Kapitel 1
Ryans Arsch war perfekt. Der Schwung, die Form, die Beschaffenheit. Straffe Haut, die sich über wohlproportionierte Rundungen spannte. Natürlich kein einziges Haar weit und breit, egal, wie nah David an diesen vollkommenen Körperteil heranzoomte. Das warme Licht verlieh ihm einen goldenen Schimmer. Jedes Mal, wenn Ryan sich bewegte, tanzten winzige Schatten über die glatte Fläche.
»Drück den Hintern mehr raus. Höher.«
Ryan seufzte so sinnlich, dass es in Davids Nacken kribbelte. »Dein Wunsch ist mir Befehl.«
Er bog den Rücken durch. David leckte sich über die Lippen. Verdammt. Wie konnte irgendjemand so scheißperfekt aussehen? Das restliche Blut, das sein Gehirn bis eben noch angetrieben hatte, sackte in seine Lenden.
Konzentration. Konzen... Kontraktion. Konvulsion. Kopulation... Moment. David schüttelte den Kopf und rieb sich die Augen. Die Bilder, die durch seinen Kopf geisterten, verschwanden trotzdem nicht. Es wäre so leicht, die Kamera wegzulegen, auf Ryan zuzugehen, ihn zu packen und zu vögeln.
Das Studio war mit sexueller Spannung aufgeladen, seit Ryan durch die Tür marschiert war. Ryan hatte keine Gelegenheit ausgelassen, ihn zu berühren, und seitdem er sich dort auf dem Sofa räkelte, bewegte er sich wie ein verdammter Stripper – der er tatsächlich auch war. Seine Muskeln waren hervorragend trainiert. Wahrscheinlich besaß er sogar welche, von denen David noch nie etwas gehört hatte und die er so gut kontrollieren konnte, dass es Orgasmen unendlich in die Länge –
»David?«
David erschauerte. Ryan sprach seinen Namen immer englisch aus. David. Wie David Bowie, David Beckham oder David Duchovny. David. Das klang so international, so fantastisch. Zu gerne würde er es Ryan mal keuchen hören. Seufzen, ächzen, stöhnen...
»Drückst du heute noch mal den Auslöser? Die Position ist unbequem.«
David blinzelte durch den Sucher, bis er Ryans belustigten Gesichtsausdruck einfing. »Ich dachte, du wolltest sinnlich und erotisch aussehen. Hör auf zu grinsen.«
»Ich sehe immer sinnlich und erotisch aus, auch wenn ich grinse. Das solltest du wissen.«
David verzog das Gesicht, nahm die Kamera runter und stellte sich aufrecht hin. Ohne den Filter der Kamera sah Ryan noch attraktiver aus. Lange, sehnige Gliedmaßen, unter denen sich trainierte Muskeln abzeichneten, durch und durch der Körper eines Tänzers. Schmale Hüften, sexy braune Locken und die katzenhaftesten grünen Augen, die David je gesehen hatte.
Und was das Beste war: keine Tattoos, keine Piercings, keine Narben. So genau hatte er natürlich noch nicht nachgesehen, aber selbst mit dem Zoom hatte er bisher nicht mal eine Windpockennarbe ausgemacht – der Inbegriff von Vollkommenheit. Dazu Ryans ansprechender, englischer Akzent, sein perfektes Körpergefühl und David war verdammt noch mal verloren.
»Wenn du immer so aussiehst, solltest du deinem Freund vielleicht etwas schenken, auf dem du anders aussiehst.«
Ryan schnaubte und richtete sich auf. Davids Blick glitt an seiner makellosen Brust hinunter über seinen Waschbrettbauch und tiefer bis zu seinem Unterleib. Davids Schwanz zuckte. Ryan war halb steif. »Soll ich mich vielleicht verkleiden?« Träge zog er einen Finger über seine Brust. »Und das alles hier verstecken?«
David zwang sich, seinen Blick von Ryans Finger loszureißen, der jetzt über seine Brustwarze strich. Hitze ballte sich in seinem Unterleib zusammen. Keine Ahnung, wie er es schaffte, Worte zu formen. »Dein Freund weiß sicher, wie du nackt aussiehst.«
»Trotzdem sind Aktfotos noch mal was anderes.«
Scheiße, als wüsste David das nicht. Das lebende Beispiel hockte splitterfasenackt vor ihm. Nur gucken, nicht anfassen. Er hatte keine Ahnung, wie er die Fotos ohne Dauerständer nachbearbeiten sollte. Ryan hatte das Kalenderpaket gebucht. Zwölf sinnliche Posen, ein ganzes Jahr voll Sex. Normalerweise eins seiner liebsten Shootings, weil es seine Kreativität und sein Können forderte.
Nur mit Ryan war es Folter und Vergnügen zugleich.
»David. Du starrst schon wieder.«
»Und wessen Schuld ist das?« Mürrisch deutete er aufs Sofa. »Leg dich wieder hin.«
»Legst du dich zu mir?«
»Wenn du mir garantierst, dass mich Benno nicht zu Kleinholz verarbeitet, vielleicht.«
Ryan lachte. Der Laut perlte wie Champagner über Davids Wirbelsäule und ließ es in seiner Hose schmerzhaft eng werden – was Ryan nicht entging. »Du hast Angst vor Benno«, sagte er in einem so rauchigen Tonfall, in dem man höchstens Fick mich bis zur Bewusstlosigkeit sagen sollte.
David knirschte mit den Zähnen. »Leg dich wieder hin, ich habe um zwei den nächsten Termin.« Langweilige Bewerbungsbilder. Bis dahin musste er wieder runterkommen. Buchstäblich.
»Es ist noch nicht mal zwölf.«
»Wenn du weiter so viel quasselst, schaffen wir es trotzdem nicht. Wir haben erst vier Monate.«
»Egal. Dann machen wir einen zweiten Termin aus. Ich weiß ja, wie perfektionistisch du bei deinen Bildern bist, und ich will für Benno gut aussehen.«
Kannst du auch schlecht aussehen?
»Vielleicht verabreden wir uns nächstes Mal abends, nach Feierabend.« Ryan senkte die Lider und sah ihn unter seinen Wimpern hervor an. »Das bringt uns für die Aktfotos besser in Stimmung oder was meinst du?«
Oh, verdammt. Warum zum Teufel musste Ryan ausgerechnet mit einem Bär von einem Mann zusammen sein? Normalerweise zögerte David nicht, wenn er derart angebaggert wurde, aber Benno war nicht nur verdammt riesig und muskelbepackt, er hatte David auch schon schräg beäugt, als sich das ungleiche Paar vor ein paar Monaten zum ersten Mal in sein Studio verirrt hatte. Pärchenfotos – auf denen Benno immer gleich aussah, während Ryan mit der Kamera flirtete, als hinge sein Leben davon ab.
Seitdem schien er von den beiden – oder zumindest von Ryan – verfolgt zu werden. Sie begegneten sich in Clubs und Bars, Ryan brauchte neue Fotos für seine Webseite, Flyer, Wohnung, jetzt dieses Aktshooting... Sogar ihre Freundeskreise vermischten sich schon. In dieser Hinsicht war München das reinste Dorf.
Irgendwann würde David durchdrehen. Oder Ryan einfach flachlegen und sich anschließend von Benno die Knochen brechen lassen.
»Korrigier mich, aber ihr lebt doch in einer monogamen Beziehung, oder nicht?«
Ryan feixte ihn an. »Seit wann ist das für dich ein Hindernis?«
Seitdem der Bizeps meines potentiellen Konkurrenten den Umfang einer Regentonne hat. »Frag mich noch mal, wenn du wieder Single bist.«
Ryans Katzenaugen leuchteten auf. »Versprochen?«
Bevor David antworten konnte, unterbrach ihn die Türglocke, ein altmodisches Teil, ein Überbleibsel aus der Zeit, als sein ehemaliger Chef den Laden noch geführt hatte.
»Mahlzeit!«, rief Nathalie fröhlich durch den Laden. »Lieferservice ist da!«
»Ich bin hinten«, antwortete David und legte die Kamera weg. »Komme.«
Ryan hatte sich keinen Millimeter gerührt oder nach einer Decke oder seinen Klamotten gegriffen, um sich zu bedecken – natürlich nicht, Schamgefühl wäre in seinem Job kontraproduktiv. Außerdem war offensichtlich, dass er stolz auf seinen Körper war, ihn gerne zeigte und in Szene setzte. Andernfalls hätte er sich für einen Beruf entschieden, bei dem man mehr Klamotten trug.
»Bin gleich wieder da«, sagte David, als er bereits auf dem Weg in den vorderen Teil des Ladens war.
Ryan zuckte die Schultern. »Lass sie ruhig herkommen. Stört mich nicht. – Hey, Honey!«, rief er laut, um sich bemerkbar zu machen.
Schritte näherten sich dem Fotobereich. Ein kräftiger Geruch nach Hackfleisch und exotischen Gewürzen breitete sich im Studio aus. Peinlicherweise knurrte Davids Magen und erinnerte ihn daran, dass er seit heute Morgen acht Uhr im Laden stand. Ein früher Termin, biometrische Passbilder. Der Gipfel der Einfallslosigkeit.
»Hey, ich will nicht – oh mein Gott.« Kaum hatte Nathalie den Vorhang beiseitegeschoben, der als Sichtschutz zum vorderen Bereich diente, wandte sie sich mit einer erhobenen Hand als Scheuklappe ab. In der anderen hielt sie einen Styroporbehälter, der diesen leckeren Geruch verströmte. »Entschuldigt, sorry, ich wollte nicht stören. Ich dachte nur...« Sie linste noch einmal zu Ryan und als der sie nur breit angrinste, sagte sie: »Du weißt, dass du nichts anhast, oder?«
»Ja.«
Sie wandte sich an David. »Warum hat er nichts an?«
Bei ihrem strengen Unterton verdrehte David die Augen. »Weil wir Aktfotos machen.« Er deutete an sich hinunter, falls ihr entgangen war, dass er vollständig bekleidet war.
»Ach.« Sie wandte sich wieder an Ryan, diesmal alles andere als scheu. »Wie praktisch.«
»Für Benno.«
»Da wird er sich bestimmt freuen.« Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus. Sie wedelte mit dem Behälter. »Zeigst du mir schnell, wo ich den abstellen kann, David? Ich muss gleich wieder rüber.« Ehe er protestieren konnte – sie wusste genau, wo sich die winzige Küchennische befand –, hatte sie ihn am Arm gepackt und zog ihn mit sanfter Gewalt zum Vorhang. »Er ist gleich wieder da, Ryan. Frier dir in der Zwischenzeit nichts ab.«
»Ich mach mir einfach warme Gedanken. Bye, Nathalie.«
Auch ihren Namen sprach er in der englischen Variante aus. David konnte nichts dagegen tun, irgendwie fand er das sexy. Er warf Ryan einen entschuldigenden Blick zu, der jedoch nur die Schultern zuckte und zum Zeitvertreib nach seinem Handy griff.
Nathalie zerrte ihn einmal quer durch den Laden zur anderen Seite, wo sich die winzige, fensterlose Küchennische befand. Auf dem Weg dorthin klingelte das Geschäftstelefon am Empfangs- und Verkaufstresen. Trotz seiner Homepage, auf der man unter anderem online Termine ausmachen konnte, bevorzugten manche Kunden nach wie vor den persönlichen Kontakt via Telefon – wenn er allein im Studio war eher problematisch. Er konnte nicht gleichzeitig telefonieren und fotografieren und Elena, seine Aushilfe, war meistens nur bei Außenaufnahmen dabei, für die er sie extra anfordern musste. Bei normalen Studioaufnahmen ohne außergewöhnlichen Schnickschnack kam er gut allein zurecht – und konnte sich damit das Geld für eine Assistenz sparen.
Auch jetzt ließ er den Anrufer auf dem Anrufbeantworter landen, um ihn später zurückzurufen, da Nathalie gerade die Küchennische erreicht hatte. Auf höchst effiziente Weise drängten sich hier eine schmale Anrichte mit Spülbecken und zwei Kochplatten, Kaffeemaschine, Kühlschrank, Mikrowelle, Schränke und Schubladen. Mit zwei Personen war es hier so eng, dass David einen unangenehmen Druck auf der Brust spürte. Zum Glück gab es keine Tür oder etwas anderes, das die Öffnung zur Nische hätte blockieren können.
»Du weißt doch, wo die Küche ist.« David verrenkte sich etwas, um den Kühlschrank zu öffnen. »Stell’s einfach hier rein, ich mach’s mir später warm. Was gibt’s heute?«
Seit zwei Jahren betrieb Nathalie gegenüber die Suppenkönigin im Sandwichparadies. Hausgemachte Suppen und Eintöpfe sowie diverse Sandwichs und Wraps, alles zum Mitnehmen oder direkten Verzehr, wobei die Sitzgelegenheiten spärlich waren und eher an einen Imbiss erinnerten. Wenn er zur Mittagszeit jedoch aus dem Fenster sah, waren die Thekenplätze am Schaufenster immer besetzt. Von dort konnte man auf die Straße gucken und Leute beobachten oder sein Fotostudio betrachten.
»Orientalischer Hackfleischeintopf. Keine Sorge, ich hab dir extra eine Portion ohne Koriander abgeschöpft.« Sie stellte den Behälter in den Kühlschrank, knallte die Tür zu und schlug ihm gegen die Schulter.
»Aua!«
»Was zum Teufel soll das, David?«
»Was zum Teufel soll was?«
Sie gestikulierte so wild zum Fotobereich, dass ihr platinblonde Strähnen ihres kinnlangen Bobs ins Gesicht fielen. Wenn man Nathalie auf der Straße begegnete, käme man nie auf den Gedanken, dass sie konservative Eintöpfe und Suppen zusammenrührte. Rein äußerlich hätte sie eher in eine angesagte Szenebar gepasst, vielleicht auch in ein Piercing- und Tattoostudio. In ihrer linken Ohrmuschel steckten mehr Ringe, als David zählen konnte, und wenn sie sich so wie jetzt aufregte, blitzte ihr Zungenpiercing hervor. An ihrem ausrasierten Nacken flogen winzige schwarze Vögel empor, die irgendwo an ihrer Wirbelsäule aufstiegen.
Als David ihr zum ersten Mal gegenübergestanden hatte, wäre ihm bei dieser Masse an – freiwilligen! – Verunstaltungen beinahe die Kinnlade heruntergeklappt. Zum Glück hatten diese Entstellungen keine Auswirkungen auf ihre Kochkünste.
»Das ist ein ganz normaler Auftrag. Er will Benno einen Kalender schenken.«
»Na klar will er das. Und vorher will er sich stundenlang vor deiner Kameralinse räkeln, bis du schwach wirst. Dieser Kerl ist unglaublich.« Ihre Augen wurden schmal. »Und du auch. Als hättest du nicht genug andere Gelegenheiten.«
»Eben.« Betont gleichgültig zuckte er mit den Schultern. »Warum soll ich mir Ärger mit Benno einhandeln, wenn ich viel leichter und ungefährlicher an Sex kommen kann?«
»Weil du Ryan auf ein Podest stellst, seit du ihn das erste Mal gesehen hast. Und ungefähr genauso lange willst du ihn ficken.«
»Das heißt aber nicht, dass ich mich nicht unter Kontrolle habe und mich bei der ersten Gelegenheit auf ihn stürze.«
Nathalie verschränkte die Arme vor der Brust. »Trotzdem hätte er seine Nacktfotos auch in einem anderen Studio machen lassen können. Er weiß, wie scharf du auf ihn bist.«
»Ich bin aber nun mal der Beste.« Zumindest unter den Münchner Fotografen mit eigenem Studio und Publikumsverkehr.
Sie öffnete den Mund, als wollte sie etwas darauf erwidern, überlegte es sich jedoch anders. Weise Entscheidung. David hatte schon genug mit irgendwelchen Möchtegernfotografen zu tun, die glaubten, dass man für ein gutes Foto nur den Auslöser drücken und anschließend bei der Bildbearbeitung einen hübschen Filter drüberlegen musste.
»Das weiß ich«, sagte Nathalie sanft und strich über seinen Arm. »Seit du die Fotos für meine Website gemacht hast, rennen mir die Leute die Bude ein.« Spielerisch stieß sie ihm den Ellbogen in die Seite. »Du hast es sogar geschafft, mich gut aussehen zu lassen, trotz Piercings und Tattoos.« Sie streckte ihm die Zunge raus. Das Piercing blitzte im Schein der schwachen Deckenlampe auf.
David schnaubte, obwohl ihn das Lob freute. Es hatte einige Zeit gedauert, bis er mit Nathalies Fotos zufrieden gewesen war und ihre trendigen Verschönerungen nicht wie Dreck auf der Linse aussahen – oder als wäre der Fotograf ein Stümper. »Die Leute rennen dir die Bude ein, weil du gut kochst.«
»Oh, danke schön.«
»Es musste sie nur jemand mit der Nase drauf stoßen«, fuhr David fort, »und das geht am besten mit appetitanregenden Fotos.« Außerdem hatte ihm das Shooting als Abwechslung zum Alltag Spaß gemacht, obwohl es nur endlich viele Möglichkeiten gab, wie man einen Eintopf fotografieren konnte. Wahrscheinlich hatte er alle nur erdenklichen Einstellungen an diesem einen Nachmittag – der sich bis in den späten Abend erstreckt hatte – gefunden.
»Apropos appetitanregende Fotos...« Sie sah an David vorbei Richtung Fotoecke.
»Nicht schon wieder. Wie oft denn noch? Es ist ein ganz normaler –«
»Darum geht’s gar nicht. Ich hab mich nur gefragt, ob er uns noch ein paar Minuten schenkt oder dich gleich nackt suchen kommt. Wäre für meine Gäste eine nette Gratisshow.«
»Hast du nicht gesagt, dass du schnell wieder rüber musst?«
Nathalie winkte ab. »Der große Ansturm kommt erst kurz nach zwölf, wenn die umliegenden Büros in die Mittagspause gehen. Bis dahin kommt Minos auch ohne mich zurecht. Aber ich habe eventuell gute Neuigkeiten für dich. Vorausgesetzt, du willst noch mal Essen fotografieren. Diesmal natürlich mit Bezahlung.«
David runzelte die Stirn. Er hatte Nathalie mit den Fotos für ihre Webseite einen Gefallen getan. Natürlich hätte er dafür Geld nehmen können, aber ihm hatten die fotografierten Suppen und Eintöpfe gereicht. Außerdem war das nicht sein Fachgebiet. Dafür gab es Lebensmittel- und Foodfotografen – eine Richtung, in die er ganz sicher nicht wollte.
»Wieso?«, fragte er daher vorsichtig.
»Ich kenne den Betreiber mehrerer Restaurants und Cafés in München. Martin Weishaupt?«
Er schüttelte den Kopf. »Sagt mir nichts.«
Sie zählte einige Lokalitäten auf, die ihm schon eher bekannt waren, aber ihm gefiel trotzdem nicht, worauf das hinauslief. Es war nett, dass sie sich die Mühe gemacht hatte, aber... Lebensmittel...? Er wollte Geschichten erzählen, etwas ausdrücken, etwas einfangen, begeistern, faszinieren... Das würde ihm kaum mit einer Tomatensuppe mit einem Klecks Crème fraîche und Basilikum-Deko gelingen.
»Ihm sind deine Fotos auf meiner Website aufgefallen und als ich ihn letztens getroffen und ihm erzählt habe, wie viele Neukunden mir das eingebracht hat, hat er sich nach dir erkundigt. Warte. Ich hab extra seine Karte eingesteckt.« Sie kramte in sämtlichen Taschen ihrer kunstvoll zerfetzten Jeans herum.
»Nathalie...«
»Ah, hier!« Sie streckte ihm eine Visitenkarte entgegen. »Ob da was zustande kommt, liegt natürlich an dir. Aber kann ja nicht schaden, mal zu hören, was er sich so vorstellt, oder? Vielleicht ergeben sich daraus Folgeaufträge.«
Ihm fielen aus seiner Berufsschulzeit auf Anhieb zwei, drei Kollegen ein, die sich nach so einer Chance die Finger lecken würden – er leider nicht. Seine Stärke waren Menschen.
»Hey, guys. Seid ihr bald fertig da hinten?«, rief Ryan durchs Studio. David trat einen Schritt zurück und schaute am Empfangs- und Verkaufstresen vorbei zur Fotoecke. Ryan hatte sich den Vorhang wie eine Toga um den nackten Körper geschlungen und ein Bein aufgestellt. Er sah aus wie ein verdammter griechischer Gott. »Langsam wird’s hier hinten doch etwas einsam.«
»Komme.« David schnappte sich die Visitenkarte von Nathalie, froh, eine Ausrede zu haben, das Ganze schnell abzuwiegeln, ohne ihr auf die Füße zu treten. »Danke. Ich überleg’s mir.«
Kapitel 2
Sein Vierzehn-Uhr-Termin verspätete sich. Wie er so was hasste. Die schönsten Pläne mit der perfekten Zeitabfolge nutzten nichts, wenn seine verdammten Kunden nicht mitspielten.
David hatte Ryans Shooting extra eine Viertelstunde früher abgebrochen, um den Fotobereich für die Bewerbungsbilder herzurichten. Er brauchte anderes Licht, einen anderen Hintergrund und statt des Sofas eher einen der Sitzwürfel oder vielleicht einen Hocker oder Stuhl – je nach dem, was sein Kunde für ein Typ war.
Offensichtlich jemand, dem Pünktlichkeit nicht besonders viel bedeutet. David stocherte in seinem orientalischen Hackfleischeintopf herum, den er vor fünf Minuten aufgewärmt hatte. Gleich zwanzig nach. Wenn der Kerl noch länger auf sich warten ließ, würde er sich an die Bearbeitung des ersten Schwungs von Ryans Fotos setzen. Drei Monate fehlten noch, für die sie zeitnah einen neuen Termin vereinbaren mussten.
David schob sich einen Löffel Eintopf in den Mund. Nebenbei scrollte er durch seinen Instagram-Account und verteilte ein paar Herzen. Nathalie hatte den Hackfleischeintopf fotografiert – nicht besonders professionell, aber der verwendete Filter konnte das ausgleichen – und als Mittagsspecial getaggt. Ryan hatte ein älteres Foto von sich hochgeladen, das David für seine Website aufgenommen hatte, und ihn mit den verheißungsvollen Worten More to come verlinkt.
Hatte er etwa vor, seine Aktfotos hochzuladen? Davon wäre Benno bestimmt nicht begeistert.
Die Verlinkung hatte ihm drei neue Follower eingebracht, seit er zuletzt nachgeschaut hatte. Einer kam ihm dem Userbild nach bekannt vor. Er klickte auf das Profil und musste grinsen, als er den Mann von einer Unterhaltung bei LoveLife wiedererkannte. Er öffnete die Dating-App, die ihm prompt eine neue Chatnachricht anzeigte, gerade abgeschickt.
Coole Fotos! Kein Wunder, dass du auf deinen Bildern so gut aussiehst...
David schnaubte belustigt. Wie plump. Er grübelte über eine gute Antwort nach, die zu mehr führen könnte. Sie chatteten schon seit ein paar Tagen miteinander und auch die Fotos des anderen sahen vielsprechend aus. Tolle Gesichtsform, ein fantastischer Mund und sexy Grübchen. Leider war lediglich sein halber Oberkörper abgebildet, aber wenn die sehnigen Arme Rückschlüsse auf seinen restlichen Körperbau zuließen: definitiv jemand, der auf sich achtete.
David hatte am Wochenende noch nichts Bestimmtes vor, also...
Sein Handy vibrierte und zeigte eine neue LoveLife-Nachricht in dem hässlichsten Rot aller Zeiten an.
Wie viel davon ist echt und wie viel nachbearbeitet?
Das konnte er unmöglich auf sich sitzen lassen. David schaufelte sich einen weiteren Löffel Eintopf in den Mund, behielt den Löffel zwischen die Lippen geklemmt und tippte mit fliegenden Fingern: Find’s doch raus. Dann kann ich überprüfen, ob die sechzehn Zentimeter geschummelt sind.
Der andere hing offensichtlich gerade am Handy, denn er schickte ihm nur eine Sekunde später einen Tränen lachenden Smiley. Gebannt starrte David aufs Display, während der andere ewig an seiner nächsten Nachricht herumtippte. Die Glocke über der Eingangstür bimmelte, als jemand atemlos das Studio stürmte, als gelte es, die eigenen Truppen vor dem Einmarsch der feindlichen Armee zu warnen. Da die Nische etwas versteckt rechts der Tür lag, konnte David einen ungehinderten Blick auf den Kunden werfen, bevor er selbst gesehen wurde.
Ach du Scheiße. War das etwa sein Vierzehn-Uhr-Termin?
Ein zotteliger Lockenkopf, unzählige Sommersprossen und ein linkischer Körper, der den langweiligen Anzug nicht einmal ansatzweise ausfüllte, fielen ihm als Erstes unangenehm ins Auge, gefolgt von der verschwitzten, viel zu blassen Haut, die den Kerl unterstützt durch die schwarzen Klamotten regelrecht bleich wirken ließ.
Das war das Problem mit roten Haaren: Frauen machte es zu Sexbomben, Männer zu einer Kuriosität – es sei denn, man hieß Sam Heughan.
Das da vor ihm war zweifellos kein Sam Heughan. Das war nicht einmal ein Ed Sheeran oder Rupert Grint, die zumindest das gewisse Etwas ausstrahlten. Das da war... eine Katastrophe.
»Hal...« Der Typ japste nach Luft, räusperte sich und versuchte es noch mal, etwas lauter diesmal: »Hallo?« Er ging ein paar Schritte in den Laden, warf einen Blick nach links Richtung Studio und drehte sich dann nach rechts. Als er David in der Küchennische entdeckte, machte er einen erschrockenen Satz in die Luft und presste sich eine Hand auf das weiße, knittrige Hemd. Seine Wangen nahmen einen ähnlichen Farbton wie seine knalligen Haare an. »Ähm, hi?«
David nahm den Löffel aus dem Mund. »Hi. Luis Tauer?«
»Ja.« Er nickte und fuhr sich durch die Haare, womit er das dort herrschende Chaos perfektionierte. »Es tut mir sehr leid, dass ich zu spät bin. Eigentlich hatte ich um vierzehn Uhr einen Termin für Bewerbungsbilder, aber es gab einen Notarzteinsatz auf der Stammstrecke und eine Störung bei der U-Bahn, also...«
»Kein Problem.« David legte Löffel und Handy weg und trat aus der Küchennische heraus ins Licht. »Mein nächster Termin kommt erst um vier, bis dahin haben wir Zeit.« Er streckte Luis Tauer eine Hand entgegen. »David Jenissen.«
Luis starrte ihn an, die – zugegeben – recht hübschen, himmelblauen Augen geweitet. Er wäre auch echt ein armes Schwein gewesen, wenn er nicht wenigstens ein ansehnliches Attribut vorzuweisen hätte. Die Röte auf seinen Wangen, die durch die vielen Sommersprossen fast getarnt wurde, intensivierte sich, als sein Blick an David entlangwanderte. Sein Kehlkopf hüpfte, als er schwer schluckte.
Sieh mal einer an. David musste grinsen. Da schwamm jemand auf seiner Seite des Ufers.
Luis‘ Blick tastete sich seinen Körper wieder hinauf und blieb an Davids ausgestreckter Hand hängen. Er zuckte zusammen und griff schnell danach. Obwohl die Schweißperlen auf seiner Stirn etwas anderes hatten befürchten lassen, war sein Händedruck warm und trocken.
»Freut mich. Luis Tauer.«
»Ich weiß. Soweit waren wir schon.«
»Oh.« Ein überraschtes Blinzeln. »Ich... also... tja...«
David löste seine Hand aus Luis‘. Meine Fresse. Der Kerl war ein offenes Buch. »Was dagegen, wenn wir uns duzen? Dann fällt es mir leichter, mich auf das Shooting einzulassen.« Totaler Blödsinn. Aber wenn Luis so verkrampft blieb wie im Moment, würden sie in anderthalb Stunden niemals auch nur ein einziges passables Foto schießen.
»Klar...«, sagte Luis ein wenig hilflos.
»Super.« David ging an ihm vorbei Richtung Fotobereich. »Du hast nicht zufällig Wechselklamotten dabei? Deine sehen etwas... mitgenommen aus.«
»Nein. Ich brauche nur ganz normale Bewerbungsbilder.«
David schob den Vorhang zur Seite und bedeutete Luis, vorauszugehen. »Es gibt keine normalen Bewerbungsbilder. Mit der Bewerbung machst du den ersten Eindruck auf deinen potentiellen, zukünftigen Arbeitgeber. Im Idealfall kommst du also sympathisch und kompetent rüber und nicht normal.« Was bei diesem Exemplar Mensch nicht ganz einfach werden würde, so wenig wie er jetzt schon ausstrahlte.
David legte den Kopf schief, als Luis an ihm vorbei zu einem der Sitzwürfel ging. Die Anzughose schlackerte an seinem dürren Hintern. Buchstäblich kein Arsch in der Hose. Vielleicht auch im übertragenen Sinn. Er wirkte regelrecht eingeschüchtert von seiner Umgebung und verloren, als er sich umsah, auch wenn er bemüht war, es sich nicht anmerken zu lassen.
»Ich habe schon gehört, dass Sie einer der besten Fotografen im Raum München sind. Aber ich hätte nicht mit Bewerbungstipps gerechnet.«
»Du.«
Luis sah ihn über die Schulter an. »Hm?«
»Du. Wir wollten uns duzen.«
»Ach ja.« Wieder wanderte seine Hand an seinen Hinterkopf und zerzauste die Locken. David verzog das Gesicht. »Tut mir leid.«
David winkte ab. »Also, keine Wechselklamotten?«
Luis schüttelte den Kopf und zupfte am Kragen seines Hemds herum. »Was stimmt denn damit nicht?«
Tja, wo zum Teufel sollte er anfangen? »Erstens ist das Hemd knittrig.« Das war das Offensichtlichste, mit dem er Luis am wenigstens auf die Füße trat. »Ich habe hinten ein Bügelbrett.« Für Notfälle. Was bisher genau einmal vorgekommen war. Normalerweise waren seine Kunden besser vorbereitet. »Wenn du es mir gibst, gehe ich schnell mit dem Bügeleisen drüber, dann sieht es nicht aus, als hättest du es gerade aus dem Wäschekorb gezogen. In der Zwischenzeit kannst du dich akklimatisieren und vielleicht...« Vage gestikulierte er zu Luis‘ Kopf. »... deine Haare kämmen. Da hinten steht ein Schminktisch mit Spiegel und allem Nötigen. Auch Taschentücher und Puder.« Falls du deine glänzende Stirn in den Griff bekommen willst. Aber wozu gab es Photoshop?
Luis starrte ihn an wie die wahrgewordene Milka-Kuh. »Sie... du... willst, dass ich mein Hemd ausziehe?« Er umschlang seinen Oberkörper mit den Armen, als hätte er Angst, David könnte ihm was weggucken.
»Um es zu bügeln, ja«, sagte David langsam, falls Luis das entgangen war. Heilige Scheiße, das schien ein verflucht harter Fall zu werden. »Glaub mir, es gibt Dinge, die lassen sich nicht mal mit Photoshop wegretuschieren.« Ein zerknittertes Hemd gehörte zwar nicht zwangsläufig dazu, aber es würde in der Nachbearbeitung mehr Arbeit machen, als wenn er es jetzt schnell bügelte. Luis‘ zahllosen Sommersprossen hingegen...
»Ich... weiß nicht.«
»Aber ich. Also vertrau mir und gib mir dein Hemd.« Keine Ahnung, warum sich der Kerl so anstellte. Unter dem weißen Hemd zeichnete sich ein ebenso weißes T-Shirt ab, kein Grund für Hemmungen. »Außerdem trägst du doch noch ein Shirt drunter.« David ließ sich zu einem Augenzwinkern hinreißen. »Im Schwimmbad hast du weniger an.«
Großer Fehler. Luis‘ Blick zuckte zum Ausgang des Studios. Offenbar hatte er keinen Schimmer, wie er mit einem lockeren Spruch, geschweige denn freundlichem Flirten umgehen sollte. Mühsam unterdrückte David ein Augenrollen. Nicht nur unansehnlich, sondern auch noch kompliziert. Wenigstens hatte er dem Ganzen nicht mit irgendwelchen Verschönerungen die Krone aufgesetzt.
»Vielleicht mache ich die Fotos doch besser an einem Automaten. Sie – du – bist ganz schön teuer.«
»Ich bin auch ganz schön gut.« David seufzte, als Luis ihn befremdlich anblinzelte. Mit selbstbewusstem Auftreten kam er also auch nicht klar. Zeit, etwas herunterzufahren. »Hast du deine bisherigen Bewerbungsfotos an Automaten gemacht?«
»Manchmal.«
»Weshalb hast du dann einen Termin bei mir vereinbart?«
»Weil...« Er wich Davids Blick aus. »Weil du mir empfohlen wurdest. Du...« Er schien nach den richtigen Worten zu suchen und gestikulierte hilflos. »... machst sehr gute Fotos.«
»Ich weiß. Und offenbar versprichst du dir von diesen sehr guten Fotos einen neuen Job.« Oder überhaupt einen Job. Mit diesem Auftreten – und Bewerbungsbildern aus einem verdammten Fotoautomaten – fiel es ihm wahrscheinlich schon schwer, ein Vorstellungsgespräch zu ergattern.
Überraschenderweise schien er damit irgendetwas gesagt zu haben, das auf fruchtbaren Boden gefallen war. Luis straffte die Schultern und reckte das Kinn. Gott, hoffentlich kam der Typ niemals auf die Idee zu pokern.
»Vielleicht will ich nur mein LinkedIn-Profilbild aktualisieren.«
David unterdrückte ein Grinsen. »Sicher, wer will das nicht?« Er streckte die Hand aus. »Gib mir dein Hemd.«
Im ersten Moment befürchtete David, dass Luis es sich anders überlegen würde, aber die Entschlossenheit in seinem Blick geriet nur kurz ins Wanken. Er stellte seine Umhängetasche neben den Stuhl vor dem Schminktisch, bevor er das schlecht sitzende Jackett ablegte und über die Rückenlehne hängte, dann zögerte er. Mit einem minimal angedeuteten Kopfschütteln rief Luis sich in der nächsten Sekunde jedoch offenbar selbst zur Ordnung und löste die Knöpfe seines Hemds.
Fasziniert sah David ihm dabei zu. Ob Luis wusste, wie leicht er zu durchschauen war?
Unter dem Hemd kam tatsächlich ein schlichtes, weißes T-Shirt zum Vorschein, das in Luis‘ Hosenbund steckte und einen zwar schlanken, aber nicht besonders trainierten Körper offenbarte. Die blassen Arme waren ebenfalls mit Sommersprossen übersät. An seinem rechten Handgelenk trug er eine Uhr mit breitem Lederarmband, die weder zu ihm noch zu dem Anzug zu passen schien. Hm, komisch. Selbst die meisten Linkshänder, die er kannte, trugen ihre Armbanduhr links.
Luis räusperte sich und hielt ihm das Hemd entgegen. Nachdem David es ihm abgenommen hatte, rieb sich Luis über einen Arm, als würde er sich nackt fühlen.
Nein, nicht nackt. Unwohl. Mit jeder Faser seines Körpers. Scheiße. Hatte er noch Alkohol in der Küche? Vielleicht könnte er Luis damit lockern.
»Danke. Ich bin kurz hinten. Da liegen übrigens ein Kamm und eine Bürste.«
»Klar.« Luis starrte die beiden Utensilien an, als wäre er schon mal mit ihnen in die Schlacht gezogen und als hätten sie ihm mitten im Kampf den Dienst verweigert.
David verschwand in den winzigen, fensterlosen Lagerraum, wobei er die Tür weit offen ließ. Hier bewahrte er neben Requisiten für Shootings auch das Bügelbrett auf – und eigentlich auch das Bügeleisen, aber das stand natürlich nicht neben dem Brett, wo es hingehörte.
Er wühlte sich durch einige Kisten und Regale und verfluchte sich für die vorherrschende Unordnung. Offenbar hatte er es versäumt, aufzuräumen, nachdem er beim letzten Mal wie ein Tornado hier durchgefegt war. Er erinnerte sich nicht an viel, nur an eine Menge Alkohol und alberne Partybilder, die auch nicht dadurch besser wurden, dass sie mit seiner Spiegelreflex aufgenommen worden waren. Beim nächsten Mal würden sie Nathalies Laden stürmen und auf den Kopf stellen, so viel stand fest.
Er fand das Bügeleisen in einem alten Zylinder, der ein Überbleibsel seines ehemaligen Chefs sein musste. Mit dem Laden hatte David auch dessen kompletten Bestand übernommen und über die Jahre ergänzt und langsam, ganz langsam begann sich auch seine Klientel zu ändern. Für seinen Geschmack noch zu langsam. Das meiste Geld verdiente er nach wie vor mit Familienportraits, Bewerbungs- und Passbilder. Wenigstens schien er sich inzwischen einen ganz guten Namen auf diesem Gebiet gemacht zu haben.
Nachdem er die gröbsten Falten aus Luis‘ Hemd gebügelt hatte, räumte er Bügelbrett und -eisen wieder weg und hoffte, dass sich Luis in der Zwischenzeit beruhigt hatte. Wenn er auf den Bewerbungsfotos wie ein starrer Besen mit explodierten Borsten und aufgeklebtem Lächeln aussah, wäre Davids Ruf ganz schnell dahin.
»So, das hätten wir.« Er gab Luis sein Hemd zurück, der sich vom Stuhl vor dem Schminktisch erhob. Schnell schlüpfte er hinein und knöpfte es in Windeseile zu. David nickte zufrieden. »Sieht gleich viel besser aus.«
Er zupfte das zu große Kleidungsstück zurecht, bis es bestmöglich saß. Luis hatte eine verdammt schwierige Figur. Die Schultern waren ähnlich breit wie die schmalen Hüften und seine Arme zu dünn, sodass der Stoff vor allem am Oberkörper und den Oberarmen nicht richtig saß. Vielleicht, wenn er etwas Muskelmasse zulegen oder sich mal an einer Kleidergröße kleiner versuchen würde... Oder er müsste sich seine Hemden maßschneidern lassen – wofür ihm zweifellos das Geld fehlte.
Als er den Blick hob, bemerkte er, dass Luis ihn anstarrte. Sicher war David ihm wieder zu nahe getreten – buchstäblich –, aber er konnte die Fotos schlecht aus dem anderen Raum durch die Wand schießen. Luis hatte fast die richtige Größe, dass David das Kinn auf seinem Kopf ablegen konnte. Der zottelige Haarwust ließ ihn größer wirken, als er war.
Apropos zotteliger Haarwust...
»Hast du die Bürste nicht gefunden?«
Luis fasste sich schon wieder in die Haare. »Doch. Die... die sind so.«
Heilige Scheiße. David unterdrückte ein Seufzen. »Okay, dann fangen wir mal an. Hast du eine Krawatte...« Stirnrunzelnd betrachtete er Luis‘ nackten Kragen. »Nein, du bist nicht der Krawattentyp.«
»Doch. Ich habe eine dabei.« Er wollte sich nach seiner Tasche bücken, aber David schüttelte den Kopf.
»Versuchen wir’s ohne.« Sonst siehst du noch verkleideter aus.
»Aber... Bewerbungsfotos ohne Krawatte?«
»Ja.« Er schnappte sich Luis‘ Jackett vom Stuhl, drückte es ihm in die Hand und schob ihn Richtung Sitzwürfel. »Setz dich hin, mach’s dir bequem. Ich kümmere mich ums Licht.«
Das meiste hatte er schon hergerichtet, gleich nachdem Ryan gegangen war. Jetzt nahm er nur noch die Feinjustierung vor, schaltete Lampen ein, richtete Scheinwerfer aus und überlegte einen Moment, welchen Hintergrund er wählen sollte. Grau – zu langweilig, außerdem war Luis zu jung für die Farbe. Was Grünstichiges... würde furchtbar zu seiner Haut und seinen Haaren aussehen, genauso wie was Rotes. Blau? Zu dunkel, zu kalt. Aber er hatte hier doch irgendwo noch einen helleren Blauton, etwas wärmer... passend zu seinen Augen... ah ja.
David zog den gesuchten Hintergrund herunter und nahm seine Kamera vom Schreibtisch, um sie aufs Stativ zu setzen. Kaum hatte er sich jedoch dahinter gestellt, sah er schon, wie sich Luis verspannte, als hätte jemand all seine Eingeweide einzeln auf eine Streckbank geschnallt. Wie das Reh im Scheinwerferlicht starrte er David an.
Oh Mann. David machte ein paar Probeschüsse, hauptsächlich, um Licht und Hintergrund zu überprüfen. Perfekt. Nur das Model ließ zu wünschen übrig. Er gab ihm ein paar Anweisungen, wie er sich positionieren sollte, und Luis führte sie mit dem Charme eines Roboters aus – insbesondere, nachdem Ryan sich eben noch mit der Geschmeidigkeit einer Raubkatze bewegt hatte.
»In welcher Branche arbeitest du, Luis?«, fragte er im Plauderton in der Hoffnung, Luis abzulenken. Manche Menschen verkrampften sich automatisch, sobald eine Kamera auf sie gerichtet war. Vielleicht gehörte Luis dazu. Wenn er ihn dazu bringen konnte, die Linse zu vergessen...
»Ist das für das Foto wichtig?«
»Tatsächlich ja.« Noch so eine Halbwahrheit. Hoffentlich würde ihm das keine Minuspunkte auf seinem Karmakonto einbringen. Schließlich war das hier für einen guten Zweck. »Je nach Branche könnte ich das Foto an dich und die Anforderungen anpassen.«
»Ich will... eigentlich nur ganz normale Bewerbungsbilder.«
David sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen über die Kamera hinweg an. Das Thema hatten sie doch schon abgehakt.
Luis atmete aus. »Marketing.«
Überrascht musterte David ihn. »Marketing?« Damit hätte er im Leben nicht gerechnet. Luis wirkte eher wie ein Buchhalter, jemand, der wenig Kontakt mit Menschen hatte und sich zwischen Zahlenkolonnen oder hinter einem Computer verstecken konnte. »Das ist bestimmt sehr interessant und spannend, oder?« Er tauchte abermals hinter der Kamera ab. Verflucht. Keine Spur von Entspannung.
Luis zuckte die Schultern.
»Hast du studiert? Oder eine Ausbildung gemacht?«
»Studiert.« Luis rutschte auf dem Sitzwürfel herum, als würde er auf einem Nagelbrett sitzen. Das Gespräch schien nicht zu seinem allgemeinen Wohlbefinden beizutragen.
David verbiss sich seine nächste Frage. Er hatte das Plaudern so verinnerlicht, dass es ihm schwerfiel, die Klappe zu halten. Die meisten Menschen ließen sich von Belanglosigkeiten einwickeln – und redeten unheimlich gerne über sich selbst, wenn man sie ein wenig anstupste.
Luis gehörte nicht zu dieser Sorte Mensch. Langsam wurde es richtig kompliziert.
David zoomte näher an Luis‘ Gesicht heran. Durch seine Art wirkte er jünger, als er wahrscheinlich war. Um Augen und Mund entdeckte David feine Lachfältchen. Mitte, Ende zwanzig vielleicht. Sein Lächeln sah schief und ungelenk aus. Und überall Sommersprossen. Wenn er sie zählen würde, hätte er schon hundert zusammen, noch bevor er mit einer Gesichtshälfte fertig war.
Er ließ den Sucher über Luis‘ Körper wandern und stutzte, als er bei seinen Schuhen ankam. Die Hosenbeine waren im Sitzen ein Stück hochgerutscht und entblößten die Socken, die in schicken, schwarzen Schuhen steckten – Ringelsocken. In Blau-Weiß.
Obwohl die ungefähr so gut zu seinem Anzug passten wie Partyhütchen auf eine Beerdigung, entsprachen sie vom ganzen Outfit am ehesten Luis‘ Persönlichkeit – vermutlich. David musste grinsen.
»Wie alt bist du?«
»Siebenundzwanzig.« Luis stockte und fuhr mit einer Hand unruhig über seinen Oberschenkel. »Wieso?«
»Nur so. Ist das dein erster Job nach deinem Studium?«
»Nein.«
»Also willst du dich wegbewerben?«
Luis wand sich. »Können wir aufhören zu reden? Ich kann mich nicht konzentrieren.«
»Du sollst dich auch nicht konzentrieren.« David nahm die Kamera vom Stativ. »Du sollst ganz natürlich sein.«
»Ich bin natürlich. Ich meine, ich versuch’s. Ist mit dem ganzen Zeug und...« Er machte eine vage Geste zu den Strahlern und zu David. »Ist nicht leicht, wenn man so beobachtet wird.«
»Ich will aber nicht, dass du auf den Fotos nervös oder gequält aussiehst.«
»Tue ich nicht. Bin ich nicht. Weder nervös noch... gequält.«
Sicher. Und auf einem Scheiterhaufen zu stehen, ist fast so angenehm wie ein Bad im heißen Whirlpool. »Versuchen wir was anderes.« Er ging auf Luis zu und machte erst ein paar Schritte nach links, dann nach rechts, ehe er sich hinhockte.
»Was machst du da?«
»Den Blickwinkel verändern«, sagte David und hob die Kamera vors Gesicht.
Nein. Passte auch nicht. Irgendwie bekam er Luis nicht richtig aufs Bild. Nicht, weil der Platz nicht ausreichte, sondern weil... irgendetwas fehlte. Es war nicht perfekt – und das lag nicht daran, dass Luis eine Ansammlung an Unperfektheit und so entspannt wie eine gestraffte Bogensehne war.
»Ich will keine Experimente. Ich will –«
»Ganz normale, stinklangweilige Bewerbungsbilder, ja, verstanden.«
David lehnte sich zurück, dann wieder vor und rutschte ein Stück nach rechts, bevor er sich wieder hinstellte. Er dirigierte Luis in diese oder jene Position, aber mit jeder Anweisung schien er es nur noch schlimmer zu machen. Auf jedem Foto wirkte er mehr wie eine unwillige Marionette, die man in eine unnatürliche Haltung gezwängt hatte. Keins der Bilder lag qualitativ über denen, die man am Automaten bekommen konnte.
»Verdammt«, murmelte David und kehrte zum Stativ zurück.
Also doch die Basics. Ohne Leben, ohne Seele, aber wenigstens solide. Beschissene Standardfotos, die nichts ausdrückten. Wieso zum Teufel bekam er Luis nicht zu fassen? Eben mit Ryan war jeder Schuss ein Treffer gewesen. Das konnte unmöglich allein daran liegen, dass die Kamera Ryan liebte und Ryan wusste, wie er sich in Szene setzen musste. Gute Fotos entstanden durch den Fotografen, nicht durch das Model.
Du bist eben doch kein guter Fotograf. Im Grunde weißt du das. Du bist ein Stümper mit einem Stück Elektronik in der Hand und mittelmäßigen Photoshop-Kenntnissen.
»Alles okay? Haben wir’s?«
Luis wollte gerade aufstehen, als David die Kamera ruppig aufs Stativ setzte. »Nein«, sagte er schärfer als beabsichtigt. »Nein«, wiederholte er ruhiger und tauchte hinter der Kamera ab. »Aber gleich. Gib mir noch zehn Minuten. Und lächle. Beug den Oberkörper ein wenig zu mir, ja, stopp. Und jetzt die linke Schulter zurück. Fühlt sich unnatürlich an, ich weiß, aber auf dem Foto wirkt es nicht so.«
Nachdem Luis die gewünschte Haltung eingenommen hatte, drückte David ein paar Mal auf den Auslöser und korrigierte Luis‘ Position, ehe er die Fotos im Display überprüfte. Okay. Luis‘ Lächeln war immer noch schief, die Haare ein zerrupftes Vogelnest und die Augen die eines Welpen, der nicht wusste, ob er gleich gefressen oder doch noch mal verschont wurde.
Seufzend rieb sich David die Schläfe. Der Rest war stimmig. Es waren gute Fotos. Nicht herausragend, aber gut. Nicht seine übliche Qualität, aber gut. Gut musste reichen.
»Okay.« David entfernte die Speicherkarte. »Schauen wir mal, ob was dabei ist.«
Er setzte sich an seinen iMac, legte die Speicherkarte ein und bedeutete Luis, näherzukommen, als er sich durch die Fotos klickte. Die ersten waren furchtbar und es wurde lange Zeit nicht besser. Davids Magen verkrampfte sich. Scheiße. Wie ein blutiger Anfänger. Luis schien auch nicht begeistert, denn er sagte nichts.
»Das ist doch ganz gut, oder?« Zögernd deutete Luis auf eins der zuletzt geschossenen Fotos.
»Ja«, brummte David. Ganz gut. Normalerweise fielen ihm seine Kunden vor Begeisterung um den Hals. Die weniger extrovertierten starrten wenigstens mit Sternchen in den Augen verzückt auf den Bildschirm, voller Unglauben, dass sie so gut aussehen konnten.
»Und das hier vielleicht.«
David verzog das Gesicht. Geprügelter Hund lässt grüßen. Außerdem war der ganze Bildschirm voller... Sommersprossen. Er zeigte auf das Bild daneben, das etwas seitlicher aufgenommen war. »Mir gefällt das besser.«
»Echt?« Luis legte den Kopf schief, als er das Bild betrachtete.
Nein. Eigentlich war das ganze Shooting für die Tonne, aber sein nächster Termin würde gleich in der Tür stehen. Luis hatte das Digitalpaket gebucht – zwei Fotos als Datei auf CD, keine Ausdrucke. Zwei Fotos. Er würde es überleben, dass sie nicht perfekt waren.
»Okay, dann nehme ich die beiden. Von dem ersten hätte ich gerne noch einen Ausdruck – nein, zwei. Ich weiß, dass das extra kostet, aber –«
»Schon gut. Ist ausnahmsweise im Preis inbegriffen.«
»Wirklich? Wieso?«
Weil ich für diesen Schrott kein Geld verlangen kann. David zwinkerte Luis zu. »Weil ich noch nie jemanden wie dich vor der Kamera hatte.«
Wie erwartet schoss Luis die Röte ins Gesicht und füllte die winzigen Stellen zwischen seinen Sommersprossen aus. Er wandte den Blick ab, offensichtlich auf der Suche nach etwas, mit dem er vom Thema ablenken konnte. Gut. David wollte nämlich nicht weiter darauf herumreiten, dass das hier sein schlechtestes Shooting seit seiner Ausbildung gewesen war. Seine Worte waren nicht als Kompliment gemeint gewesen, auch wenn Luis die Zwischentöne offensichtlich nicht durchschaut hatte.
»Setz dich doch vorne kurz an den Tisch und bedien dich an den Getränken. Ich bin gleich mit den Fotos bei dir.«
Er konnte den Stein, der Luis bei dieser Fluchtmöglichkeit vom Herzen fiel, beinahe auf den Boden krachen hören. Hastig nickte er, schnappte sich seine Umhängetasche und verschwand durch den Vorhang nach vorne.
David sah ihm Kopf schüttelnd hinterher, ehe er sich widerwillig dem iMac zuwandte. Wenn er sein ganzes Können und Wissen mobilisierte, konnte er in der Nachbearbeitung vielleicht noch etwas retten.
Kapitel 3
»Deine Fotos sind der Wahnsinn«, sagte David, das Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt, während er durch Ryans Kalender blätterte. Die fünf Stück, die Ryan bestellt hatte, waren heute Morgen geliefert worden, aber bisher war David zu beschäftigt gewesen, um einen Blick darauf zu werfen. Jetzt konnte er sich gar nicht mehr losreißen. Zum Glück hatte er bis zu seinem nächsten Termin um halb drei ein paar Minuten Luft. Familienportrait. Keins der Kinder älter als sechs. Er hatte den Fotobereich schon vorbereitet und ein paar Spielsachen und Requisiten bereitgelegt.
Ryans rauchiges Lachen jagte ein Kribbeln über seine Wirbelsäule. »Was hast du erwartet, David? Immerhin bin ich drauf zu sehen – und du hast die Fotos gemacht.«
Was neuerdings kein Garant für preisverdächtige Bilder war, wenn er an das Debakel mit Luis zurückdachte. Zum Glück hatte er seitdem mit keinem weiteren Kunden solche Probleme beim Shooting gehabt. Vielleicht hatte es doch an Luis gelegen. Oder er selbst hatte einfach einen schlechten Tag gehabt – so was sollte vorkommen.
Ob er mit den Dingern einen neuen Job bekommen hat?
David blätterte von Juni zu Juli. Das Foto hatten sie bei dem nachgeholten Termin draußen aufgenommen – Ryans Idee. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie an der Isar ein Plätzchen ohne viel Publikumsverkehr gefunden hatten, aber für das Ergebnis hatte sich die Mühe allemal gelohnt. Wahrscheinlich hatte jetzt der eine oder andere Passant ein Foto auf dem Handy, wie sich Ryan nackt am Ufer räkelte. Zum Glück war seine Aushilfe Elena wegen des Lichts und anderem Equipment dabei gewesen, sonst hätte sich David womöglich mit ihm zusammen am Ufer geräkelt.
»Holst du die Kalender ab oder soll ich sie dir schicken?« Der Dienstleister, bei dem er die Kalender drucken ließ, hätte sie auch direkt an Ryan versenden können, aber David überprüfte das Produkt gerne ein letztes Mal, bevor es an den Endkunden rausging.
»Warum bringst du sie nicht vorbei?« Bei Ryan klang das wie ein Vorschlag zum Sex.
»Du meinst, nachdem du mir Bescheid gesagt hast, wann Benno nicht da ist? Soll doch ein Geschenk für ihn werden.«
Noch ein Lachen. David rieb sich über den Nacken, um das Kribbeln zu vertreiben, während er zum August blätterte. Ryan nackt an einen Baum gelehnt. Heilige Scheiße.
Er konnte sich wirklich nicht über einen Mangel an Sex beschweren. Erst gestern hatte er sich mit einem Kerl von LoveLife getroffen. Sie waren zusammen was trinken gewesen, aber der Abend hatte schnell in Davids Bett geendet. Trotzdem kam er sich jedes Mal vor wie ein Teenager mit Samenstau, wenn es um Ryan ging.
Er hörte, dass Ryan irgendetwas sagte, aber sein Blut brauchte einen Moment, ehe es wieder in sein Gehirn zurückgekehrt war. »Was?«
»Nicht nur für ihn. Oder glaubst du, er braucht fünf von den Dingern? Einer ist für dich, David. Für deine Mühen.«
»Für meine...« Er blinzelte und klappte den Kalender zu. Familienportrait. Mit kleinen Kindern. Da war ein Ständer alles andere als angebracht. »Du hast mich bezahlt. Ich kann das nicht annehmen.«
»Natürlich kannst du.« Er senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Ich verrat’s auch nicht Benno.«
»Und für wen sind die anderen drei?«
»Das wüsstest du wohl gern, hm? Also, was ist?«, wechselte er abrupt das Thema. »Wir haben schon so lange nichts mehr zusammen unternommen.«
»Wir haben erst vor drei Wochen Fotos an der Isar gemacht.«
»Eben. Außerdem meinte ich Freizeitaktivitäten. Party, tanzen, trinken. Wie wär’s nächstes Wochenende?«
David musste schlucken, als sein Mund auf einmal sehr trocken wurde. »Du meinst, du und ich?«
»Nein, wir alle.« Auch ohne Videotelefonie sah David das selbstgefällige Grinsen in Ryans Stimme live und in Farbe vor sich. Gott, wie gerne er es ihm von den Lippen küssen wollte. »Und Nathalie natürlich, wenn sie will.«
Fraglich. Als Nathalie das letzte Mal mit ihnen in einem Schwulenclub gewesen war, hatte sich eine riesige Blondine mit Haaren bis zum Hintern an ihre Fersen geheftet und sie sogar bis auf die Toilette verfolgt. Letztendlich hatte Benno der Frau mit sanftem Muskelspiel klarmachen müssen, dass Nathalie nicht lesbisch und auch darüber hinaus nicht interessiert war. Für solche Situationen war der Brecher echt praktisch.
»Sicher, wieso nicht?«, sagte David leichthin und versuchte, zu überspielen, woran er gedacht hatte. Auch wenn Ryan wusste, dass David auf ihn stand, musste er dessen Selbstbewusstsein nicht noch weiter stärken.
»Großartig. Wenn wir uns vorher bei uns treffen, kannst du die Kalender mitbringen. Lass sie einfach in dem Karton oder einer Tüte, ich versteck sie schon rechtzeitig.«
»Okay. Schick die Details am besten per WhatsApp rum.«
Durch das Schaufenster sah er eine Großfamilie schnurstracks auf seinen Laden zukommen – dem Anschein nach junge Eltern, die Großeltern beiderseits und drei Kinder. Das Jüngste hockte auf dem Arm seines Vaters und brüllte sich so sehr die Seele aus dem Leib, dass sein kleiner Kopf knallrot angelaufen war. Je näher sie kamen, desto lauter drang das Geschrei bis in den Laden vor.
Ach. Du. Scheiße.
»Ryan, ich muss Schluss machen. Mein nächster Termin ist da.« Er warf den Kalender zurück zu den anderen vier in den Karton auf dem Empfangstresen und klappte den Deckel in der Sekunde zu, als die Glocke über der Eingangstür bimmelte, begleitet von nervenzerreißendem Geheul.
»Ich hör’s. Viel Spaß.«
David schnaubte. »Danke.« Er nahm das Handy vom Ohr, blendete das Brüllen aus und lächelte die etwas erschöpft wirkende Mutter freundlich an. »Hallo. Familie Behrens?«
***
David klingelten noch immer die Ohren, als er die Familie zwei Stunden später an der Tür verabschiedete. Der jüngste Spross hatte zwar irgendwann aufgehört zu schreien, aber mit drei kleinen Kindern war es immer laut und anstrengend. Die Motivmöglichkeiten waren begrenzt und er musste höllisch aufpassen, um genau die richtige Sekunde zu erwischen, in der alle gut auf dem Foto aussahen. Das hieß nicht zwangsläufig, dass alle in die Kamera schauten, solange er das Familiengefüge und die Atmosphäre zwischen ihnen einfing. Eine gute Viertelstunde hatte er nur damit verbracht, mit einer der beiden Großmütter vehement zu streiten.
Als er ihnen die Fotos am Bildschirm gezeigt hatte, waren jedoch alle schlagartig verstummt, ehe sie in Begeisterungsstürme ausgebrochen waren. Selbst die Großmutter hatte ihm widerwillig ihre Anerkennung zollen müssen.
Tja. Warum nicht gleich so? Er hatte den Scheiß schließlich von der Pike auf gelernt. Er hatte ebenfalls mehr Spaß an der Sache, wenn die Fotos fantastisch aussahen.
In der Küchennische füllte er Bohnen in seine extravagante Kaffeemaschine nach und bereitete sich einen frisch gemahlenen Cappuccino zu. Er streute eine großzügige Prise Zimt darüber und kehrte mit der Tasse an den Empfangstresen zurück.
Sein Handy blinkte. Zwölf neue Likes auf Instagram für das Foto, das er heute Mittag von Nathalies vegetarischem Gemüseeintopf mit Kokosmilch hochgeladen hatte, eine Nachricht von Nathalie in Form eines Smileys mit Herzchenaugen, was wohl so was wie ein Dankeschön für die kostenlose Werbung sein sollte, und eine Nachricht von LoveLife. Der Typ von gestern Abend.
War toll mit dir. Hatte echt viel Spaß – und kann dich immer noch spüren. Was machst du heute Abend? Lust, mal mein Bett zu testen?
David schmunzelte. Wie nett. Trotzdem zögerte er mit einer Antwort. Es passierte öfter, dass sich jemand nach dem Sex noch mal bei ihm meldete. Bei diesem speziellen Kerl schrillten jedoch seine Alarmglocken. Der Typ schien zur Sorte Klammeraffe zu gehören, die den Unterschied zwischen einer lockeren Affäre und etwas Ernstem nicht kannte.
David wollte nichts Ernstes. Solange der Sex unverbindlich blieb, hatte er kein Problem mit einer Freundschaft Plus. Er konnte auf Anhieb fünf Männer aus seinem Telefonbuch nennen, mit denen das wunderbar funktionierte. Und das war auch gut so. Alles andere war zu kompliziert und einengend. Wozu sich binden, wenn sich frei sein so toll anfühlte?
Sein Daumen schwebte über der Tastatur. Ein freundlicher Korb wäre das Beste. Der Sex war nicht so überragend gewesen, dass sich eine zweite Runde lohnte – schon gar nicht bei seinem warnenden Bauchgefühl. Da konnte er bessere Kandidaten finden.
Als die Türglocke bimmelte, schaute er auf. Für heute hatte er keine Termine mehr, aber hin und wieder verirrte sich Laufkundschaft für spontane Fotos oder eine Beratung in seinen Laden.
Vor ihm stand ein Junge mit furchtbarem Haarschnitt und noch schlimmerem Klamottengeschmack. Jemand mit derart heller Haut sollte kein übergroßes, knallgelbes Shirt anziehen, wie er es unter dem abgewetzten Anorak trug. Wenn er Glück hatte, würde sein Ästhetikempfinden noch nachreifen, da er kaum volljährig sein konnte. Über seiner Schulter hing eine Umhängetasche in schreiend grellem Orange, aus der er einen Stapel Flyer zog.
»Hi.« Für seine schlaksige Statur hatte er eine erstaunlich angenehme, tiefe Stimme. Zu dumm, dass man die nicht sehen konnte. Der Junge schwenkte die Flyer. »Darf ich die hier auslegen?«
»Kommt drauf an.« David legte das Handy weg und streckte eine Hand aus. »Was sind das für Flyer?«
»Für die Galerie Ott drüben in Nymphenburg. Für... äh...« Er schielte auf die Flyer. »Fotos. Genau. Von irgend so einer großen Nummer. Und weil Sie ja Fotograf sind, dachte ich, das passt.«
Er klatschte David den Flyerstapel in die Hand, der sekundenlang darum kämpfen musste, sie nicht gleich wieder fallen zu lassen, als hätte er sich verbrannt. Galerie Ott. Na super. Widerwillig warf er einen Blick drauf.
Die Aufmachung wirkte edel und elegant, genauso wie das Papier – wie immer nur das Beste. Der grazile Schriftzug der Galerie war dezent und gleichzeitig unübersehbar platziert. Vernissage an einem Samstag Mitte Oktober. Den Hauptteil des Flyers machten zwei Fotos aus, die wahrscheinlich Teil der Ausstellung waren. Viel nackte Haut und Körperteile, die auf dem einen Foto gnadenlos ausgeleuchtet waren und auf dem anderen in einem Spiel aus Licht und Schatten verschwanden. Davids Magen krampfte sich zusammen, als er den Namen des ausstellenden Fotografen las.
»Und?«, hakte der Junge nach. »Darf ich die hier liegen lassen?« Er klopfte auf seine Umhängetasche und setzte ein mitleidiges Gesicht auf. »Ich hab hier noch ungefähr eine Million drin, keine Ahnung, wohin ich damit sonst soll.«
»Wie wär’s mit der Mülltonne?«
Ihm wurde erst bewusst, dass er das laut ausgesprochen hatte, als der Junge in schallendes Gelächter ausbrach. »Mann, voll gerne, aber dann bezahlen die mich nie wieder fürs Austragen. Die Besitzerin ist zwar echt scharf, aber auch scheißkorrekt. Ich wette, die rennt die nächste Zeit durch sämtliche Läden und Cafés, nur um zu gucken, ob ich meinen Job auch gemacht hab.«
Der Gedanke schoss ihm blitzschnell durch den Kopf. Eine absolut kindische, idiotische Reaktion, die weit unter seiner Würde sein sollte. Trotzdem legte er den Batzen in seiner Hand auf den Tresen und machte eine auffordernde Geste. »Wenn das so ist, helfe ich dir natürlich gerne. Gib mir noch einen Stapel. Die werden weggehen wie warme Semmeln.«
»Echt? Voll cool, danke!« Strahlend griff er noch mal in die Tasche, die tatsächlich zum Bersten gefüllt war mit Flyern, und drückte David eine großzügige Menge in die Hand. »Meinen Sie, ich kann’s auch mal drüben bei der Suppenkönigin versuchen?«
»Sicher, die hilft auch immer gerne.« Und er käme kinderleicht an weitere hundert bis zweihundert Flyer.
Vollauf zufrieden verließ der Junge sein Studio und marschierte schnurstracks zu Nathalies Laden rüber. David wartete genau so lange, bis er in dem Lokal verschwunden war, ehe er sämtliche Flyer in den Mülleimer unter dem Tresen warf. Nur weil der Junge sich nicht traute, sie wegzuschmeißen, musste das nicht automatisch auch für ihn gelten.
Mit zusammengebissenen Zähnen betrachtete er den Haufen im Mülleimer. Bescheuert. Er war verdammt noch mal ein erwachsener Mann. Über so was sollte er drüber stehen. Außerdem war es völlig egal, ob er ein paar hundert Flyer vernichtete, in der Tasche des Jungen hatten sich mindestens fünftausend Stück befunden. Wahrscheinlich war er nicht mal der einzige Austräger oder die Flyer das einzige Werbemittel. Die Galerie Ott scheute keine Kosten und Mühen, um eine Ausstellung bekannt zu machen, schon gar nicht bei so einem Starfotografen.
Grimmig riss David eine Schublade am Empfangstresen auf und wühlte darin herum. Er war sicher, dass er das Ding hier irgendwo... ah ja. Einen Moment lang betrachtete er nachdenklich die Visitenkarte, die Nathalie ihm vor Wochen in die Hand gedrückt hatte.
Das ist eine dumme Kurzschlussreaktion. Lass es.
Na und? Es war seine dumme Kurzschlussreaktion. Außerdem musste er sich zu nichts verpflichten. Nur mal hören, wie das Angebot lautete. Falls der Kerl in der Zwischenzeit nicht schon einen richtigen Foodfotografen engagiert hatte.
Bevor er es sich anders überlegen konnte, griff er nach seinem Handy und wählte die Nummer von Martin Weishaupt. Nach einem kurzen Gespräch – das Angebot stand tatsächlich noch – verabredeten sie sich für nächste Woche, um eine potentielle Zusammenarbeit zu besprechen.
Als David aufgelegt hatte, fühlte er sich kein Stück besser. Nur dümmer. Verdammt. Er raufte sich die Haare und schnappte sich abermals sein Handy. Er musste noch dem Kerl von LoveLife antworten. Vielleicht sollte er doch zusagen. Sex war immer gut, um sich abzureagieren. Scheiß auf sein Bauchgefühl. Er war schon einige Klammeraffen losgeworden, die nicht mit einem unverbindlichen Fick klargekommen waren.
Er hatte gerade zu tippen angefangen, als sein Geschäftstelefon klingelte. Kurz war er versucht, den Anrufbeantworter drangehen zu lassen und zurückzurufen, aber er würde sich wegen eines blöden Flyers nicht so runterziehen lassen, verflucht.
»Fotostudio Blickwinkel, David Jenissen am Apparat.«
Ein Räuspern. »Hallo, ähm, Luis Tauer hier. Ich würde gerne einen Termin vereinbaren für... für eine Portraitserie. Das große Paket. Mit... Studio- und Außenaufnahmen.«
Kapitel 4
Irgendwie hatte David nicht damit gerechnet, Luis Tauer noch einmal wiederzusehen. Dazu war das Shooting für die Bewerbungsfotos zu miserabel gelaufen.
Als Luis jetzt mit einer kleinen, grünen Sporttasche wieder in seinem Laden stand, breitete sich leichte Unruhe in seiner Magengegend aus, beinahe so etwas wie Nervosität, was völliger Blödsinn und absolut unnötig war. Wenn Luis die Fotos so beschissen finden würde wie David, hätte er sicher kein zweites Shooting bei ihm gebucht. Kein Grund, zum ängstlichen Azubi zu mutieren.
»Hallo, Luis«, grüßte David. »Schön, dich wiederzusehen.« Das meinte er sogar fast ernst, immerhin schien er trotz aller Widrigkeiten einen treuen Kunden gewonnen zu haben. Demonstrativ sah er auf seine Armbanduhr. Sieben Minuten nach sechs. »Diesmal sogar fast pünktlich.«
Luis‘ Hand wanderte an seinen Hinterkopf und zerzauste die furchtbaren Locken, die seit seinem letzten Besuch kein bisschen ordentlicher aussahen. »Entschuldigung. Ich bin leider nicht früher losgekommen.«
David winkte ab. »Macht nichts. Du bist eh mein letzter Termin für heute.«
»Ja. Danke, dass... du meinetwegen länger arbeitest.«
Das Du schien ihm immer noch – oder erneut – Probleme zu bereiten. Vielleicht musste er sich erst wieder daran gewöhnen.
»Kein Problem. Freut mich ja, dass du einen neuen Job gefunden hast. Den sollst du nicht gleich wieder verlieren.«
Irgendwie bezweifelte David, dass das mit seinen Bewerbungsbildern zusammenhing, andererseits konnte er sich nicht vorstellen, dass Luis mit seinem Auftreten überzeugt hatte – oder mit seinem Modebewusstsein. Als er die nichtssagende, schwarze Jacke auszog, kam darunter ein unförmiger Pullover zum Vorschein. Eine langweilige Jeans ohne modische Raffinesse oder angemessenem Schnitt komplettierten sein Outfit.
Scheiße. Hoffentlich hatte er wenigstens etwas Brauchbares zur Auswahl in seiner Sporttasche mitgebracht. Vielleicht hätte David am Telefon präziser sein sollen, was Luis an Wechselkleidung mitbringen sollte. Besaß der Kerl überhaupt vernünftige Klamotten? Oder wenigstens welche, die einigermaßen passten?
»Deine Jacke kannst du mir geben«, sagte David, während er um den Tresen herumkam. Er nahm sie Luis ab und hängte sie an die Garderobe, bevor er die Eingangstür abschloss. Er hatte seit zehn Minuten offiziell Feierabend und wollte nicht, dass sich ein Kunde in den Laden verirrte und sie störte, nur weil noch Licht brannte.
Anschließend drehte er das Geschlossen-Schild nach außen – noch so ein altmodisches Überbleibsel seines ehemaligen Chefs, das David wegen seines Retro-Charmes jedoch gefiel.
Luis beobachtete ihn unsicher. Sein Blick zuckte von David zur Tür, als hätte er ihm den einzigen Fluchtweg aus dem Kolosseum abgeschnitten, kurz bevor die Löwen freigelassen wurden. »Ähm...« Er umklammerte seine Sporttasche fester. »Warum –«
»Weil ich schon geschlossen habe und nicht gestört werden will. Beim Shooting«, fügte er hinzu, als Luis‘ Blick einen Tick zu lange an seinem Mund festhing.
Luis lachte auf. Es klang etwas zu erleichtert, um ungekünstelt zu wirken. »Ach so, klar. Macht Sinn.«
Meine Fresse. Das ging schon wieder gut los. Vielleicht würde er diesmal tatsächlich auf Alkohol als Allheilmittel zurückgreifen müssen. Aber eins nach dem anderen.
»Also, die Portraitserie, ja?«, fragte David, als er Luis voraus zum Fotobereich ging.
»Genau.« Luis fuhr sich durch die Haare und David konnte sich gerade noch rechtzeitig auf die Zunge beißen, bevor er ihn anblaffte, das Chaos nicht noch zu verschlimmern. »Ich dachte, da ich mit den Bewerbungsfotos so ein Glück hatte, versuche ich es auch noch mit Portraitfotos.«
»Aha.« Die Fotos mussten ihm wirklich gefallen haben, wenn er sich noch einmal hertraute, obwohl ihn Davids Nähe sichtbar nervös machte. »Und wozu brauchst du die?«
Wenn er den Anlass kannte, fiel es ihm leichter, sein Model in Szene zu setzen. Noch einfacher wurde es, wenn er die Person näher kannte. Auch wenn ihm Luis im Gegensatz zu vielen anderen Kunden im Gedächtnis geblieben war – nicht im positiven Sinn –, hatte er keine Ahnung, wie er ihn ablichten sollte. Er brauchte mehr Input, mehr Infos, mehr Details zu Luis, sonst würde es wie bei den Bewerbungsbildern in einer Sackgasse enden.
»Hm, ich...« Luis stellte die Sporttasche auf den Stuhl vor dem Schminktisch und verbrachte eine geschlagene Minute damit, umständlich den Reißverschluss zu öffnen. »Ich dachte an ein Weihnachtsgeschenk. Für... äh, meine Familie. Eltern. Großeltern. Und... so.«
Ist klar. Deswegen schoss ihm auch wieder die Röte ins blasse Gesicht. Wie ein Lügendetektor. Luis musste das hassen. »Okay. Du willst also brav, süß und unschuldig aussehen. Kein Problem.« David verkniff sich ein Grinsen, als Luis zusammenzuckte.
»Eigentlich... also... würde ich lieber...«
»Hör mal, es ist mir völlig egal, wozu du die Fotos haben willst.«
»Warum fragst du dann?«
»Weil ich gerne wüsste, mit welcher Grundstimmung wir arbeiten. Fotos für die Familie sehen anders aus als für den Partner oder die Partnerin. Das ist doch im Marketing nicht anders, oder? Eine Anzeige im Playboy vermittelt eine ganz andere Stimmung als in einem Micky Maus-Heft.«
Damit schien er dieselbe Sprache wie Luis gesprochen zu haben, denn er lächelte sein schiefes Lächeln. »Stimmt.«
»Wenn du mir also nicht sagen willst, wofür du die Fotos brauchst, gib mir wenigstens einen Hinweis, in welche Richtung es gehen soll. Oder hast du dir vielleicht schon selbst was überlegt?« Er musste zumindest fragen, auch wenn es ihm meistens sauer aufstieß, was sich seine Kunden Tolles hatten einfallen lassen. Man sah sich selbst meistens mit anderen Augen als ein Außenstehender.
Luis zögerte, dann zog er sein Handy aus der Hosentasche und tippte darauf herum. »Ich habe mir deinen Account bei Instagram angesehen, bevor ich den Termin für die Bewerbungsbilder gemacht habe. Um mich zu informieren. Die Fotos haben mir gefallen, also...« Ein schneller Blick zu David, bevor er sich wieder aufs Display konzentrierte. »Jedenfalls folge ich dir jetzt und... na ja... so eine Stimmung wäre gut.« Er hielt David sein Handy hin.
Beinahe hätte David gelacht, als er auf eins von Ryans sexy Fotos starrte. Mit nacktem, glänzendem Oberkörper und tief sitzender, eng anliegender Jeans schmiegte sich Ryan barfuß an eine Polestange. In seinen grünen Augen lagen neben Verheißung unzählige Versprechen. Das gedämpfte Licht hob seine sehnigen Muskeln auf sinnliche Art hervor, sodass es aussah, als müsste man nur die Hand ausstrecken, um diesen wunderschönen Mann zu berühren.
Beim Anblick des Bildes fühlte sich David an jenen Nachmittag im Dionysos zurückversetzt. Der Besitzer von Ryans Stammclub hatte ihnen gegen einen kleinen Obolus freundlicherweise die Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt. David hatte zwar zuvor schon gesehen, wie Ryan sich an einer Polestange bewegte, aber die kleine Privatvorführung hatte ihn ziemlich aus dem Konzept gebracht. Ein Wunder, dass überhaupt ein gutes Foto bei dem Shooting herausgekommen war. Allein bei der Erinnerung zuckte Davids Schwanz – und offenbar nicht nur seiner.
Das Foto, das er mit Ryans Erlaubnis auf seinem Instagram-Account hochgeladen hatte, hatte ihm etliche Follower eingebracht – und Luis.
David riss sich von dem Handy los und ließ seinen Blick an Luis entlangwandern. Verdammt. Wenn er Luis auch nur ansatzweise so ablichten konnte wie Ryan auf diesem Foto, war er ein verfluchter Zauberer.
Zu dumm, dass er sich Luis zu null Komma null Prozent in so einer Situation oder Position vorstellen konnte – oder wollte.
Bei seinem Gesicht angekommen, bemerkte er, wie Luis sich unter seinem Blick wand. Scheiße. Das würde beschissen viel Arbeit werden. Selbst wenn sie die Polestange wegließen, haperte es immer noch am Ausdruck in den Augen. Konnte Luis damit überhaupt etwas anderes ausdrücken als Friss mich nicht?
David räusperte sich. Fangen wir klein an. Minischritte. »Du willst also sexy Fotos für deinen Freund machen?«
Luis‘ Augen wurden kreisrund. »Woher weißt du...?« Er biss sich auf die Unterlippe und legte das Handy auf den Schminktisch. Praktischerweise konnte er dabei Davids Blick ausweichen. »Ich meine... ich habe nicht gesagt... Wieso denkst du...«
»Dass du schwul bist? Ich hoffe, ich verrate dir kein Geheimnis, aber das ist offensichtlich.« Allein wie du mich ansiehst, hat dich in den ersten zwei Sekunden verraten.
»Oh.« Scheinbar wusste Luis nicht so recht, wohin mit seinen Händen, da er sie erst in die Hosentaschen stopfte, dann hinten in die Gesäßtaschen schob und schließlich die Arme verschränkte. Es wirkte weniger angriffslustig als Schutz suchend. »Ist das ein Problem? Ich dachte, wenn du solche Fotos machst...«
»Dein Gaydar funktioniert nicht besonders gut, oder?«
Luis blinzelte. Es dauerte genau drei Sekunden, bis der Groschen fiel. Auch diesen Zeitpunkt konnte David perfekt an seinem Gesicht ablesen, denn es lief wieder rot an. »Du bist...?«
»Seit meinem fünfzehnten Lebensjahr. So. Und nachdem wir unsere sexuellen Vorlieben nun geklärt haben: Du möchtest deinem Freund also erotische Fotos schenken?«
Luis presste die Lippen zusammen, als sich seine Wangen noch einen Tick röter färbten. Gott, konnte ein Gehirn überhaupt richtig funktionieren, wenn es ständig derart gekocht wurde?
»Nein. Ich bin... die Fotos sind für...« Er holte tief Luft. »... ein Dating-Portal.«
David verbiss sich ein Schmunzeln. Das war eine verdammt schwierige Geburt gewesen, aber für jemanden wie Luis ergab das vermutlich Sinn. Nachdem er seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt mit Davids Fotos verbessert hatte, wollte er sich nun buchstäblich selbst an den Mann bringen.
»Verstehe. Okay. Damit lässt sich doch arbeiten. Wie wär’s, wenn du deine Klamotten mal hier ausbreitest, damit ich mir angucken kann, was du mitgebracht hast? Ich hole in der Zwischenzeit was zu trinken.«
Luis nickte und stürzte sich auf seine Tasche wie auf einen Rettungsring. »Ich hätte gerne ein Wasser.«
Wasser ist zum Waschen da, hätte David beinahe geantwortet, aber er hatte keine Lust auf eine Diskussion. Er würde Luis einfach vor vollendete Tatsachen stellen. Glücklicherweise hatte er seinen Alkoholvorrat gerade aufgestockt.
Auf dem Weg in die Küche puzzelte David bereits an geeigneten Posen und Motiven. Aktfotos kamen definitiv nicht in Frage, aber danach hatte Luis auch nicht gefragt. Oberkörperfrei fiel auch aus. Das, was er bisher von Luis gesehen hatte, sollte besser nicht im Netz kursieren, wenn er auf Männerfang ging. Wobei jemand wie Luis wahrscheinlich auf der Suche nach der großen, einzig wahren Liebe war. Ha. Er sollte sich besser mal den einen oder anderen Fick angeln, um lockerer zu werden. Hatte der Kerl überhaupt schon mal Sex gehabt?
Kopfschüttelnd warf David einen Blick in den Kühlschrank. Alle möglichen Softgetränke, Sekt, Piccolos und diverse Hugo- und Aperol-Varianten in Dosen – bei Freundinnenshootings der totale Renner – sowie Bier. Nichts Hartes. Natürlich nicht. Er hatte noch nie harten Alkohol vor einem Shooting ausgeschenkt, höchstens danach, wenn man zusammen in eine Bar gegangen war. Meistens war es keine gute Idee, betrunken Fotos zu machen, weder als Fotograf noch als Model.
Er schnappte sich zwei Bier aus dem Kühlschrank, öffnete sie noch in der Küche, um jeglichem Protest zuvorzukommen, und ging wieder nach hinten. Über Schminktisch, Stuhl und Boden verteilten sich diverse Kleidungsstücke, die David mit einem unterdrückten Seufzen zur Kenntnis nahm. Selbst die Altkleidersammlung würde das meiste davon wieder ausspucken. Vielleicht doch zum Teil nackt...?
»Hier.« David drückte Luis ungefragt die Bierflasche in die Hand, die ihm im ersten Moment wegen des Kondenswassers beinahe aus der Hand gerutscht wäre.
»Äh... Leitungswasser wäre auch okay gewesen.«
»Für sexy Fotos ist es ganz praktisch, sich ein wenig in Stimmung zu bringen. Lockerer zu werden.« Besser konnte er es nicht umschreiben, ohne Luis auf die Zehen zu treten. »Falls du kein Bier magst, habe ich auch noch Sekt da.«
»In Stimmung...?«
»Es hilft, wenn man auf den Fotos nicht wie das Reh im Scheinwerferlicht aussieht. Auf Dating-Portalen, meine ich.«
Luis runzelte die Stirn. »Ich bin kein Reh.«
»Wunderbar. Dann Prost.« Er stieß seine Flasche gegen Luis‘ und trank einen langen Schluck. Als er die Flasche wieder absetzte, betrachtete Luis ihn mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Und warum genau musst du dich in Stimmung bringen?«
David grinste. »Das ist mein Feierabendbier.«
»Kannst du fotografieren, wenn du angetrunken bist? Verwackelte Schnappschüsse bekomme ich auch allein hin.«
Na so was. Noch keinen Schluck getrunken, aber schon machte sich die Wirkung des Biers bemerkbar. »Ich kann immer fotografieren.« Und es dauerte eine Weile, bis er angetrunken war, aber das stand hier nicht zur Debatte.
Luis atmete aus und musterte sekundenlang das Bier in seiner Hand. David konnte praktisch sehen, wie sich die Rädchen in seinem Kopf drehten, bis er eine Entscheidung gefällt hatte und einen Schluck trank. Sehr gut. Ein Minischritt vorwärts.
»Dann zeig mal, was du mitgebracht hast«, sagte David, als hätte er sich nicht längst einen Überblick verschafft. Vielleicht versteckte Luis irgendwo noch was Cooles.
»Na ja, ich war mir nicht ganz sicher, nachdem wir telefoniert haben. Also habe ich eine kleine Auswahl mitgebracht.«
Eine kleine und zutiefst beschissene Auswahl. David trank einen weiteren Schluck und linste zur Tasche, in der sich noch etwas Schwarzes zu befinden schien. Oder war das der Innenstoff? »Okay. Ist da noch was drin?«
»Nein.«
Dieser Mann konnte einfach nicht lügen. »Ich glaube doch.« David stellte die Bierflasche ab und wollte nach der Tasche greifen, als Luis sich verspannte. Himmel Arsch, als handelte es sich dabei um die Kronjuwelen. »Darf ich?«
»Das...« Luis fuhr sich durch die Haare und David musste sich schon wieder auf die Zunge beißen. »Ich hab mich vergriffen. Eigentlich wollte ich eine andere Hose... hey!«
Die Flasche in seiner Hand machte ihn zu langsam und ungeschickt, sodass David mühelos die Hose aus der Tasche ziehen konnte. Normalerweise benahm er sich bei seinen Kunden nicht so dreist, aber Luis musste definitiv ein wenig geschubst werden, um aus dem Quark zu kommen. Er rechnete ohnehin nicht mit viel, als er die Hose am Bund festhielt, damit sie sich auseinanderfaltete, aber...
Wow. David legte den Kopf schief, als er den schwarzen, teilweise zerrissenen Stoff taxierte. Sofort tauchten Bilder vor seinem geistigen Auge auf. Ein harter Kontrast zu Luis‘ blasser Haut und den roten Haaren, aber mit der richtigen Beleuchtung, dem richtigen Oberteil... Das könnte was werden. David sah es genau vor sich.
»Wie gesagt, die Hose ist aus Versehen in der Tasche –«
»Sie gefällt mir.« Und sie passte absolut nicht zu dem Bild, das er sich bisher von Luis gemacht hatte.
»Was? Im Ernst?«
»Ja. Wieso besitzt du eine zerrissene Hose?« Neugierig betrachtete er Luis, der seinem Blick verlegen auswich.
»Die, ähm... stammt aus meiner rebellischen Phase.«
Und in welcher Phase steckte er jetzt? Der langweiligen? »Hast du noch mehr Klamotten aus deiner rebellischen Phase dabei?«
»Nein.«
Großartig. Während David im Geiste den Klamottenfundus des Studios durchging, ließ er seinen Blick noch mal über Luis‘ ausgebreitete Auswahl schweifen. Vielleicht das graue Shirt da... auch wenn der Rundhalsausschnitt mit Abstand der grausamste war, den er je gesehen hatte. Höher geschlossen als ein verdammter Priesterkragen. Aber irgendwo musste noch eine Schere rumliegen...
»Du willst mich in einer kaputten Jeans fotografieren? Sieht das nicht... ich weiß nicht, billig aus?«
»Sah der Typ an der Stange mit nacktem Oberkörper billig aus?«
Luis errötete. »Nein. Aber –«
»Hab ein bisschen Vertrauen, okay?«, schnitt David ihm ungeduldig das Wort ab. »Ich hatte doch auch recht damit, dass du keine Krawatte umbinden sollst.« Wobei das eher ein Glückstreffer gewesen war, jetzt war er sich sicher. So sicher war er während des ganzen Bewerbungsfotoshootings nicht gewesen. Da hatte er nicht einmal eine Vorstellung gehabt, aber jetzt... Gott, er wollte sich sofort hinter seine Kamera schwingen und nicht lange herumdiskutieren.
»Ja, schon.« Unsicher huschte Luis‘ Blick von der schwarzen Hose zu David und wieder zurück – und zurück zu David. Etwas flackerte in seinen hellen Augen, als er stockend sagte: »Okay. Ich vertraue dir. Sag, was ich machen soll.«
Die Worte schienen ihn ziemliche Überwindung zu kosten, da sich der Schimmer zwischen seinen Sommersprossen intensivierte und die verräterische Hand wieder in seine Haare griff. Okay, jetzt reichte es.
»Als Erstes hörst du auf, dir ständig in die Haare zu fassen.« Er packte Luis‘ Unterarm und drückte ihn wieder herunter. Warm, weich und ebenmäßig. Die Sommersprossen waren nicht zu ertasten. Natürlich nicht. Keine Ahnung, was er erwartet hatte, wie sich Luis‘ Haut sonst anfühlen sollte.
Luis starrte ihn an. »W-Warum?«
»Weil die schon chaotisch genug aussehen, auch ohne dass du ständig daran herumfummelst. Zweitens.« Er ließ Luis‘ Arm los. »Verhalt dich nicht, als wäre ich der große, böse Wolf und du das Rotkäppchen.« Verdammt. Beschissene Wortwahl.
Luis‘ Augen blitzten und er reckte das Kinn auf diese herrlich trotzige Art vor. »Tue ich nicht.«
Oh doch. Aber das konnte David sich gerade noch verkneifen.
»Weil ich weder ein Reh noch Rotkäppchen bin.« Er hob eine Augenbraue und sah David zur Abwechslung so fest in die Augen, dass er kurzzeitig glaubte, einen ganz anderen Menschen vor sich zu haben. In seinem Nacken prickelte es. »Und du bist übrigens auch kein großer, böser Wolf.«
Der Ausdruck in seinen Augen war der Wahnsinn. So viel Entschlossenheit, so viel Feuer. David konnte kaum den Blick abwenden. Wo war seine verdammte Kamera? Und warum zum Teufel nicht gleich so? Nur mühsam konnte er sich davon abhalten, Luis zu packen und auf einem der Sitzwürfel in Position zu bringen. Oder, nein, auf dem Stuhl. Rücklings, die Lehne zum Betrachter. Lässig. Selbstsicher. Frech.
Er merkte erst, dass er Luis angestarrt hatte, als der sich räusperte und sich abermals Unsicherheit auf seinem Gesicht ausbreitete.
»Sonst noch irgendwelche Anweisungen?«
»Nur eine Frage.« David bückte sich nach dem grauen Shirt. »Wie sehr hängst du an diesem Teil?«
***
Schnell wusste David, dass der heutige Tag nicht für das Indoor-Shooting ausreichen würde. Zum einen wollte er Luis nicht immer in denselben Klamotten fotografieren, zum anderen merkte er, wie ihm die Situation mit fortschreitender Zeit entglitt.
Oder lag das an Luis?
Mit den ersten paar Bildern war er noch recht zufrieden, aber irgendetwas schien sich zu verändern. Luis wirkte wieder, als hätte er einen Besenstiel verschluckt, anstatt dass er sich entspannte. Seinen fantastischen Gesichtsausdruck, das Blitzen in seinen Augen hatte David nur noch schwach einfangen können – und das, obwohl er in der schwarzen, zerfetzten Jeans und dem kunstvoll zerschnittenen Shirt wie ausgewechselt aussah. Besser. Fast attraktiv. Nichts im Vergleich zu Ryan, aber auch nichts im Vergleich zu dem Vollpfosten, der vor zwei Stunden mit Verspätung zur Tür hereingestolpert war.
Luis schien mit der Veränderung Probleme zu haben. Anfangs hatte er sich Davids Anweisungen gefügt, jetzt begann er zunehmend, unruhig auf der Stelle herumzurutschen und an seinen Klamotten herumzuzupfen. Außerdem zerzauste er schon wieder seine beschissenen Locken.
Vielleicht hätte David ihm nicht die letzte Flasche Bier aus dem Kühlschrank zu trinken geben sollen. Der Alkohol schien ihn unkonzentrierter und fahriger statt lockerer zu machen. Es war zwar nichts gegen einen Schlafzimmerblick einzuwenden, aber bei Luis erkannte man den steigenden Promillewert deutlich im Blick – nicht sexy.
Okay, noch einen Versuch. David schnappte sich die Trittleiter, nahm ein paar kleinere Optimierungen am Licht vor und stieg auf die erste Stufe, dann die zweite. Interessanter Blickwinkel.
»Schau zu mir hoch. Nein, den Kopf etwas weiter nach rechts, von mir abgewandt, aber die Augen zu mir. Perfekt.« Aber die verdammten Haare waren im Weg. »Kannst du...«
David ließ die Kamera sinken und beugte sich zu Luis runter. Ein erstaunlich frischer Duft nach Seife und Shampoo stieg ihm in die Nase, als er die Hand ausstreckte, um die Haare hinter Luis‘ Ohr zu schieben. Die Dinger fühlten sich an wie Drahtwolle. Dick, kraus, widerspenstig. Und sie blieben nicht dort, wo David sie haben wollte.
»Verdammt«, murmelte er und versuchte, die borstigen Strähnen hinter dem Ohr festzuklemmen.
Er streifte Luis‘ Ohr, das sich unter seinen Fingerspitzen verdächtig heiß anfühlte. Auch seine Wange hatte sich zwischen den Sommersprossen verräterisch erhitzt und strahlte ihm wie ein Hochofen entgegen. David ignorierte es – genau wie die Tatsache, dass Luis den Atem anzuhalten schien. Nur noch ein verfluchtes Foto, zum Teufel. So lange würde er sich noch zusammenreißen...
Er stutzte, als er Luis‘ Ohr noch mal genauer betrachtete. War das etwa ein Ohrloch? Er griff nach dem Ohrläppchen und strich mit verengten Augen darüber. Tatsächlich. So etwas hätte er Luis im Leben nicht zugetraut. Nicht, dass ausgerechnet Piercings ihn ansehnlicher machen würden, aber... Scheiße. Das war jetzt schon das zweite Fotoshooting mit ihm und David war immer noch nicht schlauer aus ihm geworden.
»Noch ein Überbleibsel aus deiner rebellischen Phase?«, fragte er.
»Ja.«
Luis‘ Stimme klang so heiser, als hätte er eine schlimme Erkältung. David sah ihn an und schaute geradewegs in himmelblaue Augen. Hoppla. Etwas sehr nah. War ihm gar nicht aufgefallen.
Er wich ein Stück zurück, griff instinktiv nach seiner Kamera und schoss ein schnelles Foto. Luis blinzelte.
»Was...?«
»Damit du siehst, dass ich recht habe.« David hielt ihm das Kameradisplay hin und rief das letzte Foto auf. Luis starrte den Betrachter aus großen, kreisrunden Augen an, ein Wust roter Zotteln umspielte sein errötetes, über und über mit Sommersprossen übersätes Gesicht, seine Lippen waren leicht geöffnet. »Von wegen Rotkäppchen und der große, böse Wolf.«
»Ich...« Luis biss sich auf die Unterlippe und fuhr sich durch die Haare. »Was dagegen, wenn wir für heute Schluss machen? Ich bin echt erledigt.«
»Lass mich noch dieses eine Foto machen.«
»David...«
»Komm schon. Das dauert keine fünf Minuten. Hier.« Wieder griff er in Luis‘ Haare und schob sie aus seiner linken Gesichtshälfte. »Halt sie mal so zurück. Jetzt darfst du zur Abwechslung mal an deinen Haaren herumfummeln.« Er zwinkerte ihm zu, aber das erzielte nicht die erhoffte Wirkung.
Luis wich seinem Blick aus und stieß ein lautloses Seufzen aus, vergrub aber die Hand in seinen Haaren und schob sie sich aus dem Gesicht.
Okay, er wirkte wirklich etwas erschöpft. Auch David verspürte allmählich ein nagendes Hungergefühl, obwohl Nathalie ihm heute Mittag ein Sandwich gebracht hatte. Aber er hatte das Bild genau vor Augen. Danach konnten sie aufhören. Luis sollte sich nicht so anstellen. Immerhin diente das Ganze hier einem höheren Zweck – nämlich flachgelegt zu werden, was Luis zweifellos gebrauchen konnte. Und das große Paket des Portraitshootings inklusive Indoor- und Outdoorfotos kostete eine Menge, also wollte David alles rausholen, was möglich war.
»Und jetzt den Blick zu mir. Luis. Den Blick zu mir. Sieh mich an.«
Oh, wow. Das sah toll aus. David drückte mehrmals hintereinander auf den Auslöser und veränderte leicht den Winkel. Umwerfend. So umwerfend Luis eben aussehen konnte. Ganz anders als Ryan. Weniger aggressiv. Zurückhaltender. Toller Blick. Richtig toller Blick. Das helle Blau schien zu strahlen, ihn einzufangen, regelrecht hineinzusaugen.
Er lehnte sich ein Stück vor und zoomte eine Winzigkeit näher heran. Die unterschwellige Unschuld, die Ryan nicht einmal schauspielern konnte, sprang ihm direkt in die Linse. Ein Hauch Schüchternheit, Verlegenheit, Verletzlichkeit...
»Das ist es. Das sieht super aus.« Verdammt. Er hatte stundenlang auf dieses Bild gewartet und da war es plötzlich. So offen, so schutzlos lag es vor ihm. Er musste es nur noch aufsammeln.
Wieder betätigte er den Auslöser, als Luis den Kopf wegdrehte.
»Hey, was... nein, sieh mich wieder an. Wir haben’s fast geschafft.«
»Nein.« Zu seinem Entsetzen stand Luis auf. »Ich kann nicht mehr. Wir sind fertig.«
»Luis –«
»Ich hab Nein gesagt.« Luis zerzauste sich die Locken und stürzte zum Schminktisch, um nach seinem Bier zu greifen. Auch wenn nicht mehr viel drin sein dürfte, kippte er den Rest in einem einzigen Zug hinunter.
Frustriert stieg David von der Trittleiter. »Ist dir klar, dass du gerade zwei Stunden Arbeit...« David unterbrach sich, als es an die Ladentür klopfte. Ignorieren. Er würde heute für niemanden mehr schnelle Passfotos zwischen Tür und Angel schießen. »... zwei Stunden Arbeit in die Tonne getreten hast?« David schwenkte die Kamera. »Das war das perfekte Foto! Hier, schau.«
»Es hat geklopft.«
»Na und? Ich habe geschlossen.« Er hielt Luis die Kamera hin. »Siehst du das? Wie unglaublich du hier aussiehst? Ein bisschen Nachbearbeitung und du wirst dich vor Angeboten kaum retten können.«
David musste selbst zweimal hinsehen, um zu glauben, dass er da Luis abgelichtet hatte. Natürlich sah der Mann auf dem Display aus wie Luis – aber irgendwie auch nicht. Da lag ein Ausdruck in seinen Augen, bei dem David ein Schauer über den Rücken lief. Wenn er das Foto bei LoveLife oder einem anderen Dating-Portal sehen würde, würde vielleicht sogar er selbst Kontakt aufnehmen – trotz der roten Haare und Sommersprossen.
»David?«, drang es schwach nach hinten in den Fotobereich. Nathalie. »David, bist du noch da?« Wieder ein Klopfen an der Eingangstür. »Es brennt noch Licht. Hallo?«
Verdammt. Beschissenes Timing. David legte die Kamera auf den Schminktisch. »Das ist eine Freundin. Ich geh schnell zur Tür, okay?«
Luis nickte und schnappte sich die Klamotten, die er beim Eintreten getragen hatte. »Ich zieh mich um.«
»Du kannst die Sachen auch anlassen. Ehrlich. Absolut alltagstauglich, trotz der Löcher.« Na ja, das Shirt war schon sehr gewagt, aber in Anbetracht der Alternative definitiv eine Verbesserung.
Luis sah ihn an, als hätte er vorgeschlagen, morgen doch mal in Badehose zur Arbeit zu erscheinen. Er schüttelte den Kopf und verschwand mit der langweiligen Jeans und dem langweiligen Pullover auf die Toilette, auf der er sich bereits zuvor umgezogen hatte.
David flitzte zur Eingangstür, vor der Nathalie in ihrer schnell übergeworfenen Lederjacke stand. Kein Schal, keine Tasche. In der Suppenkönigin brannte noch Licht und Minos werkelte am Tresen herum.
»Noch nicht auf dem Heimweg?«, fragte er, nachdem er die Tür aufgeschlossen und geöffnet hatte.
Da sich Nathalies Hauptkundschaft auf Berufstätige sowie Schüler und Studenten, die in kurzer Zeit gut essen wollten, beschränkte, hatte sie selten länger als 20:00 Uhr geöffnet. Jetzt war es fast halb neun.
»Nein, wir hatten eine kleine Gruppe Büroleute da, die irgendwas besprochen haben und die ich nicht rausschmeißen wollte. Aber jetzt machen wir zu. Ich habe noch jede Menge Gulasch. Hast du vielleicht Lust auf einen kleinen Absacker bei mir drüben? Minos bleibt auch noch.« Sie warf einen Blick ins Studio. »Oder ist es gerade schlecht? Hast du etwa noch einen Kunden?«
Die unausgesprochene Frage, ob es sich dabei um Ryan handelte und ob sie hinten etwas anderes machten als Fotos, schwang nicht nur in ihrem Blick, sondern auch in ihrer leicht vorwurfsvollen Stimme mit. Verdammt, sie musste ihn wirklich für ein ziemliches Arschloch halten – oder für suizidgefährdet. Immerhin kannte sie doch Benno. Außerdem war sie dabei gewesen, als David Ryan die Kalender mitgebracht hatte. Die Sache war vom Tisch.
»Ja, ich habe einen Kunden, aber keine Sorge, es ist nicht...«
Wie aufs Stichwort schob Luis den Vorhang zur Seite und trat in den Eingangsbereich. Er zupfte an seinem schlecht sitzenden Pullover herum, als würde sich das Teil auf magische Weise doch noch an seinen Körper schmiegen. Seine Haare sahen aus, als hätte er auf der Toilette in eine Steckdose gefasst. Verschwunden war der interessante Mann, den er vor fünf Minuten noch vor der Kamera gehabt hatte. Hier stand wieder... der Vollpfosten.
David räusperte sich. »Nathalie, darf ich vorstellen, Luis Tauer. Luis, Nathalie, die Suppenkönigin von drüben.«
Nathalie strahlte wie eine Miniatombome, trat einen Schritt ins Studio und streckte Luis eine Hand entgegen. »Hi, freut mich. Wow. Du hast echt krasse Haare.«
Bei ihr klang das nicht mal wie eine Beleidigung. Luis schien es auch nicht so aufzufassen, obwohl er verlegen versuchte, etwas Ordnung in das Chaos zu bringen. Zur Abwechslung lief er nicht rot an, sondern lächelte. David stand kurz davor, sich die Augen zu reiben, aber Luis lächelte tatsächlich. Es wirkte gelöst und deutlich entspannter als während der letzten Stunden.
»Danke. Glaube ich. Mir gefällt dein Tattoo.« Er nickte zu Nathalies Nacken, in dem sich der schwarze Vogelschwarm erhob.
Nathalie zwinkerte ihm zu. »Warte, bis du das Ganze gesehen hast.«
Als Luis lachte, anstatt wie erwartet rumzustammeln, runzelte David die Stirn. Warum zum Kuckuck konnte er nicht so lachen oder lächeln, wenn er ihn fotografierte? Wenn er so etwas gesagt hätte, wäre Luis‘ Schädel explodiert.
»Vielleicht später.« Er wandte sich an David. »Wann können wir die Fotos draußen machen?«
»Wir sind noch nicht mal mit den Fotos drinnen fertig.«
»Doch, für heute schon.« Sein Magen gab ein erbärmliches Grummeln von sich. Ertappt presste sich Luis eine Hand auf den Bauch, während David grinsen musste. Okay, verständlich, warum Luis auf einmal so schlechte Laune hatte. »Hey, ich bin direkt nach der Arbeit hergekommen und hatte keine Zeit zum Essen.«
»Na, da komme ich ja wie gerufen«, sagte Nathalie. »Magst du Gulasch, Luis?«
***
Dies ist das Ende der Leseprobe zu »#noFilter«. Der Roman erscheint am 25.11.2017 als E-Book und Print und kann z.B. direkt beim Cursed Verlag oder bei Amazon, aber auch im lokalen Buchhandel über die ISBN erworben werden.
Tag der Veröffentlichung: 22.11.2017
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