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Kapitel 1

»Ich bin schwul.«

Verständnislos blinzle ich Simon an. »Hey, du wolltest mit mir reden. Wenn du mir nicht sagen willst, was los ist, dann lass es halt.« Ich zucke die Schultern und nehme einen Schluck aus meiner Bierflasche.

Ich bin schwul. Ja, klar. Der Spinner hat sie ja nicht mehr alle. Und dafür hat er mich auf die Straße gelockt, während Keule hinten im Garten gerade zum zweiten Mal den Grill anheizt. Gerade rechtzeitig. Langsam kriege ich wieder Kohldampf.

Simon atmet aus. »Ich mein's ernst.«

»Ich auch. Wenn gleich keine Würstchen mehr da sind, bist du schuld.«

»Der ganze Kühlschrank ist voller Würstchen, du bekommst schon noch eins.«

»Sag das nicht so. Als wir das letzte Mal bei Dennis gegrillt haben, mussten wir noch Tiefkühlpizza in den Ofen werfen, schon vergessen? Bei Maikes Gesundheitswahn gibt's hier so was wahrscheinlich nicht. Keule musste sie schon auf Knien anflehen, dass wir überhaupt Fleisch bekommen und nicht nur Gemüsespieße und Tofuscheiße. Ehrlich, hättest du gedacht, dass Keule mal –«

»Alex.« Simon starrt mich an, aber im schwachen Licht der Funzel auf der Mauer neben den Eingangsstufen kann ich den Ausdruck in seinen Augen nicht richtig erkennen, obwohl er nur einen Meter vor mir steht. Die nächste Straßenlaterne ist zu weit weg. Keules Haus ist das letzte in der Straße.

»Was denn?«

»Hast du mir zugehört?«

Mir gefällt der drängende Unterton in seiner Stimme nicht. Das hier ist eine verdammte Grillparty, da sollte niemand klingen, als würde der Weltuntergang jeden Moment bevorstehen.

Ich mache eine ungeduldige Handbewegung. »Du wolltest mir irgendwas sagen.«

»Ich habe dir schon was gesagt.«

Jetzt klingt er wieder so oberlehrerhaft wie damals, als er mir unbedingt die Hausaufgaben erklären wollte, bevor ich sie dann doch abschreiben durfte. »Du hast gesagt, du bist schwul.«

Simon scheint überrascht zu sein, dass ich ihm tatsächlich zugehört habe. »Ich... ja, genau.«

Ich verdrehe die Augen. »Ach, komm schon. Ein zweites Mal kriegst du mich damit nicht. Wo verstecken sich die anderen?«

Ich sehe mich in Keules kleinem Vorgarten um, der jedoch absolut keine Möglichkeit bietet, sich zu verstecken. Sicherheitshalber werfe ich noch einen Blick über die Mauer, sehe jedoch nur ein jungfräuliches Blumenbeet, dem sich Maike noch widmen muss. Als sie vor zwei Monaten in den Neubau eingezogen sind, haben sie sich zuerst ums Innere gekümmert, deshalb sehen Garten und Vorgarten noch aus wie ein Acker im Kleinformat. Aber der Grill und die Gartenmöbel stehen schon. Blühende Blumenbeete rücken beim Hausbau auf der Prioritätenliste wohl ziemlich weit nach unten.

Als ich niemanden entdecken kann, sehe ich Simon wieder an, der nervös die Hände in die Taschen seiner Jeans stopft. Im Gegensatz zu mir hat er sich keine Bierflasche mitgenommen, obwohl er gerade aussieht, als würde er sich am liebsten an irgendwas festhalten.

Ein ungutes Gefühl nistet sich in meinem Bauch ein, aber ich versuche, es wegzugrinsen. »Oder habt ihr hier irgendwo eine Kamera aufgestellt? Bin ich im Fernsehen?«

»Nein. Das war... das wollte ich dir sagen.« Simon fährt sich durch die sandfarbenen Haare, die in dem schummrigen Licht dunkler erscheinen, als sie jetzt im Sommer sind.

»Du wolltest mir sagen, dass du schwul bist«, wiederhole ich immer noch spöttisch, doch das Wort fühlt sich diesmal komisch in meinem Mund an. Schwul. Homosexuell. Schwanzlutscher. Arschficker. Es schüttelt mich unwillkürlich und ich trinke noch einen Schluck Bier.

»Ja.« Simon tritt unruhig von einem Bein aufs andere, was mir unvermittelt vor Augen führt, wie wir zwei hier allein im Dunkeln auf den Eingangsstufen zu Keules und Maikes Haus stehen, während unsere Freunde hinten im Garten feiern.

Schwul.

»Quatsch«, sage ich schärfer als beabsichtigt und bin plötzlich froh über die Bierflasche in meiner Hand – weil ich mich jetzt an irgendwas festhalten muss. »Du bist doch nicht schwul.«

Simon begegnet meinem Blick mit so einer Intensität, dass mein Herzschlag kurz aussetzt. »Doch, Alex. Ich bin schwul.« Er betont jedes einzelne Wort, als stünde er vor seiner Klasse, die ein Diktat schreibt.

»Nein.« Ich schüttle den Kopf.

»Doch.«

»Nein, verdammt!« Ich knalle die Bierflasche auf die Mauer neben uns. »Wer zum Teufel redet dir so einen Blödsinn ein?«

»Das ist kein –«

»Du hattest doch Freundinnen!«

Simon zuckt zusammen und packt mich am Arm. »Nicht so laut, bitte. Ich bin noch nicht... Du bist der Erste, dem ich es sage.«

Ich starre ihn an und zum ersten Mal fällt mir die Unsicherheit, nein, die Panik in seinem Blick auf.

Das kann nicht sein.

Das darf nicht sein.

Wie kann er so dumm sein...?

Scheiße, Scheiße, Scheiße.

Ich sehe auf seine Hand auf meinem Arm hinunter. Plötzlich fühlt sich die Berührung an wie ein Stromstoß, als hätte ich den Elektrozaun von Bauer Eber angefasst und wäre unfähig loszulassen.

Aber ich kann loslassen.

Mit einem Ruck reiße ich meinen Arm los. Simon schluckt, versenkt die Hände wieder in den Hosentaschen und zieht die Schultern hoch.

Okay. Das war eine bescheuerte Reaktion, aber... verdammt!

»Du bist also schwul.« Langsam höre ich mich an wie eine Platte mit Sprung. »Du meinst das ernst.« Ich hole tief Luft. Oh Gott. »Ich meine« – ich kann mich gerade noch so davon abhalten, wieder laut zu werden – »schwul?!«

Ein trauriger Ausdruck erscheint auf seinem Gesicht. »Ja«, flüstert er.

Noch immer habe ich das Gefühl, nicht ganz zu begreifen, was er mir da sagt, aber ich spüre die Auswirkungen wie eine herannahende Gewitterfront. Wie ein bodenloses, schwarzes Loch, das sich unheilvoll vor meinen Füßen auftut und in dem sich sonst was befinden kann. Alles Mögliche. Nur nichts Gutes.

Schwul. Schwul!

Mit einer Hand fahre ich mir übers Gesicht, während ich mit der anderen nach meiner Bierflasche taste. Ich hätte den Korn mitnehmen sollen. Ach was, wenn ich gewusst hätte, was Simon mir sagen will, wäre ich gar nicht erst mitgegangen.

Ich leere die Flasche in einem Zug und bereue es sofort. Das Bier schäumt in meinem Magen wie Säure, gleichzeitig reicht die Menge an Alkohol hinten und vorne nicht.

Schwul. Simon. Mein Freund. Nein, ein Freund. Ein guter. Ein langjähriger. Mein bester.

Ich wische mir mit dem Handrücken über den Mund und betrachte Simon, als wäre es das erste Mal. Hochgewachsen und zu dünn, dazu diese etwas altbackene, angestaubte Aura eines Lehrers aus dem vergangenen Jahrhundert, dabei ist er erst seit knapp einem Jahr aus dem Referendariat raus.

Plötzlich überkommt mich ein heftiges Kribbeln am ganzen Körper. Im Schnelldurchlauf zucken Bilder vor meinem geistigen Auge entlang, wahllos, nicht chronologisch.

Schwimmunterricht in der Schule. Übernachtungspartys. Zelten am Strand. Gemeinsame Urlaube. Geteilte Betten. Duschen in der Männerumkleide. Durchgefeierte Nächte. Betrunkenes Gerede. Dunkle Geheimnisse. Intime Geständnisse.

Gott. Das darf nicht wahr sein. Das Ganze ist eine Ewigkeit her. Wie kann er es wagen, jetzt –

»Alex? Könntest du aufhören, mich so anzustarren, und etwas dazu sagen? Irgendwas?« Seine Stimme zittert, was das schäumende Bier in meinem Bauch wild hin und her schwappen lässt.

»Warum erzählst du mir das?« Mein Gehirn scheint sich immer noch an seinem Outing aufzuhängen. Was für eine Frage ist das denn?

Seine Mundwinkel zucken. Selbst dieser schwache Abklatsch seines sonst sehr schönen Lächelns sieht umwerfend aus – womit er durchaus schon Frauen bezirzt hat.

»Ist das dein Ernst? Ich kenne dich schon ewig.«

»Das ist kein Grund...« Als ich merke, dass ich zische wie Maike, wenn sie Keule dabei erwischt, wie er ein nicht genehmigtes Wurstbrötchen isst, klappe ich den Mund zu. Ich wische mir über die Stirn, aber obwohl ich mich wie nach einem Marathon fühle, sind da keine Schweißperlen. »Warum erzählst du es mir überhaupt?« Noch so eine beschissene Frage. Das erkenne ich daran, wie Simon die Schultern hängen lässt. Verdammt. »Ich meine... warum jetzt? Warum hier?« Warum, warum, warum?

»Irgendwann muss ich irgendwo damit anfangen.«

Nein, musst du nicht. Du hättest es einfach für dich behalten können, liegt mir auf der Zunge, aber ich kann es gerade noch runterschlucken.

Ausgerechnet Simon. In unserem Kaff ist niemand schwul. Niemand außer... daran will ich lieber gar nicht denken.

»Außerdem...« Simon holt tief Luft. »... war ich mir sicher, dass du ein Geheimnis für dich behalten kannst.«

»Das ist kein Geheimnis, das ist eine tickende Zeitbombe.« Abermals hebe ich die Flasche an meinen Mund, bis ich merke, dass nichts mehr drin ist. Scheiße.

Unvermittelt wird die Haustür geöffnet. Ich zucke so heftig zusammen, dass ich mir die Flaschenöffnung gegen die Zähne haue.

»Hier seid ihr!«, poltert Keule und schiebt seine muskulöse Gestalt zusammen mit Dennis auf den Treppenabsatz vor der Eingangstür hinaus.

War es hier vorher schon eng, ist jetzt definitiv nicht mehr genug Platz für vier erwachsene Männer. Simons nackter Arm streift meinen. Ich erschauere und weiche einen Schritt nach hinten aus – ins Nichts. Zumindest denke ich das in der ersten Schrecksekunde, dann landet mein Fuß auf der nächsten Stufe.

Noch mal Glück gehabt.

»Habt ihr nicht mitbekommen, dass ich den Grill noch mal angeschmissen hab?« Anklagend sieht Keule in die Runde. »Maike bringt mich um, wenn der Kühlschrank morgen immer noch voller Fleisch ist.«

Dennis schnaubt. »Du stehst ganz schön unter ihrer Fuchtel, was?«

»Wart ab, bis du verheiratet und Vater bist und ein Haus gebaut hast. Dann sprechen wir uns noch mal.«

Dennis rümpft die Nase. »Nein, danke. Ich mag meine Freiheit.«

»Welche Freiheit? Du wohnst über deinen Eltern und lässt dich von morgens bis abends von Mutti betüddeln.« Keule stößt Simon mit dem Ellbogen an. »Nichts für ungut, Alter. Deine Situation ist völlig anders.«

»Schon gut.« Simon ringt sich ein Lächeln ab, das ich sofort als falsch erkenne.

Trotzdem hat es etwas Beruhigendes an sich, weil es so normal ist. So vertraut. Dieselben Sprüche, dasselbe Getue. Veränderungen sind in Wiegen so gerne gesehen wie ein Schwarm Heuschrecken.

Keule runzelt die Stirn. »Hey, alles klar hier?« Er sieht zwischen Simon und mir hin und her.

Simon nickt und zuckt mit aufgesetzter Lässigkeit die Schultern. »Klar.« Gleichzeitig sieht er mich eindringlich an, als wollte er mich an unser Geheimnis erinnern.

Unser Geheimnis, Gott!

»Alex, du sagst ja gar nichts.«

Ich brauche erbärmliche zwei Versuche, um überhaupt den Mund aufzubekommen. Simons Blick brennt heißer als ein verdammtes Lagerfeuer. Und wieder steht diese Panik in seinen Augen.

Ich räuspere mich. »Was soll ich denn sagen?«

»Zum Beispiel, was ich für dich noch auf den Grill schmeißen soll. Bratwurst?«

Ich öffne den Mund, aber als nichts herauskommt, nicke ich nur. Bratwurst. Bratwurst wie in... Ich schüttle den Kopf. »Hast du noch Steaks?«

»Alter, was denn nun? Bratwurst oder Steak?«

»Steak. Definitiv Steak.« Ich meide Simons Blick, obwohl ich ihn immer noch auf mir spüre. In meinem Nacken kribbelt es.

»Hast du nicht vorhin noch nach Würstchen gekräht?«, fragt Dennis.

Ich fahre zu ihm herum. »Na und? Jetzt will ich eben Steak. Darf man jetzt nicht mal mehr seine Meinung ändern?«

Offenbar habe ich mich im Ton vergriffen, denn Dennis hebt beschwichtigend die Hände. »Mann, was ist denn mit dir los?«

»Nichts, verdammt. Was soll mit mir los sein?«

Jetzt hebt auch Keule die Augenbrauen und Simon tritt unruhig von einem Bein aufs andere. Scheißdreck. Reiß dich zusammen, Idiot.

»Entschuldigt. Stress im... Center«, sage ich lahm. »Ihr wisst schon. Frühling. Sommer. Sonne.« Ich mache eine unbestimmte Handbewegung und hoffe, dass sie wissen, was ich damit sagen will. Wenn ich mich allerdings in Keules Garten so umsehe und in Anbetracht der Tatsache, dass Dennis' Familie einen Gärtner beschäftigt und Simon im Dachgeschoss seiner Eltern wohnt – ohne Balkon –, wohl eher nicht.

»Na, dann kommt wieder mit nach hinten zu den anderen und schnappt euch ein Bier. Ich verstehe sowieso nicht, was ihr hier vorne macht.«

Falls das eine unausgesprochene Aufforderung von Keule gewesen sein soll, ihm unsere Abwesenheit zu erklären, gehen weder Simon noch ich darauf ein.

»Wir kommen gleich«, sagt Simon zu meinem Entsetzen, als gäbe es noch mehr Geheimnisse, die er mir unbedingt anvertrauen will. Als würde dieses nicht schon reichen.

»Ich bin schwul.«

»Eigentlich sind wir fertig.«

»Oh, na dann... okay.« Simon schafft es, nicht allzu verletzt auszusehen. Vielleicht wirkt es auch nur auf mich so. Aber, verdammte Axt, bevor er mir weitere Hiobsbotschaften mitteilen will, muss ich erst mal damit klarkommen.

»Sehr gut. Vanny fragt sich bestimmt schon, wo du bleibst.« Keule wippt vielsagend mit den Augenbrauen.

Ich runzle die Stirn. »Ich glaube, ich bin der Einzige, der sie so nennen darf.«

»Alter, du solltest der Einzige sein, der sie ficken darf. Wann steckst du ihr endlich einen Ring an den Finger?«

Stöhnend verdreht Dennis die Augen. »Jetzt hör doch mal auf, alle deine Freunde unter die Haube bringen zu wollen.«

»Außerdem ist das zwischen Vanny und mir nicht so.«

»Ja, sicher.« Keule macht eine abwinkende Handbewegung. »Das hab ich bei Maike auch immer gesagt.«

»Du bist Maike schon seit der Grundschule verfallen.«

»Schwachsinn.«

»Stimmt, ich vergaß. Seit dem Kindergarten.«

»Du hältst jetzt besser die Klappe, wenn du dein Steak noch willst.« Demonstrativ wendet sich Keule an Simon. »Willst du auch noch was?« Als Simon ablehnt, schüttelt Keule den Kopf. »Du haust aber noch nicht ab, oder?«

Ein schneller Blick zu mir. »Natürlich nicht.«

»Gut. Du siehst deine heimliche Affäre nämlich fast öfter als uns.«

Da Simon gerade weder etwas isst noch trinkt, muss er sich an seiner eigenen Spucke verschluckt haben, weil er plötzlich heftig zu husten anfängt. »Meine was...?«, fragt er mit tränenden Augen, während mir fast das Herz stehen bleibt.

Oh mein Gott, natürlich!

»Deine heimliche Affäre. Tu nicht so, wir haben dich längst durchschaut. Gestern warst du doch auch wieder in Hannover. Warum sonst fährst du am Wochenende ständig dahin?«

Um Sex zu haben. Mit Männern. Mit Schwulen, die es in Wiegen schlicht nicht gibt.

Die Antwort steht mir plötzlich genauso glasklar vor Augen wie das Bild eines nackten Simons, der sich vorbeugt, hinter ihm ein riesiger, schwarzer Schatten, der...

Ich beiße die Zähne zusammen und würge den Gedanken gewaltsam ab. Dabei muss ich irgendein Geräusch gemacht haben, denn Dennis mustert mich von oben bis unten, als würde er befürchten, dass ich gleich in die nächste Ecke kotze.

Simon hat sich wieder unter Kontrolle und wischt sich über die Augen. »Ich habe in Hannover studiert und kenne da noch viele Leute. Deshalb bin ich ständig dort.«

»Wer's glaubt.« Gutmütig klopft Keule Simon auf die Schulter. »Bring sie beim nächsten Mal einfach mit, okay? Wir beißen nicht.«

Nicht sie. Ihn. Einen Mann. Und sollte Simon tatsächlich tollkühn genug sein, seine Affäre beim nächsten Mal mitzubringen, wird garantiert zugebissen. In der Luft zerfetzt. Ein einziges Zerfleischen.

Allein die Vorstellung dreht mir den Magen um. Simon, der einen Mann als Freund zu einer unserer Partys mitbringt.

Auf einmal finde ich es gar nicht mehr so seltsam, dass er mich als Ersten eingeweiht hat. Seine Familie kommt dafür zweifellos nicht in Frage. Keule, Dennis und die anderen genauso wenig. Vielleicht noch Maike, wenn sie wegen ihrer zweiten Schwangerschaft nicht so unberechenbar wäre. Oder jemand vom Stall. Aber sonst... bleibe nur ich übrig.

Umgekehrt hätte ich mich vermutlich auch Simon als Erstes anvertraut.

Umgekehrt?!

»Hey, Alex, kommst du?«, ruft Keule von der Tür aus, an der er mit Simon zusammen auf mich wartet. Dennis ist schon verschwunden.

»Unterwegs.«

An der Tür lehnt sich Simon so dicht zu mir, dass sich meine Nackenhaare aufstellen. Der Duft seines Duschgels steigt mir in die Nase.

Albern. Total verrückt. Wir lehnen uns andauernd zueinander hin. Im Feucht & Fröhlich oder in Ritas Eckkneipe, weil die Musik und die Gespräche sonst so laut sind, genau wie auf Partys, egal ob im Garten oder im Keller. Wenn irgendjemand irgendetwas nicht mitbekommen soll. Scheiße, sogar im Restaurant.

Aber plötzlich fühlt sich das komisch an. Automatisch suche ich nach Keules Blick, aber der ist längst weitergegangen und brüllt irgendwen an, dass er die Finger von seinem Grill lassen soll.

»Du behältst es für dich, oder?« Simons Atem streift mein Gesicht.

Ich erschauere und weiche zurück. Keine Ahnung, ob ich mich bei seinem unsicheren Gesichtsausdruck angegriffen fühlen soll oder nicht. Ich habe ihn schon gedeckt, als wir mit dem Begriff Sexualität noch nicht mal etwas anzufangen gewusst haben.

»Was denkst du denn?«

»Ich...« Er beißt sich auf die Unterlippe und es ärgert mich, dass ich ihm sekundenlang auf den Mund starren muss. Ich habe schon mehrmals beobachtet, wie er damit Frauen geküsst hat. Vielleicht nicht so viele wie Dennis, aber genug, um nicht schwul zu sein. »Ich weiß nicht. Ich dachte, ich wäre mir sicher, aber –«

»Natürlich behalt ich's für mich, du Idiot«, blaffe ich leise.

Schon allein aus dem Grund, weil ich ganz bestimmt nicht derjenige sein will, der diese Neuigkeit im Dorf verbreitet.

 

 

Kapitel 2

 

Die gestrige Grillparty steckt mir noch ziemlich in den Knochen, als ich am nächsten Tag pünktlich zum Training am Rand des Fußballfelds stehe. Möglicherweise habe ich nach Simons Offenbarung einmal zu oft zur Kornflasche gegriffen, um mir großzügig nachzuschenken. Die schrillen Töne aus Berts Trillerpfeife bohren sich wie Speerspitzen direkt in mein Schmerzzentrum.

Zum Training der Unter-Zehnjährigen ist nicht viel los am Platz, das ändert sich erst zum Spiel der Älteren am Nachmittag. Hauptsächlich Eltern, die ihre Sprösslinge hergefahren haben und sich wahlweise die Zeit bei einem entspannten Plausch mit Freunden und Bekannten oder hitzigen Diskussionen über Spieltaktiken vertreiben.

Gisela verteilt schon mal Kaffee, Tee oder Kakao und belegte Brötchen aus der Vereinsküche heraus. Den einen oder anderen Vater sehe ich allerdings schon mit einer Flasche Pils in der Hand. Sonntagmorgen um zwanzig nach elf. Ich schüttle mich. Auf meiner Zunge liegt immer noch der pelzige Geschmack von zu viel Alkohol vom Vortag.

Wieder fährt mir Berts Trillerpfeife wie eine Kreissäge in den Schädel. »Nicht so lahm, Nils! Was ist denn heute mit deiner Beinarbeit los? Da ist meine Oma ja schneller unterwegs!«

Ich reibe mir die Schläfe. »Deine Oma ist sechsundneunzig und kommt ohne ihren Rollator keine zwei Meter weit.«

»Eben!« Unwirsch schüttelt Bert den Kopf und rauft sich die nur noch spärlich vorhandenen Haare. Hoffentlich sehe ich mit Ende vierzig nicht auch so kahl aus. »Aber er ist sonst flinker und mehr bei der Sache. Yasin spielt ihn ständig aus.«

»Weil Nils normalerweise links steht.«

»Hm?«

Ich deute zum Spielfeld. »Heute lässt du ihn auf der rechten Seite spielen, aber links ist er stärker.«

Bert runzelt die Stirn und greift nach seinem Notizbuch, um darin zu blättern.

Ich kenne ihn nur mit diesen Dingern im Gepäck. Dieses hier ist knallgrün und auf der Vorderseite prangt mit Edding geschrieben: U10 – 2018. Inzwischen muss er so viele davon zu Hause haben, dass er sich daraus eine Gartenhütte zimmern könnte. Vielleicht verfeuert er das Papier nach einem gewissen Zeitraum auch in seinem Kamin, da sich nach spätestens fünf Jahren sowieso keiner mehr für das Gekritzel eines Trainers von Hobbyfußballern interessiert. Ich habe noch nie nach meinen Aufzeichnungen gefragt – wozu? Rührt nur an unschönen Erinnerungen.

Da der SV Wiegen keine große Nummer im Fußball – oder überhaupt in irgendeiner Sportart – ist, bezweifle ich, dass schon mal jemand außer ihm einen Blick in die Bücher werfen wollte – abgesehen vielleicht von übereifrigen Eltern, die den nächsten Thomas Müller oder die nächste Alexandra Popp in ihrem Nachwuchs sehen.

»Du hast recht«, murmelt Bert, den Kopf über sein Notizbuch gebeugt, und tippt auf einen handschriftlichen Absatz voller Hieroglyphen, für deren Entzifferung ich einen Abschluss in Ägyptologie bräuchte. »Seine starke linke Seite haben wir recht schnell erkannt. Du.« Wieder tippt er auf den Absatz. »Entschuldige, du hast das erkannt und mich drauf hingewiesen.« Er kratzt sich am Kopf. »Wie konnte ich das vergessen?«

»Wahrscheinlich, weil Kevin heute krank ist, Ilias unbedingt in den Sturm wollte und du schnell umdisponieren musstest, bevor Fabians Mutter über die Bande und dir an die Gurgel springt, weil die Jungs zum Training hier sind und nicht, um sich die Beine in den Bauch zu stehen.«

»Ja. Wahrscheinlich.«

Er sieht zwischen seinem Notizbuch und dem Spielfeld hin und her, als versuche er, die Namen den entsprechenden Jungen zuzuordnen. Damit hat er schon immer Schwierigkeiten gehabt. Er schreibt manchmal so kryptische Beschreibungen wie Igelfrisur, rote Streifen am Schuh, Muttermal am Auge neben einen Namen – womit er mich monatelang von meinen Mitspielern unterschieden hat. Dann habe ich die Igelfrisur plötzlich doof gefunden und obendrein meine Schuhe gegen schwarze eingetauscht. Es hat zwei Monate gedauert, bis er mich nicht mehr Dennis genannt hat.

»Du hast echt ein Wahnsinnsgedächtnis.«

Ich schnaube. »Nur was gute Spieler, geeignete Positionen und geschickte Spielzüge angeht. Bei allem anderen ist mein Kopf wie ein Sieb. Frag Si... mon.«

Scheiße. Da denke ich zwei Minuten mal nicht an Simon und sein Schwulsein, seine Homosexualität, sein verdammtes Geheimnis, und dann das. Wie kann er einfach so schwul werden, verflucht?

»Im Ernst, ohne dich hätte ich schon das ein oder andere Mal den Überblick verloren. Du merkst dir die Namen der Kids und kennst ihre Vorzüge aus dem Effeff.«

»Dafür hast du ja das da.« Ich nicke auf sein Notizbuch.

»Das ist nicht dasselbe. Außerdem kommen die Jungs zuerst zu dir, wenn sie einen neuen Spielzug ausprobieren wollen.«

»Weil ich jünger bin als du und ihnen damit automatisch näher.«

»Blödsinn. Du könntest von jedem Einzelnen der Vater sein.« Nachdrücklich klappt er sein Notizbuch zu, wie um diese sinnlose Diskussion demonstrativ zu beenden. »Ich rede noch mal mit dem Verein.«

»Das musst du nicht. Es ist gut so, wie es ist, wirklich.«

Bert sieht mich mit schief gelegtem Kopf an. »Wir wissen beide, warum du das machst. Und wieso auch nicht? Aus Wiegen war noch nie jemand so nah an einer Profifußballkarriere dran wie du.« Sein Blick zuckt zu meinem Bein. »Dass du damals den Kreuzbandriss hattest –«

»Schon gut, Bert. War halt einfach Pech«, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Ich hasse es, darüber zu reden, was ich beinahe geschafft hätte. Bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahr habe ich nichts anderes als Fußball im Kopf gehabt.

Nicht, dass sich das bis heute großartig geändert hätte. Es ist nur etwas völlig anderes, ein paar Mal die Woche als klugscheißender Aushilfstrainer des SV Wiegen am Feldrand zu stehen, als mit einem einzigen Spiel Tausende Menschen in die HDI-Arena zu locken – und natürlich entsprechend zu verdienen.

»Ja, leider.« Bert seufzt. Wahrscheinlich hat er sich damals auch schon ausgemalt, als langjähriger Trainer des neuen Ausnahmetalents gefeiert zu werden.

Ausnahmetalent. Noch so ein Wort, bei dem sich mir die Zehennägel aufrollen. Dann einmal bescheuert das Knie gedreht und – zack! – hat der Scout ein anderes Ausnahmetalent bei Bremen aus dem Ärmel gezaubert. Chance vertan. Innerhalb einer einzigen Sekunde. Und ich bin so dumm gewesen, mich schon als neuen Shootingstar zu sehen.

»Aber das ändert nichts an den Tatsachen. Du hilfst mir schon so lange beim Training, dass der Verein dich ruhig langsam mal dafür entlohnen kann.«

Von welchem Geld denn? Der ganze Verein lebt von der ehrenamtlichen Mitarbeit seiner Mitglieder und fußballbegeisterter Eltern und Mitbürger. Für ein Kaff mit knapp fünftausend Einwohnern wie Wiegen ist es schon erstaunlich, dass sich der Verein Bert als Trainer leisten kann.

»Offiziell gibt es keine Stelle als Co-Trainer.«

»Und doch machst du das jetzt schon wie lange? Zehn Jahre?«

Ich zucke die Schultern. »Könnte hinkommen.«

»Siehst du. Du gehörst quasi zum Inventar. Die Eltern sehen dich als meinen offiziellen Assistenten.«

»Trotzdem«, beharre ich. »Lassen wir alles einfach so, wie es ist. Es funktioniert doch.« Und ich will auf keinen Fall riskieren, dass Bert mit seinen Nachfragen dafür sorgt, dass mich der Verein vom Platz fernhält, wenn ich anfange, für meine Beratungsleistungen Geld zu verlangen.

»Und wenn –«

»Bert. Nein. Der Fußballtraum ist abgehakt. Mir reicht es, anderweitig mitzuwirken.«

»Aber du würdest doch –«

Ein lauter Schmerzensschrei vom Spielfeld schneidet ihm das Wort ab. Wir fahren fast zeitgleich herum, während hinter uns bereits Yasins besorgter Vater über die Bande setzt.

Yasin und Nils liegen ineinander verkeilt am Boden und ich sehe Blut.

»Scheiße.« Bert lässt sein Notizbuch fallen und sprintet übers Feld.

Ich bleibe wie erstarrt stehen, als hätte man mich an Ort und Stelle am Boden festgenagelt. Mein Knie fängt an zu pochen, fast wie eine Reaktion auf das, was ich sehe. Der Kreuzbandriss ist zwar problemlos verheilt – auch wenn es mir damals wie eine Ewigkeit vorgekommen ist –, aber manchmal spüre ich eine Art Phantomschmerz, der mich in die Vergangenheit zurückkatapultiert und mir zeigt, wie sehr sich das Leben von einer Sekunde auf die andere verändern kann. Manchmal kann man etwas dafür, manchmal nicht.

Als sich Simon gestern vor mir geoutet hat, konnte ich nichts dafür. Trotzdem befürchte ich, dass das wieder so ein Moment gewesen ist, der alles verändern wird, ob ich will oder nicht.

Gott, Simon. Wie kannst du mit deinem Einser-Abi und dem super Uniabschluss bloß so dumm sein?

Ich schüttle den Gedanken ab und konzentriere mich auf das Geschehen auf dem Spielfeld. Zum Glück scheint Yasins Schrei größtenteils Theater gewesen zu sein, eventuell begleitet von Schock, als er das Blut gesehen hat. Als die beiden Jungs wieder stehen und Yasins Vater auf Türkisch auf seinen Sohn einredet, sieht das Ganze nur noch halb so schlimm aus. Eine Schürfwunde vermutlich, nichts Wildes.

»Wow, noch nicht mal Mittag und schon fließt Blut.«

Ich drehe mich um. Keule lehnt von der anderen Seite an der Bande, die Unterarme aufgestützt, und grinst mich breit an.

»Hey. Schon wieder fit?«

»Klar, Mann. Sogar schon den Grill sauber gemacht.«

»Ich dachte, du wolltest erst zum Spiel heute Nachmittag kommen?«

»Wollte ich auch. Aber Maike macht mich verrückt und Karl junior war quengelig.«

Bei der Erwähnung seines Sohnes runzle ich die Stirn und werfe einen Blick über die Bande. »Ich will dich ja nicht beunruhigen, aber wo steckt denn Karl junior?« Wäre nicht das erste Mal, dass er seinen Sohn vergisst – was vor allem anfangs im alkoholisierten Zustand vorgekommen ist. Nach fast fünf Jahren scheint er sich aber an Karl juniors Existenz gewöhnt zu haben – dachte ich zumindest.

»Staubt bei Gisela ein Salamibrötchen ab. Muss man ja ausnutzen, wenn's schon mal Fleisch gibt.«

»Nachher wird wie immer der Grill angeworfen, da gibt's noch genug Fleisch.«

»Was du nicht sagst.« Wieder so ein breites Grinsen und ich muss unwillkürlich lachen. Natürlich weiß Keule das.

»Papa, schau mal, wen ich gefunden hab!«, tönt es hinter Keules breiten Schultern und als er sich umdreht, sehe ich Karl junior mit Salamibrötchen in der einen und Simon an der anderen Hand auf uns zukommen.

Verdammt. Als sich Simons und mein Blick begegnen, durchzuckt es mich kurz.

Die Junisonne fängt sich in Simons hellen Haaren und seine blauen Augen lassen den Himmel wie einen blassen Fetzen aussehen. Gott, auch wenn ihm immer noch irgendwo der verstaubte Lehrer anhaftet, könnte er mit diesem Aussehen so viele Frauen rumkriegen. Blond, blauäugig, hochgewachsen, schlank. Nur ein Katzensprung vom Surferlook entfernt, bloß etwas streberhafter. Ein paar Stunden in der Sonne oder im Solarium, ein Surfbrett unterm Arm, ein Neoprenanzug und schon hätte er die freie Auswahl. Selbst Maike hatte eine kurze Phase, in der sie für Simon geschwärmt hat, zumindest hat Vanny das mal erzählt.

Stattdessen ist er schwul.

Und ich bin der Einzige, der davon weiß.

Zweifellos, sonst würde Keule ihm nicht so locker lässig zur Begrüßung auf die Schulter klopfen und Karl junior durch die Haare strubbeln, ohne auf die Hand seines Sohnes in Simons zu achten.

Verfluchter Mist. Ich kann nichts dagegen tun. Ich sehe förmlich vor mir, wie Keule Karl junior packt und Simon entreißt, bloß weg aus seiner Reichweite – auch wenn Keule sicher weiß, was das für ein blödsinniger Gedanke ist.

Oder?

Scheiße. Und aus genau diesem Grund hat er es mir zuerst erzählt – und nicht Keule oder irgendeinem anderen, dessen Kind in Simons Unterricht sitzt.

Verdammt. Warum zum Teufel ist Simon schwul? Er kann doch nicht wollen, plötzlich von allen Dorfbewohnern gemieden, wenn nicht gar verstoßen zu werden? Warum kann er sich nicht... keine Ahnung... zusammenreißen? Warum kann er nicht so tun, als ob? Bisher hat das doch wunderbar funktioniert.

»Alex, hallo? Jemand zu Hause?« Keule klopft mir gegen den Schädel, was meine Kopfschmerzen explodieren lässt. Wenigstens bewahrt er mich davor, Simon noch länger anzustarren. Kacke. Damit muss ich unbedingt aufhören, besonders jetzt.

Ich schubse Keules Arm weg. »Lass den Scheiß. Mir platzt gleich der Schädel.«

»Du hättest gestern nicht so viel Korn trinken sollen. Du hast die Flasche fast allein geleert. Und dann warst du plötzlich einfach weg.«

Eigentlich will ich Simon nicht ansehen. Eigentlich will ich ihn sogar ignorieren. Aber wenn er mich direkt mit diesem Lehrertonfall anspricht... Ich wende mich ihm zu und sehe ihn genervt an. Und wessen Schuld war das?

Simon hebt die Augenbrauen. Du gibst mir die Schuld dafür?

Ich nicke ruppig. Klar. Du bist schwul, verdammt! Wenn das kein Grund ist, sich abzuschießen...

»Weichei«, unterbricht Keule unseren stummen Dialog. »So viel Alkohol war's ja gar nicht.«

»Alkohol macht Birne hohl«, verkündet Karl junior strahlend. »Sagt Mama immer.«

»Tja, wenn Mama das sagt, stimmt es wohl.« Keule nickt zu Karl juniors Salamibrötchen. »Und wo ist meins?«

»Du kriegst keins. Das hat Gisi mir geschenkt! Und Simon wollte dafür bezahlen, aber Gisi wollte sein Geld nicht. Und deins auch nicht.« Karl junior kramt in seiner Hosentasche und drückt Keule einen Fünfeuroschein in die Hand, bevor seine Aufmerksamkeit zu einer Gruppe Jungs am Spielfeldrand schweift. »Ich geh zu Jannis rüber.« Er wartet gerade noch Keules Nicken ab, dann rast er auch schon davon.

»Ihr könnt sagen, was ihr wollt, aber den Charme hat er eindeutig von mir«, grinst Keule selbstgefällig, als er das Geld einsteckt. »Ihm liegen die Frauen jetzt schon zu Füßen.«

»Kein Wunder. Er sieht aus wie Maike und hat zum Glück rein gar nichts von dir Neandertaler«, stichelt Simon gutmütig.

Keules Gesichtszüge entgleisen für einen Moment. »Willst du damit sagen, er sieht aus wie ein Mädchen?«

Simons Augen weiten sich. »Was? Quatsch, nein!«

»Gut«, murrt Keule. »Das Weibische verwächst sich nämlich noch.«

»Er hat doch überhaupt nichts Weibisches –«

»Mach mir hier jetzt nicht den Oberlehrer. Sobald er ein paar Muskeln zugelegt hat, sieht er aus wie ein richtiger Mann.«

»Er ist ein richtiger Mann, Karl«, entgegnet Simon unerwartet scharf und für eine entsetzlich ewige Sekunde befürchte ich, dass er sich noch im selben Atemzug outen wird.

Oh Gott.

»Na ja«, sage ich schnell, bevor einer von beiden auf die Idee kommt, etwas Dummes zu tun, »eigentlich ist er im Moment vor allem ein Junge.«

Die dämliche Bemerkung schafft es tatsächlich, der Situation etwas von ihrer Anspannung zu nehmen. Keule schüttelt lachend den Kopf, während Simon sichtlich tief durchatmet und mir einen kurzen Blick zuwirft, den ich nicht deuten kann. Ist im Moment auch egal. Ich bin froh, als mein Herzschlag langsam wieder einsetzt.

»Scheiße, entschuldige, Alter.«

Simon winkt ab. »Schon okay.«

»Es ist nur, mein Vater hat letztens was Ähnliches gesagt, was ein riesiges Fass aufgemacht hat. Vergiss es einfach, ja?«

»Schon passiert.«

»Gut. Nicht, dass du's an dem Kleinen auslässt, wenn er nächstes Jahr eingeschult wird.«

»Ich war nicht derjenige, der in der Schule andere drangsaliert hat.«

Punkt für Simon. Wahrscheinlich ist jeder in Wiegen mal auf die eine oder andere Art von Keule schikaniert worden. Unglaublich, dass die meisten inzwischen trotzdem mit ihm befreundet sind – inklusive Simon.

»Das ist doch Ewigkeiten her. Außerdem redet er jetzt schon ständig davon, bald in deiner Klasse zu sitzen und bei dir Mathe zu lernen. Mach ihm das nicht kaputt.«

Simons Gesichtsausdruck wird weich. »Du kennst mich schlecht, wenn du das wirklich glaubst.«

»Stimmt.« Keule nickt zum Vereinsheim rüber. »Noch jemand was zu trinken? Ich geb einen aus.«

»Aber kein Bier«, sage ich. »Cola.«

Simon nimmt das Gleiche, dann macht sich Keule auf den Weg, offenbar in der selbstverständlichen Gewissheit, dass etliche Eltern sowie Simon und ich schon ein Auge auf seinen Sohn haben werden.

Ich atme tief durch und fahre mir durch die Haare. Simon blickt Keule nach. Obwohl er Keules Entschuldigung angenommen hat und seinen Ärger ganz sicher nicht an Karl junior auslassen wird, kann ich beinahe sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitet. Keules Bemerkung nagt an ihm. An seiner Schläfe pocht unverkennbar diese winzige Ader, mit der ich schon vor Jahren Bekanntschaft gemacht habe.

Obwohl sich sein Unmut nicht gegen mich richtet, bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Wie ein besonders guter Freund habe ich mich seit gestern nicht verhalten.

Ich räuspere mich. »Ähm, hör mal, wegen gestern... war doof, einfach abzuhauen, aber... ich dachte, bevor ich noch mehr trinke« – oder du mir noch mehr Scheiß anvertrauen willst – »und irgendwas sage, das...«

Als Simon mir das Gesicht zuwendet, klappe ich den Mund zu und höre auf, so erbärmlich herumzustammeln.

»Irgendwie dachte ich, du reagierst anders.«

Seine Worte treffen mich wie eine Ladung Eiswasser. »Aha. Und warum dachtest du das?«

In derselben Sekunde bereue ich, gefragt zu haben. Ich bin nicht sicher, ob ich seine Antwort darauf hören will. Wir haben nie über die Sache damals auf dem Heuboden gesprochen. Oder über die anderen Kleinigkeiten. Und das ist auch gut so. Jetzt, nach seinem Outing, brauchen wir erst recht nicht damit anzufangen. Das ist abgehakt. Zumindest ist es bis gestern für mich abgehakt gewesen.

Nein, ist es immer noch. Immer noch so was von abgehakt.

»Wir sind befreundet, Alex.«

Sehr diplomatisch ausgedrückt. Was alles oder nichts heißen kann.

»Du kennst mich. Und ich kenne dich.«

Ich verkrampfe mich und verschränke die Arme. »Und was zum Teufel soll das jetzt wieder heißen?«

»Nichts.«

»Dann willst du mir nichts unterstellen?«

»Was denn unterstellen? Ich will damit nur sagen, dass ich immer noch derselbe bin wie letzte Woche.«

»Derselbe, nur in schwul.«

Simon verspannt sich minimal und sieht sich kurz um, ob jemand in Hörweite steht. Tja, Pech. Er hat es ja so gewollt. Immer auf der Hut, immer misstrauisch, immer angespannt. In der Schule war Simon schon beschissen darin, bei Klausuren zu bescheißen, weil man ihm an der Nasenspitze ansehen konnte, wenn er irgendwo einen Spicker versteckt hatte – nicht, dass er das nötig gehabt hätte.

Aber das hier... so ein gewaltiges Geheimnis zu bewahren... wie kann er sich freiwillig für so ein Leben entscheiden? Oder will er es gar nicht für sich behalten und sich jetzt Stück für Stück offenbaren?

Das wäre ja noch schlimmer.

»Warum so nervös?«, frage ich. »Ich weiß doch schon Bescheid.«

»Die anderen aber noch nicht.«

Mir fällt ein Stein vom Herzen. »Dann willst du es ihnen gar nicht sagen?«

Er zögert. »Doch. Nur nicht... sofort. Und in meinem Tempo.«

Warum musstest du es mir dann sagen?!, brüllt es in meinem Kopf. Warum musst du mich da mit reinziehen?! Stattdessen schlucke ich es runter und frage: »Warum lässt du es nicht einfach?«

Simon runzelt die Stirn. »Was?«

»Warum behältst du es nicht einfach für dich? Warum tust du nicht einfach so, als wärst du...« Ich beiße mir auf die Unterlippe. Um ein Haar hätte ich normal gesagt.

»Hetero?«, hilft mir Simon leise auf die Sprünge.

»Ja.«

»Weil ich es nicht bin. Weil ich es nicht kann

»Nicht mehr, meinst du.«

Er sieht mich einen Moment zu lange an. »Wenn du es so ausdrücken willst.«

Sturer Esel. Bisher hat es ihn auch nicht umgebracht. Apropos umbringen. »Damit tust du dir keinen Gefallen. In Wiegen gibt es keine Schwulen.«

»Das ist Blödsinn und das weißt du auch.«

»Ach ja? Dann willst du mit dem alten Pervers... mit dem alten Spinner Sacher und dem Selbstmörder Lukas in einen Topf geworfen werden?«

Simon legt eine Hand auf die Bande. Wenn die uns nicht trennen würde, würden wir ziemlich nah beieinanderstehen. Verdächtig nah. Wie zwei Menschen, die ein schmutziges Geheimnis teilen.

In meinem Nacken prickelt es. Unauffällig versuche ich, etwas Abstand zwischen uns zu bringen. Dem kurzen Aufblitzen in Simons Augen nach zu urteilen, stelle ich mich nicht sonderlich geschickt an.

»Sieh mich nicht so an. Ich versuche nur, dich vor einem Fehler zu bewahren.«

Simon hebt die Augenbrauen. »Dem Fehler, zu mir selbst zu stehen und ich selbst zu sein? Solltest du mich nicht eher dazu ermutigen?«

Ich beiße die Zähne zusammen. Nicht, wenn es bedeutet, schwul zu sein und damit hausieren zu gehen. Das verzeiht und vergisst in Wiegen niemand. Die hässliche Scheidung von Vannys Eltern ist ab und zu immer noch Gesprächsthema auf dem Wochenmarkt oder bei irgendwelchen Kaffeekränzchen – und die ist fünfzehn Jahre her!

Simon macht eine knappe Handbewegung, die das Fußballfeld und den Trubel drumherum einschließt, auch wenn es am Nachmittag noch voller werden wird. »Vielleicht sollten wir später in Ruhe darüber reden.«

Oh Gott, bloß nicht. »Als du das letzte Mal mit mir reden wolltest, ist das nicht besonders gut für mich ausgegangen.«

Das bringt ihn tatsächlich zum Grinsen. Prompt kribbelt es in meinem Bauch. Er hat schlicht ein schönes Lächeln, das ihn weniger streng aussehen lässt und nicht, als würde er gleich einen Eintrag ins Klassenbuch schreiben. Das habe ich schon immer gesagt – und Vanny und Maike auch. Deshalb habe nicht nur ich es unverständlich gefunden, wenn er längere Zeit Single geblieben ist oder nicht mal zum Spaß eine Frau aufreißen wollte.

Bei Georg Sacher hat es damals genauso angefangen, wenn man den Erzählungen meiner Mutter Glauben schenken kann.

»Das ist nicht witzig. Du hast mich gestern echt überrumpelt. Damit muss ich erst mal klarkommen.«

»Ach so. Du musst damit klarkommen.«

Okay, das war bescheuert. »Du weißt genau, wie ich das meine.«

»Stimmt. Und du hast recht. Vielleicht habe ich dich gestern etwas überrumpelt.«

»Etwas? Versuch's mit ziemlich.«

Er grinst schwach. »Okay, erwischt. Das war Absicht.«

»Warum? Kam dir die Neuigkeit allein nicht spektakulär genug vor?«

Simon sieht mich einen Moment lang schweigend an, entscheidet sich dann aber doch, zu antworten. »Weil ich Angst hatte. Vor...« Er macht eine vage Geste. »... deiner Reaktion.«

Wieder meldet sich mein schlechtes Gewissen, aber ich versuche, es beiseitezuschieben. »Wenn du Angst vor meiner Reaktion hattest, warum hast du es mir dann überhaupt erzählt? Noch dazu bei Keule? Immerhin waren so ziemlich alle da. Ich hätte die Bombe auch einfach gleich platzen lassen können.«

Er weicht meinem Blick aus und knibbelt an der Bande herum. »Hättest du. Aber ich habe gehofft, dass du es nicht tust.«

Womit er zweifellos richtig gelegen hat. Dazu war ich viel zu geschockt. Trotzdem gefällt mir nicht, was da unterschwellig schon wieder mitschwingt. Er mag sich jetzt zwar für ein Outing entschieden haben, aber ich habe Simon schon vor langer Zeit gesagt... Ich werde jetzt nicht anfangen, über Möglichkeiten nachzudenken, die... Verdammt. Simons Outing ändert gar nichts. Punkt.

»Außerdem...« Simon seufzt und sieht mich wieder an. In seinen Augen flackert etwas auf, zu kurz, als dass ich es benennen könnte, aber etwas in mir reagiert darauf. Scheiße, nein, nicht etwas. Mein verfluchtes Herz, das in meiner Brust flattert. »Wenn du mich verraten hättest, wäre mir die Reaktion der anderen egal gewesen.«

Ich starre ihn an. Verdammte Axt. Er kann doch nicht solche Sachen sagen. Nicht hier. Überhaupt!

Sein Blick schweift an mir vorbei. Ich nehme den Ausweg, den er mir bietet, nur zu gerne an, und drehe mich um. Der Tumult um Yasin und Nils hat sich aufgelöst, die beiden Jungs reichen sich die Hände und Yasins Vater kehrt zusammen mit Bert zum Spielfeldrand zurück.

»Ich würde gerne noch mal in Ruhe mit dir darüber sprechen«, wiederholt Simon. »Hast du nachher Zeit? Nach dem Spiel? Ich könnte zu dir kommen.«

Mir schwirrt der Kopf. Durch meine Gedanken kreisen noch immer seine Worte, dass ihm meine Reaktion von allen am wichtigsten ist. Ich will gar nicht zu genau darüber nachdenken, was das bedeutet. Wahrscheinlich hat er das nur so dahergesagt, weil ich sein bester Freund bin. Genau. So was bespricht man nun mal mit seinem besten Freund.

Auch wenn ich es nicht hören will. Schon gar nicht von ihm. Also muss ich ablehnen.

Stattdessen zögere ich.

Oh Gott, du Vollidiot! Sag doch einfach Nein!

»Alex?«

»Ja, okay, meinetwegen. Aber ich kann hier nicht sofort weg. Meistens wollen die Leute noch über das Spiel fachsimpeln.«

Abgesehen davon verschwinde ich nie sofort nach einem Spiel. Sähe komisch aus, wenn ich plötzlich damit anfange, nur um mich mit Simon in meiner Wohnung zu treffen – an so einem schön sonnigen Sonntag, während fast ganz Wiegen den Sportplatz bevölkert, Bratwürstchen isst und Bier trinkt.

»Okay, kein Problem. Gegen acht?«

Ich nicke gerade, als Bert und Yasins Vater uns erreichen. Letzterer steigt wieder über die Bande, während sich Bert kopfschüttelnd sein Notizbuch schnappt und unleserlich hineinkritzelt.

Alles wie immer.

Trotzdem fühle ich mich, als würde es mir auf der Stirn geschrieben stehen, worüber Simon und ich gerade noch gesprochen haben.

Ich wende mich von Simon ab, trete neben Bert und atme ein paar Mal tief durch. »Und?«, frage ich dann möglichst beiläufig. »Wie schlimm ist es?«

»Ach.« Bert winkt ab. »Halb so wild. Nur ein Kratzer. Den hat er gleich wieder vergessen.«

»Klingt doch gut«, sage ich lahm und sehe über die Schulter zurück zu Simon, dem Keule gerade eine Cola in die Hand drückt.

Zu dumm, dass man manche Dinge nicht einfach so wieder vergessen kann.

Kapitel 3

 

Als es um kurz nach acht an meiner Wohnungstür klingelt, fangen meine Hände an zu schwitzen wie bei einem fehlgeleiteten pawlowschen Reflex. Ekelhaft. Ich wische sie an meiner Jeans trocken und für den Bruchteil einer Sekunde möchte ich so tun, als wäre ich nicht da. Am Fußballplatz versackt. Mit Keule, Ansgar, Dennis und dem halben Dorf. Wäre nicht das erste Mal, vor allem nach einem 1:0-Sieg gegen den SV Mühlstein.

Nur dass Simon sonst mit uns dort versackt – und nicht vor meiner Tür steht, weil er mit mir über seine neu entdeckte Homosexualität reden will.

Neu entdeckt? Ich schnaube.

Als es noch mal klingelt, gebe ich mir einen Ruck. Ich kann unmöglich so ein Arsch sein, der einem Treffen erst zustimmt, nur um Simon dann im Regen stehen zu lassen. Zumal sich schneller rumsprechen würde, dass ich nicht am Fußballplatz war, als die Tatsache, dass Gisela den Weg zum Vereinsheim wieder einmal dazu genutzt hat, am Sonntag ihren Glasmüll zu entsorgen. Ausgerechnet am heiligen Sonntag!

Bevor ich die Tür öffne, fahre ich mir ein letztes Mal durch die Haare – und ärgere mich im selben Moment darüber. Das ist nicht mein erstes Date – das ist überhaupt kein Date!

»Hey«, begrüße ich Simon betont lässig, nachdem ich die Tür geöffnet habe. Dann fällt mein Blick auf die beiden knallbunten Tüten in seiner Hand. »Oh mein Gott, was......« Ich lehne mich vor, um die Aufschriften besser erkennen zu können, und mein Herz macht einen freudigen Hüpfer. »Scharfer Senf und Kebab? Ich hatte noch nie Kebabgeschmack.«

»Ich weiß.« Grinsend drückt mir Simon die beiden Chipstüten in die Hand. »So wie der Rest der Welt wahrscheinlich auch nicht, weil das eklig ist.«

»Gar nicht! Sonst würde es die Geschmacksrichtung nicht geben.«

Dummerweise gibt es sie auch nicht. Zumindest nicht in den Supermärkten im näheren Umkreis, in denen BBQ schon als exotische Chipssorte gilt. Stattdessen sind die Regale mit so langweiligen Geschmäckern wie Paprika, Meersalz und Sour Cream befüllt.

»Danke.« Erst als ich ihm schon um den Hals hänge, fällt mir auf, was ich da tue. Simons schlanker Körper drückt sich an meinen, vom Bauch bis zur Brust, und ich spüre seine Hand auf meinem Rücken.

Ich verkrampfe mich und lasse Simon so hastig los, dass es ihm auffallen muss. In seinen Augen flackert es kurz. Verdammt. Vorher waren Umarmungen auch okay. Vorher habe ich nicht mal richtig gemerkt, wenn wir uns umarmt haben. Aber ein kleines Ich bin schwul später und es eröffnen sich plötzlich Möglichkeiten, die es in den letzten zehn Jahren schlicht nicht gab.

Gibt es immer noch nicht. Du bist genauso hetero wie jeder andere in Wiegen.

Abgesehen von Simon. Ich räuspere mich und deute hinter mich. »Ähm, komm rein. Ich mach mal die Kebabsorte auf, okay?«

»Tu dir keinen Zwang an.«

Ich flüchte in die Küche und überlasse es Simon, die Tür zu schließen und den Weg ins Wohnzimmer zu finden. Er kennt sich hier aus und hat sogar beim Umzug mitgeholfen. Ich kann nicht zählen, wie oft er schon in meiner Wohnung gewesen ist. Wie oft er schon schwul in meiner Wohnung gewesen ist.

Kopfschüttelnd suche ich nach einer Schüssel und schütte die Kebab-Chips hinein. Normalerweise würde ich die einfach aus der Tüte essen, aber dann könnte ich nicht erklären, warum ich in die Küche geflohen bin.

»Ähm... willst du was trinken?«, rufe ich laut.

»Ich nehme ein Bier, wenn du eins dahast.«

Ich zucke zusammen und drehe mich zur Tür um, in der Simon lehnt.

»Klar.« Ich atme aus. Verdammt, Alex, reiß dich zusammen. Ich deute auf die Chips. »Noch mal danke, echt. Ich wüsste nicht, wie ich ohne dich an die Dinger kommen sollte.«

»Vermutlich über Amazon.«

»Die haben auch nicht unbedingt abgefahrene Sorten. Diese Marke führen sie zum Beispiel nicht.« Ich nicke zu den Chipstüten, während ich zwei Bier aus dem Kühlschrank hole. Lokale Brauerei drüben in Großwiegen. Ein alteingesessenes Familienunternehmen, wie fast alle Geschäfte hier in der Gegend.

»Verkauft sich wahrscheinlich nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es außer dir noch andere Abnehmer gibt.«

»Haha.« Ich öffne die beiden Bierflaschen und reiche ihm eine. »Hast du die wieder aus Hannover mitge...« Ich breche ab, als mir durch den Kopf schießt, warum Simon vermutlich so oft am Wochenende in der Großstadt ist.

Wegen Sex. Mit Männern. Um zu ficken. Oder sich ficken zu lassen?

Es ist zwar schon eine Weile her, dass ich diesbezüglich gegoogelt habe, aber plötzlich stehen mir die Webseiten so deutlich vor Augen wie Simon in diesem Moment. Die Bilder, die Pornos, die Abbildungen, weil es eine Zeit gegeben hat, in der ich unbedingt wissen wollte, wie es funktioniert. Vorzugsweise mit Simon.

Allein bei der Erinnerung glüht mein Gesicht wie eine zweite Sonne. Ich muss den Blick abwenden und starre stattdessen auf die Schale voller Chips. In meinem Bauch kribbelt es, was rein gar nichts mit meinem Appetit auf diese irre Sorte zu tun hat.

Gott, was passiert hier? So habe ich mich ewig nicht in Simons Nähe gefühlt. Es fühlt sich an, als wären mit seinem Outing gleichzeitig mein schlimmster Albtraum und mein sehnlichster Wunsch in Erfüllung gegangen.

Sehnlichster Wunsch? Oh, verdammt noch mal, nein! Das ist vorbei!

»Alex?«

Ich reiße den Kopf hoch und starre ihn an. »Ja. Hier. Alles gut.«

Er sieht mich lange an, als wüsste er genau, was für ein Porno sich beinahe in meinem Schädel abgespielt hätte. »Gehen wir ins Wohnzimmer.«

»Ja, ich...« ... bin mir echt nicht sicher, ob ich ihm gerade zuhören kann. »... komme. Ins Wohnzimmer, meine ich.«

Er legt den Kopf schief. »Das war selbst für dich flach.«

»Hm.«

»Denk an die Chips.«

Scheiße. Ich gehe die zwei Schritte zurück und schnappe mir die Schüssel von der Anrichte.

Im Wohnzimmer lässt sich Simon auf einer Seite der u-förmigen Couch nieder und ich mich mit der Schüssel auf dem Schoß auf der anderen. Keine unübliche Sitzordnung. Zum Unterhalten ist es so angenehmer. Allerdings haben wir hier auch schon dicht gedrängt nebeneinander auf dem Polster gesessen und Bundesliga geschaut, Keule, Dennis und die anderen um uns herum. Mehr Körperkontakt gibt's nur in der einzigen – und winzigen – Wiegener Dorfdisco Bunker, bei der der Name Programm ist.

Ich greife mir eine Handvoll Chips und schaufle sie mir in den Mund.

»Und?«

»Hm?«

»Wie schmecken sie?«

Oh. Die Bewegung ist eher ein Reflex gewesen. Ich zwinge mich, für einen Moment nicht über Simon nachzudenken, und aktiviere meine Geschmacksknospen, während ich langsam kaue. Immerhin konnte ich die Geschmacksrichtung auf diesen Tüten bereits lesen. Manchmal bringt er mir welche mit asiatischen Schriftzeichen mit, bei denen ich auf die Abbildung angewiesen bin.

»Schmeckt... interessant. Würzig, fleischig. Tatsächlich ein bisschen wie ein Kebab.«

Simon schüttelt sich. »Fleischig? Bei der Beschreibung wird dir nicht schlecht?«

»Ich mag Kebab.« Auch wenn man für einen wirklich guten bis nach Großwiegen fahren muss. Immerhin knapp fünfundzwanzig Kilometer. Ist schon Aufwand.

»Ich auch. Aber du isst gerade Chips.«

»Na und? Das macht es doch umso besser.«

Simon lacht. »Okay. Beim nächsten Mal muss ich also überhaupt keine Rücksicht auf guten Geschmack nehmen. Vielleicht bringe ich dir dann mal eine süße Kreuzung mit. Chips mit Blaubeer- oder Kiwigeschmack.«

Ich reiße die Augen auf. »So was gibt's?«

»Ja. Hab ich mit eigenen Augen gesehen.«

»Mann, wieso leben wir nicht in einer Großstadt?«

Simon seufzt. »Das frage ich mich auch immer öfter.«

Innerhalb von zwei Herzschlägen kippt die Stimmung. Ich weiß genau, was er meint. In einer Großstadt zählt es heutzutage fast zum guten Ton, anders oder zumindest ein bisschen besonders zu sein. In Wiegen ist es ein Todesurteil, sich von der Masse abzuheben – im wahrsten Sinne des Wortes bei Lukas, im übertragenen Sinn bei Georg Sacher. Gesellschaftlich gesehen ist er so gut wie tot. Dass er dazu noch so abgeschieden lebt und etwas verschroben ist, hilft seinem Ruf auch nicht unbedingt weiter.

Auch bei Lukas waren die Leute unterm Strich weniger entsetzt über seinen Selbstmord als über seine sexuelle Orientierung, die er in seinem Abschiedsbrief offenbart hat.

Ich weiß noch, wie fassungslos meine Mutter gewesen ist. »Das mit diesen Schwulen greift immer stärker um sich. Jetzt ist sogar schon die Homo-Ehe erlaubt! Kein Wunder, dass das einem jungen, labilen Mann solche Flausen in den Kopf setzt. Die arme Brigitte. Was hat sie als Mutter nur falsch gemacht?«

Wenn man in Wiegen nicht dazugehört, ist man im besten Fall ein Außenseiter, im schlimmsten Fall ein Aussätziger.

»Und trotzdem willst du dich outen und nicht alles beim Alten belassen.«

»Ja.«

»Obwohl du weißt, wie es damals bei Lukas war. Obwohl du weißt, wie Georg Sacher angesehen wird, wenn man ihm zufällig mal im Supermarkt begegnet.«

Simon sieht mich so eindringlich an, dass es mir heiß über den Rücken läuft. »Du willst es mir schon wieder ausreden.«

»Weil es dumm ist, Simon.« Um meine Worte zu unterstreichen, knalle ich die Chipsschüssel auf den Tisch. Was glaubt er denn, warum ich vor so vielen Jahren diese Entscheidung getroffen habe? Und mir geht es wunderbar damit. »Du hattest doch Freundinnen. Warum glaubst du, dass dir das plötzlich nicht mehr reicht?«

»Weil es mir eben nicht reicht.«

»Das ist keine Begründung.«

»Doch. Das bin ich nicht. Ich bin nicht hetero, ich bin schwul. Ich mag Männer.«

Ich schüttle den Kopf. »Du warst mit Carolina auf dem Abiball.« Und genau wie alle anderen habe ich damals nicht verstanden, warum es danach zwischen den beiden nicht lange gehalten hat.

Simon seufzt. »Das ist ewig her.«

»Aber du hattest Sex mit Frauen. Wir haben darüber gesprochen. Über dein erstes Mal, mein erstes Mal... Scheiße, sogar über Keules erstes Mal, obwohl das wirklich niemand so detailliert wissen wollte.«

»Na und? Irgendwann hatten wir alle Sex mit Frauen. Du warst sogar mit einer zusammen, als du mich geküsst hast.«

Schlagartig wird mir sämtliche Luft aus den Lungen gepresst, als hätte jemand ein Loch in einen Ballon gepikst. Ich ringe nach Atem. Wir haben nie – nie – darüber gesprochen. Und jetzt führt er es als Argument an für... was?

»Ich hab dich nicht...«, ächze ich, aber da winkt Simon schon ab.

»Wahrscheinlich kannst du dich gar nicht mehr daran erinnern.«

Ich fühle mich immer noch, als würde ich durch einen löchrigen Strohhalm atmen. Und ob ich mich erinnern kann. An beide Male, obwohl ich zumindest bei einem davon nicht nüchtern war. Das werde ich ihm aber bestimmt nicht verraten.

»Stimmt. Keine Ahnung, was du meinst.« Ich greife nach meinem Bier wie nach einem Rettungsseil und trinke in großzügigen Schlucken. Meine Kehle macht der Schotterpiste hinter dem Sportplatz der Schule Konkurrenz. »Ich soll dich geküsst haben?« Ich mache ein Geräusch, das allein die Vorstellung ins Lächerliche ziehen soll, in meinen Ohren klingt es jedoch wie ein hysterisches Lachen.

»War mir schon klar, dass du das nicht mehr weißt. Ist auch nicht so wichtig.«

Wenn es nicht so wichtig ist, hätte er es gar nicht erst ansprechen sollen. Warum weiß er das überhaupt noch?

»Was ich damit sagen will, ist, dass es nichts ändert, ob ich schon mal was mit Frauen hatte oder nicht. Ich bin schwul.«

Hör auf, das andauernd zu sagen! »Aber warum...« Ich räuspere mich, während ich gleichzeitig unauffällig versuche, Luft in meine Lungen zu pumpen. »Warum kannst du nicht einfach weiter was mit Frauen haben? Mit Jasmin und Caro hat es doch auch geklappt.«

Er schüttelt den Kopf. »Das war aus der Not heraus.«

Weil es in Wiegen keine schwulen Männer gibt. Schon gar keine schwulen Teenager. Ein Grund, warum sich Lukas mit siebzehn umgebracht hat. Trotzdem kann ich das nicht so einfach akzeptieren. »Vielleicht hattest du mit den beiden nur Pech. Vielleicht hat das zwischen euch... einfach nicht gepasst. Vielleicht hast du –«

»... die Richtige nur noch nicht kennengelernt? Du weißt, dass das der dümmste Spruch der Welt ist, oder?«

»Aber es könnte doch sein«, beharre ich.

»Nein.«

»Ich hab mit Vanny auch mehr Spaß als mit Mia vorher.«

Seufzend verdreht er die Augen Richtung Decke. »Es liegt weder an Jasmin noch an Caro. Es liegt daran, dass sie Frauen sind.«

»Aber vielleicht probierst du es einfach noch mal mit einer anderen.«

»Nein.«

Sein kategorisches Nein fängt an, mich aufzuregen. Offensichtlich will er es nicht einmal versuchen. »Mit einer, die mehr Erfahrung hat. Glaub mir, das kann echt einen Unterschied machen.«

»Bei mir nicht. Als ich das erste Mal mit einem Mann geschlafen habe, hat es sich angefühlt, als würde ein Puzzleteil an seinen Platz fallen und das ganze Bild auf einmal Sinn ergeben. Es hat sich richtig angefühlt, während Frauen… na ja, mich nicht anmachen.«

Meine Hand verkrampft sich um die Bierflasche. Seine Worte beschwören wieder einen gesichtslosen Schatten und einen nackten Simon vor meinem geistigen Auge herauf – und, ja, dummerweise weiß ich ganz genau, wie Simon nackt aussieht! Diesmal gehen die beiden jedoch deutlich zärtlicher miteinander um. Der Schatten zieht Simon in seine Arme und küsst ihn innig.

Unwirsch vertreibe ich die Bilder aus meinem Kopf. »Aber du kannst doch nicht plötzlich schwul werden!«

»Niemand hat etwas von plötzlich gesagt, Alex.«

Verständnislos sehe ich ihn an. Dann presst jemand meinen Brustkorb zusammen und wieder entweicht mir sämtliche Luft.

»Ich bin nicht plötzlich schwul. Ich weiß es schon eine ganze Weile. Deswegen will ich es auch nicht länger für mich behalten. Ich will nicht länger verstecken, wer ich bin.«

Eine Weile? Eine Weile?! Etwas Schlimmeres hätte er nicht sagen können. »Definiere Weile«, krächze ich, als sich abermals unsere halbe Jugend vor meinem geistigen Auge abspielt.

Wir beide Schulter an Schulter, zockend vor der Playstation. Im Siegestaumel, wenn wir gegen den SV Mühlstein gewonnen haben. Raufend am Seeufer. Betrunken Arm in Arm am Lagerfeuer. Dicht aneinandergedrängt, als der Zeltplatz von einem sintflutartigen Gewitter heimgesucht worden ist. Flüsternd in der Dunkelheit, wenn ich bei ihm übernachtet habe oder er bei mir. Mein Zusammenbruch, als man mir gesagt hat, dass mein Traum von der Profifußballkarriere ausgeträumt ist.

»Einige Jahre.«

»Seit wann? Wann hast du es herausgefunden?«

»Das lässt sich nicht an einem bestimmten Moment festmachen.«

Er bringt mich um. Als mich die Bilder unaufhörlich überrollen, umklammere ich die Bierflasche so fest, dass ich mich wundere, dass sie nicht in meiner Hand zerspringt. »Wann, Simon?«

Dennis' sechzehnter Geburtstag. Zu viel harter Alkohol für pubertierende Halbstarke. Flaschendrehen.

Gut Halberg. Simons kleiner Fuchswallach. Seine Hand auf meiner auf dem Striegel.

Nachhilfe. Simons Finger in meinen Haaren. Ein Lachen. Ein Witz. Herzrasen.

Er zuckt die Schultern, als ginge es um die Frage nach Erdnüssen oder Salzstangen. »Weiß nicht. Das erste Mal kam mir der Gedanke vielleicht mit vierzehn, fünfzehn.«

Vierzehn, fünfzehn. Ich starre ihn an. Mein Mund ist staubtrocken. »Das war, bevor...« Ich klappe den Mund zu. Bevor wir uns geküsst haben. Er hat schon geglaubt, schwul zu sein, bevor wir uns geküsst haben. Und trotzdem hat er mich geküsst.

Und wann hast du es gewusst?

Ich merke erst, dass ich Simon immer noch anstarre, als er unter meinem Blick unruhig auf dem Sofa herumrutscht. Dann beugt er sich plötzlich vor, greift nach seiner Flasche und trinkt. Als er sie halb geleert hat, sagt er: »Ich weiß, was du jetzt denkst.«

»Das bezweifle ich.«

»Und ja«, fährt er fort, als hätte ich gar nichts gesagt, »vielleicht hast du dazu beigetragen, dass ich mir sicher bin.«

Gott. Es wird immer schlimmer. Ich reibe mir über die Stirn und versuche, es nicht so aussehen zu lassen, als wollte ich krampfhaft seinem Blick ausweichen.

»Unbewusst, natürlich. Du kannst dich ja eh nicht mehr daran erinnern.«

Falls in diesen scheinbar harmlosen Worten auch nur die leiseste Hoffnung lauert, muss ich sie sofort im Keim ersticken.

»Kann ich auch nicht.« Ich atme noch mal tief durch, nehme die Hand runter und sehe ihn wieder an. »Ich bin nicht schwul.«

Ha. Wenigstens ist das nicht gelogen, denn es klingt verdammt überzeugend.

Simon zuckt mit keiner Wimper. »Das weiß ich. Ich habe es dir nicht erzählt, weil ich glaube, dass du schwul bist, sondern weil du mein bester Freund bist.«

Ich nicke knapp. »Gut.« Ich setze die Bierflasche an und trinke einen schnellen Schluck, um meine Kehle zu befeuchten, bevor ich es mir wieder anders überlege. Eigentlich könnten wir das Gespräch an dieser Stelle beenden. Das wäre sogar besser. Ich muss es nicht wissen. Trotzdem...

»Stehst du auf mich?«

Simon blinzelt mich an. »Wie bitte?«

»Das ist eine einfache Frage.«

»Du glaubst, dass ich es dir deshalb erzählt habe?« Er schnaubt. »Stell dir vor, ich hätte es Keule erzählt. Oder Ansgar. Glaubst du, ich würde danach mit denen im Wohnzimmer sitzen und Bier trinken? Das hoffe ich zwar, aber die Chancen stehen gut, dass sie erst mal auf Abstand gehen würden. Ich wollte es mir für den Anfang leicht machen.«

Merkt er eigentlich, dass er die verdammte Frage nicht beantwortet? »Du stehst also nicht auf mich?«

»Nur weil ich schwul bin, stehe ich nicht automatisch auf jeden Mann in meiner Nähe.«

Immer noch keine konkrete Antwort. »Das heißt also Nein.«

Ich habe mich geirrt. Ich muss es doch wissen. Und die Antwort muss Nein lauten.

»Nein, verdammt. Ich stehe nicht auf dich.« Simon dreht die Bierflasche zwischen den Händen. »Dieser Kuss ist ewig her und glaub mir, es ist wirklich nichts weiter gewesen als das: ein Kuss. Wenn ich sage, dass du dazu beigetragen hast, mir über meine sexuelle Orientierung klar zu werden, dann meine ich damit, dass du mir geholfen hast, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Damit meine ich nicht, dass ich plötzlich meine unendliche Liebe für dich entdeckt habe.«

Scheiße, ich hasse es, wenn er mir mit diesem Lehrergeschwafel kommt. Er bekommt dann diesen ganz speziellen Tonfall, bei dem ich mir unweigerlich ein bisschen dumm vorkomme.

Oder vielleicht bin ich auch nur zu empfindlich. Seine Schüler lieben ihn. Ich sollte mich freuen, dass er nicht auf mich steht. Das wäre mit Abstand die schlimmste Neuigkeit in einer ganzen Reihe von schlechten Nachrichten gewesen.

»Gut«, sage ich wieder und leere mein Bier in einem letzten Zug. »Dann hätten wir das ja jetzt geklärt.«

Kapitel 4

Ich ramme die Gartenschaufel in die dunkle Erde, hebe ein kleines Loch aus und setze möglichst behutsam das Stiefmütterchen hinein, was mir verdammt schwerfällt. Mir ist nicht nach filigraner Arbeit. Am liebsten würde ich hinten im Freibereich irgendetwas umgraben, mit einer großen Schaufel, einer Hacke und viel Platz, um wenig kaputt zu machen.

Dummerweise gibt es hinten momentan nichts umzugraben. Mein Vater und ich haben erst vor Kurzem eine Gartenlaube mit kleinem Springbrunnen angelegt, einen Grill und ein paar Terrassenmöbel dazugestellt und damit die perfekte Barbecue-Oase geschaffen. Die bleibt nun mindestens zwei Monate stehen. Die Abgrenzungsbeete zwischen Parkplatz und Eingang sind heute die einzige Möglichkeit gewesen, dem Kundenkontakt zu entkommen. Lange betteln musste ich nicht. Ich bin schon die ganze Woche schlecht drauf, da hat mich mein Vater liebend gerne nach draußen geschickt.

Nach Keules Grillparty habe ich schon schlecht geschlafen, aber seit Simon und ich am Sonntag geredet haben, habe ich die Wahl zwischen schlaflosen Nächten oder erotischen Träumen. Als müsste mein Hirn alles aufholen, was es in den letzten zehn Jahren verdrängt hat, mit Simon und mir als Hauptdarsteller.

Dabei steht er – zum Glück! – nicht auf mich. Und ich nicht auf ihn. Es ist ewig her, dass ich in ihn verknallt gewesen bin. Bis zum Wochenende sind sämtliche romantischen Gefühle, die ich mal für ihn empfunden habe, in einer gut verschlossenen Kiste aufbewahrt gewesen. Okay, hin und wieder hat sie mal einen Spalt offen gestanden, aber seit diesem verhängnisvollen Samstag bekomme ich den verdammten Deckel einfach nicht mehr zu. Als würde man versuchen, einen beschissenen Elefanten in einen Schuhkarton zu quetschen.

Wenn er sich früher geoutet hätte, wenn er sich damals geoutet hätte... vielleicht wäre dann heute alles anders. Vielleicht hätten wir...

Aber wir haben nicht. Und wir werden auch nicht. Er steht nicht auf mich und ich nicht auf ihn. Außerdem habe ich keine Lust, dieselbe Entscheidung immer und immer wieder aufs Neue zu treffen. Inzwischen gibt es sie auch nicht mehr zu treffen. Ich lebe seit siebenundzwanzig Jahren in Wiegen und werde es die nächsten Jahrzehnte tun. Damit ist alles gesagt.

»Na, wenn das mal nicht mein Lieblingsgärtner ist.«

Ich sehe auf und blicke geradewegs in Vannys grinsendes Gesicht, die mich über ihren vollen Einkaufswagen gelehnt von oben anfeixt. Mit ihren unendlich langen Beinen hat sie in dem kurzen, aber nicht zu knappen Sommerrock bestimmt die halbe Belegschaft während ihres Einkaufs abgelenkt.

Ich ziehe die Hände aus dem Beet und lege die Handschuhe ab, während ich versuche, meine düstere Stimmung genauso abzustreifen. Normalerweise zaubert mir Vannys Anblick immer ein Lächeln auf die Lippen. Heute scheinen an beiden Mundwinkeln Pflanzentöpfe aus Terrakotta zu hängen. Die großen mit dreißig Zentimeter Durchmesser und sechsunddreißig Zentimeter Höhe.

»Hey, du.«

Offensichtlich gleicht mein Lächeln eher einer Fratze, denn sie neigt irritiert den Kopf, bevor ihr Blick über das schmale, lang gezogene Blumenbeet schweift. »Wow. Das sieht toll aus. Wie ein Regenbogen.«

Ich stutze. Regenbogen? Ich stehe auf und betrachte das Beet von oben. Tatsächlich habe ich die Stiefmütterchen von dunkel nach hell Richtung Eingang angeordnet. Kacke. Ausgerechnet ein verfluchter Regenbogen! Egal. Niemand außer mir wird sich dabei irgendwas denken. Einfach ein hübscher Farbverlauf, nichts weiter. Hoffe ich.

Ich räuspere mich. »Aus unserer eigenen Gärtnerei«, sage ich überflüssigerweise, denn im Gartencenter Voigt stammt mehr oder weniger alles Lebendige aus eigener Aufzucht, eigenem Anbau und eigener Baumschule. Etwas anderes würde mein Vater nie zulassen, denn das ist es, was unser Familienunternehmen seit 1828 ausmacht und wofür wir in Wiegen und sogar Großwiegen bekannt sind.

»Jetzt bin ich fast enttäuscht, dass ich keine Stiefmütterchen mitgenommen habe.«

Ich spähe in ihren Einkaufswagen. Haufenweise Geranien, Erde für Balkonpflanzen, schneeweiße Balkonkästen und... »Du hast schon wieder Orchideen gekauft? Was ist mit der letzten passiert, die ich dir mitgebracht hab?«

»Du hast mir eine Orchidee mitgebracht?«

»Vanny.«

Sie zupft an einer braunen Haarlocke, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hat. »Vielleicht ist mir das blöde Ding eingegangen.«

»Was?« Meine Gärtnerseele schreit gequält auf. »Das wär jetzt die wievielte in diesem Jahr?«

»Führst du etwa Buch?« Sie seufzt. »Was soll ich denn machen? Ich finde Orchideen nun mal so schön und sie passen so toll in meine Wohnung.«

»Aber offenbar hast du kein Händchen für sie.«

»Dafür habe ich ja dich.« Sie lehnt sich vor und drückt mir einen kurzen Kuss auf den Mund. Wie immer fühlt sich ihr Mund süß und vertraut an. Ein Hauch ihres frischen, irgendwie minzigen Parfüms steigt mir in die Nase.

»Wenn du's in so kurzer Zeit geschafft hast, so viele Orchideen eingehen zu lassen, bin ich nicht oft genug bei dir.«

Sie wackelt mit den Augenbrauen. »Dann musst du wohl öfter vorbeikommen.« Sie erstarrt. »Oder... äh...« Sie presst die Lippen zusammen.

»Oder?«

Sie weicht meinem Blick aus und zupft an ihrem Rock herum. »Das war kein verunglückter Versuch, danach zu fragen, ob wir zusammenzuziehen, oder?«

Ich runzle die Stirn. »Ähm... nein?«

»Gott sei Dank!« Sichtlich erleichtert wirft sie den Kopf in den Nacken. »Versteh das nicht falsch, du bist ein toller Kerl, aber es ist alles gut so, wie es ist.«

»Seh ich genauso.«

Sie strahlt mich mit ihrem Lächeln an, das fast so ansteckend ist wie Simons. Damit hat sie schon dem einen oder anderen Mann in Wiegen den Kopf verdreht – nicht nur in unserer Altersklasse. Der Referendar, den wir in der zwölften Klasse in Geschichte bekommen haben, hat es kaum erwarten können, dass Vanny endlich das Abi macht. Und selbst danach hat er sich noch ein anstrengendes halbes Jahr von ihr ferngehalten.

Genützt hat es nichts. Obwohl die beiden nur ein paar Mal Sex gehabt haben, hat die Wiegener Dorfgemeinschaft irgendwie Wind davon bekommen und dem armen Mann fortan die kalte Schulter gezeigt. Wahrscheinlich ist er unendlich erleichtert gewesen, Wiegen nach seinem Referendariat den Rücken kehren zu können.

Tja, so ist das mit Geheimnissen. In Wiegen gibt es keine. Genauso wenig wie es Homosexuelle, Bisexuelle, Asexuelle, Transgender oder sonst was gibt. Früher oder später fliegen sie auf und der Pöbel packt die Fackeln und Mistgabeln aus.

»Alex?«

Ich reiße den Kopf hoch. »Hm? Was?«

»Ich weiß nicht. Du sahst gerade aus... Du warst gerade ganz weit weg, oder?«

»Hm, ja, schon möglich.«

»Okay«, sagt Vanny gedehnt und rückt näher an mich heran. Als würde halb Wiegen ein Kaffeekränzchen um uns herum veranstalten, senkt sie vertraulich die Stimme. »Du weißt, dass ich nichts dagegen habe, wenn du neben mir noch was mit anderen hast, oder? Solange sie weiß, woran sie ist, heißt das. Gleiches Recht für alle.« Sie zwinkert mir frech zu.

Sie hat schon öfter von diesem Recht Gebrauch gemacht als ich – und jedes Mal musste ich mir anschließend Sprüche von Keule und Konsorten anhören, ganz egal, wie oft ich erklärt habe, dass Vanny und ich nicht richtig zusammen sind wie ein Paar. Wir haben mehr so etwas wie Freundschaft plus. Aber selbst das übersteigt schon den Horizont der meisten Wiegener.

»Glaub mir, du bist auf dem völlig falschen Dampfer.«

»Oh, so frisch ist es also noch. Kenne ich sie?«

Ihn, denke ich und beiße mir in der nächsten Sekunde heftig auf die Zunge, um zu verhindern, dass mir dieses winzige Wörtchen, das so einen gigantischen Unterschied macht, über die Lippen rutscht. Zumal es überhaupt nicht stimmt. Auch wenn mir Simon gerade nicht aus dem Kopf geht, ist er nicht mein neuer... was auch immer.

»Nein. Weil ich an niemanden denke.«

»Aber irgendwas beschäftigt dich doch.«

Ich schnaube. »Das kannst du laut sagen.«

Auffordernd hebt sie die Augenbrauen.

»Ich kann's dir nicht sagen.«

Obwohl ich ziemlich fest überzeugt bin, dass sie es nicht weitererzählen würde. Wahrscheinlich würde sie nicht mal komisch reagieren. Von allen Menschen in Wiegen ist sie mit einer der aufgeschlossensten. Vermutlich würde sie sogar mich verstehen.

Plötzlich verspüre ich den Drang, es ihr zu erzählen. Mich irgendjemandem anzuvertrauen und darüber zu sprechen. Irgendjemand, der nicht Simon ist, weil der ja das Problem ist. Das Bedürfnis ist so stark, als hätten sich die letzten Jahre geballt hinter einem Rammbock versammelt und würden gegen meine zusammengepressten Lippen donnern.

Aber ganz egal, wie heftig das Verlangen ist, ich bin nicht so bescheuert, es mitten auf dem Parkplatz vor unserem Gartencenter herauszuposaunen.

»Kommst du heute Abend bei mir vorbei?«, fragt Vanny, ohne weiter nachzubohren. Das liebe ich so an ihr.

»Gerne. Irgendwelche Wünsche, was ich zu essen mitbringen soll?«

Grinsend lehnt sie sich abermals zu mir, legt eine Hand an meine Wange und küsst mich sanft auf den Mund. »Überrasch mich.« Damit dreht sie sich um und schiebt den Einkaufswagen zu ihrem Auto hinüber.

Bauer Eber, der ihr über den Parkplatz entgegenkommt, grüßt sie freundlich, bevor er den Kopf dreht und ihr nachschaut, kaum dass er an ihr vorbeigegangen ist. Dabei bleibt er jedoch nicht stehen und wäre um ein Haar in ein ausparkendes Auto hineingelaufen, wenn ich ihm keine Warnung zugerufen hätte. Selbst auf die Entfernung kann ich sehen, wie er rote Ohren bekommt, ehe er eilig im Gartencenter verschwindet.

Vor mich hin grinsend will ich mich gerade wieder hinknien, als es in der Tasche meiner Gärtnerhose vibriert. Vorhin hat mein Handy auch schon gelegentlich gebrummt, aber ich wollte nicht ständig meine Handschuhe an- und wieder ausziehen. Jetzt nutze ich die Gelegenheit und fische es aus der Tasche. Unser Poker-Chat.

In unregelmäßigen Abständen trifft sich die Clique abends zum Zocken – der männliche Teil der Clique, wofür wir vom weiblichen Teil bereits mehrfach eins auf die Mütze bekommen haben. Aber die Atmosphäre ist einfach anders, wenn die Frauen dabei sind, inklusive der Gespräche. Deshalb haben sich vor allem Ansgar und Dennis strikt geweigert, unsere Gruppe für sie zu öffnen.

Dafür haben die Frauen mittlerweile eine Gegengruppe gegründet und machen sich einen Spaß daraus, das Ganze als geheime Veranstaltung aufzuziehen – was wiederum den ihnen zugehörigen Teil der Männer rasend macht. Sie könnten genauso gut ins Kino gehen, wie Party machen oder ebenfalls pokern, keine Ahnung. Mal fließt mehr Alkohol, mal weniger, mal gar keiner. Wahrscheinlich könnte ich aus Vanny herausbekommen, was genau sie machen, aber so sehr interessiert es mich schlicht nicht.

Ich scrolle durch die ungelesenen Nachrichten. Prompt verfinstert sich meine Laune wieder. Simon sagt für morgen Abend ab. Sollte mich eigentlich nicht wundern, immerhin ist dann Freitag.

 

Dennis, 14:17 Uhr

Denk dran, endlich mal ’n Foto von der Frau zu machen.

 

Karl, 14:29 Uhr

Oder zwei oder drei.

 

Ansgar, 15:01 Uhr

Mach ‘n Video. Aber nicht, während ihr DABEI seid, klar!

 

Dennis, 15:08 Uhr

Sie ist übrigens offiziell zu meiner Party demnächst eingeladen.

 

Dennis, 15:10 Uhr

Versprech auch, sie dir nicht auszuspannen...

 

Karl, 15:13 Uhr

Alter, werd mal nicht größenwahnsinnig.

 

Karl, 15:14 Uhr

Ernsthaft, Simon, bring sie mit.

 

Ansgar, 15:28 Uhr

So hässlich kann sie gar nicht sein.

 

Dennis, 15:33 Uhr

Genau. Wir malen uns ja schon sonst was aus. Keine Titten. Kein Arsch.

 

Ansgar, 15:34 Uhr

Keine Frau.

 

Daraufhin folgt eine Lawine an dämlichen Smileys, Emoji-Kombinationen und zweideutigen Gifs. Ich überfliege den Rest, aber Simon äußert sich nicht weiter dazu und schreibt bloß, beim nächsten Mal wieder dabei zu sein und seine Wohnung zur Verfügung zu stellen. Wahrscheinlich das Klügste, was er machen kann.

Derartige Andeutungen sind nichts Neues. Wenn ich so darüber nachdenke, haben die Jungs tatsächlich schon immer dazu geneigt, Simon mit Schwulensprüchen aufzuziehen. Dass er reitet, trägt sicherlich einen Teil dazu bei, aber auch, dass er weniger Freundinnen hatte als die anderen und trotz seines Aussehens schon so lange Single ist, spricht nicht unbedingt für ihn.

Dämlicher Idiot. Dabei könnte es so einfach sein. Stattdessen muss er ständig diese auffälligen Trips nach Hannover machen und sich flachlegen lassen.

Ob er überhaupt noch Single ist? Vielleicht hat er längst einen festen... Freund. Vielleicht der Typ, mit dem sich sein Puzzle vervollständigt hat. Das habe ich ihn gar nicht gefragt.

Willst du es denn wissen?

»Alexander.«

Ich drehe mich um und sehe mich meinem Vater gegenüber, genau wie ich in Gärtnerhose und Arbeitsschuhen, in denen er auch gerne mal zwischendurch Kunden berät. Manche Leute fragen sogar extra nach ihm, wenn sie an mich oder einen der Angestellten geraten, als wäre er hier der Einzige mit Expertise.

Ich stecke das Handy zurück in die Tasche. »Papa, was gibt's?«

Er nickt über den Parkplatz und ich folge seinem Wink, bis mein Blick an Vanny hängen bleibt, die gerade mit ihrem Auto ausparkt.

»War das nicht Vanessa Strauch?«

»Jepp. Und sie hat immer noch nicht gelernt, mit Orchideen umzugehen.«

Er reibt sich das bartstoppelige Kinn, das ihm ein kerniges Aussehen verleiht. Während Bert eher das Negativbeispiel fürs Altern gibt, steht mein Vater eindeutig am anderen Ende. Typ George Clooney, der mit zunehmendem Alter immer attraktiver zu werden scheint.

»Ist doch ganz einfach. Nicht zu viel Wasser, nicht zu viel düngen. Das sind die obersten Gebote bei Orchideen. Sie kann die Pflanze auch tauchen, bevor sie sie mit der Gießkanne ertränkt.«

Er redet mit mir, als wäre ich der Schülerpraktikant, der mal für eine Woche in einen Gärtnerbetrieb reinschnuppern will.

»Ich weiß.«

»Sie kann die Orchidee auch gelegentlich einsprühen, um eine hohe Luftfeuchtigkeit zu simulieren. Und eine Orchidee sollte regelmäßig geschnitten und umgetopft werden, um gesund wachsen zu können.«

Ich seufze. »Ich weiß, Papa.«

»Wenn du das alles weißt, warum gehen ihre Orchideen dann ständig ein?«

»Keine Ahnung. Ich bin ja nicht rund um die Uhr bei ihr.«

»Vielleicht solltest du das ändern«, brummt er.

Ich klappe den Mund auf, dann jedoch schnell wieder zu. Bloß nicht auf diese Diskussion einlassen. »Alles, was du mir über Orchideen beigebracht hast, hab ich an sie weitergegeben.« Und es ist wirklich kein Vergnügen, vom eigenen Vater zu lernen, vor allem, wenn dessen Herzblut an jeder einzelnen Pflanze im Gartencenter hängt.

Jedes Mal, wenn ich durch Unachtsamkeit irgendwo eine kränkelnde Pflanze produziert habe, hat es ihm schier das Herz gebrochen. Gleichzeitig hat er mich viel strenger beurteilt als alle anderen im Gartencenter. Ich wette, dass niemand so viele Hiwi-Arbeiten verrichten musste wie ich, nur weil ich mal Petunien mit Zauberglöckchen verwechselt habe oder dergleichen. Dabei brauchen die annähernd dieselbe Pflege, ich habe also nichts kaputt gemacht – nur dummerweise die Pflanzen falsch ausgezeichnet und der alten Schuster Zauberglöckchen statt Petunien aufgeschwatzt.

Meine Güte. Wahrscheinlich hat sie den Unterschied bis heute nicht gemerkt.

»Ich habe sie letztens mit einem jungen Mann in der Trattoria gesehen.«

»Die alte Frau Schuster?!«

Irritiert runzelt er die Stirn. »Vanessa, natürlich. Die beiden wirkten recht vertraut.«

»Es ist einfach, sich mit Vanny vertraut zu fühlen.«

»Hmhm. Sie ist ein hübsches Mädchen.«

»Das weiß wohl niemand besser als sie selbst.«

»Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?«

»Was soll ich denn sonst dazu sagen?«

Fassungslos starrt er mich an, ehe er den Kopf schüttelt. »Zu meiner Zeit hätte es so was nicht gegeben.«

»Zu deiner Zeit stand die Berliner Mauer auch noch.«

Wieder schüttelt er den Kopf. »Ich weiß, dass heutzutage alles anders ist, aber eins hat sich mit Sicherheit nicht geändert: Gute Frauen sind schnell vom Markt. Du solltest in die Gänge kommen und aufpassen, dass sie dir niemand vor der Nase wegschnappt.«

Ich presse die Lippen zusammen, um mir ein Grinsen zu verkneifen. Das würde mein Vater nicht verstehen, genauso wenig wie er das zwischen mir und Vanny versteht. Schon beim Gedanken ans Zusammenziehen ist sie kalkweiß geworden. Wie würde sie erst reagieren, wenn ich plötzlich mit einem Ring in der Hand vor ihr auf ein Knie sinke?

»Und was die Orchideen angeht«, fährt mein Vater fort, »sie soll's mal mit einer der Hybriden versuchen. Die sind robuster.«

Ich nicke nur. Abgesehen davon, dass Vanny die Kreuzungen optisch nicht gefallen, hat sie es auch schon geschafft, die eingehen zu lassen.

 

***

 

»Flush.«

»Das gibt's nicht!« Keule knallt seine Spielkarten auf den Tisch und starrt Dennis finster an, der sich mit einem schadenfrohen Grinsen den Pot in der Mitte krallt. »Verloren mit einer Straße! Du schummelst!«

Dennis lacht. »Mann, bist du ein schlechter Verlierer. Ich bin einfach gut.«

»Du hast einfach unverschämtes Glück.«

»Ach, komm.« Dennis stapelt seine gewonnenen Chips nach Wertigkeit vor sich auf. »Tu mal nicht so, als würde dich der kleine Spieleinsatz von zehn Euro arm machen, trotz zweitem Kind. Oder sollen wir dich vielleicht gewinnen lassen?«

Keule brummelt etwas Unverständliches und ertränkt seinen Frust in einem großen Schluck aus seiner Bierflasche.

Mit halbem Ohr lausche ich dem Geplänkel der beiden, während ich mir die Karten schnappe und anfange zu mischen. Ansgar schiebt mir den Dealer-Button zu und organisiert neue Getränke, da wir an seinem Küchentisch spielen. Seine Verlobte hat sich für den Abend rar gemacht und trifft sich mit einer Freundin im Feucht & Fröhlich. Auf dem Küchentresen stapeln sich leere Pizzakartons, Ansgar hat sich vorhin ganz verwegen in der Wohnung eine Zigarette angesteckt und Dennis die Chipsschüssel umgeworfen. Die Krümel knirschen unter dem Tisch unter unseren Füßen, während kalter Rauch in Haut, Haare und Klamotten einsickert.

Als ich anfange, die Karten auszuteilen, schiebt Keule mir seine missmutig entgegen. »Alter, ich bin raus. Bin gerade all-in gegangen.« Er funkelt Dennis böse an. »Weil man mit einer Straße eigentlich nicht verlieren kann.«

Dennis schüttelt nur schnaubend den Kopf, ehe er mich ansieht. »Was ist denn heute mit dir los, Alex? Eben hast du Ansgar vergessen, jetzt teilst du für Keule aus. Stress mit Vanny?«

»Quatsch.« Ich sammle alle Karten wieder ein und mische noch mal neu. »Ich bin nur... müde.«

»Du siehst auch scheiße aus. Schon die ganze Woche.«

»Danke, du auch.«

Dennis neigt den Kopf. »Weißt du, mit wem Simon sich ständig trifft?«

Ich erstarre. »Was? Wie zum Teufel kommst du denn da drauf?«

»Keine Ahnung, ihr seid doch so dicke.«

»Und ihr seid am Wochenende bei meiner Grillparty zusammen verschwunden«, wirft Keule ein.

»Wir sind nicht...!« … zusammen verschwunden. Scheiße, wie das klingt!

»Aber ihr habt irgendwas besprochen und verdammt ertappt ausgesehen, als Dennis und ich dazugekommen sind.«

Hitze schießt mir ins Gesicht. Nervös blicke ich von einem zum anderen am Tisch und stelle erschrocken fest, wie neugierig und lauernd ich auf einmal gemustert werde. Mein Herzschlag gerät ins Stolpern. Sie wittern ein Geheimnis. Ein Geheimnis, das mich involviert.

Kacke. Noch nie hat irgendjemand irgendwas bei mir vermutet, aber kaum outet sich Simon, rücke ich ins Rampenlicht. Er zieht mich in diesen ganzen Scheiß mit rein, obwohl er sich outen will.

Als ich diesmal die Karten austeile, knalle ich sie heftiger als nötig auf den Tisch. »Ihr spinnt.«

»Ist sie verheiratet?«, fragt Keule.

»Keine Ahnung.«

»Oder kommt sie vielleicht gar nicht aus Hannover?«, überlegt Dennis. »Ich hab ihn vorhin mit ziemlich leichtem Gepäck am Bahnhof gesehen. Kommt sie von hier und sie treffen sich in Hannover, weil sie verheiratet ist? Oder verlobt?« Er wirft Ansgar einen herausfordernden Blick zu. »Ist es Lena?«

Unter dem Tisch tritt Ansgar nach Dennis, der lachend seine Karten aufnimmt. »Halt's Maul.«

»Ich habe keine Ahnung, okay?«, sage ich überdeutlich, bevor sie ernsthaft handgreiflich werden. Ansgar ist verdammt eifersüchtig und einer von denen, die die Gegengruppe der Frauen zu unseren Pokerabenden überhaupt nicht gut finden.

Prompt zieht er sein Handy hervor und tippt grimmig darauf herum. Dann hält er Dennis das Display entgegen. Ich erkenne das Facebook-Blau. »Hier, siehst du. Sie hat ein Foto gepostet. Cocktails im Feucht & Fröhlich

Dennis betrachtet das Display. »Da sieht man ja bloß die Gläser und einen Tisch. Könnte überall sein. Auch in Hannover. Simon trinkt doch Caipirinha, oder, Alex?«

Als ich spüre, wie sich Ansgar neben mir anspannt, als wollte er gleich über den Tisch springen und Dennis eine reinhauen, blaffe ich: »Verdammt, es ist nicht Lena, klar?«

Erst als es überraschend still am Tisch wird, erkenne ich die Falle, in die ich geradewegs getappt bin.

»Du weißt also, wer es ist.« Keule sieht mich eindringlich an. Keine Frage, sondern eine Feststellung.

Beklemmung schnürt mir die Kehle zu. Trotzdem zwinge ich mich, so neutral wie möglich zu sagen: »Nein. Ich weiß es nicht

Zum Glück ist das nicht mal gelogen, sodass ich den Blicken der anderen einigermaßen sicher standhalten kann. Ich weiß nur, dass es ganz bestimmt nicht Lena ist – oder irgendeine andere Frau aus Wiegen oder auf der Welt.

Der Mann hingegen, mit dem er Sex hat, könnte jeder sein. Jeder Schwule oder Bisexuelle, meine ich. Keine Ahnung, worauf Simon steht. Jasmin oder Caro kann ich als Referenz kaum heranziehen. Da er nicht auf mich steht, könnte man vielleicht dunkelhaarige Männer mit braunen Augen ausschließen, die kleiner und kompakter sind als er.

Wieder sehe ich Simon vor meinem geistigen Auge – nackt –, der sich einem riesigen, muskelbepackten Schemen zuwendet, der seine Hüften packt. Der ihn küsst. Der eine Hand in seinen blonden Locken vergräbt. Der ihn umdreht, nach vorne drückt und –

Verflucht!

Fieberhaft versuche ich, die Bilder in meinem Kopf loszuwerden. Die Bilder und dieses beunruhigende Gefühl in meiner Brust, das sich verdächtig nach Eifersucht anfühlt. Aufgewärmter Eifersucht. Wie damals, als er angefangen hat, sich mit Jasmin zu treffen. Oder mit Caro, obwohl die Sache spätestens da für mich abgehakt gewesen ist.

Unbehaglich rutsche ich auf meinem Stuhl herum und räuspere mich. »Wir... wir reden nicht über so was.«

Ansgar schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch. »Aber gerade hast du gesagt, dass es nicht Lena ist. Woher willst du –«

»Ernsthaft?«, unterbreche ich ihn. »Lena liebt dich. Aus welchem Grund auch immer. Warum zum Teufel sollte sie mit Simon vögeln?«

Das muss Ansgar ein paar Sekunden sacken lassen. Aus schmalen Augen fixiert er Dennis. »Ja. Warum zum Teufel sollte sie mit Simon vögeln?«

Dennis lacht nur und trinkt von seinem Bier. Eines Tages reizt er Ansgar noch mal so sehr, dass der ihm tatsächlich eine verpasst.

Ich will mir gerade meine Karten ansehen, als Keule sagt: »Du weißt also nicht, wer es ist.«

»Nein«, knurre ich.

»Auch nicht, ob sie verheiratet ist?«

»Nein, verdammt!«

»Warum reagierst du dann so empfindlich?«, hakt Dennis misstrauisch nach.

Stimmt. Ich atme tief durch. »Weil ihr mich mit dieser Scheiße nervt.«

»Es gibt also nichts über sie zu wissen«, fasst Keule zusammen.

Über ihn. Über ihn! »Ich wüsste jedenfalls nicht, was.« Demonstrativ sehe ich mir meine Karten an, in der Hoffnung, diese Unterhaltung damit abwürgen zu können. Herz Zwei und Pik Sieben. Großartig.

»Dann bleibt es dabei, dass wir die Stripperin zu seinem Geburtstag organisieren?«

Ich bemühe mich, nicht allzu sehr zusammenzuzucken. Oh Scheiße. Langsam sehe ich auf und blicke Keule an. Was als lustige Idee für den offenbar sehr anspruchsvollen Simon angefangen hat, klingt plötzlich völlig absurd.

»Ich meine, wenn du irgendwas weißt, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, um's auszuspucken. Die Ladys sind nämlich echt nicht billig. Ich hab schon mal 'ne Vorauswahl getroffen.« Er wendet sich an die Runde. »Die können wir uns gleich mal ansehen.«

In Dennis' Augen blitzt es begeistert auf. »Sehr gerne!« Er sieht mich an. »Es sei denn, es gibt Einwände.«

Wieder spüre ich die Blicke aller auf mir. Instinktiv will ich mir etwas einfallen lassen, um Simon zu schützen. Um zu verhindern, dass er an seinem Geburtstag vorgeben muss, hin und weg von seinem Geschenk zu sein, damit die anderen nichts merken. Oder vielleicht nimmt er es am Ende noch zum Anlass, sich zu outen. Mann, das wäre eine bombastische Überraschung – für alle außer ihm und mir.

Aber letztlich kann ich nichts sagen. Das ist Simons Sache. Wenn ich nicht mit hineingezogen werden will, kann ich mich auch nicht für ihn in die Bresche werfen.

Was nicht bedeutet, dass es sich gut anfühlt, als ich den Kopf schüttle. »Keine Einwände.« Ich werfe meine Karten verdeckt auf den Ablagestapel. »Ich bin raus.«

»Sehr gut.« Keule fummelt sein Handy aus der Hosentasche. »Dann kannst du dir schon mal meine Vorauswahl ansehen.«

Auch das noch. Simon eine Frau auszusuchen, fühlt sich gerade genauso beschissen an, wie ihn mir mit einem gesichtslosen Mann vorzustellen. Wie sind wir bloß auf diese dämliche Idee mit der Stripperin gekommen?

Ich fahre mir übers Gesicht. »Klar.« Dann stehe ich auf. »Aber erst muss ich aufs Klo.« Und meinen Kopf so lange gegen die Wand schlagen, bis ich nicht mehr ständig Simon vor mir sehe.

Kapitel 5

Es klingelt.

Blinzelnd öffne ich die Augen. Dunkelheit.

Es klingelt immer noch. Was zum...?

Ich robbe an den Rand des Bettes, strecke eine Hand zum Nachtschrank aus und taste nach dem Lichtschalter. Gleißende Helligkeit bohrt sich in mein Hirn und ich kneife übernächtigt die Augen zusammen, als ich nach dem Wecker greife.

Der hat jedoch definitiv nicht geklingelt. Nicht um 01:17 Uhr.

Ich setze mich auf und reibe mir übers Gesicht. Ich bin erst seit knapp einer Stunde von Ansgar zurück und kann erst vor ein paar Minuten richtig eingeschlafen sein. Vorher habe ich mich ewig im Bett herumgewälzt und bin zwischen Traum, Wirklichkeit und Fantasie hin und her gedriftet.

Nachdem ich mich gefühlte Stunden durch Keules Vorauswahl wischen musste, hat sich das Thema Strippen irgendwie mit dem Pokerabend überlagert – und mich an diverse Strippokerabende – natürlich mit den Mädels – aus der Schulzeit erinnert. An einen siebzehnjährigen Simon, der verlegen den Bund seiner Unterhose zurechtrückt, weil Caro irgendeine zweideutige Bemerkung gemacht hat. An mein siebzehnjähriges Ich, dessen ganzer Körper bei Simons Anblick gekribbelt und das nicht gewusst hat, wo es hinsehen soll, um bloß nicht aufzufliegen.

Das sich inständig gewünscht hat, alle anderen mögen sich in Luft auflösen, damit es Simon noch mal küssen kann. Stattdessen hat sich Simon plötzlich angezogen und ist nach Hannover gefahren, um mit irgendeinem Unbekannten zu vögeln.

Gott. Ich kann kaum glauben, dass mir das so viel ausmacht, dass ich deswegen nicht einschlafen konnte. Es hat sich nur ein winziges Detail verändert und doch ist Simon plötzlich wieder so präsent in meinem Kopf wie vor zehn Jahren. Als hätte es dazwischen überhaupt nichts gegeben.

Was ist denn mit Die Zeit heilt alle Wunden und so einem Schwachsinn? Was bringt all die vergangene Zeit, wenn die Gefühle dieselben sind?

Nein, sie sind nicht dieselben. Du bist jetzt erwachsen und kannst kontrolliert damit umgehen.

Genau.

Und apropos Kontrolle... Was zum Kuckuck hat mich jetzt eigentlich wach gemacht?

In diesem Moment setzt das Klingeln wieder ein. Mein Handy. Scheiße. Das kann um die Uhrzeit nur ein Notfall sein. Noch während ich überlege, was meine Eltern dieses Wochenende vorhatten und ob mein Bruder dieses Wochenende nach Wiegen kommen wollte, schnappe ich mir das Handy und –

Simon?!

Ich nehme den Anruf entgegen. »Hast du eine Ahnung, wie spät es ist?«, blaffe ich. »Ich dachte, du bist in Hannover?«

Verkehrsrauschen und dumpfe Musik antworteten mir. Sonst nichts.

Verwirrt nehme ich das Handy vom Ohr und schaue aufs Display. Die Verbindung steht noch. Ein versehentlicher Anruf? »Simon?«

»Alex?«

Sämtliche Muskeln in meinem Körper verkrampfen. Die Wut verpufft so schnell, wie sie gekommen ist. Er hat nur geflüstert, aber ich weiß sofort, dass irgendwas nicht stimmt. Er klingt, als hätte er eine Handvoll Schlaftabletten mit der ein oder anderen Flasche Korn hinuntergespült.

Mit einem Satz springe ich aus dem Bett. »Simon? Was ist los? Geht's dir gut?« Bescheuerte Frage. Ich kann hören, dass es ihm nicht gut geht. Mehr noch, ich kann es beinahe fühlen.

»Nee«, murmelt er. Sein Atem kommt schwer auf meiner Seite der Leitung an.

Eine eisige Hand greift nach meinem Herzen. Irgendetwas stimmt ganz gewaltig nicht. Er redet so langsam und bemüht, als würde ihm jede einzelne Silbe schwerfallen. »Simon?«

»Ich glaub... da war's... in mei'm... 'tränk.«

»Du glaubst, da war was in deinem Getränk?!« Ich klemme mir das Handy zwischen Ohr und Schulter und ziehe mir umständlich Jeans und T-Shirt an, weil ich ihn nicht eine Sekunde vom Ohr nehmen will. »Wo bist du?«

»Hannover.«

»Das weiß ich. Wo da?«

»Club.«

Ich schnaube frustriert. »Welcher Club, Simon? Du musst ein bisschen mitarbeiten.«

Mit Socken in der Hand setze ich mich aufs Bett und streife sie über, dann renne ich in den Flur, wobei ich auf dem Laminat beinahe ausgerutscht wäre. Der kurze Schreck treibt meinen Puls zusätzlich in die Höhe. Die Antwort dauert viel zu lange. Was war da in seinem Getränk? Wer kippt ihm...?

Oh Gott. In diese Richtung darf ich überhaupt nicht denken.

»Simon?« Ich presse mir das Handy dichter ans Ohr, um keinen Ton zu verpassen.

Ich habe mich nie für einen besonders kreativen Menschen gehalten, aber seit sich Simon vor mir geoutet hat, läuft meine Fantasie zu neuen Höchstformen auf. Auch jetzt kann ich nichts gegen die Bilder tun, die sich in meinen Kopf drängen. Simon, der zusammengesunken an irgendeiner Hauswand lehnt und schon Schwierigkeiten hat, den Kopf hoch-, geschweige denn das Handy festzuhalten.

Klar, Hannover ist kein Problemviertel in Detroit oder so, aber irgendjemand hat ihm Drogen ins Getränk gekippt! Vor ein paar Jahren ist das drüben in Großwiegen, wo es ganze drei Discos gibt, ein echtes Problem gewesen. Ein Mädchen musste ins Krankenhaus eingeliefert werden, weil sie allergisch auf das Zeug reagiert hat, und ein anderes wurde vergewal...

»Simon!«, blaffe ich und ramme meine Füße in die Schuhe. »Du musst mir sagen, wo du bist!« Ich versuche, ihn nicht anzuschreien, obwohl mir das Blut so laut in den Ohren rauscht, dass ich kaum meine eigenen Worte verstehe. »Sonst kann ich dich nicht abholen.«

Ich klaube meinen Autoschlüssel aus der Schale neben der Wohnungstür und sitze keine Minute später in meinem Golf, der direkt unten vor dem Haus parkt. Meine Hände zittern so sehr, dass ich den verdammten Schlüssel nicht beim ersten Anlauf ins Zündschloss bekomme.

»Hinter...«

Ich halte den Atem an, um ihn besser zu verstehen. »Hinter was?«, presse ich hervor, als nichts weiter kommt.

Ich starte den Motor und fahre schon mal Richtung Autobahn – illegalerweise mit dem Handy am Ohr. Aber ich habe keine Freisprechanlage und das Headset zu Hause vergessen. Allerdings werde ich auf gar keinen Fall umdrehen. Bis nach Hannover brauche ich über die Autobahn über eine Stunde. Um diese Uhrzeit vielleicht etwas weniger. Und dann muss ich noch weiß der Geier wohin.

»Simon.« Je öfter ich seinen Namen ausspreche, desto stärker zittert meine Stimme. »Sag mir, wohin ich muss. Hinter...?«

»...hof.«

»Hof? Hinter Hof?« Er kann unmöglich Hof in Bayern meinen.

Als vor mir die einzige Ampel, die nachts in Wiegen eingeschaltet ist, auf Rot springt, drücke ich das Gaspedal durch und sause gute drei Sekunden später über die Kreuzung. Zum Glück ist weit und breit niemand zu sehen. Der einzige Vorteil, nachts in einem Kaff unterwegs zu sein.

Obwohl ich in diesem Moment lieber mitten in Hannover wäre. Näher bei Simon.

»Hmhm.«

»Der Club ist hinter Hof?« Dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen. »Der Club heißt Hinterhof?«

»Hmm...«

Was für ein bescheuerter Name. Kein Wunder, dass da Drogen im Umlauf sind.

»Okay. Ich bin auf dem Weg zu dir. Bleib, wo du bist. Und versuch, wach zu bleiben. Ich brauch eine gute Stunde...« Ich verstumme, als ich im Hintergrund undeutliche Männerstimmen vernehme, die langsam lauter werden.

»... siehst nicht gut aus. Brauchst du Hilfe?«

»Dein Ernst? Der Typ kann ja kaum noch stehen.«

Mein Hals schnürt sich zusammen. Ist das... sind das die, die ihn unter Drogen gesetzt haben?

»Ich glaube, der hat was genommen.«

Weil ihr ihm den Scheiß verabreicht habt! Ich ignoriere die Geschwindigkeitsbegrenzung der Bundesstraße. Noch gut fünfzehn Minuten bis zur Autobahn. Hoffentlich springt mir nicht ausgerechnet jetzt ein Reh vor den Wagen.

»Na und? Selbst schuld.«

»Wir können ihn doch nicht allein lassen.«

Bittere Galle steigt mir die Kehle hoch. Zwei riesige Gestalten, die sich Simon schnappen und ihn halb wegschleifen, halb wegtragen, tauchen vor meinem geistigen Auge auf. Jeden Gedanken an alles, was danach passieren könnte, würge ich gewaltsam ab.

»Doch, könnt ihr«, knurre ich zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Simon. Lass dich auf gar keinen Fall von irgendjemandem mitnehmen, verstanden? Ich bin unterwegs. Hörst du, Simon? Ich komme und hole dich!«

Keine Reaktion. Wenn ich so darüber nachdenke, hat Simon schon seit einer ganzen Weile nicht mehr reagiert.

Scheiße, Scheiße, Scheiße.

»Hey. Hey, du.«

»Meine Fresse. Können wir nicht einfach so tun, als hätten wir ihn nicht gesehen? Ich wollte nicht früher gehen, um den Samariter zu spielen.«

Der andere Kerl ignoriert ihn. Dann raschelt es dicht an meinem Ohr. »Hey, sieh mal. Er hat jemanden angerufen.«

»Nein, er ruft noch jemanden an!«, brülle ich. »Und jetzt gib ihm das verdammte Handy zurück oder ich schwöre...!«

»Großartig. Hilfe ist unterwegs. Dann können wir ja gehen.«

»Sei doch nicht so ein Arsch, Jonas. Sieh ihn dir an. Glaubst du wirklich, dass er noch telefonieren kann?« Dann höre ich die Stimme plötzlich deutlicher und klarer direkt an meinem Ohr. »Hallo?«

»Lasst ihn verdammt noch mal genau da, wo ihr ihn gefunden habt!«

Ein Zögern. »Ähm, wir hatten nicht vor, ihn zu entführen.«

»Von wegen! Wenn ihr ihn anfasst, bringe ich euch um!«

Erst die Stille am anderen Ende der Leitung macht mir bewusst, was ich da gerade gesagt habe. Verdammt. In meinem Hirn muss irgendeine Sicherung durchgebrannt sein. Hitze schießt mir ins Gesicht, was sich so gar nicht mit dem Eis verträgt, das durch meine Adern fließt.

Ich kann mich nicht erinnern, jemals solche Angst um Simon gehabt zu haben – und nicht bei ihm gewesen zu sein. Als seine Schwester gestorben ist, ist es ihm eine Weile ziemlich mies gegangen, aber ich bin immer innerhalb weniger Minuten bei ihm gewesen.

Jetzt liegen Welten zwischen uns. Und ich weiß nicht, was ich tun soll, wenn ihm tatsächlich etwas passiert. Mehr passiert, als nur vom Pferd zu fallen oder von Keule schikaniert zu werden. Wenn ihm etwas passiert, während ich die ganze Zeit nur darüber nachgedacht habe, wie ich verhindern kann, zusammen mit ihm aufzufliegen.

Ein Rascheln an meinem Ohr. »Hey, Mann, hör mal!«, raunzt mich jetzt die zweite Stimme an. »Ist nicht unsere Schuld, dass dein Freund hier völlig zugedröhnt rumsteht.«

»Ihm wurde was ins Getränk gekippt.«

»Ach, so nennt man das heutzutage also...« Wieder ein Rascheln. »Alexander.« Offenbar hat er einen Blick aufs Display geworfen. »Woher willst du wissen, dass er nicht was eingeschmissen und sich mit der Dosierung vertan hat?«

»Weil er keine Drogen nimmt, du...!« Endlich die Autobahnauffahrt. Ich klemme mir das Handy noch einmal zwischen Ohr und Schulter, um zu schalten, auch wenn meine Nackenmuskulatur von der ungewohnten Haltung bereits schmerzt. Trotzdem nehme ich die Kurve viel zu schnell, sodass ich gegen die Tür gedrückt werde.

»Ja? Was denn? Sprich dich aus!«

»Jonas! Gib mir das Handy.«

»Nein. Das ist ein totaler Vollidiot. Außerdem scheint er unterwegs zu sein. Gehen wir.«

Es folgen ein kurzes Gerangel und ein paar gezischte Worte, dann habe ich wieder den anderen am Telefon.

»Hey, ähm... Alexander, richtig?«

»Ja.«

»Hi, ich bin Mateo.«

Ich brumme nur. Erwartet er jetzt eine Vorstellungsrunde inklusive Freundschaftseinladung auf Facebook?

Im dritten Gang schwenke ich vom Beschleunigungsstreifen auf die Autobahn, ehe ich erst den vierten, dann den fünften reinramme. Hinter mir wird gehupt und aufgeblendet, dann gleitet ein schwarzer, schnittiger BMW mühelos an mir vorbei. Der Kerl am Steuer gestikuliert wild, zeigt mir den Mittelfinger und zischt dann innerhalb von Sekunden über die praktisch leere Autobahn aus meinem Sichtfeld.

Klar. Der Idiot hat Grund, sich aufzuregen.

Und du bringst dich um, wenn du so weiterfährst.

Ich hole tief Luft und versuche nachzudenken. Dieser Mateo klingt deutlich freundlicher als der andere. Und immerhin telefonieren die beiden mit mir. Simon scheint im Moment nicht in akuter Gefahr zu schweben – abgesehen von seinem zugedröhnten Zustand.

Genau. Also beruhig dich.

Klappt nicht. Mein Herz hämmert immer noch viel zu schnell.

»Hört sich an, als wärst du im Auto. Wann bist du hier?«

Ich werfe einen Blick auf die Uhr im Armaturenbrett. Irgendwann muss ich irgendwo einen kurzen Stopp einlegen und diesen Hinterhof ins Navi eingeben. In Hannover kenne ich mich in etwa so gut aus wie in Reykjavík. »Gegen halb drei.«

Stille.

»Äh... was?«

»Ich wohne nicht gerade um die Ecke, okay?«

»Okay«, sagt dieser Mateo langsam. »Kennt dein Freund vielleicht Leute in der Nähe

»Nein. Das heißt... keine Ahnung. Doch, schon, aber...« Genau. Wo zum Teufel steckt eigentlich der Kerl, den Simon da kennt? Zu dem er ständig fährt? Den er im Studium kennengelernt hat und mit dem sich alles ach so richtig anfühlt? Hat der Penner ihn etwa so hinüber zurückgelassen?!

»Aber es ist kompliziert?« Mateos Stimme klingt unangemessen sanft.

»Ja. Verdammt kompliziert.« Ohne zu blinken – keine Hand frei und es ist schon anstrengend genug, bei diesem Tempo einhändig zu fahren –, rase ich an einem Lkw vorbei und ordne mich vor ihm wieder ein. Zum Glück herrscht nicht viel Verkehr.

Mateo seufzt. »Okay, pass auf. Vielleicht ist es besser, wenn wir deinen Freund ins Krankenhaus bringen« – im Hintergrund wird angefressen gestöhnt; bestimmt dieser andere Kerl – »und die Polizei verständigen. Wenn du sicher weißt, dass er nicht selbst was genommen hat, hat jemand versucht...«

Als Mateo verstummt, höre auch ich, dass Simon irgendetwas von sich gibt.

Sofort beschleunigt sich mein Puls. »Was ist? Was hat er?«

Ich trete das Gaspedal noch weiter durch. Jetzt kratze ich an der 180-km/h-Marke. Ganz schön unsicheres Fahrgefühl. Noch dazu einhändig. Mein Auto ist nicht mehr das jüngste und für solche Geschwindigkeiten definitiv nicht gemacht.

»Ich weiß nicht... Hey, du. Hm, Alexander? Wie heißt dein Freund?«

»Simon.« Es klingt wie ein Krächzen und ich schlucke trocken, um das raue Gefühl in meinem Hals loszuwerden.

»Simon? Geht's dir gut?«

»Keine... Poli... Wenn Schul...tung... erfährt... Probe...zeit... vorbei...«

Mir läuft ein eisiger Schauder den Rücken hinunter. Seit Simon das letzte Mal den Mund aufgemacht hat, klingt er noch schwerfälliger und zusammenhangsloser, noch weniger Herr seiner Sinne.

Mateo hat recht. Er und sein Kumpel – Jonas? – sind Fremde und ich noch zu weit weg. Es wäre das Vernünftigste, Simon in ein Krankenhaus zu schaffen und die Polizei zu benachrichtigen. Allein, dass Mateo das vorgeschlagen hat, macht deutlich, dass nicht sie es waren, die Simon unter Drogen gesetzt haben.

»Hast du das verstanden?«, fragt Mateo.

Bevor ich antworten kann, knurrt Jonas: »Nein. Der kriegt doch gar nicht mehr mit, was er redet. Die Polizei ist in seinem Sinne, also schlage ich vor, dass du sie anrufst, damit wir endlich hier wegkönnen.«

Die Polizei ist in seinem Sinne.

Nur dass sie das nicht ist. Verdammt. Das hat Simon gemeint.

»Scheiße.« Ich nehme kurz das Handy vom Ohr, um mir mit dem Handrücken über die Augen zu reiben. Okay. Kurz mal nachdenken. Ganz sachlich und ohne panische Angst um Simon.

Simon ist erst seit knapp einem Jahr Lehrer und derzeit noch auf Probe verbeamtet. Das heißt, wenn er Mist baut oder sich aus gesundheitlichen Gründen nicht eignet, kann er sich die Verbeamtung auf Lebenszeit abschminken.

Sicher, er hat die Drogen nicht selbst genommen, aber wahrscheinlich macht es auf die Wiegener Schulleitung keinen guten Eindruck, wenn herauskommt, dass Simon mitten in der Nacht in Hannover zugedröhnt vor einem Schwulenclub aufgelesen worden ist.

Und wenn wir die Polizei – oder das Krankenhaus – einschalten, wird es herauskommen. Irgendwie. Es besteht nur eine winzige Chance dagegen, das Risiko ist einfach zu groß. Der alte Gauß war schon zu unserer Schulzeit verdammt gut vernetzt und hat seine Augen und Ohren überall gehabt. Zudem ist der Griesgram einer vom ganz alten Schlag. Homosexualität kommt in seinem Weltbild ganz sicher nicht vor – und schon gar nicht an seiner Schule.

Wenn wir eine große Sache aus Simons Ausfall machen, gefährdet das seine gesamte Karriere.

Verdammte Scheiße.

»Hey. Mateo?«

»Ja?«

»Wir müssen das ohne Polizei machen. Und ohne Krankenhaus.«

»Warum?«, fragt er verwirrt.

»Weil es nicht anders geht.«

»Hm, okay. Aber du siehst ihn gerade nicht, Alexander. Mit dem Krankenhaus gehen wir definitiv auf Nummer sicher.«

Seine Worte lassen mein Herz stottern. Ich schlucke. »Was soll das heißen?«

»Na ja, er schwitzt, ist blass und nicht bei sich.«

Aber er ist anwesend genug gewesen, um bei der Erwähnung der Polizei zu protestieren. »Sehen so nicht alle Opfer von K.-o.-Tropfen aus?«

»Keine Ahnung. Ich habe noch nicht so viele gesehen.«

»Es geht trotzdem nicht.« Ich will nicht dafür verantwortlich sein, dass er seinen Job verliert. Seine verdammte Berufung. Simon hat schon Nachhilfe gegeben und unterrichtet, bevor er überhaupt das Abi in der Tasche hatte.

Aber willst du dafür verantwortlich sein, wenn er irgendwelche Folgeschäden zurückbehält? Was, wenn es doch so ernst ist? Du bist noch eine Dreiviertelstunde von ihm weg...

Ich kneife die Augen zusammen. Verdammt.

»Da gibt's überhaupt keine Diskussion«, blafft Jonas, der sich das Gespräch zusammengereimt haben muss – oder Mateo hat mich zwischenzeitlich auf laut gestellt. »Wir haben ihn gefunden, wir sind verantwortlich, also ruf ich jetzt den beschissenen Krankenwagen.«

»Nein! Nein, warte. Ich bin in einer Dreiviertelstunde da, dann –«

»Aber ich will in einer Dreiviertelstunde nicht mehr hier sein.«

»Jonas...«

»Was denn? Ist doch wahr. Für wen hält der sich? Spielt mit der Gesundheit seines Freundes.«

Das klingt, als wäre ich ein rücksichtsloser Klotz. Dabei ist es genau andersrum. Ich mache mir zu viele Gedanken um ihn. Ich beiße die Zähne zusammen.

»Hört zu, er ist Lehrer. Verbeamtet auf Probe. Wenn das rauskommt...« Ich lasse den Satz unheilvoll ausklingen und hoffe, dass sie sich den Rest denken können.

Immerhin scheine ich sie zum Nachdenken gebracht zu haben, denn sekundenlang höre ich nur dumpfen Verkehrslärm und Technobeats. Es macht mich nervös, dass ich schon wieder so lange nichts von Simon gehört habe, aber ich muss darauf vertrauen, dass er nur unter Einfluss der Drogen weggetreten ist.

»Ich habe noch nie gehört, dass jemand Schwierigkeiten bekommt, weil man ihn unter Drogen gesetzt hat«, sagt Jonas. »Das heißt, wenn es stimmt, was du gesagt hast, und er tatsächlich nichts nimmt.«

»Tut er nicht«, wiederhole ich noch einmal nachdrücklicher und ärgerlicher. »Aber...« Ich atme ein paar Mal tief ein und aus. Andererseits ist es jetzt auch schon egal. Ist nicht so, als würde ich das Versprechen, das ich Simon gegeben habe, brechen. Die zwei sind völlige Fremde. »Er ist nicht geoutet. Niemand außer mir weiß... Diese ganze Situation... Wir wohnen in einem winzigen Kaff und wenn jemand erfährt...«

Ich habe keine Ahnung, wie ich die Konsequenzen in Worte fassen soll. Für zwei offen schwul lebende Männer aus Hannover muss ich mich wie der letzte hinterwäldlerische Spinner anhören. Ich bin nicht mal sicher, ob man die Wiegener Dorfgemeinschaft überhaupt jemandem erklären kann, der nicht selbst dort aufgewachsen ist.

Irgendetwas muss jedoch bei den beiden angekommen sein, denn alles, was Mateo daraufhin sagt, ist: »Wir bleiben bei ihm, bis du hier bist, Alexander. Fahr vorsichtig.«

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Tag der Veröffentlichung: 03.10.2018

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