass die beiden unter Hunderten Bewerbern ausgerechnet ihn ausgewählt hatten. Nach fast zehn Jahren gemeinsamen Wohnens war klar, dass alle Seiten sich goldrichtig entschieden hatten.

Die Wohnungstür war nicht abgeschlossen, also rief er: »Hallo, ich bin's.«

»Küche«, antwortete Fritzi sogleich. »Sag mir bitte, dass du was zu essen dabeihast.«

Nachdem er seine Tasche in sein Zimmer gebracht hatte, betrat Johann die Küche und entdecke Fritzi hinter dem unvermeidlichen Laptop auf der langen Bank an der Längsseite der Küche.

Wenn sie nicht so einen urdeutschen Namen tragen würde – Frederike von Steindorff –, hätte sie mit ihren kohlschwarzen Augen, der wilden, dunklen Lockenmähne und der kurvigen Figur locker als Latina durchgehen können. Bei Meetings ihres Arbeitgebers fielen die Kunden des IT-Dienstleisters regelmäßig von den Stühlen, wenn sie der verantwortlichen Informatikerin, mit der sie bisher nur per E-Mail oder Telefon kommuniziert hatten, leibhaftig gegenübersaßen.

Zweimal war es ihr auch schon passiert, dass Kunden explizit einen anderen Informatiker verlangt hatten, weil sie Fritzi die Arbeit nicht zugetraut hatten.

Schwerer Fehler.

Johann hob die leeren Hände. »Tut mir leid. Warum hast du nicht geschrieben? Dann hätte ich was mitgebracht.«

Fritzi schnaubte. »Als ob du die Nachricht gelesen hättest. Du benutzt dein Handy ja bestenfalls als Briefbeschwerer.«

»Wer war denn dran mit einkaufen?«

»Dreimal darfst du raten.«

Mario. Eine seiner weniger liebenswerten Eigenschaften. Wenn irgendetwas spannender war, vergaß er gerne so profane Dinge wie Einkaufen, Aufräumen oder Putzen. Dummerweise fand Mario vieles spannender. Männer, zum Beispiel.

»Dann bestellen wir uns was.« Johann blickte den Flur hinunter. »Ist Mario gar nicht da?«

»Nein, der hat sich für heute Abend ganz geheimnisvoll abgemeldet.«

Johann runzelte die Stirn. »Geheimnisvoll?« Mario war einiges, aber ganz sicher nicht geheimnisvoll. Wahrscheinlich wusste er mehr über Marios Sexleben als über den Inhalt seines eigenen Kleiderschranks.

»Ist dir das noch nicht aufgefallen? Seit ein, zwei Wochen tut er ständig so mysteriös.«

»Echt?«

Fritzi verdrehte die Augen. »Bist du schon so im Weihnachtsstress? Du solltest weniger arbeiten, Joe.«

»Hm.«

Er trat an den Küchenschrank und holte ein Weinglas heraus, das er aus der offenen Rotweinflasche neben dem Kühlschrank befüllte. Leicht erschrocken stellte er fest, dass er die Flasche erst am Montag geöffnet hatte, sie jetzt, zwei Tage später, aber schon fast leer war.

»Jedenfalls ist er ständig unterwegs, hat aber seit zwei Wochen kein neues Foto hochgeladen.« Anklagend zeigte sie auf ihren Laptop.

»Vielleicht hat er keinen Sex, sondern macht Weihnachtseinkäufe.« Johann lehnte sich gegen die Anrichte und nippte an seinem Rotwein.

»Mario? Derselbe Mario, der seine Geschenke am Tag vor Weihnachten bei Amazon Prime bestellt und jedes Mal Schweißausbrüche bekommt, ob denn auch alles rechtzeitig geliefert wird?«

Johann lächelte matt. »Hast recht.«

Fritzi schürzte die Lippen und legte den Kopf schief. Er kannte diesen Blick. Er erinnerte ihn auf angenehme Weise an seine Schwester Inga, die auch jedes Mal spürte, wenn etwas in der Luft lag.

»Alles okay, Joe?«

»Ja.«

»Ja oder ja?«

Er seufzte. Eigentlich war es sinnlos, die Begegnung mit Eugen zu verschweigen. So rabiat Fritzi manchmal auch auftrat, so fein konnten ihre Antennen sein. Außerdem... wollte er es gar nicht verschweigen. Meistens machte es das nur schlimmer und hinterher fühlte er sich immer besser.

»Ich habe Eugen eben in der Tram getroffen.«

»Ach, dieser Wichser. Der hat nie zu dir gepasst. Arroganter Schnösel. Hoffentlich hast du ihm eine reingehauen.«

Zählt es, ihm einen schönen Abend mit seiner neuen Flamme gewünscht zu haben? »Nicht ganz.«

»Soll ich ihm eine reinhauen?«

Seine Mundwinkel zuckten. »Nicht nötig. Das Ganze ist inzwischen ja fast zwei Monate her.«

»Dafür siehst du aber reichlich niedergeschlagen aus.«

Er sah in das dunkle Rot in seinem Glas hinunter. »Er hatte seinen neuen... Freund oder was weiß ich dabei.«

»Scheiße.«

Die Holzbank knarzte leise, als Fritzi hinter dem langen Küchentisch hervorrutschte und zu ihm kam. Er konnte gerade noch sein Weinglas aus der Gefahrenzone halten, ehe sie ihn in eine Umarmung zog und fest an sich drückte.

Erst da merkte er, wie sehr er das gebraucht hatte. Ein Teil der Anspannung wich aus seinen Schultern, als er gegen Fritzi sackte und sich von ihr halten ließ. Ihr unaufdringlicher Duft nach Holz und Vanille drang in seine Nase und er atmete tief ein.

»Ist echt beschissen, dass der hier gleich um die Ecke wohnt«, murmelte Fritzi an seinem Ohr, während sie ihm über den Rücken streichelte.

»Wem sagst du das?«

»Lass dich trotzdem nicht von ihm runterziehen. Der Kerl hat dich überhaupt nicht verdient. Der war von Anfang an ein Arsch.«

Ja, aber mein Arsch. Das Glas in seiner Hand zitterte. Obwohl er sich gerne länger von ihr hätte festhalten lassen, löste er sich aus der Umarmung, um schnell einen Schluck zu trinken. Wenn dieser Kloß in seinem Hals weiter anwuchs, würde er gleich zu heulen anfangen. Knapp zwei Monate nach der Trennung war Eugen das definitiv nicht mehr wert.

»Wir hatten auch schöne Zeiten.«

»Sicher hattet ihr die. Irgendwas Gutes findet man immer. Aber unterm Strich habt ihr nicht zusammengepasst. Sei froh, dass es so früh auseinandergegangen ist, sonst hätte es noch mehr wehgetan.«

»Es tut auch so schon genug weh.«

Sie strich ihm tröstend über die Seite. »Ich weiß, dass du das nicht gerne hörst, aber vielleicht brauchst du einfach mal eine Pause von Beziehungen.«

Sein Blick schweifte zu ihrem Laptop. »Dafür bin ich nicht der Typ.«

»Aber es hat doch schon mal geklappt.«

Na ja, geklappt klang nach einem Theaterstück, das ohne Patzer über die Bühne gegangen war. Sein damaliger Versuch, sich das Ende seiner zweijährigen – und damit bisher längsten – Beziehung mit Christoph aus dem Kopf zu vögeln, war in vier miesen One-Night-Stands, zwei mittelmäßigen Sexbekanntschaften und einem panischen HIV-Test geendet, der zum Glück negativ ausgefallen war. Danach hatte er die Schnauze voll von unverbindlichem Sex gehabt.

Warum zum Teufel war Sex überhaupt so wichtig? Er konnte nicht behaupten, jedes Mal Sternchen zu sehen oder die Englein singen zu hören. Sex war nett. Meistens. Das war's aber auch schon.

Er schüttelte nur den Kopf, woraufhin Fritzi seufzend die Schultern zuckte. »Dann lass dir von dem Arschloch wenigstens nicht den Abend vermiesen.« Sie holte sich ebenfalls ein Weinglas aus dem Schrank und deutete auf die Flasche hinter Johann. »Ist da noch was drin?«

»Ja.« Er griff nach der Flasche, goss den Rest jedoch in sein eigenes Glas. »Aber nicht mehr viel. Du kannst dir eine neue aufmachen.«

»Oh, wie nett.« Sie nickte zu ihrem bescheidenen, improvisierten Weinregal hinüber, das aus schlichten, breiten Brettern bestand. »Dann such du wenigstens aus, sonst erwisch ich wieder irgendwas Scheußliches. Und dann brauche ich schnell was zu essen.«

Sie machte es sich wieder auf der Bank hinter ihrem Laptop bequem und tippte mit flinken Fingern auf der Tastatur herum. »Pizza? Asiatisch? Sushi? Indisch? Burger?«

Da er heute zu faul fürs Fahrrad gewesen war, sollte er sich eher einen Salat bestellen. Vor allem, da er immer noch den dürren Kai vor Augen hatte.

Er schüttelte den Kopf, um das Bild loszuwerden. »Die Burger vom Lieferservice sind immer so pappig.« Aber da waren wenigstens zwei Salatblätter drauf.

»Dann Pizza. Ich habe Lust auf Pizza. Außerdem geht das am schnellsten.«

Hefeteig, Käse und triefendes Fett – ach, warum nicht? Jetzt hatte er eh schon ein Achtel Wein intus. »Okay.«

Er zog für Fritzi einen Blauen Portugieser aus dem Regal, der ihr beim letzten Mal gut geschmeckt hatte. Er selbst bevorzugte schwerere, kräftigere Rotweine und da er gerade die Reste eines Cabernet Sauvignon trank, würde der Blaue Portugieser danach mehr oder weniger nach nichts schmecken. Aber vielleicht öffnete er sich dann eine andere Flasche. Einfach so. Weil heute Mittwoch war. Und er es nach der Begegnung mit Eugen irgendwie brauchte.

Mit der Flasche und seinem Glas rutschte er neben Fritzi auf die Bank, drehte den Schraubverschluss auf und schenkte ihr großzügig ein, was Fritzi nicht weiter kommentierte. Stattdessen drehte sie den Laptop so, dass er besser auf den Bildschirm sehen konnte.

»Pizza oder Pasta?«

»Was für eine Frage.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Sollten wir Mario vielleicht schreiben, dass wir was bestellen? Falls er doch noch kommt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Wie gesagt, ich bin mir ziemlich sicher, dass er mit irgendwem unterwegs ist. Der kümmert sich garantiert selbst um sein leibliches Wohl. – Familienpizza?«

Er sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Hast du so viel Hunger?«

Sie grinste. »Pizza kann man auch kalt essen. Außerdem kann man bei viel Platz auch viel drauflegen.«

Sie klickte als Größe die Familienpizza an und die nächsten Minuten verbrachten sie damit, so ziemlich jede Zutat als Belag in den Warenkorb zu legen, die der Lieferservice zu bieten hatte. Anschließend schickte sie die Bestellung ab und bekam die Mitteilung, dass die Pizza in sechsunddreißig Minuten geliefert werden würde.

»So lange kann ich gerade noch warten. Und bis dahin...« Sie griff nach ihrem Weinglas, schwenkte die Flüssigkeit übertrieben darin hin und her, wie sie es mal bei Johann gesehen hatte, und trank einen vorsichtigen Schluck. »Hm, der ist gut.«

»Der hat dir schon beim letzten Mal geschmeckt.«

»Echt? Hm, dann hat sich mein Geschmack wohl nicht verändert.«

Sie stieß mit Johann an und trank noch einmal, ehe sie das Fenster des Lieferservice schloss. Stattdessen blickte Johann nun auf die Startseite der Galerie der Schönheiten, auf der ein Benutzername und ein Passwort abgefragt wurden, sonst aber nicht viel zu sehen war. Kein Wunder, die Startseite war für jeden erreichbar, sofern er den Link kannte. Alles dahinter verbarg sich hinter den neuesten technischen Spielereien, die Fritzi zum Schutz der Webseite eingesetzt hatte.

Er rollte die Augen und stöhnte unterdrückt. »Nein, danke.«

»Was denn?«, wollte sie unschuldig wissen. »Du bist schon seit Ewigkeiten nicht mehr auf der Seite gewesen.«

»Warum wohl?«

Sie winkte ab. »Ich will dich nicht zu anonymem Sex auffordern – obwohl ich nach wie vor glaube, dass dir das guttun würde –«

»Fritzi.«

»Aber ich halte es für geradezu therapeutisch, dass du Eugen hochlädst. Um ihn dir ein für alle Mal aus dem Kopf zu schlagen – und lüg mich nicht an«, fuhr sie fort, als er protestieren wollte. »Ich sehe doch, dass dir der Penner immer noch unter die Haut geht.« Sie stieß ihn sanft mit dem Ellbogen an. »Du wirst sehen, dass es Wunder bewirkt, ein bisschen über ihn abzulästern.«

Brummend trank Johann von seinem Wein. Der Gedanke gefiel ihm nicht, aber er musste zugeben, dass es sich gut angefühlt hatte, nach Christoph über ihn und seine anderen, wenn auch eher katastrophalen Sexabenteuer herzuziehen. Wobei er in erster Linie gar nicht damit angefangen hätte, wenn die Idee zur Galerie der Schönheiten nicht aus einer weinseligen Laune heraus geboren worden wäre, als Fritzi und Mario ihn zum Trost abgefüllt hatten.

Damals war definitiv zu viel Alkohol im Spiel gewesen, genau hier an diesem Küchentisch.

Er betrachtete das Weinglas in seiner Hand. Er sollte nicht noch mal in dieselbe Falle tappen.

Fritzi schob ihm auffordernd den Laptop zu. »Wenn du dein Passwort nicht mehr weißt, kann ich dir ein neues generieren.«

»Woher willst du überhaupt wissen, dass ich noch Fotos von Eugen habe?«

»Weil ich dich kenne. Aber du darfst mich gerne überraschen und mir sagen, dass du sämtliche Erinnerungen an Eugen vernichtet hast.«

Johann presste die Lippen zusammen. Verdammt. Natürlich wäre es klüger gewesen, nach der Trennung sauber mit dem Thema abzuschließen und alle Andenken an Eugen auszumerzen. Dummerweise fiel ihm das gerade bei den Fotos extrem schwer. Er hatte sogar schon mit einem Fotobuch angefangen, das er Eugen zu Weihnachten hatte schenken wollen. Das lag unfertig auf seiner Festplatte herum und versetzte ihm jedes Mal einen Stich, wenn er die Software öffnete.

Auf den Fotos merkte man überhaupt nicht, dass irgendetwas zwischen ihnen nicht stimmte. Na ja, Johann hatte es nicht gemerkt. Sie sahen so glücklich zusammen aus...

Eine sanfte Berührung an seinem Arm. »Joe?«

»Hm?« Er zwang sich, die Vergangenheit abzustreifen. »Ja, du hast recht. Vielleicht habe ich noch das ein oder andere Foto von ihm.«

Außerdem würde er immer an Eugen denken müssen, wenn er Kingdomino spielte. Sein erstes Geschenk an Johann – und gleichzeitig recht einfallslos und sinnlos. Das Spiel des Jahres 2017 war schon lange, bevor er Eugen überhaupt gekannt hatte, in seinem Regal gelandet.

Was Eugen gesehen hätte, hätte er auch nur einmal einen Blick in sein Spieleregal geworfen. Aber mit Brettspielen hatte Eugen genauso viel am Hut wie mit Kochen. Er hatte als Kind nicht mal Mensch ärgere dich nicht gespielt.

Nachdenklich nippte Johann an seinem Wein und starrte den blinkenden Cursor im Feld Benutzername an. Rückblickend betrachtet, hatten sie tatsächlich nicht besonders gut zusammengepasst, ganz egal, wie sie auf Fotos zusammen wirkten.

Er trank einen großen Schluck, dann stellte er das Glas zur Seite und zog Fritzis Laptop zu sich heran. Obwohl es Monate her war, seit er seine Benutzerdaten zuletzt eingegeben hatte, kannte er sie noch.

Fritzi nickte beeindruckt. »Hätte ich mir denken können. Jemand, der sein ganzes Telefonbuch im Kopf hat, kann sich auch ein läppisches Passwort merken.«

»Läppisch? Du hast das Ding per Zufall generiert und es besteht nur aus wahllos zusammengewürfelten Zahlen, Buchstaben und Sonderzeichen.«

»Hey, die Seite soll schließlich sicher sein. Das funktioniert nicht mit einem Passwort wie Johann1990.«

»Wahrscheinlich nicht.«

Er wollte sich auch gar nicht beschweren. Es war im Interesse aller, wenn diese Webseite ein großes Geheimnis blieb – ihr Geheimnis. Seins, Fritzis und Marios, weil sie alle drei die Seite zum Leben erweckt hatten. Johann, indem er sie designt hatte, Fritzi, indem sie sie programmiert hatte, und Mario, indem er sie als Erster mit Fotos und Bewertungen gefüllt hatte.

An dem Design hatte sich seit seinem letzten Besuch kaum etwas geändert, aber hier und da entdeckte er Neuerungen, die ihm noch nicht bekannt waren. Viel erschreckender war jedoch, dass er mittlerweile sehr weit nach unten scrollen konnte. Fritzi und Mario waren fleißig gewesen. Reihe um Reihe Fotos bildschöner Männer, die auf den neueren nicht immer schliefen, sondern sich teilweise sogar in Pose warfen.

»Wieso guckt denn hin und wieder einer in die Kamera?«, fragte Johann irritiert. »Habt ihr... habt ihr denen etwa von der Galerie erzählt?«

Fritzi zuckte die Schultern, als wäre nichts dabei. »Dem einen oder anderen.«

Johann starrte sie an. »Das war aber nicht Teil der Abmachung.«

Sie schnaubte. »Glaub mir, in Zeiten von Tinder, LoveLife, Instagram, C-Dating-Plattformen und wie sie alle heißen, lechzen die Leute förmlich danach, sich im Internet darzustellen.«

»Ja, aber –«

»Schau mal.«

Sie schob seine Hand vom Mousepad, scrollte ein Stück nach oben und klickte das Poser-Foto eines Muskelprotzes an, das mit einem roten Fritzi-Tag und vier von insgesamt fünf Sternen versehen war. Das Bild wurde vergrößert und legte sich über die gesamte Webseite.

Auch das war neu. Genau wie das Notizfeld, das rechts neben dem Foto eingeblendet wurde.

Gute Ausdauer und weiß die ganzen Muskeln einzusetzen. Sex im Stehen war noch nie so geil! Leider röchelt er dabei wie ein abgestochenes Schwein. Echt abtörnend. Beim nächsten Mal Ohropax. Dafür einen Punkt Abzug.

Hitze schoss Johann ins Gesicht. Das hatte Fritzi nicht ernsthaft dazugeschrieben?! Es war eine Sache, in kleiner Runde über das letzte Sexabenteuer zu lästern, aber eine ganz andere, das Fazit schwarz auf weiß im Internet zu lesen.

So sicher konnte nicht einmal Fritzi eine Seite gestalten.

»Der zum Beispiel hat mich über die Seite regelrecht ausgefragt. Er wollte die ganze Zeit, dass ich sie ihm zeige.«

Johanns Kopf fuhr herum. »Was? Das hast du aber nicht gemacht, oder?«

Pikiert sah sie ihn an. »Natürlich nicht. Ist ja schön, dass er mich für sexuell ausschweifend hält, aber wenn er sieht, mit wie vielen Männern ich tatsächlich schon gevögelt habe, bekommt er noch einen Minderwertigkeitskomplex.«

Johanns Herzschlag beruhigte sich wieder etwas. »Wahrscheinlich wäre er auch nicht begeistert von deiner Bewertung gewesen.«

»Ha! Im Gegenteil. Er wollte unbedingt wissen, was ich über ihn schreiben werde und was er beim nächsten Mal besser machen kann.« Sie tippte auf das Notizfeld. »Als ich das mit dem Röcheln gesagt habe, hat er sich schlapp gelacht und gemeint, dass ihm das noch keine gesagt hätte. – Oh, das Notizfeld ist übrigens neu.«

»Das sehe ich. Wessen Idee war das?«

»Na, Marios natürlich.« Sie schlug sich in bester King-Kong-Manier auf die Brust und tönte mit dunkler Stimme: »Fritzi! Ich hab schon so viele Männer gefickt, dass ich langsam den Überblick verliere. Kannst du da nicht mal was machen?« Sie zuckte die Schultern. »Das ist quasi nur eine Erweiterung zum Bewertungssystem und eine witzige Gedächtnisstütze.«

»Witzig?«

»Hey, jetzt tu mal nicht so. Hier an diesem Küchentisch sind weitaus schlimmere Urteile gefallen. Auch von deiner Seite.«

Johann wand sich und griff nach seinem Weinglas. »Ja, aber das war...« ... hier an diesem Küchentisch gewesen. Nicht im Internet. Mit einem mulmigen Gefühl sah er wieder zum Bildschirm. »Und du bist sicher, dass da keiner außer uns drankommt?«

»Dazu müsste derjenige erst mal wissen, dass diese Seite existiert.«

»Offensichtlich verbreitet ihr diese frohe Kunde gerne.«

Sie verdrehte die Augen und trank ebenfalls von ihrem Wein. »Ich weiß, was ich tue, Joe. Vertrau mir. Ich bin gut in meinem Job. – So, und jetzt...« Auffordernd hieb sie mit der flachen Hand auf den Tisch. »Such ein Foto von Eugen, das du hochladen willst. Ich verspreche dir, dass es dir danach besser gehen wird – und man wird davon nicht dick wie von Eis und Schokolade.«

Wann hatte er jemals nach einer Trennung Eis und Schokolade in sich hineingestopft? Sein Mittel der Wahl gegen Trennungsschmerz war Wein. Und... »Wir haben uns gerade eine Familienpizza bestellt.«

»Irgendwas müssen wir ja essen.« Sie stieß ihn sachte mit der Schulter an. »Na los. Du weißt, dass du es willst. Gerade bei dem Wichser Eugen.«

»Du bist einfach so anhänglich, Joe. Oder anders ausgedrückt: Du klammerst. Und das nervt. Wenn du wenigstens im Bett gut wärst, aber so...«

»Igitt, hör auf. Ich will mir nicht vorstellen, wie du mit dem Sex hast.«

Johann atmete aus und kippte den Rest Wein in einem Zug hinunter, bevor er zum Weinregal ging. »Dafür brauche ich definitiv mehr Alkohol.«

 


Kapitel 2

 

Kapitel 2

 

 

»Hallo zusammen, bin wieder da!«

Das Zufallen der Eingangstür hatte er nur am Rande mitbekommen, aber Marios Ruf war unüberhörbar.

»Küche!«, riefen Johann und Fritzi einstimmig, ehe sie sich kichernd über ihren Chor über den Tisch beugten.

Kurz darauf erschien Mario mit einem neugierigen Stirnrunzeln in der Tür. Sein typisches breites Grinsen schien von einem Türpfosten bis zum anderen zu reichen und entblößte schneeweiße, gerade Zähne. Ein echter Hingucker und zwei von Marios hervorstechendsten Merkmalen. Wahrscheinlich konnte er gar nicht mehr zählen, wie oft man ihm schon Komplimente für sein schönes Lächeln gemacht hatte. Kunststück, wenn die Mutter Zahnärztin war.

»Was geht denn hier ab?« Amüsiert betrachtete Mario die zwei Weinflaschen, die zwei Weingläser und die riesige Pizza auf dem Tisch. Letztere hatten sie nur zur Hälfte geschafft, wobei auf Fritzis Konto ein Großteil davon ging. »Steigt hier eine WG-Party, von der ich nichts weiß?«

Fritzi nickte eifrig. »Apropos WG-Party. Wir müssen unbedingt mal wieder eine machen!«

»Um die restliche Pizza an den Mann zu bringen?«, alberte Johann.

»Quaaatsch«, sagte Fritzi gedehnt und stieß ihn an. »Um dich an den Mann zu bringen.« Sie sah zu Mario hoch. »Du wirst es nicht glauben, aber Johann hat gerade die Galerie der Schönheiten benutzt!«

»Nein!« Mario riss gespielt entsetzt Augen und Mund auf, aber auch das konnte nicht davon ablenken, wie attraktiv er war.

Dunkelblonde Haare, babyblaue Augen und ein scharf geschnittenes Gesicht mit kantigen Zügen machten ihn zum perfekten Model für die Titelseite der Men′s Health. Dazu dieses umwerfende Lächeln und sein durch regelmäßige Fitnessstudiobesuche gestählter Körper und Johann musste sich keine Sekunde lang fragen, warum Mario so leichtes Spiel bei den Männern hatte.

Manchmal wünschte sich Johann nur ein Zehntel seiner Attraktivität – oder wenigstens ein Zehntel seiner Disziplin, um sich spätestens jeden zweiten Tag zum Sport zu quälen. Aber er hatte schon Probleme damit, das Rad statt der bequemen öffentlichen Verkehrsmittel zur Arbeit zu nehmen.

Vor allem im Winter, wenn es draußen ständig kalt und dunkel war und es jede Sekunde frieren oder schneien konnte.

Oder im Sommer, wenn es tagelang nicht richtig abkühlte und man sich wie durch warmen Honig strampelte.

Oder im Frühling und Herbst, wenn das Wetter so unbeständig war und es zwischendurch gerne mal regnete.

Mist. Alles Ausreden. Er sollte wirklich öfter Rad fahren.

Mario schob seinen perfekten Körper neben Johann auf die Bank. Irgendwie roch er heute anders als sonst. Johann kannte sein Parfüm, aber das hier war definitiv ein anderer Duft. Frischer. Würziger. Erstaunlich ansprechend. Wahrscheinlich von seinem heutigen Aufriss.

Mario griff nach einem Stück Pizza – das kleinste im Karton. »Wie kommt's, dass du deine Abstinenz beendet hast? Was hab ich verpasst?«

»Eugen«, brummte Johann, musste aber zugeben, dass es nicht mehr so schmerzhaft war, an die Begegnung in der Tram zu denken. Er wusste allerdings nicht, ob das an der therapeutischen Wirkung der Galerie der Schönheiten lag – oder am Alkohol, der fettigen Pizza und Fritzis Gesellschaft.

»Ach, dieses Arschloch. Ich dachte, das Thema wäre durch? Hak den Penner endlich ab.«

»Das hab ich auch gesagt.«

»Ich hab ihn ja abgehakt.« Größtenteils. »Aber wenn er mir über den Weg läuft und solche Sachen sagt...«

»Scheiße, lass den doch reden«, winkte Mario ab. »Der Typ hat keine Ahnung.« Er biss ein winziges Stück von der Pizza ab und nickte kauend zum Laptop. »Zeig mal.«

»Oh, das wird dir gefallen.« Fritzi kicherte, als sie den Laptop in seine Richtung schob. »Joe war böse.«

Johanns Wangen erhitzten sich und er versteckte sich hinter seinem Weinglas, nachdem er einen Schluck getrunken hatte. Ganz wohl fühlte er sich immer noch nicht damit, aber die Genugtuung gedieh in all dem Alkohol in seinem Körper prächtig.

»Wie, trotz allem zwei Sterne?«, fragte Mario ungläubig und bedeutete Fritzi, das Foto mit dem grünen Joe-Tag anzuklicken, damit er die Notizen lesen konnte.

»Es war ja nicht alles schlecht«, murmelte Johann und zuckte zusammen, als sich das Foto über den kompletten Bildschirm legte.

Er hatte absichtlich eins ausgewählt, auf dem Eugen auf den ersten Blick etwas unvorteilhaft rüberkam, aber schon der zweite Blick offenbarte seine Attraktivität.

Es war ein heißer Sommertag gewesen. Draußen hatte die Luft wie in einem Backofen gebrannt und auch drinnen hatte man es ohne Klimaanlage oder Ventilator kaum ausgehalten – oder nur mit eisgekühlten Getränken.

Auf dem Foto stand eine leere 0,5-Liter-Flasche auf dem Couchtisch, während Eugen dahinter mit einer zweiten Flasche in der Hand oberkörperfrei und nur in Pants auf dem Sofa fläzte. Seine Haare waren verschwitzt nach hinten gestrichen und seine Haltung sowie das Bier wölbten seinen Bauch nach außen. Dadurch mogelte ihm das Foto bestimmt fünf Kilo zu viel auf die Hüften.

Zugegeben, es hätte sicher bessere Momente für ein Foto gegeben. Johann hatte es damals gemacht, weil er Eugen in diesem Augenblick ziemlich süß gefunden hatte. Irgendwie echter und unverfälschter, als er sich sonst gab.

Unterm Strich war es jedoch ein harmloses Foto, weil Eugen trotz aller Unvorteilhaftigkeit immer noch gut aussah. Er war eben ein gut aussehender Mann, daran konnten auch eine Bierflasche und eine Faulenzerposition nichts ändern.

Das Einzige, was das Bild verunstaltete, war Eugens durch und durch genervter Blick. Johann konnte sich noch genau an die anschließende Diskussion erinnern.

»Du hast dein Handy nie griffbereit, aber ausgerechnet jetzt machst du ein Foto? Boah, Joe, pack das Ding weg, bevor ich′s aus dem Fenster schmeiße. Wär eh nicht schade um das Teil. Ey. Ich mein′s ernst! Weg damit!«

Damals hatte er sich stundenlang gefragt, ob er es übertrieben hatte und wie er selbst in dieser Situation reagiert hätte. Inzwischen war er zu dem Schluss gekommen, dass Eugen das Ganze auch anders hätte aufnehmen können. Mit einem Lachen zum Beispiel.

»Mieses Beziehungsmaterial«, las Mario laut vor. »Ein großer Schwanz bringt gar nichts, wenn man damit nicht umzugehen weiß.«

»Sehr richtig!«, warf Fritzi ein.

»Mein Arsch ist kein Straßenbauprojekt, das mit einem Presslufthammer bearbeitet werden muss!« Mario brach in schallendes Gelächter aus und klopfte Johann so kräftig auf die Schulter, dass der mit der Nase gegen das Weinglas vor seinem Gesicht stieß.

Oh Gott. Hatte er das wirklich geschrieben? Im Internet?

»Großartig.« Mario schüttelte sich so sehr, dass er das Pizzastück in seiner Hand zurück in den Karton legen musste. »Ich wusste gar nicht, dass der Schnösel so einen Riesenschwanz hat. Hast du bisher nie erwähnt.«

»Hm.« Jede weitere Antwort ertränkte Johann im nächsten Schluck Wein. Wenn das so weiterging, musste er gleich noch eine Flasche aufmachen.

»Riesenschwanz hin oder her, zum Sex gehört mehr als stumpfes Rein- und Rausgehämmere«, fand Fritzi.

»Hey, nichts gegen hin und wieder ein bisschen Rein und Raus.« Mario hob eine Hand, bevor Fritzi protestieren konnte. »Aber ich weiß schon, was du meinst. Eugen hat nur seinen eigenen Orgasmus im Sinn.«

Wenn Johann den Tatsachen ins Auge sehen wollte... ja, meistens war es so gewesen. Ein ausgiebiges Vorspiel oder anschließendes Kuscheln gehörte nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Kuscheln generell fand er eher lästig. Zärtliche Berührungen. Nähe.

Alles, was er vorhin mit diesem Kai gemacht hatte, hatte er bei Johann furchtbar gefunden.

Also lag es doch an mir? Daran, dass ich nicht so... leidenschaftlich bin?

Johann konnte nichts gegen diesen Gedanken unternehmen. Er stieg wie eine Luftblase in seinem alkoholumwölkten Hirn auf und trat unweigerlich an die Oberfläche.

Weil ich eher... anhänglich bin? Weil ich altmodische Vorstellungen von einer Beziehung habe? Weil sich bei mir nicht alles um Sex dreht? Weil ich gerne eine normale, stinklangweilige Beziehung mit nur einem Partner hätte?

»Erstaunlich, dass du es überhaupt so lange mit ihm ausgehalten hast. Red dir nicht immer Dinge ein, die dich nur unglücklich machen. Du hast was Besseres verdient.« Mario zerzauste ihm die Haare, wie es vielleicht ein älterer Bruder machen würde. Keine Ahnung, Johann hatte nur zwei Schwestern, eine älter, eine jünger. Leider. Er hatte sich oft einen Bruder gewünscht, vor allem, wenn sich seine Schwestern wegen Mädchenkram zusammengeschlossen hatten.

»Das Beste«, betonte Fritzi und schmiegte sich an seine andere Seite. »Ich wünschte, ich könnte dir den perfekten Mann backen.«

Mario schnaubte. »Du kannst doch gar nicht backen.«

Hinter seinem Rücken versetzte Fritzi Mario einen genervten Hieb. »Ich meinte ja auch, wenn ich könnte. Den für dich perfekten Mann.«

»Den gibt's sowieso nicht.« Johann leerte sein Weinglas.

»Ach, man weiß nie, wer einem noch so über den Weg läuft«, meinte Mario und griff nach seinem Pizzastück, das er sekundenlang verträumt betrachtete, ehe er hineinbiss.

Nicht nur Johann schien das aufgefallen zu sein, denn Fritzi an seiner Seite erstarrte. Einen kurzen Moment lang sagte niemand etwas. Marios Worte hingen schwer in der Küche und schienen mit jeder Sekunde an Gewicht zu gewinnen.

Weil sie nicht zu Mario passten. Mario war ein Aufreißer, der Typ, der seine Sexpartner öfter wechselte als seine Socken und Gefühle für Zeitverschwendung hielt. Niemand, der auf der Suche nach dem Mann fürs Leben war.

»Wo warst du vorhin eigentlich?« Als hätte Fritzi seine Gedanken gelesen. Sie löste sich ein Stück von Johann und sah Mario aus großen Augen an.

»Hm? Unterwegs.«

»Mit wem?«

»Kennst du nicht.« Mario zuckte die Schultern und schob sich den Rest Pizza in den Mund.

»Bist du etwa verliebt?«, fragte Johann geradeheraus, obwohl sich das ausgesprochen noch merkwürdiger anhörte. Mario – verliebt? Das war, als wäre Batman plötzlich nicht mehr mit dem Batmobil unterwegs, sondern Seite an Seite mit dem Weihnachtsmann im Rentierschlitten.

Mario verschluckte sich und rang hustend und röchelnd nach Luft.

»Oh mein Gott.« Fritzi klang entsetzt. »Du bist verliebt!«

Johann konnte sein Lächeln nicht unterdrücken. Tja, irgendwann erwischte es eben doch jeden, selbst so einen beziehungsresistenten Klotz wie Mario. »Wow.« Bevor Mario noch erstickte, klopfte er ihm auf den Rücken. »Das ist mal was Neues. Erzähl.«

»Es ist...«, krächzte Mario, bevor er wieder hustete und den Kopf schüttelte. Fritzi schob ihm ihr Weinglas zu und Mario trank in großen Schlucken.

Zum Glück war das nur der Blaue Portugieser. Bei jedem anderen Wein in ihrem Vorrat wäre das das reinste Verbrechen gewesen.

»So ist das nicht«, röchelte Mario und wischte sich eine Träne von seinem Hustenanfall aus dem Augenwinkel.

»Hey, da ist doch nichts dabei. Ist doch schön, wenn du verliebt bist. Endlich mal. Ich freue mich für dich.«

»Nichts dabei? Schön? Freuen?«, echote Fritzi. »Ey, ihr könnt mich doch nicht mit der Galerie der Schönheiten allein lassen.«

»Niemand lässt dich mit irgendwas allein. Außerdem hat Joe eben bewiesen, dass er ein würdiges Mitglied der Community ist. Und ich bin nicht verliebt«, fügte er noch wie ein Ausrufezeichen hinzu.

»Und selbst wenn, wäre es nicht schlimm«, betonte Johann. »Im Gegenteil. Wann lernen wir ihn kennen?«

Marios Augen weiteten sich. »Ich sagte doch gerade, ich bin nicht verliebt.«

»Aber auf dem besten Weg dorthin. Du hast da dieses Leuchten in den Augen«, brummte Fritzi und machte eine unwirsche Handbewegung. »Also schön. Erzähl uns von deinem Traumprinzen.« Sie sprach das Wort aus wie eine tödliche Krankheit. Dann holte sie sich ihr Weinglas zurück. »Aber dafür brauche ich definitiv mehr Wein!«

Johann schüttelte den Kopf. »Ihr seid verrückt. Verliebtsein ist schön. Beziehungen sind schön. Das wüsstet ihr, wenn ihr es mal ausprobiert hättet.«

»Danke, hab schon.« Fritzi schnappte sich den Blauen Portugieser und schenkte sich großzügig nach. »Verliebtsein ist scheiße. Beziehungen sind scheiße. Schmerzhaft und nutzlos. Du bist doch das beste Beispiel dafür. Versteh mich nicht falsch, ich wünsche dir, dass du eines Tages den Mann deiner Träume findest, aber die Realität sieht leider anders aus. Niemand da draußen will noch eine Beziehung. Niemand da draußen braucht noch eine Beziehung. Nicht in den Zeiten von Tinder, LoveLife und C-Dates

»Amen«, sagte Mario und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Und jetzt brauche ich auch Wein.« Er stand auf, holte sich ein Glas aus dem Schrank und schenkte sich im Stehen von dem Blauen Portugieser ein.

»Glaub ja nicht, dass du uns so einfach davonkommst und dich mit deinem Wein verkrümeln kannst.« Fritzi verengte die Augen. »Wie heißt der Typ und was ist er für einer?«

Mario verdrehte die Augen. »Es ist nichts, Fritzi. Er ist nur...«

Wie auf Kommando beugten sich Fritzi und Johann über den Küchentisch. »Nur?«, hakte Fritzi nach.

»... nur sehr gut im Bett.«

Johann runzelte die Stirn. »Aha.« Kein Wunder, dass das auf Marios Prioritätenliste ganz weit oben stand.

»Und...« Mario stellte die Flasche ab und blickte gedankenverloren in die rote Flüssigkeit in seinem Glas. Beinahe selig.

»Ja?«

»Und... sehr nett. Witzig. Sehr aufgeschlossen. Ich meine...« Schulterzuckend fuhr er sich mit der freien Hand durch die Haare.

Johann grinste. Das klang nicht so, als wäre Mario erst auf dem Weg irgendwohin, sondern schon ziemlich verknallt. Mindestens.

Kraftlos sackte Fritzi nach hinten gegen die Lehne der Bank. »Oh Mann.«

»Hat der Unbekannte auch einen Namen?«

»Benji.«

Stöhnend vergrub Fritzi das Gesicht in den Händen. »Das klingt wie der Name eines Hundes!«

Johann stieß sie mit dem Ellbogen an. »Das ist bestimmt nur ein Spitzname.« Er sah Mario an. »Oder?«

»Äh... wahrscheinlich?«

»Du weißt es nicht?« Also doch nur eine Bettgeschichte? »Redet ihr denn nicht miteinander?«

»Ähm, doch.«

Mario drehte das Weinglas zwischen den Händen. Erneut eine völlig untypische Geste für ihn. Er wirkte verlegen. Mario war nicht verlegen, genauso wenig wie verliebt. Aber offensichtlich war heute der Tag, an dem alles möglich war. Immerhin hatte er selbst auf der Galerie der Schönheiten gepostet, obwohl er die Seite nach dem notwendigen HIV-Test jahrelang gemieden hatte. Andererseits hatte es niemanden gegeben, über den er hätte herziehen können.

»Also, manchmal. Ein bisschen. Aber... Gott, könntet ihr aufhören, mich anzustarren wie ein Tier im Zoo, das seine eigene Kacke frisst?«

»Wir versuchen nur, deine äußerst interessante Beziehung zu diesem Benji zu analysieren.« Fritzi hob die Augenbrauen. »Da du selbst das offenbar nicht kannst.«

»Scheiße, muss denn immer gleich alles irgendeinen Namen oder ein bescheuertes Label haben, damit es in eine Schublade passt? Wir haben Spaß zusammen. Viel Spaß. Ich mag ihn. Er mag mich. So. Reicht das nicht erst mal?«

»Vollkommen.« Johann nickte, während Fritzi unzufrieden brummte. So hatte ein Großteil seiner Beziehungen angefangen. Nur hatte er offenbar irgendwann den Punkt verpasst, an dem es keinen Spaß mehr machte. Na ja, an dem es den anderen keinen Spaß mehr gemacht hatte. In der Regel war Johann derjenige, der sitzen gelassen wurde.

»Und was macht mit deinem Benji –«

Mario knurrte. »Könntest du aufhören, seinen Namen auszusprechen wie eine Pilzinfektion?«

»Mache ich doch gar nicht.«

»Doch.«

»Nein.«

Noch etwas, das Johann an den beiden liebte: Wenn man sie nicht kannte, könnte man sie bei ihren Kabbeleien glatt für ein altes Ehepaar halten. Nichts davon klang wirklich böse gemeint. Es wirkte fast liebevoll. So waren sie schon miteinander umgegangen, als Johann eingezogen war. Er hatte sich sofort wie zu Hause gefühlt.

»Verflucht noch mal, ja, der Sex mit ihm ist atemberaubend, na und? Dir würde es genauso gehen, wenn jemand so fantastisch deinen Arsch leckt, dass du fast keinen Schwanz mehr brauchst.«

Äh... was? Johann zuckte zusammen und Hitze schoss ihm ins Gesicht. Aber irgendetwas klingelte bei dieser netten Zusammenfassung bei ihm. Er hatte doch gerade erst so was auf der Galerie der Schönheiten gelesen... Er zog den Laptop zu sich heran.

»Danke, ich stehe nicht so auf Arschlecken«, sagte Fritzi ungerührt.

»Woher willst du das wissen? Schon mal probiert?«

Sie verdrehte die Augen. »Das weißt du doch. Zweimal. Und nein, danke.«

Dem konnte sich Johann nur anschließen, auch wenn er diese Erfahrung erst einmal gemacht hatte. Aber einmal reichte, um zu wissen, dass er das nicht noch mal brauchte.

»Dann war der Typ nicht gut. Benji ist gut. Fantastisch. Un...glaublich.«

»Warte mal.« Fritzi sah Mario aus aufgerissenen Augen an. »Du bist bei dem Kerl passiv

»Das hab ich nicht gesagt.« Mario ließ sich auf den Stuhl ihnen gegenüber fallen, stellte das Weinglas weg und raufte sich die Haare. »Ich komme mir gerade vor, als würden mir meine Eltern ins Gewissen reden.«

Johann scrollte durch die Galerie, während sich Fritzi und Mario weiter kabbelten. Sein Blick blieb an einem Foto hängen, das sein künstlerisches Auge sofort als anders erkannte. Das war ihm schon eben beim erstmaligen Durchsehen aufgefallen, deshalb hatte er sich die Notiz angesehen.

Der Mann auf dem Foto sah, gemessen an den anderen Typen, nicht nur unerwartet durchschnittlich aus, sondern auch das Foto wirkte anders. Irgendwie weicher, fast liebevoller, sofern das mit einer Handykamera überhaupt möglich war. Vielleicht lag es am schmeichelnden Licht, vielleicht am Ausschnitt, den Mario gewählt hatte, aber mit diesem Mann war es nicht nur Sex gewesen.

Er lag mit geschlossenen Augen auf dem Bauch, das Gesicht zur Seite gedreht, sodass sein breiter Kiefer zu erkennen war, auf dem sich ein dunkler Bartschatten abzeichnete. Kurze dunkelbraune Haare lagen zerwühlt auf dem Kissen und ließen keinen Zweifel daran, was sich zuvor in dem Bett abgespielt hatte. Seine Haut war blass, wie Johann an dem freigelegten Rücken erkennen konnte. Eine Handvoll Muttermale überzog die Schulterblätter wie eins dieser Bilder, bei denen man das große Ganze erst sah, wenn man alle Punkte miteinander verbunden hatte.

Ein Kribbeln stieg in seinem Bauch auf. Es fühlte sich... falsch an, dieses Foto so eingehend zu betrachten. Das war zu privat, zu intim. Als würde er durchs Schlüsselloch spähen, während Mario und der Mann mitten bei der Sache waren.

Vor allem, als er beim Vergrößern des Fotos Marios Stichpunkte zu der Fünf-Sterne-Bewertung erneut las.

- Hammer Ausdauer!

- Arschlecken wie kein Zweiter, geil, geil, geil!!!

- sieht langweilig aus und redet ziemlich viel, aber Augen zu und durch! Lohnt sich, sobald seine Zunge beschäftigt ist!

Johann schluckte und rieb sich den Nacken, als könnte er so seine Verlegenheit über Marios unverblümte Worte abstreifen. Dann drehte er ihm den Laptop mit dem vergrößerten Foto zu. »Ist das Benji?«

Mario sah erst ihn, dann den Laptopbildschirm, dann verblüfft wieder ihn an. »Woher...?«

»Er ist in der Galerie? Zeig!«, forderte Fritzi, angelte nach dem Laptop und betrachtete den Monitor so prüfend wie ein Kunstkritiker ein Gemälde. Dann setzte sie die Finger auf die Tastatur und hämmerte in einer Geschwindigkeit darauf herum, dass Johann schwindelig wurde. »Den Eintrag hast du vor fast fünf Wochen gemacht.« Sie sah auf. »Du triffst dich seit fünf Wochen mit ein und demselben Kerl und sagst uns nichts?«

Mario wand sich auf seinem Stuhl. »Nicht seit fünf Wochen. Wie du siehst, habe ich danach noch ein paar Fotos hochgeladen.«

»Drei. In fünf Wochen. Normalerweise lädst du drei am Tag hoch.«

»Ey, jetzt mal nicht übertreiben, klar? Vielleicht hab ich's auf drei in zwei Tagen geschafft. Und das auch nur am Wochenende.« Er trank einen großen Schluck Wein, ehe er Johann ansah. »Woher wusstest du, dass das Benji ist?«

»Du meinst, abgesehen von deiner euphorischen Notiz?«

»Den Eintrag hab ich gleich nach dem ersten Mal gemacht«, sagte Mario, als würde das erklären, warum er Benji trotz aller Begeisterung auch mit negativer Kritik abgestraft hatte.

»Dann findest du ihn jetzt nicht mehr langweilig?«

Mario zuckte die Schultern, als wäre das unerheblich. »Er hat sich ein paar Tage nach unserem ersten Mal gemeldet und gefragt, ob wir uns noch mal treffen können. Ich dachte mir, was soll's? Der Sex war der Wahnsinn, also haben wir uns noch mal verabredet.« Er zögerte. »Und dann irgendwie noch mal und immer öfter. Ich weiß nicht genau, wie oder wann das passiert ist.«

Johann lächelte. Auch wenn er selbst gerade eine gescheiterte Beziehung hinter sich hatte, freute er sich aufrichtig für Mario. Das klang genau so, wie es sein sollte. Ein erster Eindruck, der nach und nach revidiert wurde, je länger man sich kannte.

Zu dumm, dass es heute nicht mehr angesagt war, zu warten und zu überprüfen, ob der erste Eindruck stimmte. Zweite Chancen waren out. Man könnte schließlich etwas verpassen oder einem könnte etwas Besseres entgehen. In diesem Fall hatte Fritzi recht. Das Angebot war zu groß, um Zeit und Mühe in etwas zu stecken, das auf den ersten Blick bestenfalls mittelmäßig war.

Fritzi seufzte theatralisch. »Okay, okay, scheint so, als müsstest du uns diesen...« Sie biss sich auf die Unterlippe, schluckte den Rest hinunter und korrigierte sich. »... als müsstest du uns Benji demnächst mal vorstellen.«

»Unbedingt.« Johann nickte. »Ich will ihn auf jeden Fall kennenlernen, den Mann, der Mario gezähmt hat.«

Mario zuckte zusammen und Johann und Fritzi mussten lachen. »Er hat mich nicht gezähmt.«

»Ihr habt nur Spaß zusammen, schon klar«, grinste Johann. »Wie wär's mit einem Spieleabend? Oder wir könnten was Schönes kochen? Oder beides verbinden?«

Mario brummte. »Nichts gegen unsere legendären Spieleabende, aber das klingt wieder wie nach einem Besuch bei meinen Eltern.«

»Essen gehen?«

»Ich bringe noch mal die WG-Party ins Spiel«, meinte Fritzi. »Das haben wir schon lange nicht mehr gemacht und mit ein paar mehr Leuten wirkt das Ganze etwas ungezwungener.«

Johann zuckte die Schultern. »Meinetwegen.« Auch wenn es mit ein paar mehr Leuten schwieriger war, jemanden besser kennenzulernen – zumindest auf den WG-Partys, die sie in der Regel veranstalteten. Wahrscheinlich würde ihre Wohnung vor lauter Gästen wieder mal aus allen Nähten platzen.

»Gut, also ist das beschlossene Sache.« Mit hochgezogenen Augenbrauen wandte sich Fritzi abwartend an Mario.

Der seufzte schwer und kippte seinen restlichen Wein hinunter. »Ich kann ihn ja mal fragen.«

 

Kapitel 3

 

Kapitel 3

 

 

»Ich arbeite als Grafiker in einer Werbeagentur«, sagte Johann und wartete auf eine Reaktion seines Gegenübers. Lukas, wenn er den Namen richtig in Erinnerung hatte. Eine Fitnessstudiobekanntschaft von Mario, die hin und wieder bei ihren WG-Partys anwesend war – zumindest körperlich.

»Hm-hm.« Das hatte der Kerl in den letzten zehn Minuten bestimmt zwanzigmal gesagt. Genauso lange starrte er schon auf sein Handy, scrollte und tippte darauf herum.

Johann wusste, was das bedeutete, trotzdem versuchte er es noch mal. »Ja, seit fast sechs Jahren schon. Es gefällt mir wirklich gut dort. Wir sind ein kleines, fast schon familiäres Team. Siebzehn Mitarbeiter. Unser Büro liegt in der Nähe vom Ostbahnhof, also habe ich es nicht mal weit zur Arbeit.«

Ein Grund mehr, öfter mit dem Rad statt mit den Öffentlichen zu fahren. Das könnte er weiter ausführen, vielleicht auf das Thema Sport zu sprechen kommen. Lukas' muskulösen Armen nach zu urteilen, war er wie Mario ein ziemlicher Sportfanatiker, der regelmäßig ins Fitnessstudio ging.

Unter normalen Umständen hätte Johann inzwischen sicherlich rausgefunden, wie regelmäßig. Oder ob er nur stumpf Gewichte stemmte oder sich wie Mario für Functional Fitness begeisterte.

Aber die Umstände waren nicht normal. Wie schon zuvor erhielt er wieder ein »Hm-hm« und wildes Getippe als Antwort.

Gott. Diese Dinger sollten die Kommunikation doch erleichtern, oder? Wieso hatte er dann ständig das Gefühl, dass sie sie erschwerten? Hier stand er und wollte sich unterhalten und Lukas wollte sich offenbar auch unterhalten – aber bitte nicht mit ihm und lieber auf schriftlichem Weg. Verrückt.

Johann schwenkte seinen inzwischen nur noch mäßig kalten Weißwein im Glas hin und her. Er hatte sich in ihrem bis oben hin vollgestopften Kühlschrank nur mühsam Platz für seine zwei Flaschen Wein erkämpfen können, obwohl er nicht damit gerechnet hatte, beide auch zu brauchen.

Das änderte sich gerade.

Den restlichen Platz nahmen Bier und alle möglichen Spirituosen ein, die unbedingt kalt gestellt werden mussten. Nachdem Fritzi verkündet hatte, zusätzlich zu ihren ohnehin schon zahlreichen Gästen das ganze Haus eingeladen zu haben – »Dann gibt's wenigstens keine Beschwerden wegen Lärm oder beleidigte Leberwürste, weil wir ihnen nicht Bescheid gesagt haben.« –, hatte Mario sicherheitshalber noch einen Kasten Bier gekauft und ihn draußen auf der Dachterrasse geparkt.

Johann lehnte sich neben Lukas gegen die Küchenanrichte und wagte einen flüchtigen Blick auf sein Handy. Er wechselte tatsächlich zwischen WhatsApp, LoveLife und Tinder hin und her. Deutlicher konnte man sein Desinteresse nicht zeigen. Dabei hatte Lukas ihn angesprochen.

Gut, er hatte Johann irrtümlicherweise gefragt, was denn aus Marios altem Mitbewohner geworden war und dabei offensichtlich völlig vergessen, dass er und Johann sich bereits von der letzten WG-Party kannten, aber trotzdem.

»Und was machst du so?« Eigentlich wusste er es besser, als weiter zu versuchen, ein Gespräch anzukurbeln, aber langsam langweilte er sich. Für eine Party hingen für seinen Geschmack deutlich zu viele Leute an ihren bescheuerten Handys, wenn sie nicht bereits in ein Gespräch vertieft waren.

Keine Reaktion von Lukas.

»Ich meine, beruflich? Oder studierst du? Oder was hast du studiert?«

Immer noch nichts.

»Hast du ein Leben abseits von diesem elektronischen Teil da in deinen Händen?«

Nichts.

»Lukas?«

Endlich ein Aufmerken. Lukas hob sogar den Kopf, drehte ihn und sah Johann an. Wenn das noch möglich war, hatte er offenbar noch keine Nackenstarre davongetragen.

Es dauerte mehrere Sekunden, bis Lukas' Augen ihn fokussiert hatten. »Was?« Dann erinnerte er sich an seine Manieren und rang sich ein Lächeln ab. Mit den Grübchen wirkte das eigentlich ganz süß, aber das sah man nicht, wenn er verbissen aufs Handy stierte. »Sorry, ich hab nicht richtig zugehört. Was hast du gesagt?«

Johann seufzte. Im Bruchteil einer Sekunde beschloss er, dass dieses Gespräch die Mühe nicht wert war. Vielleicht war Lukas ein interessanter Mensch. Vielleicht hatte er außergewöhnliche Hobbys. Vielleicht sprach er zehn Sprachen fließend. Aber das konnte Johann aus einem »Hm-hm« nicht heraushören.

Vielleicht sollte ich ihm eine WhatsApp-Nachricht schreiben...?

Johann lächelte. »Ach, nicht so wichtig. Vergiss es.«

Lukas nickte und lächelte flüchtig, dann sah er wieder auf sein Handy. »Ich geh mal kurz austreten.«

Hat dir dein Handy das gerade angeraten? »Tu dir keinen Zwang an.« Johann machte eine einladende Geste Richtung Küchentür.

Er rechnete nicht damit, dass Lukas anschließend wiederkommen würde. Vielleicht lag es an ihm – wieder mal. Vielleicht plapperte Lukas normalerweise wie ein Wasserfall und nur wegen Johann war diese Quelle nach zwei Minuten versiegt wie eine Pfütze in der Wüste.

Andererseits... auf dem Weg zur Küchentür wäre Lukas beinahe mit einem anderen Mann zusammengestoßen, der im Türrahmen lehnte, weil er schon wieder nur Augen für sein Handy hatte.

Johann wusste nicht, ob er das tröstend oder traurig finden sollte.

Traurig. Definitiv traurig.

Alles andere als traurig wirkte das breite Grinsen des Kerls im Türrahmen. Zum ersten Mal sah Johann ihn bewusst an – und sein Herz setzte einen Schlag aus.

Benji.

Er erkannte ihn sofort von dem Foto in der Galerie der Schönheiten wieder. Allerdings wurde ihm das Bild nicht gerecht.

In Wirklichkeit strahlte Benji etwas aus, das Johann wie magnetisch anzog – und dafür sorgte, dass sein Herz mit doppelter Geschwindigkeit hämmerte, als es wieder einsetzte. Und, wow, das war echt ein hübsches Lächeln. Nicht so perfekt wie Marios Strahlen, das aus einer Zahnpastawerbung stammen könnte, aber sehr einnehmend. Johann ertappte sich dabei, wie er automatisch mitlächelte.

Oh Mann...

Wann war er eingetroffen? Und wo steckte Mario?

Benji stieß sich vom Türrahmen ab und kam auf ihn zu. »Unglaublich, dass du das so lange ausgehalten hast. Ich glaube, ich hätte nach fünf Minuten aufgegeben. Oder ihm das Handy weggenommen, je nachdem.«

»Tja.«

Sekundenlang wusste Johann nicht, was er sagen sollte. Normalerweise zählte er zwar nicht zu den Labertaschen, aber er war selten um Worte verlegen, wenn er mal jemanden zum Unterhalten gefunden hatte. Zurückhaltend, ja, schüchtern eher nicht. Es irritierte ihn, dass sein Herz nicht aufhörte, zu galoppieren. Musste an dem blöden Foto in der Galerie liegen. An Marios Notizen zum Sex...

Er verbarg seine Sprachlosigkeit hinter einem Schluck Wein. Offiziell kannte er Benji noch nicht. Mario hatte ihnen keine weiteren Fotos gezeigt – besaß er überhaupt welche von ihnen? Selfies? Pärchenfotos? Schnappschüsse? Verdammt. Besser, er ließ sich nicht anmerken, dass er schon einiges über Benji wusste. Wie ausdauernd er war und dass er den Anilingus offenbar perfektioniert hatte.

Sein Blick fiel auf Benjis Mund. Eher schmale Lippen, was bei dem breiten Kiefer fast unproportional wirkte, aber wenn seine Zunge –

Hitze schoss Johann ins Gesicht. Hastig hob er den Blick wieder und zwang sich, Benji in die Augen zu sehen – und nur in die Augen. Die er jetzt im Gegensatz zum Foto geöffnet hatte. Ein ausgewaschenes Grün. Rundherum ein dunklerer Rand. Ein lebendiges Funkeln. Hübsch.

Johann räusperte sich. »Wenn man heutzutage mit der modernen Technik mithalten will, muss man hartnäckig sein.«

»Ja, leider. Heute zieht es die Leute nicht mal mehr ins Kino oder gar ins Theater, weil es bequemer ist, auf der heimischen Couch einen Serienmarathon zu veranstalten.«

»Hey, nichts gegen Serienmarathons auf der heimischen Couch.« Johann ging zwar gerne ins Kino, weil manche Filme auf die große Leinwand gehörten, aber er lümmelte sich genauso gerne zu einer Staffel Modern Family aufs Sofa.

Benji lachte. »Ich würde nie etwas gegen einen gemütlichen Serienmarathon sagen, aber das ist für mich etwas völlig anderes als ein Kino- oder Theaterbesuch. Die heimische Couch hat zweifellos etwas für sich.«

Kuscheln zum Beispiel. Selbst als Johann noch zu Hause gewohnt hatte, hatte er sich hin und wieder mit seinen Schwestern vor dem Fernseher eingekuschelt. Auch mit Eugen hatte er das gelegentlich getan, nur dass das Kuscheln in der Regel schnell auf Sex hinausgelaufen war.

Johann musterte Benji. Jeans und ein grünes Langarmshirt, unter denen sich ein Körper abzeichnete, der zwar schlank war, aber nicht so durchtrainiert wie Marios oder Lukas'. Ob er ein Kuscheltyp war? Oder war das für ihn auch nur der erste Schritt zum Sex?

Eigentlich völlig egal, denn bevor sich Mario vor den Fernseher legte, ging er eher ins Fitnessstudio oder jemanden aufreißen. Wobei die Zeiten jetzt offenbar vorbei waren.

Benji deutete auf den Kühlschrank rechts neben Johann. »Ist das der Kühlschrank? – Entschuldige, ich gehe einfach davon aus, dass du das weißt. Ich bin zum ersten Mal in dieser Wohnung.«

Johann nickte. »Das ist der Kühlschrank. Ich muss es wissen, ich wohne hier.«

Benjis Augen weiteten sich kurz erschrocken, als hätte er plötzlich festgestellt, mit seinem neuen Boss zu plaudern wie mit einem alten Schulfreund. »Oh.«

»Johann.« Er streckte Benji die Hand hin, die er mit kräftigem Druck schüttelte. Keine Berührungsängste. Leicht raue Hände. Musste sich erregend anfühlen, wenn er damit über Haut strich. Das hätte Mario seinen Notizen noch hinzufügen können.

»Benjamin. Oder Benji. Darauf höre ich auch.«

Johann bemühte sich um einen überraschten Tonfall. »Ach, dann bist du Marios Freund, richtig?«

»Sieht so aus.«

Wenigstens das war jetzt abgehakt. Johann spürte einen Anflug von Erleichterung. Weniger Gefahr, sich zu verplappern. »Freut mich. Mario hat schon... ein bisschen was von dir erzählt.«

»Tatsächlich?«

Verflucht. Johann lachte verlegen. »Nein. Eigentlich nicht. Um ehrlich zu sein, hat er ein ziemliches Geheimnis um dich gemacht.«

»Na ja, wenn es dich beruhigt: Viel hat er von euch auch nicht erzählt.«

Wahrscheinlich, weil sie tatsächlich nicht viel miteinander sprachen, wenn sie zusammen waren. Weil Benjis Zunge anderweitig beschäftigt war.

Wieder fühlten sich Johanns Wangen unerträglich heiß an. Himmel, seit wann dachte er alle zwei Minuten an Sex? Normalerweise ging es in seinem Kopf nicht so eingleisig zu. Das musste an Benji liegen. Oder an der Galerie. Er kippte seinen restlichen Wein in einem Zug hinunter. Der war inzwischen eh viel zu warm geworden.

»Ihr wohnt zu dritt hier, oder?«

»Genau. Mario, Fritzi und ich. Frederike eigentlich, aber die meisten nennen sie Fritzi. Hat Mario euch nicht vorgestellt?«

»Ich habe Mario heute noch gar nicht gesehen. Mir hat irgend so ein Typ aufgemacht und gemeint, dass das Bier im Kühlschrank steht. Schlau wie ich bin, dachte ich mir, dass der bestimmt in der Küche steht.« Er grinste und wieder konnte Johann fast nicht anders, als es zu erwidern.

»Dann wollen wir dich mal nicht verdursten lassen.« Johann stellte das Glas weg, öffnete vorsichtig den Kühlschrank und lugte durch den Spalt hinein.

»Hast du Angst, dass dich das Bier anspringen könnte?«

Johann zuckte zusammen, weil Benji sich ihm unbemerkt von hinten genähert und seinen Kopf über Johanns Schulter geschoben hatte. Er roch gut. Johann erkannte den Duft wieder, der neulich an Mario gehaftet hatte, nur deutlich intensiver. Er passte viel besser zu Benji als zu Mario.

»Du hast ja keine Ahnung, was mich schon alles aus diesem Kühlschrank angesprungen hat«, sagte Johann und drehte den Kopf. Benjis Gesicht war nah – zu nah. Wieder fiel sein Blick auf seine Lippen –

Scheiße. Lass das, verdammt.

»Außerdem weiß man nie, wer zuletzt am Kühlschrank war und lustige Stapelspiele gespielt hat.«

»Stapelspiele?« Jetzt drehte Benji ebenfalls den Kopf, sodass sich ihre Nasenspitzen fast berührten.

Okay, das war definitiv zu nah – oder stellte er sich an? Nein. Seine Hand am Kühlschrankgriff wurde schwitzig.

Johann räusperte sich und zog den Kopf ein Stück zurück. »Kennst du Jenga

»Ist das eine Fangfrage?«

»Eigentlich nicht, aber... ähm...« Gott, da passierte es schon wieder. Stammelte er etwa? Johann schluckte. »Mir ist vor Kurzem jemand begegnet, der Mensch ärgere dich nicht nicht kannte.«

»Was? Was hatte der denn für eine grauenvolle Kindheit?«

Johann grinste. Die einzig richtige Reaktion – und sie ähnelte Johanns eigenen Gedanken, als Eugen ihm das erzählt hatte. Wie es schien, hatte sich Mario ein echtes Goldstück geangelt – wie auch immer ihm das gelungen war. »Offenbar eine sehr schlimme.«

Sie grinsten sich in stummer Verständigung an. Auch in Benjis Gesicht entdeckte er, wie auf seinem Rücken auf dem Foto, Muttermale, die durch die blasse Haut hervorgehoben wurden. Sie zogen sich in einer unregelmäßigen Zickzacklinie an der linken Seite seines Gesichts entlang, beginnend an der linken Schläfe etwas oberhalb der Augenbraue und endend an seinem Hals nahe der Kehlgrube.

Johann ertappte sich bei dem Gedanken, dem Weg mit den Lippen zu folgen und die einzelnen Punkte miteinander zu verbinden. Mario hatte das bestimmt schon mehr als einmal getan.

Er verscheuchte die ungewohnt sinnliche Vorstellung und konzentrierte sich. »Jedenfalls – Jenga. Ist schon vorgekommen, dass irgendwelche Idioten die ganzen Flaschen im Kühlschrank als Einladung gesehen haben, eine Runde zu spielen. Und derjenige, der als Nächster den Kühlschrank aufgemacht hat, hat das Spiel leider verloren.«

Benji lachte ungläubig. »Dein Ernst?«

Johann nickte. »Ich musste die Sauerei auch schon mal aufwischen.«

»Scheiße. Und da heißt es, dass heutzutage kaum noch jemand Gesellschaftsspiele spielt.«

»Diesmal scheinen wir aber Glück zu haben.« Endlich zog Johann die Kühlschranktür weiter auf und zwang Benji somit, zurückzutreten. Die Kälte vor ihm fühlte sich plötzlich erheblich unangenehmer an. »Bitte schön. Du hast die freie Auswahl.«

»Mann. Ihr seid ja besser ausgestattet als so manche Bar – zumindest, was die Menge angeht. Die Auswahl ist eher begrenzt.«

»Mario und Fritzi haben immer Angst, dass irgendjemand nüchtern eine ihrer berüchtigten WG-Partys verlassen könnte.«

Benji zog sich ein Bier aus der obersten Reihe im obersten Fach – sehr vorbildlich. »Da muss ich wohl einiges aufholen. Ich bin fast zwei Stunden zu spät.«

»Was denn? Hattest du heute etwa noch was Wichtigeres vor, als unserer berühmten WG-Party beizuwohnen?«

Benji grinste hintergründig. »Nicht für jeden beginnt das Wochenende am Freitag.«

»Sondern?«

Statt einer Antwort zuckte Benji nur die Schultern.

Johanns Interesse war geweckt und er wollte nachbohren, aber wenn Benji es nicht von sich aus ansprach, war das Thema vielleicht nicht für ein erstes Kennenlernen geeignet. Andererseits – für wen begann das Wochenende nicht am Freitag? Einzelhandel. Servicekräfte. Köche. Polizisten, Krankenhaus- und Pflegepersonal. Musste man so was verheimlichen?

Er schüttelte den Gedanken ab und wechselte wieder zu einem unverfänglichen Thema. Er würde es früh genug erfahren.

»Wie du siehst, haben wir auch reichlich hartes Zeug da, wenn du gleich in die Vollen gehen und deinen Rückstand schnellstmöglich aufholen willst.« Johann griff nach der offenen Weißweinflasche in der Tür, schenkte sich großzügig ein und stellte die Flasche zurück, ehe er den Kühlschrank schloss.

»Hast du das Bier deshalb übersprungen und bist gleich zum Wein übergegangen?«

Johann lehnte sich gegen die Küchenanrichte und betrachtete die goldgelbe Flüssigkeit, die so kalt war, dass das Glas beschlug. Ein Thema, das er bei ersten Gesprächen gerne mied. Die meisten stempelten ihn dann entweder als Snob oder als Sonderling ab. Immerhin war er ein Mann. Er hatte gefälligst Bier zu trinken.

Er zuckte lässig die Schultern. »Der hat immerhin ein paar mehr Prozente als Bier, aber nicht so viel wie Schnaps. Ich wollte es nicht gleich übertreiben, für den Fall, dass nicht alle hier so drauf sind wie Lukas.« Er nickte zur Tür, damit Benji wusste, wen er meinte. »Du bist zum Glück anders.«

Er stutzte. Scheiße. Klang das, als würde er flirten? Natürlich flirtete er nicht mit Marios neuem Freund! Das würde ihm im Traum nicht einfallen, und wenn er ihn noch so sympathisch fand. Das war ihm bloß irgendwie über die Lippen gerutscht.

»Ich meine, mit dir kann man sich unterhalten«, schob Johann hastig hinterher. »Das ist sehr angenehm.«

»Danke, das nehme ich mal als Kompliment.« Benji zwinkerte ihm zu, griff nach dem Flaschenöffner neben dem Kühlschrank und öffnete sein Bier. Dann trank er einen langen Schluck und lehnte sich neben Johann gegen die Anrichte. »Johann«, sagte er langsam, als müsste er die Beschaffenheit des Namens in seinem Mund prüfen, Buchstabe für Buchstabe.

Johann erschauerte und versuchte, das angenehme Kribbeln zu ignorieren, das ihn dabei durchzuckte. So hatte man seinen Namen schon lange nicht mehr ausgesprochen. So bedächtig und gedankenvoll. Bedeutsam.

Er räusperte sich. »Ja. Ich weiß. Ziemlich altbacken. Viele nennen mich Joe, wenn dir das lieber ist.«

Benji neigte den Kopf. »Ist dir das lieber?«

»Äh...« Das hatte ihn noch niemand gefragt. Die meisten übernahmen den Spitznamen, sobald sie ihn einmal bei Mario oder Fritzi gehört hatten.

»Weil du ihn vorhin so komisch betont hast. Joe.«

Johann zuckte zusammen. Gott. Wenn Benji den Namen so aussprach, konnte er nur hoffen, dass er ihn weiterhin Johann nennen würde. Das klang aus seinem Mund viel besser.

Benji grinste. »Okay, das war Antwort genug. Dann bleibst du Johann.«

»Nein, nein, Joe ist völlig in Ordnung.«

War es nicht.

Jetzt, da Benji ihn darauf angesprochen hatte, merkte er, dass er Johann bevorzugte. Das passte besser zu ihm. Er war nun mal ein konservativer Johann – kein hipper Joe, ganz egal, ob man ihn dazu machen wollte. Aus einem Apfel wurde keine Birne.

»Hey, mir gefällt Benji. Mein jüngerer Bruder hatte lange Zeit Probleme mit meinem vollen Namen und mit Ben war er irgendwie unzufrieden, weil alle anderen Benjamin zu mir gesagt haben. Er hat ein paar Silben verschluckt und heraus kam irgendwann Benji. Dabei ist es geblieben.« Er grinste. »Auch wenn ihm diese Geschichte inzwischen furchtbar peinlich ist. Er sagt konsequent Ben zu mir.«

Johann lächelte. »Ich wette, dass du ihn als anständiger großer Bruder ständig damit aufziehst.« Das entnahm er dem liebevollen Unterton in Benjis Stimme. Er stand seiner Familie nahe, daran bestand kein Zweifel.

Noch ein Pluspunkt. Kein Wunder, dass Mario ihm nicht hatte widerstehen können.

»Na, was glaubst du denn? Und nicht nur ich. Alle. Aber das kann er ab. Als Nesthäkchen wird er sowieso schon genug verhätschelt.«

»Wie viele Geschwister hast du?«

»Drei.«

Johann hob die Augenbrauen. Wow. Und er hatte sich mit zwei Schwestern schon für den Spross einer kinderreichen Familie gehalten. Zumindest wich er damit vom Durchschnitt ab. Zum Glück. Er konnte sich ein Leben als Einzelkind überhaupt nicht vorstellen, ganz egal, wie sehr Mario ihm gelegentlich davon vorschwärmte.

»Na, hallo, wen haben wir denn da?«

Als hätte Johann ihn durch seine Gedanken heraufbeschworen, betrat Mario mit seinem strahlend weißen Lächeln die Küche. Hungrig fokussierte er sich auf Benji. In seinen Augen glomm ein Feuer auf, bei dem Johann verlegen zur Seite sah. Er konnte sich nicht erinnern, schon mal von jemandem so angesehen worden zu sein. Nicht mal von Christoph, seiner ersten großen Liebe.

Mit wenigen, schnellen Schritten hatte Mario sie erreicht, blieb jedoch nicht in angemessenem Abstand vor ihnen stehen, sondern trat so dicht an Benji heran, dass nicht mal eine Handbreit Platz zwischen ihnen blieb. Er stützte die Hände rechts und links von Benji gegen die Anrichte. Johann, der keinen halben Meter danebenstand, wurde durch die muskulösen Arme regelrecht ausgesperrt. Mario fing Benji in einem Kokon ein, der ihn vor dem Rest der Welt abschirmte.

Ein ausgesprochen unangenehmes Gefühl.

»Hi«, sagte Mario so sanft, dass es fast wie ein Säuseln klang.

Nur dass Mario nicht säuselte. Eigentlich. Neuerdings offenbar aber schon.

Er neigte den Kopf und nahm Benjis Mund mit einem besitzergreifenden Kuss ein. Als Benji die Arme um Marios Nacken legte, den Kuss erwiderte und sich ihm entgegenwölbte, wandte Johann erneut den Blick ab – wann hatte er überhaupt wieder angefangen hinzusehen?

Er war der Letzte, der etwas gegen Zuneigungsbekundungen in der Öffentlichkeit hatte, im Gegenteil. Meistens war er derjenige, der danach suchte, der sich danach sehnte. Und meistens waren es die anderen, die ihn daraufhin als anhänglich oder Klette bezeichneten.

Als sich Mario und Benji wieder voneinander lösten, trank Johann einen langen Schluck Wein. Seine Kehle war staubtrocken. Frisch geküsst sahen Benjis Lippen gar nicht mehr so schmal oder unproportional aus. Eher weich. Sinnlich. Verführerisch.

Scheiße. Noch ein Schluck Wein.

»Wann hast du dich denn an mir vorbeigeschlichen?« Mario säuselte immer noch. Ein Missklang in Johanns Ohren, als hätte jemand eine Kreissäge angeworfen.

»Vorbeigeschlichen? Ich habe geklingelt.«

»Oh, hab ich gar nicht gehört.«

Benji grinste. »Hab ich gemerkt.«

Mario fummelte sein Handy aus der Hosentasche. »Hast du mir geschrieben, dass du da bist?«

»Nein. Ich wusste ja nicht, wie voll es hier ist.« Er lehnte sich vor und drückte Mario einen kurzen Kuss auf die Lippen, aber Mario konnte offenbar nicht genug von ihm bekommen. Er packte Benji und vertiefte den Kuss, bis Johann schlucken musste. Dann räusperte er sich vernehmlich.

Gott. Jetzt hieß er nicht nur wie ein strenger Lehrer des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, er benahm sich auch noch wie ein Spießer.

Es war eher Benji, der sich von Mario löste, als umgekehrt. Von wegen nicht verliebt. Mario war Benji völlig verfallen.

»Ich habe mich schon mal am Bier bedient«, sagte Benji und schwenkte die Bierflasche. »Und mich mit deinem Mitbewohner bekannt gemacht.«

Mario nickte Johann flüchtig zu, als wollte er sich dafür bedanken, dass er sich in seiner Abwesenheit um seinen Freund gekümmert hatte. »Ich wette, Joe hat dich herzlich in der WG-Gemeinschaft willkommen geheißen.«

Benji sah Johann an und lächelte. »Wir haben uns ganz gut verstanden.«

»Stimmt. So viel Geschmack hätte ich dir gar nicht zugetraut, Mario.« Es sollte flapsig und scherzhaft klingen, aber als die Worte Johanns Mund verließen, klangen sie deutlich zu ernst. Zum Glück schien das außer ihm niemandem aufzufallen.

Was zum Teufel ist los mit dir?

Mario stieß ihn spielerisch an der Schulter an. »Haha, witzig.« Dann lag sein Blick wieder auf Benji. »Hast du Fritzi auch schon kennengelernt? Meine andere Mitbewohnerin?«

Benji schüttelte den Kopf. »Ich kenne nicht mal den Namen des Kerls, der mir die Tür aufgemacht hat.«

Mario griff nach seiner Hand. »Na, das lässt sich ändern. Komm mit, ich stell dich vor.« Kurz bevor er Benji von der Anrichte wegzog, schaute er noch mal zwischen ihm und Johann hin und her. »Ihr wart hier ja fertig, oder?«

Johann beeilte sich, zu nicken. »Sicher.« Lässig hob er eine Hand zum Abschied. »Bis später, Benji. Wir sehen uns bestimmt noch.«

Als er zusah, wie die beiden Händchen haltend durch die Küchentür verschwanden, fühlte er sich schmerzhaft an seine Begegnung mit Eugen am Mittwoch erinnert. Wieder blieb er zurück und wieder winkte er dämlich zum Abschied. Er musste sich unbedingt dieses bescheuerte Winken abgewöhnen.

Wenn das so weitergeht, musst du dir noch ganz andere Dinge abgewöhnen.

Andererseits war es gut, wenn er Marios neuen Freund sympathisch fand – oder nicht? Immerhin würde er ihn in nächster Zeit oft zu Gesicht bekommen. Spontane Antipathie wäre da nicht hilfreich. Dann lieber das Gegenteil.

 

 

Kapitel 4

 

Kapitel 4

 

 

»Morgen.«

Johann zuckte über Fritzis Tablet zusammen und sah auf. Er war so vertieft in die Lektüre der Nachrichten gewesen – und zusätzlich übermüdet –, dass er gar nicht gehört hatte, dass außer ihm noch jemand aus dem Bett gefallen war.

Und nicht irgendjemand. Wäre auch ein Wunder gewesen, wenn sich Mario oder Fritzi so früh schon hätten blicken lassen. Immerhin war der letzte Partygast erst gegen halb vier gegangen.

Johann räusperte sich. »Morgen.«

Er hatte bereits in der Nacht mitbekommen, dass Benji hiergeblieben war. Deswegen hatte er vermutlich so schlecht geschlafen. Jetzt kannte er den Grund, warum Mario seinen Sexabenteuern normalerweise auswärts nachging: offensichtlich aus Rücksicht auf seine Mitbewohner.

Wenn man für die Galerie der Schönheiten eine Zusammenfassung über Mario schreiben müsste... Wie hatte Fritzi es bei dem Muskelprotz ausgedrückt?

... röchelt dabei wie ein abgestochenes Schwein... Ohropax...

Letztere hätte Johann diese Nacht gut gebrauchen können, obwohl ihm nicht als Erstes ein abgestochenes Schwein als Vergleich eingefallen wäre. Es ging mehr so Richtung Esel, was er da aus Marios Zimmer gehört hatte. Er könnte zwar nicht beschwören, dass es Mario gewesen war, aber irgendwie glaubte er nicht, dass sich Benji so anhörte.

»War ich zu laut? Hab ich dich geweckt?«

»Zu laut? Du sitzt hier doch bloß und liest.« Benji betrat die Küche und setzte sich Johann gegenüber auf einen Stuhl. Wie Johann trug er lediglich T-Shirt und Pants. In der Tat kein Muskelpaket. Dafür hatte er schöne, sehnige Beine, als würde er den Tag eher auf seinen zwei Füßen verbringen als sitzend an einem Schreibtisch.

»Na ja, als ich vorhin im Bad war, vielleicht.«

Benji schüttelte den Kopf. »Ich war schon wach. Falls ich überhaupt richtig geschlafen habe.«

Während er mit Mario zugange gewesen war, hatte er bestimmt nicht geschlafen. Hitze stieg Johann in die Wangen. Das hatte er garantiert nicht gemeint.

Betont beiläufig griff er nach seiner Kaffeetasse und trank erst einen Schluck, bevor er fragte: »Ist Marios Bett nicht bequem?«

Benji zuckte die Schultern. »Ich glaube, es liegt eher an der fremden Umgebung. Andere Geräusche, andere Gerüche...«

Das klang nicht so, als würde Benji oft bei Fremden übernachten – im Gegensatz zu Mario oder Fritzi, die überhaupt keine Probleme damit hatten, die Nacht bei ihren One-Night-Stands zu verbringen.

Oder Benji schleicht sich direkt danach nach Hause...

Johann schüttelte den Gedanken ab. Er sollte nicht so viel über Benjis Sexleben nachdenken. Schlimm genug, dass seine zerwühlten Haare darauf hinwiesen, was er mit Mario getrieben hatte. Dazu noch dieser sexy Bartschatten –

»Apropos Gerüche. Mir ist gestern gar nicht aufgefallen, dass so viel zu Bruch gegangen oder umgekippt ist. Im Wohnzimmer stinkt's wie in einer Eckkneipe, obwohl die Fenster offen sind. Und der Fußboden im Bad klebt.«

Johann machte eine einladende Geste. »Willkommen zu unseren berüchtigten WG-Partys.«

»Sieht das danach immer aus wie nach einer eskalierten Abiparty?«

Johann lachte. »Oft, ja.«

»Wow. Mutig, dass ihr solche Partys dann überhaupt noch veranstaltet. Wahrscheinlich könnt ihr froh sein, dass niemand in Vasen gekotzt oder Wände beschmiert hat.«

Johann verzog das Gesicht. »Dafür sind die meisten dann doch schon zu alt.«

»Meinst du?« Benji nickte zur Küchentür. »Sieht nicht so aus, als würde jeder seine Grenzen kennen. Oder wie kann man als erwachsener Mensch Bier verschütten, Chipsschüsseln umwerfen und überall Flaschen rumstehen lassen, ohne wenigstens ein bisschen aufzuräumen? Immerhin sind die hier nicht zu Hause.«

»Gewohnheit, schätze ich.« Als Benji irritiert die Stirn runzelte, fügte Johann hinzu: »Versteh mich nicht falsch, natürlich hast du recht. Hier sieht's aus wie im Saustall, aber die Leute kennen es nicht anders. Das war schon so, bevor ich hier eingezogen bin. Fritzi und Mario war es wohl egal.« Oder sie hatten es bis zum schrecklichen Erwachen am nächsten Morgen nicht mitbekommen, weil sie zu sehr mit Flirten und Trinken beschäftigt gewesen waren. »Ich würde mich in einer fremden Wohnung nie so verhalten.«

»Ich auch nicht«, brummte Benji. Er sah sich um und deutete grinsend auf den Kasten mit leeren Bierflaschen neben dem Kühlschrank. »Ich habe meine Flaschen immer brav weggeräumt.«

Johann lächelte. »Sehr brav. Danke. Vier Flaschen weniger, die wir einsammeln müssen.«

»Hey, es waren mindestens sechs. Ich hatte schließlich einiges aufzuholen.«

»Auch sechs Flaschen werden uns nicht vor der gewaltigen Aufräum- und Putzaktion bewahren, die uns heute noch bevorsteht.« Und vor der es Johann jetzt schon grauste. Er hätte bereits vor einer halben Stunde damit anfangen können, aber er wollte den ganzen Spaß nicht für sich allein beanspruchen. Fritzi und Mario wohnten genauso hier und so sehr er es auch aufgeräumt mochte, er war nicht ihre Putzfrau. Den Dreck hatten sie alle drei zu verantworten.

»Macht ihr das allein?«

»Du meinst, ob wir dafür einen Reinigungsservice beauftragen?« Johann schnaubte. »Eher nicht.«

»Eigentlich meinte ich, ob gleich ein paar Helfer vorbeikommen, die an diesem Chaos mitgewirkt haben.«

Mit einem Blick schloss er die Küche ein, in der ebenfalls unzählige Flaschen, Gläser und Schüsseln herumstanden oder -lagen. Irgendein Volltrottel hatte eine Chipsschale vom Tisch gefegt, war mitten hindurchgelatscht und hatte die Krümel überall in der Wohnung verteilt.

Johann hatte heute Morgen nur ein paar Gläser und Flaschen zur Seite geschoben und eine Handvoll Krümel notdürftig zusammengefegt, um sich Platz auf der Bank am Küchentisch zu schaffen.

»Ähm, nein«, gestand Johann. »In den knapp zehn Jahren, die ich hier jetzt schon wohne, ist das noch nie vorgekommen.«

»Wow«, wiederholte Benji, aber es klang nicht begeistert.

»Du musst natürlich auch nicht helfen.«

»Bist du verrückt? Wenn ich mit anpacke, schaffen wir es vielleicht noch dieses Wochenende und nicht erst zu Weihnachten.«

Johann lachte. »Na, wenn du dich uns so aufdrängst... Wir sind zu verzweifelt, um abzulehnen, das ist dir hoffentlich klar?«

»Warum genau veranstaltet ihr noch mal diese angeblich berühmten Partys?«

»Zugegeben, die letzte war schon eine Weile her. Deswegen wurde es mal wieder Zeit. Und natürlich, um dich kennenzulernen.«

Benji schnaubte. »Ich weiß nicht, ob ich mit Fritzi mehr als fünf Sätze gewechselt habe. Die hing die ganze Zeit an so einem bulligen Typen dran. Da haben wir beide mehr miteinander geredet.«

Und auch das war nicht viel gewesen, bis Mario Benji aus der Küche entführt hatte. Ein richtiges Gespräch war danach nicht mehr zustande gekommen, da später die Musik aufgedreht worden war und der ein oder andere zu tanzen angefangen hatte. Spätestens ab dem Zeitpunkt war es klug von Fritzi gewesen, das ganze Haus eingeladen zu haben.

»Das kommt schon noch, sobald sie von den Toten auferstanden ist.«

Andererseits... hatte sie überhaupt hier geschlafen, wenn sie gestern jemanden aufgerissen hatte? Johann konnte sich nicht erinnern. Die zweite Weinflasche war heute Morgen zwar nicht leer gewesen, aber er war sicher, dass er den Wein mehr oder weniger allein getrunken hatte.

Und trotzdem hatte er nicht die nötige Bettschwere gehabt, um Marios Eselslaute zu überhören.

»Beides Langschläfer, hm?«

Johann nickte.

»Du offensichtlich nicht.«

»Du auch nicht.«

Benji machte eine unbestimmte Geste. »Kommt drauf an.«

»Ah ja. Fremde Umgebung und so.« Er verzichtete darauf, zu erklären, was ihm so eine kurze Nacht beschert hatte. Stattdessen trank er noch einen Schluck Kaffee.

Benji nickte zur Tasse. »Gibt's davon noch mehr?«

»Oh, klar, natürlich. Entschuldige.« Er wollte gerade die Tasse abstellen und aufstehen, als Benji schon auf den Füßen war.

»Bleib sitzen. Sag mir nur, wo ich suchen muss.«

Johann ließ sich wieder auf die Bank sinken. »Tassen stehen im Schrank über der Spüle. Und die Kaffeemaschine ist wohl nicht zu übersehen.«

»Der Kaffeeduft ist vor allem nicht zu ignorieren. Eigentlich ist es Folter, dass du mir fast eine Viertelstunde lang einen vorgetrunken hast.«

Eine Viertelstunde schon? »Du hättest ja was sagen können.«

»Hab ich ja – als es kaum noch auszuhalten war.« Benji grinste ihn über die Schulter hinweg an, griff nach der Kaffeekanne und schenkte sich ein.

Johann schluckte. Gott, dieses Grinsen... Wieso zum Teufel sprang er da so drauf an? Eine Menge Männer hatten ein hübsches Lächeln. Und Mario lächelte sogar viel perfekter mit seinen perlweißen, geraden Zahnreihen.

»In spätestens einer weiteren Viertelstunde wird sich übrigens mein Magen bemerkbar machen. Hast du schon gefrühstückt?«

Johann schüttelte den Kopf. »Du hast doch gestern in den Kühlschrank geschaut. Außer Bier steht da nur Schnaps drin.«

»Und Wein.«

Johann lächelte. Das hatte er sich also gemerkt. »Und Wein. Wenn die anderen zwei aufwachen, gehen wir wahrscheinlich irgendwo frühstücken. Bis dahin kann ich dir nur die Reste der Knabbersachen anbieten. Chips, Salzstangen, Gummibärchen...«

Benji schnitt eine Grimasse und trat zum Kühlschrank. »Wie sieht's mit Milch aus?«

»Du hast unbändigen Kaffeedurst und verlangst dann nach Milch? Das ist ja, als würde man Wein mit Wasser mischen.«

Benji grinste. »Trinkst du deinen etwa schwarz?«

Johann nickte. »Immer. Sonst verschwindet der ganze Geschmack.«

»Ich denke, ich riskier's.« Er streckte eine Hand nach dem Kühlschrank aus.

»Halt, warte, du musst –« Wieder hatte sich Johann aus Reflex halb erhoben, aber da war es bereits zu spät.

Benji hatte die Kühlschranktür so schwungvoll aufgerissen, dass Johann nicht einmal dann rechtzeitig bei ihm gewesen wäre, hätte er einen Hechtsprung über den Tisch gemacht. Kurz folgte das verräterische Geräusch von Glas, das über Glas rutschte, dann zerschellten unter lautem Getöse zwei Bierflaschen auf den Küchenfliesen. Gelbe schäumende Flüssigkeit spritzte durch die Gegend und landete nicht nur auf den Oberflächen der Schränke und Schubladen, sondern sogar auf Johanns nackten Füßen. Durchdringender Geruch nach Bier breitete sich in der Küche aus, aus der sich der Gestank von gestern gerade zu verflüchtigen begonnen hatte.

Benji stand wie versteinert – und ebenfalls mit bloßen Füßen – inmitten der Scherben und starrte fassungslos zu Boden. »Scheiße«, keuchte er, ehe er den Kopf hochriss und Johann aus aufgerissenen Augen ansah. »Scheiße. Ich meine... Scheiße, tut mir leid, ich... gestern hast du noch gesagt, dass... Scheiße. Ich wisch das natürlich auf. Die ganze Küche. Ich putz euch die ganze Küche von oben bis unten und... Sag mal, lachst du etwa?«

Spätestens jetzt konnte Johann nicht mehr an sich halten. Er hatte es versucht, aber da Benji ihn ohnehin durchschaut hatte, brach sich das Lachen in seiner Kehle Bahn. Es sah einfach zu komisch aus, wie Benji da mit einem Gesichtsausdruck stand, als hätte er gerade Johanns Spielesammlung beim Pokern versetzt.

»Tja«, sagte Benji trocken, nachdem sich Johann wieder halbwegs gefangen hatte, und schloss den Kühlschrank mit einiger Verspätung. »Scheint, als hätte ich das Spiel verloren, hm?«

»Sogar haushoch«, grinste Johann. »Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.« Wieder entkam ihm ein kleines Auflachen.

»Schön, dass du das so witzig findest«, sagte Benji, musste jetzt aber selbst grinsen.

»Tut mir leid.« Johann wischte sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln. »Aber du musst dir echt keine Gedanken machen. Wie gesagt, das ist uns allen schon passiert. Ob wir das jetzt auch noch aufwischen...« Er zuckte die Schultern. »Und sieh's positiv: Jetzt sind Mario und Fritzi garantiert wach.«

»Yay, Frühstück, whoop-whoop.« Benji hob die Arme in der Imitation eines Cheerleaders, was sogar ganz gekonnt aussah, auch wenn seine Füße mit dem Boden verwachsen zu sein schienen.

»Warte kurz.« Johann zog seine eigenen Füße auf die Bank hoch und robbte bis ans Ende, von wo aus es nicht mehr weit bis zur Küchentür war. »Ich hole schnell Schuhe und was zum Aufwischen. Nicht, dass du dir noch eine Scherbe in den Fuß rammst.«

»Das würde den Start in den Tag noch besser machen, was?«

»Ansichtssache.« Johann inspizierte den Boden vor der Bank, aber bis hierher schien kein Glassplitter geflogen zu sein. Er stand auf und trat mit einem großen Schritt zur Küchentür. »Bin gleich wieder da.«

»Klar. Lass dir Zeit. Ich laufe nicht weg.«

 

***

 

Tatsächlich hatte der Lärm Mario und Fritzi aufgeweckt. Mario torkelte als Erster in die Küche und blickte aus verquollenen Augen auf Johann und Benji am Boden hinunter, wo sie die Biersuppe aufwischten und die Scherben zusammenkehrten.

»Scheiße«, war alles, was er dazu zu sagen hatte, ehe er auf dem Absatz umdrehte und Richtung Badezimmer wankte.

Stirnrunzelnd sah Benji Johann an, der abwinkte. »Um diese Uhrzeit nach einer Party und vor der ersten Tasse Kaffee gleicht das schon einem Shakespeare-Zitat. Gib ihm eine halbe Stunde, um richtig wach zu werden.«

Als Nächstes wagte sich Fritzi in die Küche. Im Schlepptau hatte sie einen großen, kräftig gebauten Mann, dessen Arme unter dem T-Shirt dicht an dicht tätowiert waren. An der rechten Seite seines Halses schlängelte sich etwas empor, das wie Flammen aussah. Vielleicht war es auch eine Efeuranke. Oder eine Ladung Sternenstaub. Wenn Johann als Grafiker das nicht mal erkennen konnte, musste der Tätowierer eher von der günstigeren Sorte gewesen sein.

Fritzi hatte also tatsächlich nicht allein geschlafen. Im Gegensatz zu Mario hatte er von ihr in der Nacht nichts gehört. Allerdings lag ihr Zimmer auf der anderen Seite des Flurs und nicht direkt neben Johanns.

»Oh nein«, stöhnte Fritzi, die wacher wirkte als Mario. Vielleicht hatte sie bereits ein Foto für die Galerie der Schönheiten von ihrer Eroberung geschossen. »Nicht schon wieder.«

»Das war meine Schuld«, sagte Benji sofort. »Tut mir leid. Die Flaschen sind einfach aus dem Kühlschrank gerutscht, als ich ihn aufgemacht habe.«

Fritzi schaute Johann an. »Hast du ihn etwa nicht vorgewarnt?«

»Doch.« Mit spitzen Fingern pflückte Johann eine größere Scherbe vom Boden und warf sie zu den anderen in den bereitstehenden Eimer. »Ich war nur nicht schnell genug.«

»Du hast mich gestern schon gewarnt«, korrigierte Benji ihn. »Ich hab's nur vergessen.«

Fritzi seufzte. »Egal. So, wie's hier aussieht, macht das keinen großen Unterschied. Wir müssen heute eh ran.«

Plötzlich trat der bullige Kerl hinter ihr unruhig von einem Bein aufs andere. »Ich muss dann auch los«, brummte er mit tiefer Stimme, die Johann bis auf die Knochen drang.

»Na klar, ich bring dich noch zur Tür.«

Als die beiden verschwunden waren, schüttelte Benji den Kopf. »Und noch einer, der sich verkrümelt.«

»Keine Sorge. Wir räumen nur die Scherben weg und dann gehen wir erst mal frühstücken.«

»Gut. Langsam bekomme ich nämlich ziemlichen Hunger.«

Johann ließ sich auf die Fersen zurücksinken und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Langsam?«

Benji schmunzelte. Zweifellos hatte er Johanns gelegentliches Magenknurren in den letzten Minuten gehört, es jedoch höflich ignoriert. Auch jetzt sagte er nichts dazu, als sich Johanns Hunger prompt erneut lautstark bemerkbar machte.

Johann räusperte sich verlegen. »Ähm, du musst nach dem Frühstück übrigens nicht wieder mit herkommen. Ehrlich nicht. Wir schaffen das auch allein.«

Er nahm an, dass Mario dasselbe sagen würde. Was war das auch für ein fragwürdiger Eindruck beim ersten Kennenlernen, den neuen Freund erst einmal die eigene Wohnung von oben bis unten putzen zu lassen?

Benji schüttelte jedoch den Kopf. »Ich bleibe.«

 

***

 

Wenn man ihren Tisch so betrachtete, hätten sie locker vier weitere Leute verköstigen können. Normalerweise lag das an Johann und Fritzi, da Mario sich meist an irgendetwas Proteinreiches wie Rührei oder ein Superfoodmüsli hielt. Heute hatte sich Benji allerdings daran beteiligt, die eher ungesunden Sachen der Karte rauf und runter zu bestellen. Als Johann sich nicht zwischen Pancakes und einem Croissant mit Marmelade hatte entscheiden können, hatte Benji kurzerhand beschlossen, beides zu bestellen – zusätzlich zu der Frühstücksplatte für zwei, die er sich mit Fritzi teilte.

»Wenn ich nicht ganz genau wüsste, dass du kein Gramm Fett zu viel auf den Rippen hast, wäre ich jetzt entsetzt«, sagte Mario – oder eigentlich säuselte er es wieder –, während er Benji über den Nacken strich.

Neben Johann verdrehte Fritzi die Augen und lud sich großzügig Lachs auf ihr Brötchen. Gut. Dann war nicht nur ihm aufgefallen, dass Mario mit Benji wie mit einem Welpen redete. Theoretisch könnte das süß sein. Eben verliebt, irgendwie. Aber bei Mario wirkte es albern.

Benji hingegen schien es nichts auszumachen. »Hey, ich bin bestimmt schon eine Stunde länger wach als du und habe den halben Küchenboden geschrubbt.«

»Du hättest ja den Kühlschrank nicht so aufreißen müssen.«

»Eure Gäste hätten da drin auch kein Jenga spielen müssen.«

»Jenga

Benji wirkte irritiert und wechselte einen Blick mit Johann. »Na, dieses Geschicklichkeitsspiel mit den Holzstücken...«

»Ach, dieser Turm?« Jetzt sah auch Mario Johann an. »Hat Joe dich mit seiner Spielsucht schon angesteckt?«

»Oh, du bist süchtig nach Gesellschaftsspielen? Schäm dich. Heutzutage ist man handy- oder computersüchtig oder so.« Benji grinste Johann an, was so unerwartet kam, dass Johanns Herz kurz hüpfte. Ganz kurz. Kaum wahrnehmbar, eigentlich. Auf jeden Fall zu vernachlässigen.

»Joe ist da eher etwas altmodisch gestrickt. Aber dafür lieben wir ihn.«

Obwohl Mario das weder besonders ernst noch feierlich sagte, wusste Johann, dass es stimmte. Warme Zuneigung erfüllte ihn. Vom ersten Tag an hatten sowohl Mario als auch Fritzi ihn trotz allen Geplänkels so angenommen, wie er war.

»Ich erinnere mich gut daran, dass du bei unserem letzten Spieleabend ziemlich viel Spaß gehabt hast.« Johann legte eine Kunstpause ein. »Mit den Siedlern von Catan

»Das spiele ich nie wieder!«, polterte Mario. »Nie kommt man an genug Schafe.«

»Du meinst an die Wolle.« Benji lachte und Johann ertappte sich beim automatischen Mitgrinsen. Das Spiel kannte Benji also auch.

»Wolle, Schaf – die Wolle stammt vom Schaf, oder nicht?«

»Machen wir demnächst doch mal wieder einen Spieleabend«, warf Fritzi ein und sah Benji an. »Was meinst du?«

»Von mir aus gerne.«

Sie wägten ein paar Termine ab, während sich die Teller, Platten und Schüsseln auf ihrem Tisch allmählich leerten. Mario war schon vor einer Viertelstunde mit seinem Rührei fertig geworden, während sie noch schlemmten.

Tja, das ist wohl der Grund, warum Mario so aussieht, wie er aussieht, und du aussiehst, wie du aussiehst. Und warum sich Männer wie Benji für Männer wie Mario interessieren.

Er versuchte, die beiden nicht allzu offensichtlich zu beobachten, obwohl sie ihm direkt gegenübersaßen. Allerdings war kaum zu übersehen, dass sie ein Paar waren. Im Gegensatz zu Fritzi und ihm saßen sie dicht nebeneinander. Ständig wanderte Marios Hand unter dem Tisch nach rechts, wahrscheinlich, um sich auf Benjis Oberschenkel zu legen. Sie sahen sich oft an und in ihren Augen funkelte es dabei jedes Mal.

Definitiv verliebt. Aber so was von.

Mit einem lautlosen Seufzen schob Johann seinen Teller weg und griff stattdessen nach seinem Kaffee, nachdem er sich aus dem etwas antiquierten Kännchen nachgeschenkt hatte. Dieses Frühstückslokal röstete seinen eigenen Kaffee, der noch dazu hervorragend schmeckte, auch als Espresso. Ein herbes, kräftiges Aroma, ohne verbrannte Bitternote. Was weder Mario noch Fritzi oder Benji in ihren italienischen Modegetränken mit viel Milch und Sirup schmecken konnten.

»Bist du schon fertig?«, fragte Benji ihn und nickte zu den Pancakes in der Mitte des Tisches. »Du hast die Pfannkuchen noch nicht probiert.«

Um ehrlich zu sein, war ihm der Appetit nach Marios Bemerkung über Körperfett ein klein wenig vergangen. »Dafür habe ich schon ein Croissant und meinen Anteil der Frühstücksplatte für zwei gegessen.«

Was Fritzi hingegen nicht daran hinderte, mit ihrer Gabel mitten in die Pancakes zu stechen und sich zwei auf ihren Teller zu laden. Wo die Frau die ganzen Kalorien ließ, würde ihm ein ewiges Rätsel bleiben. Vielleicht hatte sie deshalb so oft Sex – oder einfach einen beneidenswerten Stoffwechsel.

»Wo lässt du eigentlich das ganze Essen?«, fragte sie Benji und betrachtete ihn von oben bis unten. »Du hast ziemlich reingehauen. Machst du irgendeinen Sport?« Sie sah kurz zu Mario. »Habt ihr euch im Fitnessstudio kennengelernt?«

»Nein«, sagte Mario, ehe er Benji ansah. »Aber ich kann dich gerne mal mitnehmen, wenn du willst.«

Benji lachte schnaubend. »Danke. Ich bin zwar in einem angemeldet, aber irgendwie ist das nicht so ganz mein Ding.«

Mario beugte sich zu ihm. »Das kommt wahrscheinlich auf die Begleitung an.«

Säusel, säusel.

»Oh, versteh mich nicht falsch.« Benji umfasste Marios unübersehbaren Bizeps. »Deine Muskeln mag ich.«

»Ist mir aufgefallen.« Mario wackelte mit den Augenbrauen und spannte besagten Bizeps an. Ein beeindruckender Anblick. Und ein leicht schmerzhafter, weil es in Benjis Augen aufleuchtete.

»Aber ich bin sowieso schon den ganzen Tag auf den Beinen.« Er ließ von Marios Bizeps ab. »Da bin ich mal ganz froh, einfach die Füße hochlegen zu können.«

»Warum bist du denn den ganzen Tag auf den Beinen?«, hakte Johann ein, froh, das Thema wechseln zu können. Wenn sie über Sport und Muskeln sprachen, bekam er immer ein schlechtes Gewissen.

»Meiner Familie gehört ein Restaurant, in dem ich mitarbeite. Das bedeutet vor allem viel Rumgelaufe.«

»Ein Restaurant, echt? Das hast du noch gar nicht erzählt«, sagte Mario.

Verwundert riss Fritzi die Augen auf und schaute zwischen Mario und Benji hin und her. »Habt ihr euch überhaupt schon mal unterhalten?«

»Nicht mit so vielen Klamotten an«, feixte Mario, wofür ihm Benji einen Klaps auf den Arm verpasste.

»Restaurant klingt vielleicht etwas hochgestochen. Es ist ein Wirtshaus. Gutbürgerliche Küche.«

»Und was genau machst du da?«, fragte Johann interessiert.

»Service. Bar. Aufräumen. Alles, was so anfällt. Ab und zu helfe ich in der Küche mit, aber meine Schwester ist da sehr eigen. Das ist ihr Reich und wenn nicht alles so läuft, wie sie es will, kann sie sehr anstrengend werden. Eigentlich lässt sie sich nur von meinem Opa was sagen, der vor ihr die Küchenleitung gemacht hat, und scheucht ansonsten gnadenlos ihre Mitarbeiter herum. Wenn ich es vermeiden kann, gehe ich ihr während der Arbeitszeit aus dem Weg.«

Johann lächelte, wobei er hoffte, dass es nicht so wehmütig aussah, wie er sich fühlte. Ein Familienbetrieb. Das erinnerte ihn an sein eigenes Zuhause, an seine eigene Familie. Er hatte schon wieder viel zu lange nicht mehr mit ihnen geskypt. »Das klingt toll.«

»Toll?« Mario hob die Augenbrauen. »Sind die Arbeitszeiten in der Gastro nicht extrem beschissen? Mal ganz zu schweigen vom Gehalt?«

Benji zuckte die Schultern. »Natürlich gibt es Jobs, in denen man mehr verdienen oder sich den halben Tag lang im Internet rumtreiben kann, aber mir gefällt's. Den Leuten schmeckt es und sie fühlen sich bei uns wohl, weshalb sie gerne wiederkommen, das ist die Hauptsache. Meine Großeltern haben sich einen lang gehegten Traum erfüllt, als sie das Wirtshaus mit Anfang dreißig erst gepachtet und später gekauft haben. Das war vor –«

Mario winkte ab. »Solange du nicht ständig am Wochenende oder abends arbeiten musst.«

»Oh«, sagte Benji gedehnt, lehnte sich zu Mario rüber und drückte ihm einen kurzen Kuss auf den Mund. »Keine Sorge, du kommst schon nicht zu kurz. Ich hab dich noch kein einziges Mal versetzt, oder?«

Mario brummte, aber selbst das klang schon besänftigt. Er legte eine Hand in Benjis Nacken und zog ihn wieder an sich heran. Diesmal dauerte der Kuss länger. Johann hörte es schmatzen und konnte Zungen zwischen feuchten Lippen aufblitzen sehen.

Okay. Vielleicht doch noch ein Pancake. Er griff nach seiner Gabel und hob sich umständlich einen Teigfladen auf den Teller, den er akribisch mit der dazu gereichten Schokosoße bestrich.

Neben ihm räusperte sich Fritzi vernehmlich. »Halloho? In diesem Laden sind Kinder anwesend. Reißt euch mal am Riemen.«

Ein lautes Schmatzgeräusch. »Warum denn? Vielleicht lernen die noch was.«

Auch wenn sich Johann weiterhin auf seinen Pancake konzentrierte, hörte er das Feixen deutlich aus Marios Stimme heraus.

Benji räusperte sich, nur klang es anders als bei Fritzi eher betreten. Als Johann ihm einen kurzen Blick zuwarf, bemerkte er eine verlegene Röte auf seinen Wangen, die bei seiner blassen Haut fast pink wirkte. Irgendwie niedlich.

Niedlich? Johann schnitt sich ein Stück Pfannkuchen ab und schob es sich in den Mund. Niedlich! Meine Güte!

»Jedenfalls, äh...« Benji fuhr sich durch die Haare. »Dadurch, dass es ein Familienunternehmen ist, habe ich sicherlich mehr Freiheiten, als wenn ich in einem anderen Restaurant arbeiten würde. Einer meiner Brüder arbeitet auch dort und irgendeine Lösung –«

»Wie viele Geschwister hast du eigentlich?«

Johann zuckte zusammen, als Mario Benji schon wieder dazwischengrätschte.

... sieht langweilig aus und redet ziemlich viel, aber Augen zu und durch! Lohnt sich, sobald seine Zunge beschäftigt ist!

Er fand nicht, dass Benji zu viel redete. Etwas ausschweifend vielleicht. Aber wie zum Teufel sollte man sich sonst kennenlernen?

»Drei. Zwei Brüder, eine Schwester.«

»Oh Mann.« Das klang weniger fasziniert als entsetzt.

»Du musst wissen«, erklärte Fritzi, »dass unser Mario hier ein verwöhntes Einzelkind ist.«

»Ich bin überhaupt nicht verwöhnt!« Als Benji daraufhin zu lachen anfing, verschränkte Mario die Arme vor der Brust. »Bin ich wirklich nicht! Hey, ich wohne in einer WG! Seit fast zehn Jahren sogar in derselben Konstellation. Welches verwöhnte Einzelkind würde das bitte tun?«

»Schon gut, du großer Teamplayer.« Benji strich Mario beruhigend über den angespannten Oberarm, den er eben noch bewundert hatte, konnte sich das Grinsen aber nicht verkneifen. »Ich stelle dich dem Clan bei Gelegenheit mal vor.«

Ein kurzes, beinahe unwilliges Flackern in Marios Augen, aber Johann war nicht sicher, ob er sich das vielleicht nur eingebildet hatte, denn in derselben Sekunde fiel ein Schatten auf ihren Tisch.

»Mario?«

Sie drehten sich zu dem jungen Mann um, der an ihren Tisch getreten war. Hübsch. Schlank, mit enger, tief sitzender Jeans auf schmalen Hüften und einem locker fallenden Sweatshirt mit tiefem V-Ausschnitt, das der Jahreszeit definitiv nicht angemessen war, dafür aber stylish aussah. Er hatte ein anziehendes, fein geschnittenes Gesicht mit hohen Wangenknochen und riesigen blauen Augen – das Johann schon mal gesehen hatte, erst neulich.

In der Galerie der Schönheiten.

Das hier war einer von Marios One-Night-Stands. Wenn Johann sich recht erinnerte, sogar einer seiner neueren.

»Hey, du bist es ja tatsächlich. Hi. Wie geht's dir?«

Wie ein Springteufel schoss Mario vom Stuhl hoch. »Hey, ähm... hi! Schön, dich zu sehen.«

Offensichtlich war ihm der Name des Typen entfallen. Er überspielte es, indem er den Mann kurz umarmte. Clever. Aber wahrscheinlich hatte er Übung in so was.

Anschließend sah er über die Schulter zu ihnen am Tisch hinunter. »Bin gleich wieder da.« Ohne ein weiteres Wort zu ihnen schob er den Kerl Richtung Ausgang.

»Wir müssen nicht –«, hörte Johann ihn verständlicherweise protestieren. In seinem Aufzug würde er sich draußen blitzschnell eine Erkältung einfangen.

»Du willst doch bestimmt eine rauchen, hm? Außerdem...« Den Rest verschluckte die Tür, die hinter ihnen ins Schloss fiel.

Stille breitete sich an ihrem Tisch aus wie ein unangenehmer Geruch. Benji blickte stirnrunzelnd durch die großen Fenster nach draußen zur Straße, wo der unbekannte Mann schlotternd die Arme um seinen schmalen Körper geschlungen hatte. Mario hingegen strahlte ihn an, als wollte er ihm ein lebenslanges Abo für Zahnseide aufschwatzen.

Johann rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum und griff nach seiner Tasse, obwohl noch mehr Kaffee bei seinem erhöhten Puls wahrscheinlich keine gute Idee war. Er wechselte einen Blick mit Fritzi, die den Mann vermutlich auch aus der Galerie erkannt hatte.

Benji wandte sich ihnen zu. »Wer war denn das?«

Die unvermeidliche Frage. Und Mario hatte es, verdammt noch mal, ihnen überlassen, seinen plötzlichen Abgang und sein Verhältnis zu dem Mann zu erklären. Johann versteckte sich halb hinter seiner Kaffeetasse. Die Wahrheit? Benji dürfte klar sein, dass Mario kein Kind von Traurigkeit war, ganz egal, wo sie sich kennengelernt hatten. Johann wusste, wie Mario ranging, wenn er im Aufreißermodus war. Das konnte bei Benji bei aller Sympathie nicht anders gewesen sein, vor allem, da die Verliebtheit erst später hinzugekommen war.

Aber wie viel genau wusste Benji?

»Ähm, das war... das ist...«

»Ein alter Bekannter, glaube ich«, sagte Fritzi leichthin. »Du hast ja gestern sicher gemerkt, dass Mario viele Leute kennt.«

»Hm-hm«, machte Benji und es war unmöglich, zu erkennen, ob er ihr das abkaufte. Oder ob er sich fragte, warum er speziell diesem Bekannten nicht vorgestellt wurde, während Mario ihn gestern wie einen Sack voll Gold herumgezeigt hatte.

»Einzelkind, ja, aber ganz bestimmt nicht sozial gehemmt.« Fritzi lachte und es klang tatsächlich ungezwungen. Erstaunlich. »Im Gegenteil. Stell ihn mit hundert wildfremden Leuten in einen Raum und er kommt mit neunzig neuen Freunden wieder heraus.«

Mit neunzig neuen Fickfreunden.

Eine hässliche, kleine Stimme in seinem Kopf, die ihn selbst erschreckte.

Benji fiel in ihr Lachen ein. »Ja, solche Leute kenne ich auch.«

Und damit schien das Thema beendet zu sein.

Vielleicht hatte Johann aus einer Mücke einen Elefanten gemacht. Natürlich hatte Mario vor Benji ein Sexleben gehabt – genau wie umgekehrt. Niemand ging als weißes Blatt Papier durchs Leben. Er wollte nur nicht dafür verantwortlich sein, dass durch ein falsches Wort Marios Beziehung zu Benji in die Brüche ging, wo er doch zum ersten Mal richtig verliebt war.

Sicher? Das willst du nicht?

Wieder diese hässliche Häme in seinem Kopf. Er ignorierte sie und schnitt sich noch etwas von dem Pancake ab.

»Hey, jetzt hast du die Pancakes ja doch noch probiert«, bemerkte Benji. »Die schmecken gut, oder?«

»Ja.« Johann zog mit dem Pfannkuchen ein willkürliches Muster durch die Schokoladensoße auf seinem Teller. »Plötzlich war der Hunger wieder da.«

 

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Tag der Veröffentlichung: 20.03.2019

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