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Heißkalt erwischt

Kapitel 1

 

Verdammtes Funkloch.

Genervt trommelte Leon mit den Fingern auf den rustikalen Holztisch und schirmte sein Tablet vor der Sonne ab, aber dadurch baute sich die Internetseite von Quicknews auch nicht flotter auf. Von wegen schneller und aktueller. Das war wie in den Neunzigern, als man sich nach dem Aufruf einer Webseite zwischenzeitlich Kaffee kochen konnte. An seinem Handgelenk vibrierte seine Smartwatch und leuchtete auf. Eine neue Schlagzeile von seinem Newsfeed.

Neue Bachelorette sorgt schon vor TV-Ausstrahlung für...

Uninteressant. Zumindest nicht interessant genug, um sein Handy für den vollständigen Artikel zu bemühen, der ihm bei dieser Empfangsqualität mit viel Glück irgendwann heute Abend vollständig angezeigt werden würde.

Leon warf noch mal einen Blick auf sein Tablet, das das Gesicht des Münchner Schauspielers Johannes Fröhlich inzwischen zur Hälfte geladen hatte. Daneben prangte der Schriftzug Fröhlich wird seines Lebens nicht... Den Rest verschluckte die langsame Internetverbindung. Großartig. Dabei waren die Kommentare explodiert, seit er das letzte Mal an einer Autobahnraststätte mit vernünftigem Empfang nachgesehen hatte. Das war vor anderthalb Stunden gewesen, weil es hier in dieser Pampa außer Landstraßen, Insekten und jeder Menge Kuhscheiße absolut nichts gab.

Wahrscheinlich schlugen sich Fröhlichs treue Fanbase und eine Ansammlung kommentierfreudiger Leser gerade die Köpfe unter seinem Artikel ein. Wie gerne er das mitverfolgen würde!

Leon sah nach oben und blinzelte in die strahlende Junisonne, als wäre sie allein für den mangelhaften Empfang verantwortlich. Auf jeden Fall machte sie es zu einer Herausforderung, etwas auf dem Tablet zu erkennen. Dummerweise waren sämtliche Schattenplätze auf der Terrasse belegt gewesen, als er vor fünf Minuten das Wirtshaus zum Eck betreten hatte.

Er hatte nicht mit so viel Andrang gerechnet, nicht an einem Donnerstagmittag. Manches Münchner Restaurant würde für so viele Gäste in der Woche töten. Er war nicht mal an genug Häusern vorbeigefahren, um die vielen Menschen hier zu erklären. Einige mussten einen längeren Anfahrtsweg in Kauf genommen haben. Der überraschend große Parkplatz war gut gefüllt und vor der Eingangstür reihte sich ein Fahrrad ans nächste.

Wahrscheinlich weiß niemand, wer in der Küche steht. Und dass Till Patzelt kochte, stand für Leon außer Frage. Ärgerlicherweise hatte er zwar eine Woche länger als veranschlagt an der Recherche gesessen, aber letztendlich konnte sich niemand vor ihm verstecken – auch wenn sich Patzelt mit diesem gutbürgerlichen Laden am Ende der Welt verdammt viel Mühe gegeben hatte.

Nirgendwo tauchte sein Name auf, nirgendwo gab es ein verräterisches Foto, eine Markierung in einem sozialen Netzwerk oder einen Verweis auf ihn. Leon sah auf sein Tablet. Wenn er sich die Verbindung hier so anschaute, kein Wunder. Das musste auch Patzelt bewusst gewesen sein.

Seufzend griff er nach seinem Handy und schrieb eine WhatsApp-Nachricht an die Wespe.

 

Leon, 12:37 Uhr

Habe das Wirtshaus mitten im Nirgendwo gefunden. Schlechter Empfang. Ess jetzt was und mach ein paar Fotos. Melde mich, sobald ich Patzelt bestätigen kann.

 

Es dauerte einige Minuten länger als sonst, bis die Nachricht abgeschickt wurde, aber kurze Textnachrichten schienen dem Netz weniger Probleme zu bereiten als ganze Webseiten mit Bildern. Sein Handy war allerdings inzwischen heißgelaufen. Na ja, Hauptsache, die Diktier-App funktionierte noch, auch wenn er die Datei nicht gleich in die Cloud laden konnte.

Wie immer ließ die Antwort der Wespe nicht lange auf sich warten. Der Mann schien noch stärker mit seinem Handy verwachsen zu sein als Leon – und beantwortete wahrscheinlich nebenbei zwei, drei E-Mails und beschwichtigte einen Werbekunden am Telefon. Zeitgleich mit seinem Handy leuchtete und vibrierte seine Smartwatch.

 

Wespe, 12:39 Uhr

Sie ESSEN was? Mutig. Meiden Sie Salmonellen à la minute.

 

Die Wespe war so ein Scherzkeks.

Leon hatte draußen nur einen kurzen Blick auf die Speisekarte im Schaukasten geworfen, aber Salmonellen standen selbstverständlich nicht drauf – allerdings auch sonst nichts, was an Till Patzelt erinnerte. Leon hatte mehrere alte Menükarten-PDFs von Tills Tafel im Internet gefunden. Dagegen glich die Speisekarte des Wirtshauses zum Eck dem Kochbuch einer bodenständigen Hausfrau: Schweinebraten, Wiener Schnitzel vom Schwein oder Kalb, ein Landhauspfandl. Ein paar Fischgerichte. Kartoffeln, Gemüse, Spätzle. Die Standards für die kleinen Gäste. Vanilleeis mit heißen Himbeeren zum Nachtisch.

Der gefeierte Sterne- und Starkoch war ganz schön tief gefallen.

»Einen wunderschönen guten Tag! Na, Sie sollten in Ihrer Mittagspause aber nicht arbeiten, sondern lieber die Sonne genießen.«

Die dralle Brünette im Dirndl, die die ganze Zeit von Tisch zu Tisch gewandert war und mit allen geschäkert hatte, als wären es Stammgäste, beäugte neugierig sein Tablet und Handy. Sie schraubte ihren bayerischen Dialekt runter, als hätte sie Leon sofort als Fremden identifiziert. Sie war jünger, als er zunächst angenommen hatte, vielleicht Anfang zwanzig. Ihre dunklen Augen blitzten vergnügt hinter ihrer riesigen, runden Kunststoffbrille, die nicht zum Rest ihres Outfits passte.

Leon setzte ein strahlendes Lächeln auf. »Ist es Arbeit, wenn es Spaß macht?«

Sie lachte, wodurch sie noch jünger wirkte. Wahrscheinlich konnte sie von der Hälfte der Weine auf der Karte nicht mal den Namen aussprechen, geschweige denn Unterschiede in Aromen und Abgang erklären. Nichts im Vergleich zu dem stadtbekannten Sommelier, der nach dem Ruin von Tills Tafel zum nächsten Sternerestaurant gewechselt war. Tja, auf dem Land musste man eben nehmen, was man kriegen konnte.

»Sie sind nicht von hier, oder? Sonst wüssten Sie, dass es nie Spaß macht, aufs Internet zu warten. Kommen Sie aus München?«

Kunststück. Sie hatte wahrscheinlich seinen BMW mit dem Münchner Kennzeichen auf dem Parkplatz gesehen.

Leon nickte. An seinem Handgelenk vibrierte es, doch er ignorierte es und deutete auf die Speisekarte in den Händen der Bedienung, um vom Thema abzulenken. »Ist die für mich?«

Sie zwinkerte ihm zu. »Wenn Sie auch was essen wollen...?«

Wenn ich es überlebe. »Ich bin am Verhungern. Gibt es eine besondere Tagesempfehlung?«, fragte Leon, als er die Speisekarte entgegennahm.

»Mögen Sie Fisch? Der Saibling auf Spargel-Ratatouille ist heute bei der Hitze der Renner. Fangfrisch. Vom Koch selbst geangelt.«

Von wegen. Er kannte Patzelts Biografie in- und auswendig. Nirgendwo ein Sterbenswörtchen darüber, dass er in seiner Freizeit Hobbyangler war. Das hatte man der Bedienung wahrscheinlich aus Marketinggründen eingetrichtert. Obwohl der alte Drachen, der ihn beim Eintreten von der Theke aus begrüßt hatte, nicht so aussah, als wüsste sie etwas mit dem Wort Marketing anzufangen.

»Tatsächlich? Dann muss ich den wohl probieren. Angelt Ihr Koch oft?«

»Oft genug. Vielleicht noch einen kleinen Salat vorweg? Empfehlen könnte ich den lauwarmen Pfifferlingssalat.«

»Hat der Koch die Pilze auch selbst gesammelt?«

»Leider nein, aber irgendwann muss er ja auch noch bei uns in der Küche stehen.«

»Bei so einer netten Empfehlung kann ich schlecht ablehnen.« Außerdem würden die Fotos der Gerichte den Artikel aufpeppen. Vielleicht hatte er Glück und im Salat verbarg sich irgendwo eine Raupe, die er fotografieren konnte...

Er behielt die Karte bei sich, um sich noch zu einem Nachtisch inspirieren zu lassen, was die Bedienung witzig zu finden schien. Auch wenn fachkundiges Personal hier in der Gegend zweifellos Mangelware war, hatte Patzelt es mit dieser ihr ganz gut getroffen.

Zu schade, dass ihr Chef ein Stümper war.

Für den einen oder anderen zitierfähigen O-Ton sollte er dennoch taugen. Leon hatte ein Händchen dafür, die Leute zum Plaudern zu bringen, dem würde sich auch Patzelt nicht entziehen können. Ein offenes Ohr, eine kleine Ermutigung, ein bisschen Mitleid und schon würde er genug für einen kurzen Artikel zum Füllen des Sommerlochs haben.

Irgendwelche Promis am Strand oder den tausendsten Busenblitzer abzulichten, konnte jeder.

Einen verschollenen Sternekoch aufzustöbern und in der Sommerzeit noch mal einen kleinen Lebensmittelskandal aufleben zu lassen, würde Quicknews definitiv Aufmerksamkeit verschaffen, vielleicht gekoppelt mit einer Serie über sommerliche Fatburner-Smoothies oder schlank machenden Salate zum Barbecue. Die Food-Redaktion würde es ihm danken.

Leon hatte sich schon die eine oder andere Schlagzeile zurechtgelegt: Jetzt meldet sich der gefallene Sternekoch zu Wort oder »Es tut mir leid!«; Warum der gefallene Sternekoch wirklich untergetaucht ist.

Kinderspiel.

Leon zog das Tablet zu sich heran. Vielleicht sollte er ein paar Details zum Thema Angeln googeln. Als Eisbrecher. Bei Fröhlichs halb geladenem Gesicht erinnerte er sich allerdings an seine Reise in die Steinzeit. Scheiße. Dann eben nur Oberflächliches zum Thema Angeln. Eine Rute, ein Köder, ein Fisch. Irgendwas würde ihm schon einfallen.

Wieder vibrierte es an seinem Handgelenk und ihm fiel die vorherige Benachrichtigung ein. Zwei Nachrichten von seiner Mutter. Großartig. Er griff nach seinem Handy.

 

Mutter, 12:44 Uhr

Ich habe dich gebeten, nicht mehr über unsere Bekannten zu schreiben.

 

Mutter, 12:51 Uhr

Stammt das Foto etwa von Carolas Geburtstagsfeier? Demnächst lässt du dein Handy zu Hause!

 

Leon, 12:52 Uhr

Seit wann zählt Fröhlich zu euren Bekannten? Und meines Wissens war er nicht auf der Feier, das Foto haben wir gekauft.

 

Gerade als die Kellnerin seine Apfelschorle brachte, zeigte sein Handy mit dem aufleuchtenden Foto seiner Mutter ihren eingehenden Anruf an.

Was zum Teufel war an dieser kurzen Nachricht nicht zu verstehen? Er hatte auf all ihre Befindlichkeiten Rücksicht genommen. Es war nicht seine Schuld, dass seine Eltern Gott und die Welt kannten – aber Fröhlich gehörte definitiv nicht dazu. Außerdem war das nun mal sein Job. Den er nicht auf der Terrasse des Wirtshauses zum Eck herausposaunen wollte, solange er nicht mit Patzelt gesprochen hatte. Fremden gegenüber erzählte man in der Regel mehr als einem Journalisten – was für Till Patzelt doppelt galt.

Sein Handy vibrierte noch immer. Kurz überlegte er, seine Mutter wegzudrücken, dann schob er sich das Bluetooth-Headset ins Ohr und nahm den Anruf an.

»Ja?«

»Wieso Fröhlich? Etwa Johannes Fröhlich, der Schauspieler?«, schallte die Stimme seiner Mutter blechern aus dem Knopf in seinem Ohr. Im Hintergrund rauschte es, als würde sie in einem Regenguss stehen.

»Klar. Von wem redest du denn?«

»Von den Wilmdorfer-Zwillingen!«

Ach, die Geschichte. Die war längst kalter Kaffee, obwohl sie immer noch viele Klicks generierte und die Wespe vor Freude über die Werbeeinnahmen jauchzen ließ.

»Sie haben an diesem Abend jeder maximal ein Glas Wein getrunken, aber auf deinem Foto sehen beide sturzbetrunken aus! Und dazu dieses Zitat! Die Höhe des IQs ist beim Sex nicht entscheidend. Um Himmels willen, Leonhard, wenn du so weitermachst, werden wir noch zu Aussätzigen der Gesellschaft.«

»Nun übertreib mal nicht.« Dazu waren sowohl sein Vater als auch seine Mutter viel zu wichtige Mitglieder der Gesellschaft.

»Wo steckst du überhaupt? Ich verstehe dich ganz schlecht.«

»Ich bin unterwegs«, sagte er vage. Bevor eine Story veröffentlicht war, war es klüger, nicht mit seiner Mutter darüber zu sprechen.

»Im Ernst, Leonhard, hast du für solche Schlagzeilen etwa jahrelang studiert? In deiner Freizeit geschuftet? Auf so vieles verzichtet?«

Eben drum. Wurde Zeit, dass er die Lorbeeren erntete. Diese 08/15-News produzierte er im Schlaf. »Solche« – er senkte die Stimme – »Schlagzeilen werden gelesen, Mutter. Ist es nicht das, was zählt? Angebot und Nachfrage. Das müsstest du doch am besten wissen.«

»Aber du kannst es doch viel besser!«

»Besser als was?«

»Besser als... was hast du über Fröhlich geschrieben? Ich liebe seine Filme.«

»Tja, Herr Fröhlich scheint hingegen Drogen mehr zu lieben als seine Filme.«

»Nein!«

»Doch.« Wollte sie ihm unterstellen, dass er Schwachsinn schrieb? Keiner bei Quicknews arbeitete so sauber wie er.

»Aber wieso...?«

»Lies den Artikel.«

»Ich werde diesen Artikel nicht lesen!«

Natürlich nicht. Hatten seine Eltern überhaupt schon mal etwas von ihm gelesen?

Er würgte den Gedanken ab, indem er die Speisekarte aufschlug. Während sich seine Mutter über Moral, Anstand und journalistische Ethik ausließ, überflog Leon einen Computerausdruck mit Tagesgerichten, der der Karte beilag.

Überrascht hob er die Augenbrauen. Diese Gerichte entsprachen schon eher einem Koch wie Patzelt, wie der Saibling und der Pfifferlingssalat. Lammcarrée, Zander, ein sommerliches Nudelgericht. Nichts zu Ausgefallenes, aber doch von einer ganz anderen Handschrift als die restliche Karte. Daneben befand sich ein Stellenangebot: Freundliche, flexible Küchenhilfe (m/w) gesucht. Fragen Sie nach Trudi.

Das schwere Seufzen seiner Mutter drang an sein Ohr. »Ich wünschte, du würdest dein Talent nicht derart verschwenden.«

»Mein Chef wäre da sicher anderer Meinung.«

»Stell dir doch nur vor, was du alles erreichen könntest«, fuhr sie fort, als hätte er gar nichts gesagt, »wenn du bei einer richtigen Zeitung wärst, einem richtigen Magazin. Wenn du echte Schlagzeilen schreiben würdest.«

Leon biss die Zähne zusammen. Er schrieb echte Schlagzeilen. Seine Artikel wurden öfter angeklickt und gelesen als so manche Nachricht aus Politik und Wirtschaft.

»Manchmal glaube ich, du weißt überhaupt nicht mehr, wie man einen fundierten, gut recherchierten Artikel schreibt, der informiert und aufklärt, statt zu diffamieren und bloßzustellen.«

Oh nein. Das würde nicht funktionieren. Das hatte sie schon unzählige Male versucht. »Meine Artikel sind fundiert, gut recherchiert und informieren.« Die Bedienung steuerte mit seinem Salat seinen Tisch an. »Ich muss jetzt Schluss machen. Ich melde mich noch wegen der Veranstaltung nächstes Wochenende. Falls ihr mich noch dabeihaben wollt.«

»Sei nicht albern. Natürlich wollen wir dich dabeihaben. Aber es wäre wirklich einfacher, wenn du den Klatschreporter vor der Tür lassen könntest.«

Klatschreporter. Jetzt weigerte sie sich schon, ihn einen Journalisten zu nennen.

Anstatt sich zu verabschieden, legte er einfach auf.

»So, einmal der lauwarme Pfifferlingssalat. Ich wünsche guten Appetit!«

Die gebratenen Pfifferlinge rochen köstlich und der Blattsalat mit Tomaten sah hervorragend aus. Für den ersten Eindruck gab es volle zehn Punkte. Schade.

Widerwillig knipste Leon ein Reihe Fotos mit seinem Handy, ehe er auf der Suche nach irgendetwas Unappetitlichem die Pilze hin und her schob und die Salatblätter anhob. Wieder nichts, nicht mal ein bisschen Erde oder eine verdammte Fruchtfliege. Vielleicht konnte man das Gericht tatsächlich gefahrlos essen. Immerhin war er auf der Terrasse nicht der Einzige mit dem Salat.

Tja, wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Leon pikste einen Pilz und etwas Salat auf und schob sich beides in den Mund. Wenigstens würde es der Story besondere Würze verleihen, wenn er gleich mit Bauchkrämpfen...

Oh Mann. Er lud sich seine Gabel erneut voll. Das Dressing war der Wahnsinn. Und in was waren die Pfifferlinge geschwenkt?

Ein ohrenbetäubendes Scheppern ließ ihn zusammenzucken. Er riss den Kopf hoch. Alle Gäste auf der Terrasse sahen auf. Die Brünette im Dirndl stand wie erstarrt mit einem Tablett leerer Gläser zwischen zwei Tischen.

Leon folgte ihrem Blick zum hinteren Teil des Gebäudes, in dem sich vermutlich die Küche befand. Zornige Stimmen drangen auf die Terrasse, dann flog eine schmale Tür an der Seite des Hauses auf und ein Mann mittleren Alters mit zurückgehendem Haaransatz stürmte ins Freie. Leon erkannte ihn als einen der Gäste wieder, der zuvor auf der Terrasse gesessen hatte. In einer Hand hielt er ein Handy.

Interessanter war der Mann, der ihm folgte.

Vor Aufregung umklammerte Leon die Gabel fester. Er hatte genug Fotos und Aufzeichnungen seiner Kochsendung gesehen, um hundertprozentig sicher zu sein. Patzelt. Er hatte gewusst, dass er hier war.

Groß, drahtig und schlank stand Patzelt im Türrahmen. Seine dunkelblonden Haare waren länger als bei den letzten Aufzeichnungen und wurden von einem blauen Kopftuch zurückgehalten. Wie ein Pirat. Fehlte nur noch, dass er einen Säbel über dem Kopf schwang.

Der Dreitagebart war definitiv neu. Die Ärmel seiner schwarzen Kochjacke waren hochgekrempelt und am linken Arm lugte die unverwechselbare Tätowierung hervor.

Kein Zweifel. Ein Kribbeln durchzuckte ihn. Das war Patzelt.

»Hauen Sie ab!« Patzelt trat aus der Tür. Der verschreckte Gast mit dem Handy machte einen Satz nach hinten, als hätte Patzelt sich auf ihn gestürzt. »Ich gebe keine Scheißinterviews!«

»Aber... aber... ich wollte doch nur –«

»Und auch keine Fotos!«

»Aber –«

»Verpissen Sie sich!«

»Till!«, rief die brünette Bedienung erschrocken, stellte das Tablett ab und eilte auf ihn zu.

Patzelt beachtete sie nicht und zeigte an ihr vorbei mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Gast. »Wenn ich Sie noch einmal hier sehe, mach. Ich. Sie. Fertig. Und mit Ihrem verdammten Handy fang ich an!«

»Till!«, zischte die Bedienung, als sie ihn erreicht hatte, und drückte seinen Arm hinunter. »Was zum Teufel soll das denn?«

»Das ist ein beschissener Journalist!«

»Nicht so laut!«, blaffte die Bedienung alles andere als leise zurück. »Und das ist kein Journalist, das ist Margots neuer Angestellter.« Als Patzelt den Mann weiterhin in Grund und Boden starrte, schlug die Bedienung ihm gegen den Arm. »Schuhe, Till. Er verkauft Schuhe in Margots Laden.«

Die Information brauchte scheinbar einige Sekunden, bis sie bei Patzelt ankam. Dann wandte er sich von dem Mann mit dem Handy ab, der daraufhin erleichtert zusammensackte und zu seinem Tisch wankte. Er stürzte seine restliche Cola in eins hinunter, als wäre es Schnaps.

Patzelts Blick schweifte über die Terrasse, während die Bedienung leise auf ihn einredete. Bei Leon angekommen, sah er ihn einen Moment länger an als die anderen. Vermutlich. Leon wusste es nicht genau, weil sein Herz auf einmal aus dem Takt geriet. Das kannte er schon von seinen Nachforschungen. Völlig egal, ob dieser Mann kochen konnte oder nicht, er sah zweifellos verdammt sexy aus und hatte eine immense Präsenz.

Die auf Fotos und Videos nur halb so anziehend war wie in der Realität. Heilige Scheiße.Leon schluckte trocken, dann wanderte Patzelts Blick weiter.

Die Bedienung wies ihn immer noch im Flüsterton zurecht, aber das schien Patzelt kaum wahrzunehmen. Er verschwand in die Küche und knallte ihr die Tür vor der Nase zu.

Nett.

Als seine Finger zu pochen anfingen, bemerkte Leon, dass er die Gabel noch immer umklammerte. Er lockerte seinen Griff, obwohl ihn eine unbestimmte Aufregung erfasst hatte. Kein Wunder, dass Patzelt paranoid auf Journalisten reagierte, aber dieser Auftritt offenbarte erst das ganze Ausmaß. Wenn er schon bei einem Schuhverkäufer derart ausflippte, würde er vermutlich sofort misstrauisch werden, sobald jemand ein, zwei scheinbar harmlose Fragen stellte.

Verdammter Mist.

»Wenn ich Sie noch einmal hier sehe, mach. Ich. Sie. Fertig. Und mit Ihrem verdammten Handy fang ich an!« Was für ein fantastisches Zitat. Warum hatte er seine Diktier-App nicht angeworfen? Er hatte einiges über Patzelts Ausbrüche gelesen und gesehen, aber wo so etwas drinsteckte, war bestimmt noch mehr zu holen.

Aber wie sollte er ihn zu einem Gespräch bewegen? Nachdenklich stocherte Leon in seinem Salat herum. Ein Pfifferling hüpfte vom Teller und landete auf der aufgeschlagenen Speisekarte. Eine Spur aus Dressing und Marinade zog sich quer über die Tagesgerichte. Großartig.

Leon sammelte den Pilz ein und stutzte. Moment mal...

»Bitte entschuldigen Sie das Verhalten unseres Kochs.«

Mittlerweile stand die Bedienung wieder auf der Terrasse und richtete das Wort an die Gäste. Leon hörte mit halbem Ohr zu, während es in seinem Kopf arbeitete.

»Er steht derzeit unter privatem Stress, was sich jedoch – wie Sie bemerkt haben – nicht auf seine Kochkünste auswirkt. Wir würden uns freuen, Ihnen ein Getränk oder einen Kaffee ausgeben zu können. Vielleicht einen Espresso zum Nachtisch? Wir haben heute eine fantastische Erdbeermousse im Angebot!«

Sie machte ihre Runde, um die zusätzlichen Bestellungen aufzunehmen, und warf einen fragenden Blick auf Leons Salat, als sie ihn erreichte. »Stimmt etwas nicht mit –«

Leon winkte ab. »Doch, doch, alles wunderbar. Aber eine andere Frage. Sie heißen nicht zufällig Trudi und haben einen Job anzubieten?«

 

***

 

»War die Patzelt-Story nicht wie letztes Jahr als Lückenfüller für das Sommerloch gedacht? Fünfhundert, tausend Wörter?« Die Wespe runzelte die Stirn, während seine Aufmerksamkeit zwischen Leon und seinem Handy, auf dem er eine Nachricht tippte, hin und her schweifte.

Die Wespe – offiziell bekannt als Hartwig Kuttler – war die Ausnahme von der Regel, dass Männer nicht multitaskingfähig waren. Vermutlich rührte sein Spitzname daher, weil er nicht friedfertig wie ein fleißiges Bienchen, sondern aggressiv wie eine Wespe auf Beutezug war. In einem teuren Anzug thronte er hinter seinem gläsernen Monstrum von einem Schreibtisch, von dem eine Armee Putzkräfte täglich unzählige Fingerabdrücke polierte.

Wenn Leon irgendwann auf dem Chefsessel saß, würde er als Erstes dieses Ding rauswerfen. Das Büro mit seinen geradlinigen, modernen Formen und dem vielen Glas, Stahl und Weiß gefiel ihm ganz gut, aber an dem Glastisch fühlte er sich nicht mal auf der Besucherseite wohl.

»Ursprünglich ja, aber da hatte ich den Mann noch nicht live erlebt.« Selbst auf die Entfernung hatte ihn Patzelts Präsenz fasziniert. Für ihn stand außer Frage, warum es manche Köche ins Fernsehen schafften und andere nicht.

»Reißt sein Geduldsfaden immer noch so schnell?«

»Geduldsfaden? Welcher Geduldsfaden?«

Lachend legte die Wespe das Handy weg und lehnte sich auf seinem Schreibtischstuhl zurück, der unter seinem Gewicht ächzte. Er schleppte eine Muskelmasse mit sich herum, die Leon beinahe Angst machte. Seine breiten Schultern schienen kaum Platz in dem geräumigen Büro zu finden. Wann er die Zeit hatte, ins Fitnessstudio zu gehen, war Leon schleierhaft.

»Verstehen Sie mich nicht falsch, Leonhard, Sie haben einen hervorragenden Riecher für gute Storys und sind ein Garant für hohe Klickzahlen. Mit dem Artikel über Johannes Fröhlich haben wir bereits jetzt das Monatsziel erreicht.« Die Wespe legte eine Kunstpause ein und ließ das Aber einige Sekunden länger als notwendig im Raum hängen – typisch Chef. »Aber sitzen Sie nicht schon länger an der Story, als Sie veranschlagt haben? Ihr Kollege hat den Artikel letztes Jahr in zwei Tagen geschrieben.«

Leons Lächeln blieb auf seinen Lippen kleben. Den Seitenhieb musste er wohl einstecken. Normalerweise lieferte er seine Storys immer vor Ende der Deadline ab. Patzelt hatte seine Spuren besser verwischt als angenommen.

»Das beweist nur, dass Patzelt etwas zu verbergen hat. Oder wer versteckt sich, wenn er eigentlich unschuldig ist?«

»So wie die Medien letztes Jahr mit ihm umgesprungen sind, ist das nicht weiter verwunderlich. Das muss nichts heißen.«

»Mein hervorragender Riecher für gute Storys sagt mir etwas anderes. Da ist eine ganze Menge zu holen. Patzelts Ausstrahlung ist enorm. Und das Thema passt perfekt in den Sommer.«

Bei der Wiederholung seiner eigenen Worte lächelte die Wespe milde. »Ich gebe zu, dass momentan niemand auf dem Till-Patzelt-Trichter zu sein scheint. Zumindest habe ich nichts dergleichen bei unserer Konkurrenz mitbekommen. Wir hätten die Story exklusiv.«

»Was perfekt zum anstehenden, einjährigen Jubiläum der ganzen Geschichte passt.« Leon malte Anführungszeichen in die Luft. »Gefallener Sternekoch zurück am Herd – Wen vergiftet er als Nächstes?«

Das Leuchten in den Augen der Wespe verriet, wie sehr ihm die reißerische Schlagzeile gefiel. »Damit könnten wir der Konkurrenz ein Schnippchen schlagen.«

Besser noch: Damit hatte er die Wespe so gut wie in der Tasche. »Abgesehen davon, dass Patzelt eh sofort misstrauisch werden würde, sobald jemand Fragen stellt, hätte ich mal wieder Lust auf einen Undercover-Einsatz. Ich war lange nicht mehr investigativ tätig.«

Die Wespe hob eine Augenbraue. »Als ich Ihnen die Story über den Stadtrat ans Herz gelegt habe, haben Sie lieber über die Wilmdorfer-Zwillinge geschrieben.«

Der Stadtrat war neunundfünfzig und hatte die Ausstrahlung einer Schlaftablette. »Mit Erfolg«, warf Leon ein, doch die Wespe ließ sich nicht so leicht ablenken – wie das Insekt, das die fürstlich gedeckte Grilltafel entdeckt hatte.

»Woher der plötzliche Sinneswandel? Sind Sie heimlicher Fan von Patzelts Kochkünsten und wünschen sich nichts sehnlicher, als einmal mit ihm zusammen in der Küche zu stehen? Können Sie überhaupt kochen?«

»Ein wenig.« Aber wozu gab es YouTube-Videos? Bis morgen früh hatte er noch ewig Zeit, um sich die Basics anzueignen. So schwer konnte es nicht sein, ein bisschen Gemüse zu schneiden. »Außerdem hat Patzelt keine große Wahl. Ich glaube nicht, dass man in der Pampa Schlange steht, um mit ihm arbeiten zu dürfen. Die Zeiten sind vorbei. Heute lässt sich niemand mehr von ihm rumkommandieren und ist auch noch stolz drauf.«

Wahrscheinlich hatte er bei seinem Temperament schon die eine oder andere Küchenhilfe verschlissen. Möglicherweise auch wegen seiner unsauberen Arbeitsweise. Wenn er seine Karten richtig ausspielte, würde er vielleicht nicht mal Probearbeiten müssen.

Die Wespe betrachtete ihn einen Moment nachdenklich, ehe er sich über den Schreibtisch beugte und die Fingerspitzen aneinanderlegte. »Das erklärt immer noch nicht, warum Sie sich plötzlich so viel Mühe geben wollen, wenn Ihnen die Storys doch eine nach der anderen in den Schoß zu fallen scheinen. Hat Sie Ihr journalistischer Ehrgeiz gepackt? Muss ich mir Sorgen machen, dass Sie demnächst zu einer renommierten Nachrichtenagentur wechseln?«

Beinahe hätte Leon aufgelacht. Er in einer Nachrichtenagentur. Eher würde Dieter Bohlen neuer Nachrichtensprecher der Tagesschau werden.

Er winkte ab. »Die Leser stehen auf Enthüllungsberichte. Ich liefere ihnen nur, was sie wollen.« Und ganz nebenbei konnte er seiner Mutter beweisen, dass sich Klatsch und ein nach ihrer Auffassung gut recherchierter, fundierter Artikel nicht ausschlossen.

»Wie lange wollen Sie die Küchenhilfe spielen?«

Leon machte eine vage Geste. Dieser Punkt war heikel. »Ungefähr zwei Wochen. Das sollte genügen.«

Wie erwartet verzog die Wespe den Mund. »Zwei Wochen? Sie haben für die Vorbereitung schon annähernd zwei Wochen gebraucht. Plus Schreibzeit ist das in Summe ein Monat. Zeit ist Geld, Leonhard.«

Einer seiner Lieblingssprüche – gleich nach Klicks sind unsere einzige Währung. Das hatte er seit Ewigkeiten nicht mehr zu hören bekommen. Meistens predigte die Wespe den Praktikanten und neuen Redakteuren seine Weisheiten. Leon wusste, worauf es ankam.

»Das ist mir bewusst.«

»In einem Monat können Sie zwei bis drei andere Storys mit Potential schreiben. Das haben Sie mit den Wilmdorfer-Zwillingen und Johannes Fröhlich bewiesen.«

»Storys mit der maximalen Lebensdauer einer Eintagsfliege. Für Patzelt schwebt mir etwas anderes vor. Ein ausführlicher Enthüllungsbericht mit Fotos, einer Zusammenfassung der Salmonellengeschichte vor einem Jahr, ein paar Zitaten.«

Die Augen der Wespe verengten sich. »Das klingt nach zu viel Aufwand für ein zu geringes Ergebnis.«

Leon merkte, wie sich nun tatsächlich journalistischer Ehrgeiz in ihm regte. Die Wespe hatte ihm lange keine Story mehr abgeschlagen. Hatte er seine Qualitäten in den letzten Jahren nicht genug bewiesen? Hatte die Wespe das nicht gerade selbst noch gesagt? Oder traute er ihm etwas Ausführlicheres, Fundierteres nach dem ganzen Schund, den er produziert hatte, nicht mehr zu? Er könnte einen Enthüllungsbericht über die Mafia schreiben, wenn er das wollte, verdammt noch mal.

»Überlegen Sie mal, Hartwig: Ich zwei Wochen Seite an Seite mit einem ehemaligen Sternekoch, der wegen Salmonellen wahrscheinlich immer noch Schadensersatzforderungen zu leisten hat. Allein in einer Küche mitten im nirgendwo, wo er den Gästen unbehelligt ungekühltes Fleisch und sandigen Salat servieren oder abgelaufene Milch in den Kaffee kippen kann.«

Nicht, dass sein Pfifferlingssalat sandig gewesen oder der Saibling in irgendeiner Art und Weise komisch gerochen hätte. Aber der Tag war noch nicht vorbei. Vielleicht würde das böse Erwachen in der Nacht kommen – oder Patzelt hatte ausnahmsweise mal vernünftig gekocht.

Widerwillig nickte die Wespe. »Wenn Sie das Ganze anständig und mit Fotos rüberbringen...«

»Selbstverständlich. Die Deutschen essen für ihr Leben gern und beschäftigen sich mit nichts lieber als mit Nahrungsmitteln – vor allem im Sommer. Glauben Sie mir, die Story wird sich wie geschnitten Brot verkaufen.« Angesichts des Themas ein passender Vergleich. Leon grinste in sich hinein. »Außerdem werden die meisten Leser den Artikel allein schon deshalb anklicken, weil Patzelt aussieht wie ein Model. Denken Sie nur an den Erfolg seiner Kochshow.«

Sekundenlang wiegte die Wespe noch den Kopf hin und her, aber Leon erkannte bereits die Eurozeichen in seinen Augen. Wahrscheinlich glaubte er, sich als Chef ein wenig zieren zu müssen, wenn einer seiner Angestellten etwas vorschlug, woran er selbst noch nicht gedacht hatte.

Leon verabscheute derartige Schauspielerei und es ärgerte ihn, dass die Wespe glaubte, ihm mit dieser Masche kommen zu müssen. Bei jedem anderen war ihm das egal, aber er war der heißeste Anwärter auf den Chefsessel, sobald sich die Wespe zurückzog oder anderen Aufgaben widmete. Er ließ sich nicht so leicht an der Nase herumführen und er wollte nicht mit den anderen Angestellten bei Quicknews über einen Kamm geschoren werden.

»Na schön«, sagte die Wespe schließlich. »Ich vertraue Ihnen und Ihrem Gespür, Leonhard. Nehmen Sie sich die zwei Wochen. Schreiben Sie Ihren Enthüllungsbericht.« Schon wieder eine Kunstpause. »Aber enttäuschen Sie mich nicht.«

Leon erhob sich. »Wann habe ich das je getan?«

Kapitel 2

 

»Glückwunsch.« Mit einem leisen Ächzen ließ sich Trudi neben Till auf die Bank an der Hauswand fallen und stellte ihr Glas Eistee ab. Dem Geruch nach Apfel-Minze. Sein Lieblingseistee. Und sie machte ihn noch wie vor dreißig Jahren. »Du hast einen zahlenden Gast in die Flucht geschlagen.«

Till brummte und griff nach seinem Glas Rum. Das Eis klirrte leise, als er den Rest hinunterkippte. Er hatte die ganze Flasche mit rausgenommen, nachdem er die Küche aufgeräumt hatte, schenkte sich jedoch nicht nach. Wenn Trudi nicht neben ihm gesessen hätte, wäre er vielleicht in Versuchung gewesen.

»Ich dachte, er wäre ein Reporter.«

»Ich weiß. Das war nicht zu überhören. Trotzdem ist das keine Entschuldigung, so auszuflippen.«

Er drehte ihr das Gesicht zu. Das schwache Licht der Fackeln, die abends die Terrasse des Ecks in eine romantische Atmosphäre tauchten, tanzte über ihr gealtertes Gesicht und hob einige Falten schärfer hervor, bevor ein Schatten sie wieder glättete. Normalerweise war noch die Außenbeleuchtung eingeschaltet, aber wenn alle Gäste gegangen waren, saß Till gerne im Halbdunkel hier draußen. Irgendwie wirkte dann alles nicht so... real.

»Er hatte ein verdammtes Handy in der Hand.«

Über den Fluch verzog sie missbilligend den Mund. »Er war auf der Suche nach der Toilette, hat irgendwas auf dem Ding gelesen und ist versehentlich in deine Küche gestolpert.«

»In der er nichts zu suchen hatte.«

Sie nippte an ihrem Eistee und plötzlich bekam er ebenfalls wieder Durst. Scheiß drauf. Er griff nach der Flasche und schenkte sich nach. Das Eis war in der lauen Sommernacht auf die Hälfte zusammengeschmolzen, aber ein Glas war noch drin.

»Du trinkst zu viel.«

»Und wer könnte mir das verübeln?«

»Ich zum Beispiel.« Sie nickte zur Flasche. »Dein Don Papa kostet mehr als dreißig Euro. Ich hoffe, dir ist klar, dass ich dir das vom Lohn abziehen werde.«

Das rang ihm ein müdes Grinsen ab. Was waren beim Verlust des eigenen Restaurants schon dreißig Euro mehr oder weniger? Außerdem hätte er auch umsonst bei Trudi gekocht, solange er kochen durfte. Dummerweise fing er allmählich an, auf das Einkommen angewiesen zu sein. Seine Reserven waren so gut wie erschöpft und immer noch tauchte irgendwo jemand auf und wollte Geld von ihm.

»Tu, was du nicht lassen kannst.«

»Gut. Die Gratis-Getränke, die Marie deinetwegen ausgegeben hat, um die Gemüter zu besänftigen, setze ich auch auf deine Rechnung.«

»Du warst schon immer eine knallharte Geschäftsfrau.«

Sie ging darüber hinweg. »Nicht zu vergessen das Gratis-Essen für Franz Wiesenhofer. So heißt nämlich dein angeblicher Journalist. Franz Wiesenhofer, seit einem Monat Verkäufer bei Margot. Wie ich gehört habe, ist er ganz gut in seinem Job, weshalb Margot ihn wohl nach der Probezeit behalten wird. Gut für sie, schlecht für uns, denn seine Mittagspause wird er vorerst nicht mehr bei uns verbringen.«

»Ich hab doch schon gesagt, es tut mir leid.« Er trank von seinem Rum, aber der exquisite Geschmack – eine Mischung aus Vanille, Kaffee, Kokos und tropischen Früchten – machte nur halb so viel Spaß, wenn Trudi ihm mit Blicken jeden Milliliter vermieste.

»Du verhältst dich absolut albern. Das Ganze ist jetzt fast ein Jahr her. Zeit, dass du wieder ein normales Leben führst.«

Schnaubend fuhr er sich durch die Haare. Ihm lag so einiges bezüglich Normalität auf der Zunge, aber nichts davon wäre Trudi neu. Allerdings war sie nun mal auch nicht in seiner Situation. Für jemanden, der wochenlang öffentlich in der Presse mit Scheiße beworfen worden war, gab es keinen Neuanfang. Schon gar nicht, wenn die eigene verdammte Mutter in unregelmäßigen Abständen dafür sorgte, dass er nicht völlig in Vergessenheit geriet.

Zum Beispiel dieser Kerl heute auf der Terrasse: groß, dunkel, teuflisch sexy. Es hatte nur den Bruchteil einer Sekunde gedauert und Till hatte gewusst, dass er ihn erkannt hatte. Wahrscheinlich hatte er gleich darauf sein Besteck hingeworfen und alles stehen und liegen gelassen, um zu flüchten, ganz egal, wie gut es ihm vorher geschmeckt hatte. Das war ein beschissener Makel, den er nie wieder loswerden würde.

Unruhig richtete er den Blick zum Horizont, wo er die Berge in der Dunkelheit nur erahnen konnte. Trotzdem beruhigte ihn das Wissen, dass sie da waren. Dadurch kam er sich plötzlich ganz klein und unwichtig vor – was er inzwischen natürlich auch war.

Verdammt. Dieses Thema behagte ihm nicht. Ganz und gar nicht.

»Ist Marie schon weg?« Es war ein lausiger Versuch, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, und Till wusste, dass Trudi ihn sofort durchschaute. Dennoch nickte sie.

»Schon längst. Der letzte Gast ist vor über einer Stunde gegangen.«

So lange schon? Verflucht, er hatte völlig die Zeit vergessen. Hatte er die ganze Zeit hier draußen gesessen und gebrütet? Oder in Selbstmitleid gebadet. So würde Trudi es nennen.

»Apropos Marie. Trotz deiner Darbietung hat sich heute jemand nach der freien Stelle als Küchenhilfe erkundigt.«

Till runzelte die Stirn und zog ein Bein auf die Bank hoch. »Tatsächlich?«

Trudi nickte. »Leonhard Zink.«

»Sagt mir nichts.«

»Er kommt wohl nicht von hier.«

Till grinste. Bei Trudi bedeutete das, dass er nicht schon seit fünf Generationen in einem Umkreis von maximal fünfzig Kilometern lebte. Sie konnte innerhalb weniger Sekunden feststellen, ob jemand aus der Gegend kam. Meistens konnte sie auch seinen halben Stammbaum runterrattern.

»Was hat ihn hierher verschlagen?« Wo auch immer Leonhard Zink herkam, es schien ein weiter Weg zu sein, um ausgerechnet in seiner Küche die Küchenhilfe zu spielen – und das war ihm prinzipiell suspekt.

Trudi zuckte die Schultern. »Das musst du ihn schon selbst fragen. Ich habe für morgen früh zehn Uhr einen Termin mit ihm vereinbart.«

Angesichts ihres unumstößlichen Tonfalls blinzelte Till. Das klang schon nach beschlossener Sache. Allerdings stand er in der Küche, also würde er auch ein Wörtchen mitzureden haben. »Lebenslauf? Hat er schon mal in einer Küche gearbeitet? Irgendwelche Referenzen?«

Die letzte sogenannte Aushilfe hatte er nach nur vierundzwanzig Stunden genervt rausgeworfen. Wahrscheinlich ein Segen für alle. Mit dieser hohlen Nuss hätte er es keine Woche ausgehalten, ohne ihm den Schädel einzuschlagen.

Erfolglos versuchte Trudi, ihr Lachen hinter einem Schluck Eistee zu verbergen. »Du bist hier nicht mehr in deiner Tafel, Till. Wenn der Junge Zwiebeln schneiden kann, ohne sich die Finger abzuhacken, nimm ihn.«

 

***

 

Der Bewerber war ausgerechnet der gutaussehende Kerl von der Terrasse. Till wusste nicht, ob er das unter Glück oder einer sadistischen Laune des Schicksals verbuchen sollte. Von Nahem sah er noch besser aus, was das Vorstellungsgespräch nicht gerade leichter machte. Till hatte eine Schwäche für helle, bernsteinfarbene Augen. Vielleicht, weil sie ihn an seinen Lieblingsrum erinnerten.

Leonhard Zink hatte jedenfalls verdammt hübsche Augen – und einen messerscharfen Blick, der Till skeptisch machte.

Till wies auf einen Fünfertisch in der Ecke. Das Eck würde erst in anderthalb Stunden für das Mittagsgeschäft öffnen, sie hatten also noch Zeit. »Bitte nehmen Sie Platz, Herr Zink.«

Zink nickte. »Danke.« Er wählte den Platz auf der Bank mit dem Rücken zur Wand und Blick in den Raum hinein. Kluge Wahl. Widerwillig ließ sich Till ihm gegenüber nieder. »Und auch vielen Dank, dass ich mich so kurzfristig vorstellen kann.«

»Offenbar war ihre Bewerbung auch eher eine spontane Entscheidung, also warum nicht?«

Er musterte Zink. Immer noch keine Bewerbungsmappe oder Ausdrucke irgendwelcher Unterlagen. Nicht mal eine Tasche. Oder ein verdammtes Tablet mit elektronischer Bewerbung. Dafür trug er am linken Handgelenk eine lächerlich aussehende Digitaluhr, die Till als Kinderspielzeug abtat. Er selbst bevorzugte klassische, elegante Uhren mit Ziffernblatt.

»Sie haben also keinen Lebenslauf dabei? Referenzen? Zeugnisse? Empfehlungsschreiben? Oder schon mal die Bescheinigung vom Gesundheitsamt, dass Sie an einer Belehrung teilgenommen haben?« Schlimmer noch, der Kerl wirkte in der Jeans und dem Hemd wie geleckt, was ihm auf verrückte Weise hervorragend stand, ihn für die Tätigkeit in einer Küche aber disqualifizierte. Nachher beschwerte er sich noch, wenn ein Haar aus seiner Frisur tanzte. Noch vor einem Jahr hätte Till mit jemandem wie ihm erst gar kein Bewerbungsgespräch geführt. Andererseits hätte er sich vor einem Jahr auch nicht selbst mit der Einstellung neuer Küchenhilfen beschäftigt.

»Leider nein.« Zink wirkte über sein Versäumnis nicht im Geringsten nervös. Stattdessen saß er lässig auf der Bank, die Hände entspannt auf den Tisch gelegt. »Wie Sie schon sagten, die Sache war ganz spontan.«

»Aha. Und wie spontan verschwinden Sie wieder, wenn es Sie weiterzieht?«

»Wie bitte?«

Ah, endlich ein Riss in der gelassenen Fassade. »Wir suchen eine langfristige Küchenhilfe. Sie stammen nicht mal aus der Gegend.« Er hatte das Münchner Kennzeichen des BMWs gesehen, mit dem Zink vorgefahren war, und sogleich waren die Alarmglocken losgeschrillt. Irgendetwas an dieser Sache stank gewaltig, nur war das leider nicht Zink.

Als Zink sich vorlehnte, hielt Till unwillkürlich den Atem an. Scheiße, reiß dich zusammen, Idiot. Schon beim Eintreten war ihm aufgefallen, wie gut Zink roch. Eine anregende Mischung aus Seife, Shampoo, Mann und einem Hauch Parfüm, das wie sein Auto nicht ganz billig zu sein schien.

»Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Herr... Stemmer? Habe ich das richtig verstanden?« Zink blinzelte unschuldig.

Till bleckte die Zähne. »Ja.« Noch so eine Kleinigkeit, bei der sich ihm die Nackenhaare aufstellten. Natürlich hatte er sich nicht mit seinem richtigen Namen vorgestellt, sondern sich Trudis ausgeliehen, aber sein gestriger Eindruck hatte ihn nicht getäuscht: Der Kerl wusste, wer er war.

»Herr Stemmer, mein Leben befindet sich gerade in einer Art Umbruch.«

»Was Sie nicht sagen.«

»Deshalb bin ich auf der Suche nach einem neuen Job in neuer Umgebung. Ich bin gestern auf der Durchreise zufällig auf Ihr Gasthaus gestoßen und –«

»Auf der Durchreise wohin?« Zufrieden bemerkte Till bei der erneuten Unterbrechung das leichte Zucken in Zinks Kiefermuskel.

»Eine private Angelegenheit. Verwandtenbesuch.«

Till sprang sofort darauf an. »Sie haben Verwandte in der Gegend?« Jetzt hatte er ihn. Trudi kannte jeden noch so verzweigten Familienstammbaum aller alteingesessener Bewohner.

»Ja, entfernte«, sagte Zink ruhig. Er legte eine kleine Kunstpause ein, als würde er eine weitere Zwischenfrage von Till provozieren wollen. Ihm lag auf der Zunge, nach dem Namen dieser ominösen Verwandten zu fragen, als Zink fortfuhr: »Wir stehen uns allerdings nicht besonders nahe. Und ich hätte noch ein Stück weiter Richtung Passau fahren müssen.«

Passau. Tills Augen wurden schmal. War dem Kerl klar, dass er dann ziemlich vom Weg abgekommen war? In seinem schicken Auto gab es sicher einen hochmodernen Bordcomputer, mit dem man wahrscheinlich sogar mit Aliens Kontakt aufnehmen konnte. Andererseits war das GPS hier unten an manchen Orten genauso beschissen wie der Handyempfang. Ein Grund, warum sich Till damals für die Rückkehr nach Hause entschieden hatte.

Oder vielleicht hatte Zink wirklich nur irgendwo etwas essen wollen?

Genau. Und wovon träumst du nachts?

Trudi mochte ein Problem mit seinem Bauchgefühl haben, aber Till war bisher eigentlich ganz gut damit gefahren. Okay, abgesehen vom gestrigen Zwischenfall mit dem blöden Schuhverkäufer.

Zink räusperte sich, als hätte er bemerkt, dass Till in Gedanken abgeschweift war. »Jedenfalls habe ich dabei die Anzeige gesehen. Ich dachte einfach, ich versuche mal mein Glück.«

»Und ich vermute, dass Sie in München und Umgebung Ihr Glück bereits versucht haben. Warum sollte ich auch nur noch eine Minute länger mit Ihnen reden, wenn Tausende Restaurants vor mir Sie nicht haben wollten?« Er machte eine abfällige Handbewegung. »Noch dazu ohne irgendwelche Unterlagen?«

In Zinks Augen blitzte es auf. Herausfordernd. Sexy. »Vielleicht, weil Sie keine Wahl haben, Herr Stemmer

Okay, Zeit mit der Scharade aufzuhören und Fakten auf den Tisch zu legen, bevor er noch die Geduld verlor. Er würde Zink sowieso nicht einstellen. Zu viele Komplikationen. »Sie wissen also, wer ich bin.«

»Till Patzelt.«

Zink sprach seinen Namen aus, als wäre er ein Hauptgewinn. Es irritierte Till und ließ es zugleich in seinem Nacken kribbeln. Er schüttelte das Gefühl ab.

»Dann wissen Sie sicher auch, dass ich keine Probleme habe...« Oh, verdammt. Till massierte sich die Schläfe. Er sollte sich von diesem Kerl nicht so reizen lassen oder er würde sich völlig lächerlich machen. »Haben Sie eine Ausbildung als Koch oder Beikoch, abgeschlossen oder abgebrochen?«

»Nein und nein.«

»Haben Sie schon mal in einer Küche gearbeitet?«

»Nein.«

»Irgendwelche Erfahrungen in der Gastronomie?«

»Nein.«

»Vielleicht mal als Kellner oder Barkeeper gejobbt?«

»Nein.«

»Haben Sie als Kind Ihrer Mutter in der Küche geholfen? Oder Ihrem Opa? Oder sonst wem?«

Zink schnaubte, als wäre der Gedanke so absurd wie ein dicker Mann in rot-weißem Kostüm, der sich durch Schornsteine zwängte. »Nein.«

Till runzelte die Stirn. »Gut. Dann fasse ich mal zusammen.« Er zählte an den Fingern auf: »Sie haben keinerlei Erfahrung, können nicht kochen und haben mich gestern in Aktion erlebt – und trotzdem wollen Sie für mich arbeiten?«

Zink grinste. »Ja. Und ich habe nicht gesagt, dass ich nicht kochen kann.«

»Was können Sie denn kochen? Ravioli aus der Dose?«

»Ich dachte, Sie suchen eine Küchenhilfe, keinen Koch. Solange ich Ihnen am Herd nicht im Weg stehe, sollte ich Ihnen eine Hilfe sein.«

»Falsch. Sie sind mir keine Hilfe, wenn Sie sich mir in meiner Küche nicht unterordnen können. Ich habe das Sagen.«

Reine Formsache, um Zink etwas zu kitzeln. Till wusste längst, dass Zink schwul war. Wahrscheinlich hatte er es gestern schon gewusst, als ihr Blickkontakt eine Sekunde zu lange gedauert hatte. Inzwischen war er völlig sicher. Er erkannte es in der Art, wie Zink ihn ansah, wie dessen Blick seinen Händen folgte, wenn er eine Bewegung machte, oder immer wieder zu seinen Lippen glitt. Scheiße, er erkannte es daran, wie die Luft zwischen ihnen knisterte.

Sein Gaydar hatte ihn noch nie im Stich gelassen, auch wenn es nach einem Jahr etwas eingerostet war. Aber davor war es mehr oder weniger lebenswichtig gewesen.

Zink blinzelte, als wüsste er nicht, ob er sich die Zweideutigkeit in den Worten nur eingebildet hatte. Kurz geriet er ins Stocken. »Selbstverständlich, Sie haben das Sagen. In der Küche.«

Der Nachsatz hätte Till beinahe ein Grinsen entlockt. Allerdings wusste er nicht, ob Zink überhaupt gemerkt hatte, wie sich das angehört hatte.

»Was genau befindet sich in Ihrem Leben im Umbruch

»Ist das relevant für die Stelle als Küchenhilfe?«

»Vielleicht. Sind Sie auf der Flucht vor der Polizei?«

»Was? Nein.«

»Sind Sie Journalist?«

»Wie bitte?« Zink zog die Augenbrauen zusammen.

Till verengte die Augen. Wirkte Zink einen Tick angespannter als noch vor einer Sekunde? Till lehnte sich nun ebenfalls vor – völlig unangebracht für ein offizielles Vorstellungsgespräch. Aber Zink hielt seinem Blick stand.

Wirklich verdammt hübsche Augen. Wenn Marie seine Wimpern sah, würde sie in Tränen ausbrechen.

»Was war an der Frage nicht zu verstehen? Sind Sie Journalist? Ja oder nein?«

Zink atmete tief durch. Sein Atem strich warm über Tills Gesicht, was sich zu intim anfühlte. Dennoch war es gleichzeitig so angenehm, dass Till nicht zurückwich.

»Herr Patzelt, ich verstehe, warum Sie das fragen. Ich verstehe Ihre Situation.«

Till konnte sich ein Schnauben nicht verkneifen. »Das bezweifle ich.«

In diesem Moment wurde die Eingangstür geöffnet und Trudi betrat mit zwei Ordnern im Arm das Wirtshaus. »Till? Bist du...« Sie unterbrach sich, als sie die beiden Männer am Ecktisch sitzen sah. »Oh, ihr seid noch im Gespräch.« Sie runzelte die Stirn. »Warum seid ihr nicht in der Küche?«

Till erhob sich vom Stuhl. »Einen Moment, bitte«, sagte er an Zink gewandt, ehe er zu Trudi ging. »Auf ein Wort?« Er nahm sie am freien Arm und zog sie mit sich nach draußen. Die Junisonne blendete ihn einen Augenblick und er musste ein paar Mal blinzeln, um sich daran zu gewöhnen. »Ich werde ihn nicht einstellen.«

Ihr Arm unter seiner Hand verspannte sich. »Ist das so?«

Till machte sich auf eine hitzige Diskussion gefasst. »Ja, das ist so. Ich habe... ein komisches Gefühl bei ihm.«

Sie hob die Augenbrauen. »Diese Gefühle sollten sich nicht auf deine Personalentscheidungen auswirken.«

»Was zum Teufel soll das heißen?«

»Das heißt, dass du hinter jedem Busch Menschen vermutest, die dir schaden wollen. Muss ich noch mal das Beispiel Franz Wiesenhofer anführen?«

Till biss die Zähne zusammen. »Das hier ist was völlig anderes. Dieser Zink kommt aus München, hat nichts mit Kochen am Hut und sieht viel zu gut aus aus.«

»Kann er Zwiebeln schneiden?«

Till warf die Hände in die Luft. »Verdammt, jetzt hör doch mal mit diesen Scheißzwiebeln auf!«

Sie verzog grimmig den Mund und schob die Ordner auf ihrem Arm höher. »Ich sag dir jetzt mal was, Till.« Sie bohrte ihm einen Zeigefinger in die Brust. »Du brauchst Hilfe.«

Schnaubend schob er ihren Finger weg. »Nichts für ungut, aber ich habe schon in größeren Küchen gekocht als in deiner.«

»Allein?«

»Natürlich nicht allein, aber –«

»Du siehst schlecht aus.« Damit nahm sie ihm den Wind aus den Segeln. Widerwillig klappte er den Mund zu. »Du hast Augenringe, in denen man Leichen verscharren könnte.«

Autsch. Till wandte den Blick ab und starrte die Berge am Horizont an. Er schlief ganz bestimmt nicht schlecht, weil es in Trudis Küche zu stressig für ihn war.

»Du bist blass, unausgeglichen und trinkst zu viel. Dir fehlt nicht nur das Kochen auf höherem Niveau, dir fehlt die Gesellschaft.«

»Ach so.« Er sah sie wieder an. »Jetzt willst du mich also verkuppeln.«

Sie versetzte ihm einen Klaps gegen den Hinterkopf, der ihn zurück in seine Jugend katapultierte. Das hatte sie früher schon getan, wenn er zu frech geworden war oder zu viel geflucht hatte. Oder wenn er ihren Eintopf versalzen oder die Tomaten aus Bequemlichkeit nicht gehäutet hatte.

»Ich meinte Gesellschaft in der Küche. Obwohl dir etwas mehr sozialer Umgang nicht schaden könnte. Du stehst den ganzen Tag allein an deinem Herd.« Als Till protestieren wollte, ignorierte Trudi ihn einfach. »Und es ist nicht genug, dass Marie und ich hin und wieder reinkommen, um Teller abzuholen oder reinzubringen. Die meiste Zeit bist du allein. Und wenn du nicht arbeitest, gehst du angeln oder joggen. Allein.«

»Okay. Verstanden. Ich bin ein Einsiedler.«

»Du bist kein Einsiedler. Du igelst dich ein, das ist ein Unterschied.«

Als hätte er eine verdammte Wahl. »Und deshalb willst du, dass ich diesen Kerl« – er deutete mit dem Daumen hinter sich – »einstelle, obwohl ich ein ungutes Gefühl bei ihm habe.«

»Es ist mir völlig egal, wen du einstellst, solange du irgendjemanden einstellst. Allerdings möchte ich betonen, dass die Auswahl nicht groß ist, also wirst du Kompromisse eingehen müssen.«

Till biss die Zähne zusammen. Es ärgerte ihn, dass Zink fast genau das Gleiche gesagt hatte.

»Und wenn ich mir Leonhard Zink ansehe, ist er immerhin eine Steigerung zur letzten Aushilfe.«

»Der Kerl war ein Idiot. Er hat mich allen Ernstes gefragt, was blanchieren bedeutet.« Außerdem war er eine spindeldürre Bohnenstange mit zu langen Fingernägeln gewesen, die sich nur im Schneckentempo bewegt hatte. Wenn er ihm aufgetragen hatte, einen Topf Kartoffeln zu schälen, hätte er in der Zwischenzeit ein Haus bauen können.

Zink war immerhin nett anzuschauen. Was dummerweise sowohl ein Plus- als auch ein Minuspunkt war. Eine Beziehung in einer Küche war immer eine heikle Sache, weshalb er sie bisher vermieden hatte. Er hatte genug andere Gelegenheiten gehabt. Andererseits hatte sich im letzten Jahr einiges geändert, also...

Also willst du ihn einstellen, damit du ihn vögeln kannst? Großartiger Plan.

»Idiot oder nicht, er war der Einzige, der sich in zwei Monaten auf die Stelle beworben hat. Und die junge Frau davor hast du auch nach einer Woche vergrault.«

»Die konnte nun wirklich gar nichts.« Als Trudi ihn beinahe mitleidig ansah, fuhr sich Till fluchend durch die Haare. »Warum kommst du nicht einfach wieder in die Küche?«

Seit er denken konnte, hatte Trudi das Eck aus allen Winkeln heraus geleitet. Sie war Gastgeberin, Köchin, Bedienung und Thekenkraft in einem gewesen und hatte mit einer Leichtigkeit zwischen allen Rollen gewechselt, die Till immer bewundert hatte. Natürlich hatte sie in allen Bereichen Unterstützung gehabt, aber im Ort war das Wirtshaus noch immer als Trudis bekannt, egal wer sonst noch mitwirkte – zu seinem Glück.

Inzwischen mimte sie hauptsächlich die Gastgeberin und gelegentlich die Thekenkraft.

Eine Sekunde lang blinzelte sie ihn überrascht an, dann tätschelte sie lachend seinen Arm. »Glaub mir, Till, auch wenn ich vierundsechzig bin, möchtest du nicht mehr mit mir in meiner Küche arbeiten.«

Er hob eine Augenbraue. »In deiner Küche?«

»Oh ja. Weil ich mich von dir nicht herumscheuchen lassen würde.«

»Dann haben wir in der Tat ein Problem.«

»Nein, haben wir nicht.« Sie nickte zum Wirtshaus. »Die Lösung sitzt da drin.«

Till rollte die Augen. Wie er es auch drehte und wendete, sie kamen immer wieder an den Punkt zurück, an dem er Zink einstellen sollte. Scheiße.

Und wenn er sich dieses ungute Gefühl nur einbildete? Vielleicht hatte Trudi recht und es war eine Mischung aus seiner Paranoia und der sexuellen Anziehung, die Zink auf ihn ausübte. Vielleicht wollte er nur deshalb, dass der Mann Journalist war. Oder ein Verbrecher auf der Flucht. Oder sonst jemand, den er gleich wieder auf die Straße setzen konnte. War es nicht wenigstens einen Versuch wert?

Als hätte Trudi seine Gedanken gelesen, stieß sie ihn sanft mit dem Ellbogen an. »Was spricht denn gegen einen Probetag? Oder eine Probewoche? Gib dir einen Ruck, Till.«

Zum Teufel noch mal.

Er drehte sich um und stapfte ins Wirtshaus zurück. Zink saß nach wie vor am Ecktisch, nur dass er mittlerweile ein Handy in der Hand hielt. Gott, wie er diese Scheißteile hasste. Handys an sich und das, wofür sie standen. Und es brachte sein Blut zum Kochen, dass Zink mitten in einem Bewerbungsgespräch sein Handy hervorkamte, um sich die Zeit zu vertreiben. Früher hätte niemand, der sich bei ihm vorgestellt hatte, auch nur daran gedacht.

»Langweilen Sie sich schon, Herr Zink?« Er konnte nicht verhindern, dass er bissig klang.

»Entschuldigung.« Seelenruhig steckte Zink das Handy weg. »Ich wusste nicht, wie lange Sie noch brauchen.« Er zuckte die Schultern. »Aber hier scheint der Empfang sowieso nicht besonders gut zu sein.«

»Ja, das ist ein verbreitetes Problem in der Gegend.« Till blieb vor dem Tisch stehen, stützte die Hände auf die Rückenlehne seines Stuhls und starrte Zink in die Augen. Hinter sich hörte er Trudi das Wirtshaus betreten.

Gib dir einen Ruck, Till.

Verflucht. Er würde es bereuen. Ganz sicher. »Seien Sie ehrlich, Herr Zink: Können Sie wirklich kochen?«

Zinks Grinsen schoss ihm direkt in den Unterleib. »Ich bin leidenschaftlicher Hobbykoch.«

Kapitel 3

 

Patzelt legte eine Zwiebel auf das Schneidebrett vor ihm. »Hier.«

»Soll ich die schneiden?«

»Sie können sie auch essen, wenn Sie wollen, aber das sagt mir nicht, ob Sie zur Küchenhilfe taugen.«

Leon verzog das Gesicht. »Ich dachte, über diesen Punkt wären wir schon hinaus?«

»Sehen Sie es als Einstellungstest.« Patzelt nickte zu einem Messerblock. »Dort stecken Messer. Und dahinter an der Magnetleiste hängen auch welche. Suchen Sie sich eins aus.«

Aha. Das war offensichtlich die erste Falle, in die er tappen konnte: Messer.

Dummerweise hatte er bei seiner gestrigen Internetrecherche, die sich bis tief in die Nacht hineingezogen hatte, hauptsächlich Lebensmittel und den Umgang damit gepaukt – keine Messerkunde. Andererseits hatte er sich als Hobbykoch vorgestellt, verdammt. Es war völlig egal, was für ein Messer er benutzte, solange die Zwiebel am Ende kleingeschnitten war.

Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete Leon den Messerblock und die Magnetleiste. Patzelt besaß so viele Messer, dass er locker als Profikiller mit Messerfetisch durchgehen konnte. Eins sah aus wie das Messer, mit dem Norman Bates in Psycho auf Marion losging.

Wofür zum Teufel brauchte man die alle? Leon versuchte, sich an das YouTube-Video zu erinnern, in dem ein Profi-Koch dem Laien erklärt hatte, wie man professionell eine Zwiebel zerkleinerte. Kein Koch wie Patzelt, der im Fernsehen eine große Nummer war oder zahllose Kochbücher schmückte, aber auf Leon hatte er einen kompetenten Eindruck gemacht. Hatte er eher ein großes oder kleines Messer benutzt?

Wahllos griff er nach einem Messer mit Zacken und mittellanger Klinge von vielleicht zehn Zentimetern, das ihm ganz sympathisch erschien. Er sah Patzelt an, der mit verschränkten Armen neben ihm gegen an der Arbeitsfläche lehnte und ihn aus eisblauen Augen beobachtete.

»Ist das genehm?«

»Wissen Sie, was das für ein Messer ist?«

»Ein scharfes?«

Patzelt schien das nicht besonders witzig zu finden. »Das ist ein Tomatenmesser.«

Leon versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass er von der Existenz eines Tomatenmessers überhaupt nichts gewusst hatte. »Und deshalb kann ich damit keine Zwiebeln schneiden?«

»Mit was schneiden Sie sonst Zwiebeln? Als leidenschaftlicher Hobbykoch

Leon zögerte. Patzelt wiederholte seine Worte so geringschätzig, als hätte sich Leon bereits als Totalausfall in der Küche herausgestellt. »Mit was schneiden Sie sonst Zwiebeln?« Angriff war die beste Verteidigung. Der Kerl sollte sich nicht so anstellen und ihn einfach einstellen, damit er mit seiner Story anfangen konnte. Es war ja nicht so, als würden im Gastraum noch zwanzig andere Bewerber warten.

Patzelt wandte sich dem Messerblock zu, zog ein langes Messer mit Löchern und zwei spitzen Zacken am Ende der Klinge heraus und hielt es Leon entgegen.

»Das ist ein Scherz.«

»Ist es das?« Patzelt sah ihn an wie die personifizierte Unschuld. Wenn Patzelt nur nicht alles außer unschuldig gewesen wäre.

Leon wusste nicht, woran es lag. Vielleicht am Dreitagebart, am Tattoo, den eindringlichen, blauen Augen oder an den etwas widerspenstigen, blonden Haarsträhnen – er sah zum Anbeißen aus. Und was noch schlimmer war: Als könnte er unter Umständen zurückbeißen. Wie ein Wolf im Schafspelz. Auf gefährliche Weise anziehend.

Genau diese Ausstrahlung war es, die seine Kochsendung Aufgetischt! in kürzester Zeit zum Erfolg geführt hatte, weil sie die Leute an den Bildschirm gefesselt hatte. Sogar Leon. Er hätte sich bestimmt keine komplette Staffel ansehen müssen, um ein Gefühl für Patzelt zu bekommen.

Ohne den Filter eines Fernsehers war Patzelts Präsenz noch einnehmender. Unmittelbarer. Sie brachte Leons Haut zum Kribbeln.

Als Patzelt eine Augenbraue hob, merkte Leon, dass er ihn zu lange angestarrt hatte. Ruppig griff er nach dem Messer, das Patzelt ihm hinhielt. »Das ist ein Käsemesser. Damit schneidet man bestimmt keine Zwiebeln.«

»Sieh an. Offenbar ist doch ein bruchstückhaftes Grundverständnis vorhanden.« Er zeigte auf die Zwiebel vor Leon. »Wird das heute noch was? Bei dieser Arbeitsgeschwindigkeit sehe ich für Ihre Tauglichkeit in der Gastronomie schwarz.«

Leon steckte das Käsemesser zurück und nach kurzem Zögern auch das Tomatenmesser. Er war ziemlich sicher, dass der Profi in dem Video ein größeres Messer benutzt hatte. Er entschied sich für eins mit verhältnismäßig breiter Klinge, die doppelt so lang war wie die des Tomatenmessers. »Ich denke, ich nehme das.«

Patzelt schwieg und zuckte die Schultern. So falsch konnte seine Wahl also nicht sein.

Leon griff nach der Zwiebel und machte sich ans Schälen, während er sich Patzelts eindringlicher Blicke beinahe so bewusst war, als würde er ihn anfassen. Er sah jedoch nicht auf, sondern konzentrierte sich auf seine Aufgabe.

Geübt hatte er nicht, was er gestern in der Theorie gelernt hatte. Da er meistens unterwegs aß oder sich irgendwo etwas mitnahm, hatte er keine Zwieblen zu Hause gehabt. Außerdem hasste er es, Zwiebeln zu schneiden. Wie vermutlich jeder vernünftige Mensch, was zweifellos der Grund war, warum Patzelt diese Arbeit outsourcen wollte. Und warum er Leon jetzt damit traktierte.

Der scharfe Geruch ließ Leons Augen wässerig werden, aber als er die Zwiebel zerteilte, trieb es ihm endgültig die Tränen in die Augen. Scheiße. Und Patzelt starrte ihn noch immer an wie ein unerbittlicher Lehrer, der eine Klausur beaufsichtigte und ihn beim Schummeln überführen wollte. Er könnte wenigstens etwas sagen. Ein kurzes Lob, eine biestige Kritik, irgendwas.

»Geben Sie’s zu«, schniefte Leon, als er kurz Pause machte, um sich mit dem Handrücken eine Träne wegzuwischen. »Sie wollten mich bloß heulen sehen.«

»Sicher. Männer zum Heulen zu bringen, ist meine Spezialität.«

Leons Herz machte einen Satz und er rutschte mit dem Messer ab. »Scheiße.«

»Vorsicht.« Patzelts Hand schoss vor und packte Leons Arm. »Die Dinger sind sehr scharf.«

Patzelts Stimme klang ungewohnt sanft, ohne den zynischen Unterton. Was Leon allerdings mehr verwirrte, war die Wortwahl. Männer zum Heulen zu bringen. In seinem Nacken kribbelte es. Er hatte im Gastraum schon gedacht...

Leon hob den Kopf und begegnete blinzelnd Patzelts Blick. Der Koch war fast genauso groß wie er – und stand keine dreißig Zentimeter von ihm entfernt. Sein Puls schnellte in die Höhe.

Gott, der Kerl sah einfach unfassbar gut aus. Leons Blick fiel auf seine fein geschwungenen Lippen. Aber soweit er wusste, war Patzelt nicht schwul.

Eine Vermarktungsstrategie? Ein Koch, dessen Hauptzielgruppe aus Frauen bestand, war besser hetero und Single als schwul.

Als er den Blick wieder hob, ließ Patzelt ihn los und trat einen Schritt zurück, als wäre ihm plötzlich aufgefallen, dass sowohl der Blick- als auch der Körperkontakt viel zu lange gedauert hatte.

Leon wischte sich abermals mit dem Handrücken über die Tränenspuren auf seinem Gesicht. Fantastisch. So verheult musste er wahnsinnig attraktiv aussehen. Grimmig machte er sich wieder über die Zwiebel her. Seine Stückchen sahen bei weitem nicht so klein und gleichmäßig aus wie in dem blöden YouTube-Video, aber gerade war er schon froh, wenn er sich nicht versehentlich die Finger abhackte.

Patzelt räusperte sich. Es klang beinahe verlegen. »Wissen Sie, warum Sie weinen müssen, Herr Zink?«

»Ist das eine Fangfrage?« Leon konzentrierte sich aufs Schneiden und weigerte sich, aufzusehen. »Soll ich jetzt sagen: Weil Sie mich zum Weinen bringen?«

Patzelt entfuhr ein Geräusch, das halb Lachen, halb ersticktes Keuchen war. »Nein. Das ist eine ernstgemeinte Frage. Eine Wissensfrage.«

Das hatte er gelesen. Gott, seit der Uni hatte er nicht mehr derart viele Informationen in so kurzer Zeit in seinen Kopf gestopft. »Eins der ätherischen Öle. Ein, äh… schwefelhaltiges Folgeprodukt des Isoallins. Das ist auch für den Schärfegrad verantwortlich.«

Als Patzelt nichts sagte, schaute Leon ihn kurz an. Er wirkte überrascht und nickte grimmig. »Ich bin beeindruckt«, sagte er, klang aber eher widerstrebend. »Was wissen Sie noch über Zwiebeln?«

Leon schniefte und versuchte, sich zu erinnern. »Die ätherischen Öle haben eine ähnliche Wirkung wie Antibiotika und wehren einige Bakterien und Pilze ab.« Erst als sich sein Herzschlag verlangsamte, merkte er, wie schnell es geschlagen hatte. Aber gelerntes Wissen wiederzugeben, war ein Klacks. »Sie beliefern den Körper mit Kalium, Vitamin C und diversen Vitamin Bs. Es gibt verschiedene Sorten. Speisezwiebeln wie die hier« – Leon nickte auf die Zwiebel vor sich, die er endlich fertig geschnitten hatte – »Gemüsezwiebeln, Schalotten. Rote Zwiebeln, Frühlingszwiebeln, äh...« Jetzt war er sicher, so was wie ein Lachen gehört zu haben.

»Klingt, als hätten Sie das auf ein paar Vokabelkarten zum Auswendiglernen geschrieben.« Er lehnte sich zu Leon, ohne ihn zu berühren. »Auf jeden Fall geben Sie ein besseres Lexikon als eine Schnippelhilfe ab.« Er zog das Brett zu sich heran und runzelte die Stirn. »Die sind alle unterschiedlich groß.«

Leon legte das Messer weg. »Hauptsache, sie sind klein, oder?«

»Ich sehe Potenzial. Für einen ersten Test sollte das reichen.«

»Ein erster Test? Von wie vielen?«

»Das weiß ich noch nicht.«

Leon blinzelte ihn an. Eigentlich hatte er gedacht, mit dem Vorstellungsgespräch die größte Hürde genommen zu haben. Er hatte sich absichtlich weit aus dem Fenster gelehnt, um Eindruck zu schinden. Bis eben hatte er gedacht, dass seine Großspurigkeit bei Patzelt funktioniert hatte. Einem großen Ego durfte man nicht mit Katzbuckelei und Bescheidenheit begegnen. Und Patzelts Ego war trotz allem offenbar immer noch zu groß für diese Küche.

»Wollen Sie sich so lange Tests ausdenken, bis ich bei einem versage?«

»Nicht nötig. Sie haben schon beim Zwiebelschneiden versagt.«

Leon hob die Augenbrauen. »Warum komme ich dann in die zweite Runde?«

Patzelt öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, klappte ihn aber nach kurzem Zögern wieder zu. Finster funkelte er Leon an. »Sie waren damals in der Schule bestimmt der Lehrerliebling, was?«

Leon verbiss sich ein Lachen. Ja, sehr großes Ego und sehr kurzer Geduldsfaden. Wenn man der einen oder anderen Stimmen Glauben schenken konnte, die nach dem Skandal in den Medien laut geworden waren, war es eher selten ein Vergnügen, unter Till Patzelt zu arbeiten.

Leon beschloss, ihn nicht weiter zu reizen, und gab stattdessen nach. »Wie sieht der zweite Test aus?«

Patzelt sah zur Uhr über der Doppeltür, die in den Gastraum führte. »Wie viel Zeit haben Sie mitgebracht?«

»Ich gehöre ganz Ihnen.«

»Tatsächlich? Hoffentlich werden Sie das nicht bereuen.«

Leon hielt seinem Blick stand. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass Patzelt die ganze Zeit von etwas anderem redete als er.

»Das Mittagsgeschäft beginnt in einer halben Stunde und geht bis circa vierzehn Uhr. Danach ist die Küche bis halb sechs geschlossen und es gibt nur Brotzeit und Kuchen. Darum kümmern sich Trudi und der Service. Das Abendgeschäft geht bis ungefähr zweiundzwanzig Uhr plus Aufräumarbeiten.« Er musterte Leon abschätzig. »Wenn Sie sich der Aufgabe wirklich gewachsen fühlen, dürfen Sie für einen Probearbeitstag hierbleiben.«

Seinem Tonfall und Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hielt er Leon eindeutig für dem nicht gewachsen.

Wird mir ein Vergnügen sein, dich vom Gegenteil zu überzeugen, Till Patzelt.

Tatkräftig klatschte er in die Hände. »Gibt es hier irgendwo eine Schürze?«

 

***

 

Leon bekam keine Schürze, sondern eine weiße Kochjacke. Vermutlich sollte die Farbe die Rangordnung in der Küche unterstreichen: elegantes Schwarz für den Meisterkoch, schnoddriges Weiß für die Küchenhilfe. Nach etwa einer halben Stunde befand Leon jedoch, dass die ausgewählte Farbe eine weitere Schikane von Patzelt war, denn auf Leons Kochjacke sah man jeden noch so kleinen Fleck, während Patzelts makellos sauber wirkte.

Allerdings spielte das keine große Rolle, weil er sich eine weitere halbe Stunde später wünschte, überhaupt keine Jacke anzuhaben.

Trotz geöffneter Fenster hatte sich die Küche innerhalb kürzester Zeit in eine Sauna verwandelt. Aus diversen Töpfen und Pfannen zischte, brutzelte und dampfte es, was die Luft in der Küche zusätzlich zu den laufenden Öfen und den sommerlichen Temperaturen draußen aufheizte. Außerdem duftete es so gut, dass Leons Magen permanent zu knurren schien. Zum Glück war der Classic Rock, den Patzelt als Untermalung aufgelegt hatte, laut genug, um das Geräusch zu übertönen.

Patzelt hatte sich wieder sein Kopftuch umgebunden, während er zwischen Arbeitsfläche, Herd und Ofen hin und her wirbelte und Leon abwechselnd anblaffte und aus dem Weg schubste. Seine Lieblingssätze waren »Schneller, schneller!«, »Sie sind zu langsam!« und »Was ist das denn?«

Leon hatte sich zweimal in den Finger geschnitten, weitere Tränen über unzähligen Zwiebeln vergossen und sich einen Streifen Pilzrahmsauce vom Landhauspflandl auf die Stirn geschmiert. Als er einmal kurz auf Toilette verschwunden war – »Vergessen Sie bloß nicht, sich die Hände zu waschen, Herr Zink!« –, entdeckte er außerdem Preiselbeerkompott von den Wiener Schnitzeln in seinen Haaren. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie zum Teufel das dahin geraten war. Vielleicht hatte Patzelt ihn damit beworfen und er hatte es in der Hektik nicht mitbekommen.

Er spülte sich das rote Zeug aus den Haaren, die ihm verschwitzt an der Stirn klebten. Als er auf seine Smartwatch sah, wäre er vor Unglauben beinahe umgekippt. Drei verpasste Anrufe, sieben Mails, dreizehn WhatsApp-Nachrichten, vierundzwanzig News aus seinem Feed und elf Mitteilungen diverser anderer Apps. Er hatte den Eingang keiner einzigen Benachrichtigung bemerkt.

Und es war erst eins. Eins!

Er fühlte sich, als hätte er eben einen Marathon beendet.

»Zink

Vielleicht auch einen Triathlon. Mit einem unnachgiebigen Drillsergeant an der Seite.

»Ja!«, brüllte Leon zurück und klatschte sich noch eine Ladung Wasser ins Gesicht, um wieder runterzukommen. Das macht er mit Absicht. Er scheucht dich mit Absicht so durch die Gegend. Arroganter Mistkerl. Aber wenn Patzelt glaubte, ihn damit in die Flucht schlagen zu können, hatte er sich geirrt.

Als er die Toilette verließ, warf er einen Blick nach draußen auf die volle Terrasse. Da das Wochenende vor der Tür stand, war noch mehr los als gestern. Leon wollte sich gar nicht vorstellen, wie es hier erst abends zuging. Patzelt brauchte zweifellos eine Hilfe in der Küche – was in Anbetracht der Umstände Leons einziger Trumpf war. Bisher hatte er sich nicht durch besonderes Geschick ausgezeichnet und wahrscheinlich war Patzelt längst aufgefallen, dass er mit seiner Leidenschaft in der Küche geschwindelt hatte. Jetzt ging es nur noch darum, sich nicht zu dämlich anzustellen.

Gelächter drang von der Terrasse in den Gastraum. Die Besitzerin des Wirtshauses – Gertrud Stemmer – saß an einem vollbesetzten Zehnertisch mit einem Altersdurchschnitt von sechzig, während die junge Bedienung Marie von Gast zu Gast flitzte, ohne gestresst zu wirken. Im Gegenteil, sein offener, herzlicher Eindruck von ihr hatte sich bestärkt, als sie ihn begrüßt und ihm vom Fleck weg das Du angeboten hatte.

Jetzt sauste sie mit einem Tablett leerer Gläser zur Bar und zwinkerte ihm gut gelaunt zu. »Na, hast du schon genug?«

»Es ist anstrengender, als ich dachte.«

Sie lachte, während sie in Windeseile die benutzten Gläser in die Spülmaschine stellte und neue Getränke einschenkte. »Daran gewöhnt man sich. Mir ist es so allemal lieber, als Däumchen zu drehen.«

»ZINK!« Die Küchentür flog auf und Patzelt rauschte wie ein mordlüsterner Sklaventreiber in den Gastraum. Fehlte nur noch die Peitsche. Als er Leon an der Theke stehen sah, blieb er abrupt stehen. »Wenn Sie Ihr kleines Kaffeekränzchen beendet haben, würde ich Sie gerne wieder in der Küche sehen. Aber nur keine Eile

»Till.« Marie verkniff sich ein Grinsen und schüttelte den Kopf. »Es ist sein erster Tag.«

»Es ist sein verdammter Probetag. Wenn er den Job haben will, schwingt er seinen Arsch besser zurück in die Küche.«

Patzelt schoss einen so düsteren Blick auf ihn ab, dass Leon einfach nicht anders konnte und sich zu einem stummen Salut hinreißen ließ. Marie kicherte, während Patzelt ihn entgeistert anstarrte.

Leon verkniff sich ein Grinsen. Sobald er den Job sicher hatte, musste er daran denken, sein Handy stets am Körper zu tragen, um die Diktier-App jederzeit aktivieren zu können. Patzelt lieferte einen fantastischen O-Ton nach dem anderen. Fotos, Audioaufnahmen, vielleicht sogar ein Video mit versteckter Handykamera aufgenommen. Die Leute würden ausflippen.

»Ich komme.«

»Das will ich hoffen«, knurrte Patzelt. »Sofort.« Er verschwand in die Küche.

»Du machst das genau richtig«, sagte Marie, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Till nicht hinter der Küchentür stand. »Du darfst dich von ihm nicht einschüchtern lassen. Das war der Fehler der anderen.«

Leon sah ebenfalls zur Küchentür und überlegte, ob er noch ein paar Sekunden riskieren konnte, ohne dass Patzelt der Kragen platzte. Er witterte hier eine gute Informationsquelle. »Ich habe mich schon gewundert, warum er bei dem vielen Betrieb allein arbeitet. Jetzt weiß ich es.« Er grinste einnehmend. »Wie viele andere gab es denn vor mir?«

Sie lachte und griff nach einem Glas, um ein Bier zu zapfen. »Einige.«

»Zehn? Zwanzig?«

Jetzt sah sie ihn schief an. »Wir sind hier in einem Dorf auf dem Land.« Sie sah wieder zur Tür. »Auch wenn er das manchmal vergisst.«

»Er weiß einfach, was er will.«

»Oh ja. Und er ist es nicht gewohnt, dass man nicht sofort spurt.«

»Bei seiner ruppigen Art vermutlich nicht verwunderlich.«

»Er ist ruppig, ja, aber das liegt an...« Sie biss sich auf die Unterlippe, als hätte sie schon zu viel gesagt. Leon wollte sie aber noch nicht vom Haken lassen.

»An seiner Vorgeschichte?«

Misstrauisch verengte sie die Augen, in denen plötzlich Vorsicht stand.

Scheiße. Zu viel.

Obwohl es sich gerade noch angefühlt hatte, als wollte sie sich mit Leon verbünden, stand nun außer Frage, wem ihre Loyalität galt. Angesichts von Patzelts schroffem Verhalten ziemlich unerwartet. Despoten fiel man normalerweise bei der ersten sich bietenden Gelegenheit in den Rücken. Andererseits stammte Patzelt von hier. Vielleicht gab es so etwas wie einen Ehrenkodex, bei dem man Leute aus den eigenen Reihen grundsätzlich bei keinem Fremden anschwärzte.

»Du weißt Bescheid?«, hakte Marie vorsichtig nach.

Leon zuckte lässig die Schultern, als wäre das keine große Sache, aber er konnte an Maries Gesicht sehen, dass er es fürs Erste vermasselt hatte. »Er ist kein Unbekannter, das ist alles.«

»Ich bin vor allem nicht Ihr zukünftiger Chef, wenn Sie noch länger hier draußen rumtrödeln.«

Leon zuckte zusammen und wandte sich der Küchentür zu, die Patzelt dieses Mal nur ein kleines Stück aufgeschoben hatte. Verdammt. Er hatte ihn überhaupt nicht gehört. Patzelts scharfer Blick spießte ihn wie eins seiner unzähligen Messer auf. Leon bezweifelte, dass das allein an seiner Trödelei lag.

»Es sei denn natürlich, Sie haben den Job gar nicht so nötig, wie Sie mir weismachen wollen.«

»Bin schon da, Chef. Soll ich noch mehr Zwiebeln schneiden?« Unwahrscheinlich, da Patzelts Mise en Place vorbildlich war – leider. Vielleicht gab er sich heute ja besondere Mühe. Irgendwo lauerten die Unsauberkeiten, davon war Leon überzeugt.

»Ich finde schon was für Sie.« Patzelt ruckte mit dem Kopf. »Und jetzt rein hier.«

 

***

 

Den Rest des Tages bemühte sich Leon, sich von seiner besten Seite zu zeigen und nicht mehr unangenehm aufzufallen. Als die Küche nach dem Mittagsgeschäft bis zum Abend geschlossen wurde, konnte er sich etwas von den vorbereiteten Sachen als kostenloses Mittagessen aussuchen. Da er so ausgehungert war, als hätte er wochenlang nichts gegessen, entschied er sich für ein Schweineschnitzelmit Kartoffelsalat.

Wenn er an seinem Schreibtisch saß, vermied er es, sich mittags den Bauch so vollzuschlagen. Das anschließende Mittagstief war mörderisch, abgesehen davon, dass er abends im Fitnessstudio eine zusätzliche halbe Stunde auf dem Laufband oder dem Fahrrad einlegen musste.

Heute hatte er allerdings das Gefühl, keine zehn Minuten mehr durchzuhalten, wenn er nicht etwas Anständiges zwischen die Zähne bekam. Er zögerte nur minimal, bevor er sich ein Stück Fleisch in den Mund schob. Bei der Zubereitung waren ihm keine Fehler aufgefallen, aber selbst wenn, war er im Moment eindeutig zu hungrig, um etwas auszuschlagen, das so köstlich duftete.

Gott... Leon schloss die Augen. Das Schnitzel war fantastisch. Knusperige, luftige Panade und nicht totgebraten. Einwandfrei gewürzt. Und der Kartoffelsalat... Wie konnte etwas so Simples so gut schmecken? Kein Wunder, dass er für die nächste Ladung unzählige Kartoffeln hatte pellen müssen.

Patzelt leistete ihm keine Gesellschaft, sondern verschwand mit den Worten »Bin gleich zurück« aus der Küche. Obwohl ihm damit die Gelegenheit auf einen Plausch entging, war Leon froh darüber. Verstohlen legte er seine schmerzenden Füße auf den zweiten Stuhl an dem winzigen Tisch in der Ecke am Hinterausgang.

In einer Gastroküche zu arbeiten, war echte Knochenarbeit. So hart hatte er körperlich noch nie für eine Story schuften müssen. Meistens saß er am Schreibtisch oder plauderte mit seinen Quellen bei einer Tasse Kaffee oder einem leckeren Abendessen, das aufs Spesenkonto von Quicknews ging.

Zugegeben, das hier war eine nette Abwechslung – trotzdem war das vorerst sein letzter Ausflug in den investigativen Journalismus. Die Wespe hatte recht: Mit weniger Aufwand schaffte er genauso viel, wenn nicht gar mehr. Außerdem hatte er keine Lust, sich als persönlicher Assistent oder Fahrer oder dergleichen in die Nähe des Stadtrats oder anderer todlangweiliger Persönlichkeiten zu schleichen. Nicht jeder konnte so faszinierend wie Patzelt sein – oder so attraktiv, ja. Aber darum ging es hierbei überhaupt nicht.

Es war ihm ein Rätsel, wie irgendjemand Spaß an dem Stress in der Küche haben konnte. Aber Patzelt genoss es. Wobei genießen das falsche Wort war. Patzelt ging in seiner Arbeit auf. Er lebte sie.

Leon hatte versucht, ihn während der letzten dreieinhalb Stunden zu beobachten, was nicht einfach war, wenn man gleichzeitig durch die Gegend gescheucht wurde und ständig selbst unter Beobachtung stand. Er hatte nach irgendwelchen groben Fehlern gesucht, nach Fahrlässigkeit, Dreck und für eine Schlagzeile verwertbarem Schmutz.

Was er gesehen hatte, war ein Koch mit vollendetem Respekt für die Lebensmittel, mit denen er umging. Ein Koch mit einer Fingerfertigkeit, bei der ihm vor Staunen der Mund offen stehen blieb. Es war völlig egal, ob er ein Messer, einen Pfannenwender oder einen Salzkarton in der Hand hielt, er benutzte alles wie die Verlängerung seiner Arme. Was nicht gut war.

Leon schaufelte sich eine Gabel voll Kartoffelsalat in den Mund. Er musste abwarten, tiefer graben. Irgendwo musste Patzelt stümpern. Salmonellen entstanden nicht aus dem Nichts heraus.

Nach dem Mittagsgeschäft war vor dem Abendgeschäft, für das ebenfalls das Mise en Place hergerichtet werden musste. Für Leon bedeutete das, noch mehr Zwiebeln zu schneiden.

»Gibt es eigentlich ein Geheimrezept, um den Geruch schnell wieder von den Fingern zu bekommen?« Seine rochen nämlich, als hätte er ein Zwiebelbad genommen. In irgendeinem Wellnesstempel nahm man für so etwas sicher den einen oder anderen Hunderter.

»Ja. Wasser, Seife und Edelstahl.« Patzelt griff ebenfalls nach einer Zwiebel. »Schauen Sie zu, dann lernen Sie vielleicht noch was.« Er schälte die Zwiebel, zerteilte sie in der Mitte und hielt sie am Wurzelende fest. Dann ließ er das Messer in einer Geschwindigkeit hinunterrsausen, bei der Leon Angst um seine eigenen Finger hatte, obwohl sie sich nicht in der Gefahrenzone befanden. »Um die Stücke kleiner zu schneiden, schneidet man die Zwiebel zusätzlich quer ein. So.« Er machte es vor, ehe er die ganze Zwiebel in Rekordgeschwindigkeit zerkleinerte.

Anschließend lagen winzige, quadratische Würfel auf dem Schneidebrett, die aussahen wie mit dem Lineal abgemessen.

»Wahnsinn«, rutschte ihm raus. Auf YouTube hatte es schon beeindruckend ausgesehen, aber da konnte jeder mit ein paar Fachkenntnissen für Videobearbeitung tricksen.

Patzelt sah kurz auf. Das ungefilterte Lob schien ihm zu gefallen, obwohl die Zwiebel nicht mehr als eine Fingerübung für ihn gewesen sein konnte. »Alles eine Frage der Übung.« Er schob Leon das Schneidebrett zu. »Jetzt Sie.«

Zum Abend gab es einen Schichtwechsel. Marie wurde durch zwei neue Servicemitarbeiter ersetzt. Der Mann, Jiri, war etwa in Maries Alter, hatte tschechische Vorfahren und die schwärzesten Augen, die Leon je gesehen hatte. Christl, eine Frau Anfang fünfzig, ähnelte in ihrer Art Marie. Ihre dunklen Haare durchzog eine auffällige, pinkfarbene Haarsträhne und unter der weißen Bluse ihres Dirndls lugten die Ansätze eines Tattoos auf dem Dekolletee hervor. Leon wollte nicht zu genau hinschauen, aber es sah aus wie eine Rose.

Außerdem bekamen sie in der Küche Zuwachs. »Das ist Katharina Huber«, stellte Patzelt das dünne, blasse Mädchen vor, das noch keine zwanzig sein konnte und völlig übernächtigt wirkte. »Sie ist unsere Spülerin. Katharina, Leonhard Zink. Er arbeitet heute zur Probe.«

»Hallo, freut mich«, sagte Katharina mit überraschend fester, lauter Stimme und schüttelte Leons Hand mit kräftigem Druck. »Und viel Erfolg. Till braucht dringend Hilfe. Ich meine«, haspelte sie schnell hinterher, als sich Patzelt spürbar neben Leon versteifte, »er könnte etwas Unterstützung gebrauchen.«

Katharinas Arbeitsplatz war ein kleiner, abgetrennter Bereich, der sich seitlich zwischen Küche und Thekenbereich befand und Leon bisher nicht aufgefallen war.

»Ich hätte nicht gedacht, dass hier so viele Leute beschäftigt sind.«

Patzelt zog eine Augenbraue hoch. »Viele?«

»Das Wirtshaus läuft wohl ganz anständig, hm?«

»Fragen Sie Ihre Füße, sobald der Tag um ist.« Patzelt drückte ihm einen Karton mit gemischtem Salat in die Hand. Kopfsalat, Eisbergsalat, Feldsalat, Rucola, Frisee, Radicchio und... wie hieß noch mal der mit den farbigen, krausen Blättern? Scheiße, das hatte er doch gerade erst gelernt.

Hoffentlich ist das nicht Test Nummer drei. Lila ... nein, Lolli ... Lollo rosso!

»Waschen und zerkleinern. Schnell, wenn’s geht. Wir haben nicht mehr viel Zeit bis halb sechs.«

Leon wartete, aber bevor Patzelt ein Bitte über die Lippen kam, lag er vermutlich schon Jahre unter der Erde.

Als Leon sich nicht rührte, hob Patzelt eine Augenbraue, ehe er zu einem Waschbecken an der gegenüberliegenden Wand nickte. »Da gibt’s Wasser.« Er deutete auf einen Schrank. »Da drin steht die Salatschleuder. Und seien Sie gründlich. Ich will keine Erde zwischen den Blättern, verstanden?«

Das eigentliche Abendgeschäft erlebte Leon beinahe wie in Trance. Alles verschwamm ineinander und nur hin und wieder trat ein Ereignis gestochen scharf hervor. Patzelt, der sich über einen Gast aufregte, der offenbar nicht wusste, was medium rare bedeutete, denn wenn er das Steak noch ein einziges Mal auf den Grill warf, wäre es – verdammt noch mal – durch wie eine zehn Jahre alte Schuhsohle.

Katharina, der beim Abwaschen eine Pfanne aus der Hand rutschte, die so laut auf den Boden krachte, dass Leon sich in Erwartung eines Anschlags beinahe auf den Boden geworfen hätte.

Christl, die ihn augenzwinkernd fragte, ob er einen Espresso wollte – mit Schuss oder ohne.

Seine Smartwatch, die öfter vibriert haben musste, als er mitbekam, weil sich unzählige Benachrichtigungssymbole in der kleinen Anzeige drängten, wann immer er einen Blick darauf werfen konnte. Nur hin und wieder sah er rechtzeitig hin, um eine Nachricht mitzulesen.

Die Wespe: Haben Sie den Job? Waren Sie schon in der Küche?

Seine Mutter: Hast du je auch nur einen Film mit Johannes Fröhlich gesehen? Deinen Verriss hat er nicht verdient!

Sein Newsfeed: Das war’s! Liebes-Aus für It-Girl...

Eine Facebook-Nachricht einer seiner Quellen: Hab Infos zum Stadtrat. Kostet aber was.

Der Ticker der Konkurrenz: »Wir waren nicht betrunken!« Jetzt melden sich die Wilmdorfer-Zwillinge zu Wort.

Normalerweise würde er sich sofort sein Handy oder Tablet schnappen und die News checken. Berichte wie Letzterer pushten nachträglich seinen Artikel und kurbelten die Kommentare an. In dem Küchenchaos hatte er jedoch Schwierigkeiten, sich überhaupt an die Gesichter der Wilmdorfer-Zwillinge zu erinnern.

Als gegen zehn endlich so etwas wie Ruhe einkehrte, zitterten Leons Arme von der Anstrengung des Tages. Seine Füße spürte er kaum noch, aber das war immer noch besser als sein Rücken, der bei jeder Bewegung Schmerzwellen durch seinen Körper schickte. Er hätte auf der Stelle einschlafen können. Oder tot umfallen. Was aufs Gleiche rauskam.

Leon stützte sich auf der Anrichte ab und spähte zu dem kleinen Tisch mit den zwei Stühlen hinüber. Nur fünf Minuten. Das bekommt sicher keiner mit. Wenn ich schnell bin, dann –

Patzelt tauchte neben ihm auf und sah ihn mit unverhohlener Schadenfreude an. Wenn Leon nicht alles täuschte, erkannte er darunter aber auch so etwas wie Respekt. Wenn auch nur in verschwindend geringer Menge. Und war es nicht einfach ungerecht, wie der Kerl nach mehr als zwölf Stunden Arbeit immer noch so gut aussehen konnte? Verschwitzt und erschöpft, ja, aber im Vergleich zu Leon wirkte er taufrisch wie ein originalverpacktes Handy.

Patzelt hielt ihm einen Lappen entgegen. »Jetzt noch putzen, dann sind wir für heute durch.«

»Putzen?«, ächzte Leon. »Gibt’s dafür nicht die Heinzelmännchen?«

Patzelts Mundwinkel zuckten. »Nicht, dass ich wüsste.« Er klopfte Leon auf den Rücken, eine Geste, die beinahe kameradschaftlich wirkte. »Kommen Sie, Sie haben’s fast geschafft.«

Nachdem sie sich mit vereinten Kräften ans Aufräumen und Saubermachen gemacht hatten – dabei half sogar Gertrud Stemmer mit –, konnte Leon eine halbe Stunde später endlich auf einem Stuhl zusammenbrechen. Da er nicht vorhatte, innerhalb der nächsten sechs Monate wieder aufzustehen, hatte er sich draußen einen Platz auf der Terrasse gesucht. Er genoss die angenehm kühle Nachtluft und wie sich seine Muskeln langsam entspannten, als er die Füße auf einem Stuhl ablegte.

Vage bekam er mit, wie sich die anderen Angestellten verabschiedeten, dann eine Zeitlang leieses Stimmengemurmel. Wahrscheinlich Stemmer und Patzelt. Wahrscheinlich ging es dabei um ihn. Und wahrscheinlich sollte er aufstehen und lauschen, aber im Moment hätte er nicht mal vor einem neunzigjährigen Axtmörder flüchten können.

Als er Schritte hörte und sich jemand zu ihm an den Tisch setzte, zwang er seine Augen auf. Er hatte gar nicht mitbekommen, wie sie zugefallen waren. Er brauchte zweifellos noch einen Espresso, bevor er nach Hause fuhr. Oder zehn.

Patzelt saß auf dem Stuhl ihm gegenüber. Er hatte das Kopftuch abgenommen. Seine blonden Haare standen zerzaust in alle Richtungen ab. Die obersten Knöpfe seiner schwarzen Kochjacke waren geöffnet und das kleine Stückchen freigelegte Haut, das im Schein der Gartenfackeln golden schimmerte, sollte in seinem Zustand definitiv nicht so appetitlich aussehen. Oder vielleicht gerade in seinem Zustand. Leon hatte schlicht keine Kraft mehr, um sich gegen Patzelts Attraktivität zu wehren.

»Ich gebe zu, ich bin überrascht. Ich hätte nicht gedacht, dass Sie den Tag bis zum Ende durchziehen.«

»Ich übertreffe gerne an mich gestellte Erwartungen.«

»Aber Sie sind kein Hobbykoch.«

Selbst in seinem geschwächten Zustand merkte Leon, dass das eher eine Feststellung als eine Frage war. Leon beugte sich über den Tisch. »Ich würde sagen, nach heute bin ich ein halber Profikoch.«

Dafür hatte Patzelt nur ein müdes Lächeln übrig. Immerhin. »Und? Sind Sie immer noch an einem Job in der Gastronomie interessiert? Oder wollen Sie Ihre Bewerbung zurückziehen?«

»Soll das ein Witz sein? Nach knapp zehn Stunden fängt es gerade an, Spaß zu machen.«

»Ihnen ist klar, dass die Arbeitszeiten beschissen sind? Montags haben wir Ruhetag, von Donnerstag bis Sonntag haben wir wie heute geöffnet. Dienstag und Mittwoch entfällt die Kuchen- und Brotzeit. Zusätzlich gibt es hin und wieder Veranstaltungen. Hauptsächlich Geburtstage, Hochzeiten, Jahresfeiern und Vereinstreffen.«

Gott, wie furchtbar. Dagegen war die eine oder andere Überstunde beim Kaffeekränzchen mit einem seiner Informanten ein Spaziergang. Er kramte in seinem Gedächtnis, wann er zuletzt eine Nacht für eine Story durchgearbeitet hatte. Vor ein paar Jahren? Während der Uni? Er erinnerte sich nicht.

Leon rang sich ein Grinsen ab. »Klingt großartig.«

Selbst im diffusen Halbdunkel konnte er sehen, dass Patzelt ihm seine Begeisterung nicht abnahm. »Sie haben nur sehr wenig Urlaub nach genauer Absprache und die Bezahlung ist schlecht.«

»Hört sich fast an, als wollten Sie mir den Job ausreden.«

»Ich will nur, dass Sie wissen, worauf Sie sich einlassen. Ich habe keine Lust, mir nach ein paar Tagen schon wieder eine neue Küchenhilfe suchen zu müssen, nachdem ich Ihnen gerade mühsam die Abläufe erklärt habe.«

»Verstanden. Also?« Nun rück den verdammten Job endlich raus, du Klugscheißer. Er konnte unmöglich den ganzen Tag für nichts geschuftet haben. Die Wespe würde sich kaputtlachen. »Habe ich den Job? Ich muss heute noch nach München zurück und ich würde lieber früher als später losfahren, bevor ich am Steuer einschlafe.«

Patzelt hob die Augenbrauen. »Wollen Sie die ganze Zeit pendeln, falls ich Sie einstellen sollte?«

»Nein, ich würde mir natürlich hier was suchen. Aber im Moment habe ich nichts weiter bei mir als diese Sachen.« Er zupfte an seinem verschwitzten Hemd. Die Kochjacke hatte er längst abgelegt.

»Sie wären also nicht sofort verfügbar, sondern erst nach einem Umzug in zwei, drei Wochen?«

Himmelhergott! »Nein, ich möchte sofort anfangen. Am besten gleich morgen. Ich... ich brauche den Job.« Vielleicht etwas zu dick aufgetragen, aber wie würde er sonst nach seinem flammenden Plädoyer für die Patzelt-Story vor der Wespe dastehen? Und er hatte heute nicht ein einziges, taugliches Zitat oder Foto aufgenommen. Damit konnte er nicht mal den ursprünglich geplanten Lückenfüller schreiben.

»Wenn Sie Geld brauchen, sollten Sie als Erstes Ihren BMW verkaufen.« Wieder hatte sich ein Hauch Misstrauen in Patzelts Stimme geschlichen.

»Der ist geliehen«, log er. »Und? Soll ich morgen wieder um zehn Uhr hier sein?«

Unwillig starrte Patzelt ihn an, dann raufte er sich die Haare. Schatten tanzten über seinen tätowierten Arm. »Für Ihre Wohnsituation gibt es möglicherweise eine Lösung, aber...« Er seufzte schwer, als ginge es um die Entscheidung, sich lieber die linke oder die rechte Hand abzuhacken. »Beantworten Sie mir noch eine Frage.«

Innerlich stöhnte Leon auf. Nicht noch ein Test! Sein Gehirn war wie leergefegt. Er war am Ende.

»Können Sie mir sagen, was blanchieren bedeutet?«

Kapitel 4

 

Mit steifen Gliedmaßen und völlig übernächtigt kraxelte Leon am nächsten Morgen umständlich aus seinem Auto. Er hatte so viel Koffein intus, dass er eigentlich einen Meter in der Luft schweben müsste, doch seine bleischweren Glieder hielten ihn wie einen Anker am Boden. Trotzdem fühlte er sich gut. Irgendwie. Auf irritierende Weise lebendig – was vermutlich damit zusammenhing, dass die Luft auf dem Land besser war als in der Stadt, wo die Hitze stickig zwischen den Gebäuden festhing. Hier draußen ging ein leichter Wind, der die strahlende Sonne erträglicher machte.

»Guten Morgen.«

Leon wandte sich um. Patzelt lehnte in der Hintertür der Küche, die zum Parkplatz hinausging. Er trug ausgewaschene Jeans und ein weißes T-Shirt und wirkte, als hätte ihn ein Fotograf für ein Shooting dort platziert. Für eine kernige Zigarettenwerbung oder eine sexy Jeansmarke.

»Morgen.« Leon angelte seinen Coffee-to-go-Becher aus dem Wagen und schlug die Autotür zu.

»Pünktlichkeit zählt offenbar zu Ihren Stärken.« Er runzelte die Stirn, als Leon näher kam. »Haben Sie überhaupt geschlafen?«

»Ein wenig.« Er trank einen großen Schluck von seinem Kaffee und warf einen unauffälligen Blick auf Patzelts Tattoo, das das T-Shirt größtenteils entblößte. Er hatte es zwar schon auf Fotos und Videoaufzeichnungen gesehen, aber live und in Farbe sah es noch bunter und kunstvoller aus. »Sie sagten, Sie hätten eine Wohnung für mich?«

»Unsere Azubi-Wohnung, ja. Aber erwarten Sie nicht zu viel.«

»Im Moment erwarte ich vor allem ein Bett.«

»In das Sie in etwa zwölf Stunden fallen dürfen.«

Leon verzog das Gesicht. »Sie sind so grausam.«

Patzelt lachte. Es kam so unerwartet, dass Leon überrascht blinzelte. Und, verdammt, entweder lag es an seiner allumfassenden Müdigkeit oder der Kerl wurde tatsächlich noch anziehender, wenn er lachte. Sein Schwanz hatte da trotz Erschöpfung eine ziemlich eindeutige Meinung.

Leon hob den Kaffeebecher. »Nach Ihnen.«

Patzelt schob sich an ihm vorbei auf den Parkplatz. Im Vorbeigehen nahm Leon einen Hauch Seife und eine leichte Note wie von einer exotischen Gewürzmischung wahr. Hmm, lecker. Er versuchte, sich zu konzentrieren, aber sein Kopf fühlte sich wie in Watte gepackt an, als er Patzelt zu einem kleinen Seiteneingang folgte. Wie viele Zugänge hatte dieses Haus eigentlich?

»Die Wohnungen oben können separat hier über den Seiteneingang erreicht werden oder von drinnen durch den Gastraum«, erklärte Patzelt und zog die Tür auf. Sie traten in einen kleinen, düsteren Vorraum, in dem sich nichts als die Tür zum Gastraum und eine schmale, steile Treppe nach oben befand. Für mehr war kein Platz.

»Wie viele Wohnungen gibt es oben?«

»Zwei.«

»Wer bewohnt die zweite?«

»Ich.«

Das war bestimmt eine Verschlechterung zu seinem letzten Wohnsitz in München. Leon erinnerte sich an Fernsehbilder, in denen Reporter vor dem ansehnlichen Altbau im Glockenbachviertel gestanden und etwas von Till Patzelts Dachgeschosswohnung erzählt hatten. In manchen Einstellungen hatte die Kamera auf ein winziges Stück Dachterrasse gezoomt, die von der Straße jedoch nicht einzusehen war.

Hintereinander stiegen sie die knarrende Treppe hinauf, wobei Leon Patzelt einfach auf den Hintern starren musste. Nicht nur, weil er ihn direkt vor der Nase hatte, sondern weil er in der Jeans fantastisch aussah.

Scheiße. Mehr Kaffee.

Er stürzte den Rest hinunter, noch bevor sie am oberen Treppenabsatz angekommen waren, der nicht viel mehr Platz bot als der Vorraum unten. Eine schlichte Holztür mit einfachem Zimmerschloss ging hinten in der Ecke ab, ansonsten führte nur die Treppe weiter hinauf. Unglücklicherweise war es hier oben ziemlich warm.

Und es riecht nach Essen. Leon atmete tief ein. Nein, nicht nach Essen. Er sah Patzelt an. Es roch nach ihm. Würzig, herb, Mann.

»Das ist meine Wohnung«, sagte Patzelt, der Leons Blick offenbar missverstand. »Es gibt keine getrennten Klingeln, aber eigentlich läutet hier sowieso niemand.« Er deutete nach oben. »Eins drüber ist die Azubi-Wohnung.« Wieder ging er voraus.

Spätestens, als ihn oben eine abgestandene Bullenhitze begrüßte, merkte er, dass er sich direkt unterm Dach befand. »Wow. Ziemlich heiß hier.«

Patzelt zuckte die Schultern und öffnete die einzige Tür. »Das liegt an dem Holz und den Dachschrägen.«

Azubi-Wohnung war ein Euphemismus, der jedem Verfasser von Immobilienanzeigen alle Ehre gemacht hätte. Es war ein Zimmer, vielleicht sogar eher eine Kammer, mit einem schlichten Einzelbett, einem schmalen Schreibtisch, einem Einbauschrank, einer altbackenen Zweiercouch mit Couchtisch und einem winzigen Fernseher – zwar ein Flatscreen, aber Leons Laptopbildschirm war größer. Direkt hinter der Tür ging eine kleine Nische zum Badezimmer ab, das mit Toilette, Waschbecken und enger Duschkabine funktional eingerichtet war.

Dekoration oder dergleichen gab es nicht, dafür in der Tat jede Menge Holz und Dachschrägen, aber wenn er jeden Tag wie gestern schuften musste, würde er sich bald eh wie ein gebrechlicher, alter Mann gebückt bewegen.

Leon sah sich um, aber die Fenster waren die einzige Möglichkeit, Luft hereinzulassen. Der große Balkon mit den Geranien, der sich um das Obergeschoss zog, musste zur anderen Wohnung gehören. Dafür entdeckte er nirgendwo ein Staubkorn oder Spinnweben. Die Haushälterin seiner Eltern war bei leerstehenden Zimmern nicht so gründlich.

Dennoch musste sich seine mäßige Begeisterung auf seinem Gesicht abgezeichnet haben, denn Patzelt meinte: »Wie gesagt, nichts Besonderes. Sie müssen sie nicht nehmen, wenn Sie nicht wollen. Aber ich würde Ihnen davon abraten, jeden Tag sechs Stunden zu pendeln, wenn Sie dazu noch gut zehn Stunden arbeiten.«

Leon ging ein paar Schritte in den Raum hinein – mittig, damit er nicht mit den Dachschrägen kollidierte – und stellte den Kaffeebecher auf dem Schreibtisch ab. Aus dem Fenster dahinter konnte er die Berge sehen. Wahrscheinlich befand er sich über der Terrasse.

»Gibt es hier WLAN?«

»Wir sind hier auf dem Land, nicht hinterm Mond. Und da der Handyempfang stark schwankt: Klar gibt’s hier WLAN.«

Wenigstens etwas. Wenn er in seiner Freizeit – haha – erst noch ein Internetcafé zum Arbeiten hätte suchen müssen, hätte er die Story vergessen können.

Als es hinter ihm knarrte, drehte Leon sich um. Patzelt stützte einen Arm gegen die Dachschräge, als würde er für ein Werbeplakat posieren. »Sie bekommen selbstverständlich einen eigenen Schlüssel. Im Keller steht eine Waschmaschine, die Sie mitbenutzen können. Und falls Sie nach Feierabend noch einen Fuß in die Küche setzen wollen, können Sie auch das tun.« Sein Tonfall wurde schärfer. »Solange Sie aufräumen, keine Scheiße bauen und sich nicht an den teuren Lebensmitteln vergreifen.«

»Mit anderen Worten: Am besten sage ich Ihnen vorher Bescheid, wenn ich Ihr Heiligtum betreten will.«

»Richtig. Oder betreten Sie sonst etwa ungefragt das Heiligtum anderer Männer?«

Oh Gott. Er brauchte wirklich mehr Kaffee. Oder eine kalte Dusche. Noch eine. Ging es hier noch um die Küche? Leon hatte keine Ahnung, und wenn Patzelt ihn so ansah, wurde sein ohnehin nur auf Sparflamme laufendes Gehirn noch weiter blockiert.

Leon räusperte sich. »Äh, nein. Und ich nehme die Wohnung.«

»Großartig. Ich füge für die Wohnung noch einen Zusatz in den Arbeitsvertrag ein und anschließend können Sie unterschreiben. Dann fehlt mir nur noch die Bescheinigung vom Gesundheitsamt.« Patzelt nahm den Arm wieder runter und sah auf seine Uhr. »Ich muss in die Küche. Beziehungsweise wir müssen in die Küche.«

»Ich habe noch ein paar Sachen im Auto.«

»Sicher. Brauchen Sie Hilfe?«

Leon schüttelte den Kopf. »Es ist nicht viel.« Er hatte gepackt, als würde er ein paar Wochen in Urlaub fahren, nicht sein ganzes Leben umziehen. Außerdem wollte er nicht, dass Patzelt seine ganzen technischen Spielereien sah und unangenehme Fragen stellte.

»Aha. Kommt denn noch was? Ein Umzugswagen vielleicht?«

Inzwischen erkannte Leon den Anflug von Skepsis, bevor Patzelt zum Kern der Frage vorgedrungen war. Und er hatte gedacht, mit dem Probearbeitstag das Schlimmste überstanden zu haben. Unter diesen Voraussetzungen würde er den Mann nie zum Reden bringen.

Er machte eine Armbewegung, die die Azubi-Wohnung umfasste. »Hier ist kaum genug Platz für mich, geschweige denn für irgendwas, das mit einem Umzugswagen transportiert werden müsste.«

»Das konnten Sie ja vorher nicht wissen.«

»Ich bin kein Freund vieler Besitztümer.«

»Dafür fahren Sie aber ein schickes Auto.«

»Ein Auto, das geliehen ist.« Leon legte den Kopf schief. »Mit Vertrauen haben Sie ein echtes Problem, oder?«

Patzelt presste die Lippen zusammen. »Überrascht Sie das?«

»Nein. Aber Sie haben mich schon abgeklopft. Oder wollen Sie mir jetzt immer solche Fragen stellen, wenn Sie mich nicht gerade in der Küche anschreien?«

»Ich kann mich nicht daran erinnern, Sie abgeklopft zu haben.« Patzelt fuhr sich durch die Haare und stieß ein frustriertes Seufzen aus. »Aber okay, ich hör damit auf.«

»Danke. Es fühlt sich komisch an, wie ein Verbrecher behandelt zu werden.«

Patzelt schnaubte, sagte jedoch nichts weiter und wandte sich der Treppe zu. Erst da ging Leon auf, dass Patzelt sich eine Zeitlang so gefühlt haben musste: wie ein Verbrecher. Die Medien hatten zumindest Jagd auf ihn gemacht, als wäre er der Staatsfeind Nummer eins.

Leon verspürte einen Anflug von schlechtem Gewissen, weil er das Ganze wieder aufwühlen wollte, nachdem sich das Thema halbwegs gesetzt hatte. Andererseits war eine Story eine Story. Bei den Wilmdorfer-Zwillingen hatte er keine Sekunde gezögert, obwohl er sie länger kannte als Patzelt. Doch bei Patzelt stand die Gesundheit seiner Gäste auf dem Spiel und dass Leon sich damit hohe Klickzahlen sicherte, war nur ein angenehmer Nebeneffekt.

»Ach so.« Einen Fuß schon auf der obersten Stufe drehte sich Patzelt noch mal um. »Ich kann Sie übrigens besser anschreien, wenn wir uns duzen.« Er streckte Leon eine Hand entgegen. »Ich bin Till.«

 

***

 

»Und, ist es am zweiten Tag leichter?«, fragte Marie und nippte an ihrem Sekt-Orangensaft-Gemisch.

Obwohl sie wieder die Mittagsschicht übernommen hatte, war sie extra zur Feier des Tages gegen elf noch mal vorbeigekommen, um Leon zusammen mit den anderen gebührend im Team willkommen zu heißen. Anschließend wollte sie sich mit ein paar Freunden in der nächstgrößeren Stadt treffen und feiern gehen. »Das Wirtshaus liegt sowieso auf dem Weg«, hatte sie gesagt.

Leon erwog, zu lügen, aber wahrscheinlich sah man ihm an, dass er völlig erschlagen war. »Sollte man meinen, oder?« Er streckte seine langen Beine aus. »Das Stehen macht mich fertig.«

Sie kicherte. »Lass das bloß Till nicht hören. Wenn er denkt, dass du zu viel stehst, scheucht er dich noch mehr durch die Gegend.«

Unauffällig deutete sie mit ihrem Glas zu Till am anderen Tischende, der sich leise mit Gertrud Stemmer unterhielt. Dazwischen saßen die Spülerin Katharina und die beiden Servicekräfte Christl und Jiri, die ihren Feierabend für Leon noch ein wenig aufschoben, obwohl sie genauso hart gearbeitet hatten wie er und sich wahrscheinlich ebenso nach ihrem Bett sehnten. Als er damals bei Quicknews angefangen hatte, hatte manch einer nicht mal seine Kaffeepause unterbrochen, um ihm Hallo zu sagen.

Katharina fielen beinahe im Sitzen die Augen zu. Sie klammerte sich wie an ein Rettungsseil an ihren Orangensaft, während sie tapfer versuchte, sich an der Unterhaltung von Jiri und Christl zu beteiligen. Die beiden hingen begeistert über Christls iPhone, das sie mit flinken Fingern bediente, während Jiri kritisch ihre Auswahl bei Tinder kommentierte.

Leon konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass viele Leute in Christls Alter eine Dating-App benutzten, aber als er sie vorhin darauf angesprochen hatte, hatte sie ihm stolz erzählt, schon mehr als ein Date über die App ausgemacht und noch nie schlechte Erfahrungen damit gemacht zu haben.

»Ansonsten ist es eher schwierig, sich hier draußen mit Männern zu verabreden«, hatte sie ihm augenzwinkernd anvertraut.

»Aber«, fuhr Marie fort und lenkte seine Aufmerksamkeit zurück auf ihr Gespräch, »es ist super, dass er dir das Du angeboten hat.«

»Bei ihm klang es eher wie ein notwendiges Übel.«

Marie prustete in ihr Glas. »Mann, ja. Das hört sich ganz nach Till an. Aber ernsthaft. Das ist ein gutes Zeichen. Bei den anderen hat das ewig gedauert, wenn überhaupt.« Sie grinste ihn breit an. »Das heißt, er mag dich.«

Das war schwer vorstellbar, nachdem Till ihn heute in die Arbeitsabläufe eingewiesen hatte, als wäre er zu begriffsstutzig für das Einmaleins. Verstohlen linste er zu Till am anderen Tischende hinüber.

Er war immer noch mit Stemmer ins Gespräch vertieft, aber in diesem Moment griff er nach der Sektflasche und ihre Blicke trafen sich. Leon zuckte leicht zusammen und verpasste die Sekunde, wegzusehen. Till auch. Oder er machte das mit Absicht, weil er ganz genau wusste, wie gut er aussah – und was für eine Wirkung er auf Leon hatte. Sein Puls beschleunigte sich. Dann nahm Till die Sektflasche und unterbrach den Blickkontakt, um sich nachzuschenken.

Leon atmete aus. Er kam sich vor wie ein Fisch, der noch mal vom Haken gelassen worden war.

Was ihn daran erinnerte, dass er sich übers Angeln schlau machen musste. Und über tausend andere Sachen. Heute hatte er keine Gelegenheit dazu gehabt. Sein Posteingang quoll über vor Mails und etliche seiner Quellen warteten auf Antwort. Zum Glück war er mit keiner davon näher befreundet. Freundschaften verkomplizierten vieles. Bei einem professionellen Arbeitsverhältnis konnten seine Quellen durchaus ein paar Tage auf Rückmeldung warten, ohne beleidigt zu sein.

Er musste sich eine Liste machen und vor allem gleich morgens daran denken, seine Diktier-App zu aktivieren. Er musste Fotos machen, seinen Artikel planen und –

Marie kicherte wieder. »Und offensichtlich magst du ihn auch.«

Leons Kopf fuhr herum. »Was?«

Sie hob ihr Glas. »Nichts.«

»Im Ernst. Was hast du gerade gesagt?«

Sie räusperte sich. »Dass du ihn als Koch bewundern musst, weil du es dir antust, dich von ihm herumkommandieren zu lassen.«

Das hatte sie nicht gesagt, verdammt. Am liebsten hätte er sie direkt gefragt, ob Till schwul war, aber am Ende fasste sie das noch falsch auf.

»Wie lange arbeitest du schon für Till?«, wechselte Leon das Thema. Vielleicht kam er auf Umwegen an die Informationen, die er haben wollte.

Marie zuckte die Schultern. »Ich arbeite ja nicht für ihn, sondern für Trudi und ich war schon vor ihm da, als sein Vorgänger noch in der Küche stand. Trudi hat ihn als Ersatzkoch in der Hinterhand, falls mal was mit Till ist, aber der Kerl ist längst nicht so gut wie er.«

»Nicht jeder Koch hat einen Stern.«

Noch in der Sekunde, in der er das aussprach, wusste Leon, dass er etwas Falsches gesagt hatte. Maries Gesicht verdüsterte sich. »Till hat keinen Stern mehr. Er wurde nicht erneuert.« Ihre Stimme zitterte vor Wut.

»Ich weiß.«

Die Medien, angefangen vom schäbigsten Schmierblatt über Boulevardmagazine bis hin zu seriösen Nachrichtensendungen, hatten dafür gesorgt, dass es alle erfuhren. Till Patzelts Stern erlischt und Der Fall eines Sternekochs waren noch die harmloseren Schlagzeilen gewesen. Till war nicht der erste Koch, der seinen mühsam erarbeiteten Michelin-Stern schnell wieder verloren hatte, aber er war seines Wissens der Einzige, bei dem es mit einer so hässlichen Geschichte zusammenhing.

»Und das ist so ungerecht.« Marie stürzte ihren Sekt-Orangensaft hinunter. »Er ist großartig in der Küche. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er das mit Absicht gemacht hat. Dass er überhaupt dafür verantwortlich war.« Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, knallte sie das leere Sektglas auf den Tisch und sicherte sich damit kurzfristig die Aufmerksamkeit der anderen.

Verdammt.

Tills Blick bohrte sich in seinen. Fast so, als wollte er Leon daran erinnern, dass er ihn trotzdem im Auge behielt, auch wenn er ihm heute Morgen einen Vertrauensvorschuss geschenkt hatte.

Fieberhaft suchte Leon nach einem neuen Gesprächsthema, als seine Smartwatch vibrierte und in der schummerigen Dunkelheit aufleuchtete. Automatisch warf er einen Blick darauf, bevor die Nachricht verschwand. Seine Schwester. Ausgerechnet.

Amelie: Du lässt MICH zu diesem Benefizding gehen?

Amelie: Nee, oder?

Er wählte eine der voreingestellten Standardmitteilungen aus, damit sie fürs Erste Ruhe gab. Da er keine bessere fand, schickte er: Ich melde mich später, bin in einem Meeting.

Als er wieder aufsah, schaute Till ihn immer noch an, während der Rest die Gespräche wieder aufgenommen hatte. Der Schein der Gartenfackeln tanzte über sein Gesicht und fing sich in seinen hellen Bartstoppeln und den zerstrubbelten Haaren. Wenn Leon nicht gewusst hätte, dass die Frisur vom Kopftuch und einem Tag harter Arbeit stammte, hätte Till auch gerade aus dem Bett gestiegen sein können – nach einer Runde schweißtreibendem Sex.

Gott, schlechte Idee. Ganz schlechte Idee.

Unbehaglich rutschte Leon auf seinem Stuhl hin und her. »Ist noch Sekt da?« Da sein Glas noch halbvoll war, kippte er den Rest hinunter. Dank des wenigen Schlafs und seiner körperlichen Erschöpfung schoss ihm der Alkohol direkt in die Glieder.

Seine Uhr vibrierte und leuchtete erneut. Das Vibrieren konnte bei den Gesprächen unmöglich zu hören sein, das Leuchten hingegen wirkte fast wie der Strahl einer Taschenlampe.

Amelie: Willst du mich verarschen?

Noch eine Nachricht.

Amelie: Um halb zwölf nachts am Samstag ein Meeting?

Und noch eine.

Amelie: Du bist das Vorzeigekind von uns beiden.

Amelie schickte nie alles in einer Nachricht, sondern benutzte WhatsApp wie andere Leute ein Gewehrfeuer. Sie hing permanent über der Enter-Taste und schoss jeden Gedanken in genau dem Moment ab, in dem er ihr einfiel. Und da sie wahrscheinlich gerade am PC saß, fiel ihr das besonders leicht.

Amelie: Na ja, oder warst.

Amelie: Erst die Zwillinge, jetzt Fröhlich.

Amelie: Wen nimmst du dir als Nächstes vor?

»Was leuchtet hier denn so?« Christl, die neben ihm saß, sah sich neugierig um.

»Entschuldigt, lasst euch nicht daran stören, das kann noch den ganzen Abend so weitergehen.«

Prompt vibrierte und leuchtete es wieder.

Amelie: Aber zurück zum Thema.

Amelie: Ich HASSE Smalltalk.

Christl beugte sich zu ihm und erhaschte einen Blick auf die letzte Nachricht. Warum zum Teufel hatte er sich heute Morgen nur gleich als Erstes mit dem WLAN verbunden?

Amelie: Außerdem KANN ich das nicht.

Leon drehte sein Handgelenk weg und stellte die Benachrichtigungen auf stumm. Die Funktion hatte er noch nie benutzt. Sogleich spürte er ein unwohles Kribbeln auf der Haut, beinahe wie ein Phantomvibrieren.

»Das ist meine Schwester, die etwas euphorisch wissen will, wie es mir geht.« Er zeigte auf die Sektflasche, die bei Till stand. »Sekt?«

Murrend reichte Till die Flasche durch.

Christl beäugte weiterhin interessiert die Uhr. »Ist das eine von diesen Smartwatches? Wie genau funktioniert das? Ist das sinnvoll? Benutzt du die oft? Was kann die alles?«

Leon lachte. So viel Eifer hätte er eher von Jiri oder Marie erwartet, andererseits benutzte Christl auch voller Überzeugung Tinder. »Sie leitet Benachrichtigungen weiter. E-Mails, SMS, aber auch von Apps, wenn du sie entsprechend einstellst. Es ist eine Art ausgelagertes Handydisplay. Man kann einfache Standardantworten schicken oder Texte aufsprechen.«

»Sprechen? Du meinst, du sprichst mit deiner Uhr?«

So, wie sie das sagte, klang das reichlich albern. »Im Prinzip ja.«

»Aha. Verrückt.« Sie schüttelte den Kopf.

»So, Leute.« Katharina stand blinzelnd und mit einem nur halb unterdrückten Gähnen auf. »Bevor ich noch mit dem Kopf auf den Tisch knalle, verabschiede ich mich lieber. Außerdem will ich die Kleine nicht länger als nötig allein lassen.«

»Ist die Kleine nicht inzwischen über ein Jahr alt? Das nächste Mal musst du uns unbedingt Fotos zeigen«, sagte Christl.

»Wenn du mich früher dran erinnerst.« Sie sah auf ihre Uhr. »Denn um ehrlich zu sein, will ich auch Peter nicht länger als nötig mit der Kleinen allein lassen. Er muss sich noch an seine Rolle als Papa gewöhnen.«

Das sorgte für eine Runde gutmütiges Gelächter, bevor sich Katharina endgültig verabschiedete. Christl folgte ihr kurz darauf und Jiri drängte Marie, ihn mit zum Feiern in die Stadt zu nehmen. Leon beneidete ihn um seinen Elan und kam sich auf einmal steinalt vor, obwohl sie keine zehn Jahre trennten. Aber allein beim Gedanken, jetzt noch durch Bars und Clubs zu ziehen, traten seine Füße in den Sitzstreik. Der Aufstieg in den zweiten Stock war für heute das Maximum, das er noch bewältigen würde.

Gertrud erhob sich ebenfalls. Außer dem Wirtshaus gehörte ihr auch das Zweifamilienhaus nebenan, in dem sie im Erdgeschoss wohnte. Die Wohnung über ihrer hatte sie vermietet.

»Macht nicht mehr zu lange, Jungs.« Sie hob missbilligend die Augenbrauen, als Till die Sektflasche von Leon zurückeroberte und in sein Glas leerte. »Und übertreibt’s nicht.«

»Gute Nacht, Trudi«, sagte Till in einem betont freundlichen Tonfall, den Leon fast anmaßend fand. Till war der Einzige, der so mit Gertrud redete und von dem sie sich das bis zu einem gewissen Grad gefallen ließ. Alle anderen behandelten die Wirtin mit freundlichem Respekt, den sie allein durch ihre Präsenz einzufordern schien.

Zum Abschied nickte sie Leon knapp zu. »Und vergesst nicht, die Fackeln auszumachen.«

Till schnaubte, als würde er das nicht zum ersten Mal hören, dann saßen sie zu zweit im Feuerschein auf der Terrasse. Plötzlich überkam Leon ebenfalls das Gefühl, dringend ins Bett zu müssen. Allein.

»Ich denke, ich gehe auch besser schlafen.« Er kippte seinen Sekt hinunter, der es augenblicklich wieder in seinen Gliedmaßen kribbeln ließ.

»Du willst nicht noch was trinken? Ich würde einen ausgeben.« Er nippte an seinem Sekt. »Du darfst dir auch was aussuchen.«

Leons Blick hing eine Sekunde zu lange an Tills Adamsapfel, als er schluckte. Er folgte der Linie des kräftigen Halses bis zu seinem Schlüsselbein, das von der geöffneten Kochjacke entblößt wurde. In seinem Kopf verfolgte er die Linie weiter und glitt unter den schwarzen Stoff. Mit Blicken, mit Händen, mit seiner Zunge. Tiefer und immer tiefer, bis...

Leon leckte sich über die Lippen. »Lieber nicht. Ich fühle mich jetzt schon betrunken.«

Till verzog das Gesicht. »Scheiße, bist du vernünftig.«

Er lächelte schief. »Und das von meinem Chef.« Er stand auf und musste sich am Tisch abstützen, als die Mischung aus Erschöpfung, Alkohol und Till ihn kurz aus dem Gleichgewicht brachte.

»Na schön.« Till löschte die Fackeln und schnappte sich dann die leere Sektflasche und ein paar der Gläser. »Nimmst du die restlichen mit rein?«

Fast schon mechanisch befolgte Leon den Befehl. Erst auf halbem Weg in die Küche fiel ihm auf, dass er schon wieder kein Bitte gehört hatte.

Als er an der Theke vorbeikam, fiel ihm die Kaffeemaschine ins Auge. Theoretisch müsste er sich jetzt den einen oder anderen Espresso einverleiben, um wenigstens noch eine Stunde an seinem Artikel zu arbeiten. Er hatte der Wespe heute Morgen auf der Fahrt hierher für Montag den ersten Zwischenbericht seiner Undercover-Aktion versprochen. Da sollte er mehr vorbringen können als: Das Gastronomiegewerbe ist ein scheißanstrengender Job, und: Kommen Sie bloß niemals auf die Idee, mit Ihrem BWL-Studium Wirt zu werden. Alles ist besser als das.

Sie nahmen den Weg durch den Gastraum zur Treppe in die oberen Stockwerke, aber diesmal winkte Till ihn voraus. »Du zuerst.«

»Warum?«

»Weil du aussiehst, als würdest du gleich umkippen.«

Leon lächelte schwach. »Und wenn du hinter mir gehst, falle ich wenigstens weich?«

»So ungefähr.«

Und als Nebeneffekt kannst du mir auf den Hintern glotzen. Leon schüttelte den Gedanken ab, weil ihm dabei in den Sinn kam, wie Tills Hintern heute Morgen vor seiner Nase von links nach rechts geschwungen war. Eine Erinnerung, die er jetzt bestimmt nicht brauchte. Er hatte sich noch nie von seiner Libido eine Story, geschweige denn seine Karriere vermasseln lassen, und er würde jetzt nicht damit anfangen.

Er griff nach dem Geländer und stieg mühsam die schmalen, steilen Stufen hoch. Seine Oberschenkel zitterten erbärmlich bei jedem Schritt.

»Sag Bescheid, wenn ich anschieben soll. Andernfalls würde das wohl unter sexuelle Belästigung fallen.«

Ein Ziehen schoss durch Leons Unterleib. Er drehte den Kopf nach hinten, verpasste mit einem Fuß die nächste Stufe und klammerte sich erschrocken am Geländer fest, als er plötzlich das Gefühl hatte, zu fallen.

»Verdammt.« Eine warme Hand legte sich mit festem, sicherem Griff halb auf seine Hüfte, halb auf seinen Hintern und bewahrte ihn davor, zu kippen. »Pass doch auf.«

Leons Herz hämmerte in seiner Brust. »Wer baut denn so eine mörderische Treppe in ein Wirtshaus?«

»Keine Ahnung. Frag den Architekten, wenn du dir beim nächsten Mal den Hals brichst.«

Als er wieder festen Stand unter beiden Füßen hatte, bemerkte sein übermüdetes Gehirn, dass Till ihn noch immer anfasste. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und sah aus hellen, wachen Augen zu ihm hoch. Leons Atem stockte. Außerdem befand er sich fast genau auf einer Höhe mit Leons Schritt. Ein, zwei Stufen mehr und er könnte...

Tills Augen blitzten belustigt, als hätte er Leons Gedanken gelesen. Was viel schlimmer war, war jedoch der Funke, der übersprang und seinen Körper in Brand zu setzen schien.

Till war nicht abgeneigt. Leon konnte es so deutlich auf seinem Gesicht sehen, als würde er ein Schild hochhalten. Oh, verflucht. In seiner Jeans wurde sein Schwanz hart.

Hastig wandte er sich um. »Danke.«

»Jederzeit wieder.« Mit einem winzigen Klaps ließ er Leon los. »Und jetzt hoch mit dir.«

Noch etwas höher und er schaut aus meiner Jeans raus.

So schnell wie möglich erklomm Leon die Treppe in den ersten Stock und nahm bereits die ersten Stufen der zweiten Treppe, als Till ihm zurief: »Morgen, zehn Uhr.«

»Alles klar«, sagte Leon, ohne sich umzudrehen. »Nacht.«

 

***

 

Dies ist das Ende der Leseprobe zu »Heißkalt erwischt«. Der Roman erscheint am 07.04.2017 als E-Book und kann auf allen bekannten Plattformen erworben werden. Das Print folgt schnellstmöglich.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 06.04.2017

Alle Rechte vorbehalten

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