Die Lichter im BMW erloschen, als Hack den Motor ausschaltete. Angenehme Dunkelheit hüllte sie ein. Die Scheibenwischer erstarrten quietschend über der Windschutzscheibe.
Okay. Tief durchatmen. Ein ganz normales Abendessen. Mehr war es nicht, mehr würde Hack nicht darin sehen. Kinderspiel. Jetzt musste er nur noch aussteigen.
Steig einfach aus, verdammt.
»Kein Grund nervös zu sein.«
»Nervös? Wer ist hier nervös?«
»Du.« Hack griff über die Mittelkonsole nach Pauls Händen in seinem Schoß. Erst da fiel ihm auf, dass er sie knetete, als hätte Steffens cholerischer Koch ihm einen besonders störrischen Hefeteig zwischen die Finger geschoben. Verdammt.
Paul schüttelte Hacks Hand ab und griff stattdessen nach der Rotweinflasche, die er sich zwischen die Füße geklemmt hatte. »Mir geht’s gut.«
»Sicher.«
Paul verkniff sich einen Kommentar, obwohl Hacks spöttischer Tonfall danach schrie. Vielleicht sollten sie nächstes Wochenende einfach Hacks Eltern in seinem Elternhaus zum Abendessen besuchen, ganz hochoffiziell als ... Paar. Oder was auch immer. Mal sehen, wie seelenruhig Hack die Sache anging. Ein Raketenstart war bestimmt das reinste Schildkrötenrennen dagegen.
Träum weiter. Das wird nie passieren.
Paul brauchte zwei Anläufe, um die verdammte Autotür zu öffnen, und als er sie zuschlug, wäre ihm im Nieselregen beinahe die Weinflasche aus den Händen gerutscht.
»Paul. Es ist nur deine Mutter.«
»Ich weiß.«
»Die ich schon kenne.«
Paul schnaubte. Dieser eine lächerliche Besuch bei Walther zu Weihnachten. Das war nichts im Vergleich zu einem Essen zu dritt in Oma Biggis Wohnung, in der er aufgewachsen war. Gott, selbst von hier konnte er die riesige Eiche vor dem alten Mehrfamilienhaus sehen. Unzählige Nachbarskinder hatten vor, mit und nach ihm in einem feierlichen Ritual zu Beginn der Sommerferien ihre Initialen in den Stamm geritzt. Mit dreizehn hatte es in der ganzen Nachbarschaft kein größeres Ereignis gegeben.
Was Hack wohl mit dreizehn angestellt hat?
Über das Autodach hinweg sah er Hack an, der wie ein roher, unbehauener Fels dahinter aufragte und auf ihn wartete. Im Licht der Straßenlaterne stach die Narbe an seinem linken Auge furchteinflößend hervor, was im krassen Gegensatz zu dem weichen Blick stand, mit dem er Paul betrachtete.
Paul erschauerte und zog die Schultern hoch. Scheißnieselregen. »Bringen wir’s hinter uns.«
»Das klingt, als wolltest du in den Kampf ziehen.«
»Vielleicht will ich das ja.« Gegen die vielen Ängste, die in seinem Inneren schwelten.
Paul lief mitten auf der Straße auf das Haus zu, in dem sich Oma Biggis Wohnung befand. Nein. Inzwischen war es Beates Wohnung. Gott. Sie fehlte ihm so. Mit Oma Biggis Unterstützung hätte er sich ruhiger gefühlt. Sie hätte gewusst, was ihm das hier bedeutete, und sich bemüht, es vor den anderen herunterzuspielen.
Im Herunterspielen war Paul offensichtlich eine Niete.
»Hab ich was verpasst? Werden Walther und sein Anhang doch anwesend sein?«
»Ich hoffe nicht.«
Hack griff nach seiner Hand und zog ihn auf den Bürgersteig. Unnachgiebig. Seine kräftigen Finger ähnelten Mini-Schraubstöcken und doch war Paul sicher, dass Hack ihn sofort loslassen würde, wenn er sich ernsthaft wehrte.
Aber das tat er nicht. Wenn Oma Biggi schon nicht da war, wollte er wenigstens Hack an seiner Seite haben. Genau das war das beschissene Problem.
»Warum willst du dich dann vor dem Essen noch überfahren lassen?«
Paul verzog den Mund. »Das ist eine 30er Zone. Außerdem bin ich schon Jahre, bevor wir uns kannten, hier auf der Straße herumspaziert. Ich weiß ja nicht, aus was für einer Gegend du kommst, aber hier überfährt man für gewöhnlich niemanden absichtlich. Es wird gehupt, manchmal geschimpft und ab und zu gebrüllt, aber das war’s. Treten bei euch die Nachbarn das Gaspedal durch, wenn sie einen sehen? Außerdem sind die meisten Anwohner längst zu Hause, was bedeutet –«
»Okay«, schnitt Hack ihm das Wort ab, packte sein Gesicht und überrumpelte ihn mit einem Kuss, der Paul zuerst in den Kopf, dann in den Unterleib schoss. »Was ist los?«
Paul schluckte. Oh Scheiße. »Nichts.« Da das Wort eher einem Wimmern glich, unterstrich er es mit einer Geste. Zu spät erinnerte er sich an die Weinflasche in seiner Hand. Er stieß damit gegen Hacks Arm, seine Finger rutschten vom Flaschenhals und er hörte bereits Glas auf dem Bürgersteig zerschellen, als Hack nach der Flasche griff und sie sich unzeremoniell unter den Arm klemmte.
»Seit wir losgefahren sind, bist du das reinste Nervenbündel.« Beim Sprechen geisterten seine Lippen über Pauls. Etwas flatterte sehnsüchtig in seinem Magen auf.
Ja, wollte er sagen, und am besten löst du meine Anspannung auf der Stelle. Vergessen wir das Essen. Vergessen wir meine Mutter. Bring mich nach Hause, Hack, und fick mich.
Hacks Daumen strich so zärtlich über seine Wange, dass sich der Nieselregen wie Hagelkörner anfühlte. Pauls Herz zog sich zusammen. »Was ist los, Paul?«
»Du ...« Paul holte zitterig Luft. »Du findest das sicher albern.«
»Sicher nicht. Spuck’s aus.«
Hack hielt seinen Blick fest, als wüsste er sowieso schon alles, was Paul sagen könnte. Was definitiv nicht so war. Manchmal wünschte er, sich mit Hacks Augen betrachten zu können. Zu sehen, was Hack sah, wenn er ihn anschaute. War er ein genauso großes Rätsel für Hack wie Hack meistens für ihn? Oder war er tatsächlich das offene Buch, als das er sich vorkam?
»Du ... bist der Erste.« Die Worte hatten das verdammte Gewicht der Titanic. Zum Scheitern verurteilt. Dem Untergang geweiht.
Hack sah ihn einen Moment an und sagte nichts. Dann: »Der Erste ...?«
Paul seufzte schwer. Was soll’s. »Den ich mitbringe.« Er deutete in Richtung der Eiche vor dem leicht von der Straße zurückgesetzten Gebäude. »Nach Hause. Zu meiner Familie. Meiner richtigen Familie.«
Er wusste, wie sich das anhörte, ohne dass er die Worte tatsächlich sagte. Übelkeit stieg in ihm hoch. Er hatte die Worte noch nie gesagt. Bisher war keiner so nah dran gewesen wie Hack. Und jetzt dieses Essen ...
Weihnachten war etwas anderes gewesen. Eine Show mit Ansage, die auf einer fremden Bühne stattgefunden hatte – und weil seine Mutter ihm seit Ewigkeit in den Ohren gelegen hatte, endlich mal einen der netten Jungs kennenzulernen, mit denen er ausging.
Zu dumm, dass er weder nette Jungs kannte noch mit ihnen ausging. Er kannte einen Haufen Idioten, von denen er sich hatte flachlegen lassen. Und ... Hack. Seit ihrem ersten Quickie in der Küche des Vierecks war so viel passiert. Noch vor einem Monat hatte er sich gewunden, wenn Hack auf Beates Einladung zum Abendessen zu sprechen gekommen war. Dann hatten ein paar von Hacks Sachen den Weg in Pauls Wohnung gefunden und umgekehrt, und heute stand er tatsächlich mit ihm hier.
Hack blinzelte ihn an. »Du hast nie jemanden ...?«
»Nein. Nie.«
»Oh.« Seine Finger an Pauls Wangen zuckten, bevor er sie zurückzog, als wüsste er nicht, wohin mit ihnen. In seinen dunklen Augen flackerte etwas auf, das Paul nicht zuordnen konnte. »Das ... ich ... danke.«
»Dafür musst du dich nicht bedanken.«
»Doch. Weil es dir so viel bedeutet. Und damit auch mir.« Er zog die Weinflasche unter seinem Arm hervor und drehte sie zwischen den Händen. Beinahe wirkte es wie ein Ersatz für das Abklopfen seiner Taschen auf der Suche nach Zigaretten. Mittlerweile trug er seltener welche bei sich. »Ich verstehe jetzt, warum du aus der Einladung so eine große Sache gemacht hast.«
»Hm.« Paul schob die Hände in die Hosentaschen und zog die Schultern hoch.
»Trotzdem ...« Hack starrte die Flasche an, als wäre sie ihm erst jetzt aufgefallen. Wegen des Geständnisses schien er noch immer ein wenig neben der Spur zu sein. Er hörte auf, den Wein durchzuschütteln, und sah Paul wieder an. »Trotzdem kein Grund, nervös zu sein. Ich bin die ganze Zeit bei dir und haue nicht ab.«
Paul lächelte. Jetzt klang es wirklich, als würden sie in den Krieg ziehen. »Ich weiß.« Er zeigte zur Eiche. »Vielleicht sollten wir jetzt ...«
»Klar.«
An der Eiche bogen sie auf den unebenen Pflastersteinweg ab, der von dem Baum zur Eingangstür führte. Früher war der Weg schon nicht der gleichmäßigste gewesen, aber der Zahn der Zeit hatte die Steine so aufgeworfen und zerklüftet, dass Paul sich fragte, wie Frau Fassbinder sie mit ihrem Einkaufstrolley unfallfrei bewältigte. Falls die alte Dame aus dem Erdgeschoss überhaupt noch hier wohnte – oder lebte.
Apropos gleichmäßig ... Paul verkniff sich ein Grinsen. »Hast du eben übrigens gestammelt?«
Hack schnaubte. »Nein.«
»Ich hab’s doch gehört. Der große, böse, vorbestrafte Hack, der Leute zu Hackfleisch verarbeitet, hat gestammelt.«
»Mach so weiter und ich bringe dich gleich zum Stammeln.«
Ein erregendes Ziehen fuhr durch Pauls Unterleib. Wie ein Verhungernder stürzte er sich auf dieses Gefühl, das ihm lieber war als die kribbelige Nervosität unter seiner Haut. »Leere Versprechungen.«
»Meinst du?«
Paul blieb stehen. »Ja, meine ich. Was willst du denn hier auf offener Straße bei frostigen sechs Grad und direkt vor dem Besuch bei meiner Mutter machen?«
Hack drehte sich zu ihm um. In seinen Augen blitzte es, als hätte Paul ihn herausgefordert. Wahrscheinlich hatte er das auch. Gefährlich. Verlangen pulsierte durch seine Adern, als seine Fantasie sich verselbstständigte. Hinter dem Haus gab es im Hof einen Unterstand für Fahrräder. Vier Garagen. Einen rustikalen Holztisch mit zwei fest verankerten Bänken. Den Eingang zum Keller. Sie hatten schon an heikleren Orten Sex gehabt.
Hack sah ihn an, als wüsste er ganz genau, was sich hinter Pauls Stirn abspielte. Pauls Schwanz zuckte. Er stellte sich darauf ein, jede Sekunde gepackt und irgendwohin gezerrt zu werden. Fünf Minuten. Maximal. Das war eine akzeptable Verspätung.
Stattdessen beugte sich Hack zu ihm herunter, als wollte er ihm ein dunkles Geheimnis anvertrauen. Der Duft nach Meer strömte ihm in die Nase und schien seine Sinne wie eine Droge zu erweitern.
»Nichts.«
»N...Nichts?«
»Genau.« Er küsste Paul sanft auf den Mund. Viel zu sanft. Seine Lippen schrien nach einer groben Eroberung, nach Zähnen, Zunge und Rücksichtslosigkeit.
»Aber ... ich dachte ...«
Als Paul ins Stocken geriet, meinte Hack: »Was? Bei sechs Grad auf offener Straße und direkt vor dem Besuch bei deiner Mutter? Hältst du mich für ein Tier?«
Manchmal.
»Frag dich lieber, was ich danach mit dir anstelle.«
Paul starrte ihn an. Der raue Unterton vibrierte durch seinen Körper und brachte jedes seiner Nervenenden zum Schwingen. Hervorragend. Jetzt würde er den ganzen Abend mit Sexfantasien und seiner Mutter am Esstisch sitzen.
*
»Da seid ihr ja.« Mit einem strahlenden Lächeln öffnete Beate die Wohnungstür und zog Paul in eine feste Umarmung, noch bevor er über die Schwelle getreten war. Der Duft nach geschmolzenem Käse und Hackfleisch erfüllte die Wohnung. »Endlich sehen wir uns mal wieder. Weihnachten liegt schon wieder so lange zurück.«
Der unüberhörbare Vorwurf zupfte unangenehm an Pauls Herzen, aber er versuchte, sich kein schlechtes Gewissen einreden zu lassen. Sie hatten sich nie oft gesehen, auch als sie noch in derselben Wohnung gewohnt hatten. Er hatte Beate das nie vorgeworfen, weil irgendjemand nun mal Geld hatte verdienen müssen. Dass sie jetzt das Gefühl hatte, Verpasstes nachholen zu müssen, belastete ihn schon eher.
Nachdem sie Paul endlich losgelassen hatte, stürzte sie sich auf Hack – den sie nicht weniger innig begrüßte, obwohl sie ihm erst ein einziges Mal begegnet war.
»Thomas, wie schön, dich mal wiederzusehen!«
»Hallo, Beate, danke für die Einladung.«
Es schien Hack nicht zu stören, dass Pauls Mutter ihn so herzte. Ein seltsames, kleines Lächeln erschien auf seinem Gesicht, das seine Züge irgendwie weicher zu machen schien. Die beiden hatten schon an Weihnachten überraschend eine spontane Verbindung zueinander geknüpft. Entweder musste Beate Hack an seine eigene Mutter erinnern – oder sie war das genaue Gegenteil.
Mit der üblichen Floskel – »Das wäre doch nicht nötig gewesen.« – nahm Beate Hack den mitgebrachten Wein ab, ehe sie zur Garderobe deutete. »Kommt rein. Eure Jacken könnt ihr da aufhängen.«
Paul zog nicht nur die Jacke aus, sondern streifte sich automatisch auch die Schuhe von den Füßen. Hack tat es ihm ohne Aufforderung oder Kommentar gleich.
»Das Essen dauert noch ein paar Minuten. Ich hoffe, du magst Lasagne, Thomas?«
»Eins meiner Leibgerichte.«
Paul wusste nicht, ob das stimmte, da sie noch nie zusammen Lasagne gegessen hatten. Aber das war auch egal, denn Beate freute die Antwort sehr, was wahrscheinlich Hacks einziges Ziel gewesen war.
»Wirklich? Ich dachte, ich nutze die Gelegenheit. Walther mag nichts Überbackenes. Er meint, das übertüncht den ganzen Geschmack.«
Ist das nicht Sinn der Sache? Paul wechselte einen Blick mit Hack, der bei Walthers Erwähnung aussah, als wollte er die Augen verdrehen, sich jedoch zusammenriss. »Lasagne ist prima, Mama.«
»Wollt ihr was trinken? Wein? Wir können euren aufmachen, aber Walther hat mir einen hervorragenden Rotwein rausgesucht.« Sie lachte. »Seine Worte, nicht meine. Einen Primitivus oder so. Ich kenne mich da nicht so aus.«
Paul schon. Berufsbedingt. Und er war ziemlich sicher, dass Walther ihr einen Primitivo empfohlen hatte, aber er korrigierte sie nicht. Wahrscheinlich hatte sie sich von Walther schon eine Litanei über Rebsorte, Anbau und Lagerung anhören müssen.
»Sicher, gerne.«
»Ich fahre, also nur ein Glas für mich«, sagte Hack.
»Du bist doch schon an Weihnachten gefahren. Das nächste Mal müsst ihr mit den Öffentlichen kommen. Oder ihr übernachtet in Pauls altem Zimmer.«
Ganz sicher nicht.
Auf gar keinen Fall würde er mit Hack hier übernachten. Irgendein Bus oder zur Not ein Taxi würde sich immer finden lassen. Paul traute sich selbst nicht über den Weg. In seinem alten Kinderzimmer hatte er von Männern wie Hack geträumt. Unwahrscheinlich, dass er die Finger von ihm lassen konnte, wenn er in dem schmalen Bett neben ihn gepfercht lag.
Hack sah ihn an. »Du hast hier noch dein altes Zimmer?«
»Hm, ja. Mehr oder weniger.« Eher eine ewige Notfallzufluchtsstätte, falls irgendetwas in seinem Leben schiefging – was bis vor kurzem nicht so abwegig gewesen war.
»Paul, wieso gibst du Thomas nicht schnell eine kleine Führung, während ich den Wein öffne und das Dressing für den Salat mache? Die Lasagne braucht sowieso noch ein paar Minuten.« Damit verschwand sie in die kleine Küche neben dem Eingang. Aus dem Radio plärrte lautstark Ed Sheeran. Bei seiner Mutter dudelte immer irgendetwas im Hintergrund. Beruhigend zu wissen, dass sie diese Angewohnheit in der Beziehung mit Walther nicht abgelegt hatte.
»Erwarte aber nichts Besonderes.«
Paul führte Hack den Flur hinunter, von dem, abgesehen von der Küche, alle anderen Zimmer abgingen: Bad, Wohnzimmer und die winzigen Zimmer, die Beate und ehemals er und Oma Biggi bewohnt hatten. Keiner der Räume war größer als zehn Quadratmeter. Gerade Platz genug, um ein Bett, einen Kleiderschrank und wahlweise einen Schreibtisch oder ein anderes Luxusgut unterzubringen, aber hey, immerhin hatte sich niemand ein Zimmer teilen müssen.
Hacks Blick blieb an der mit Fotos, Bildern und Collagen übersäten Flurwand hängen. Das ganz persönliche Fotoalbum seiner Mutter – nur dass es für jeden Besucher sichtbar war. Anfangs hatte sie die Bilder nach einem System geordnet – eine Art Zeitstrahl –, mit den Jahren hatte sie sie jedoch einfach dort hingehängt, wo Platz war.
»Warum klingt das bei dir wie eine Warnung?«
»Nur so. Weil ich glaube, dass du was anderes gewohnt bist.«
Hack riss sich von der Wand los. »Ich bin der Letzte, von dem du ein Urteil fürchten müsstest.«
Paul verdrehte die Augen. »Nicht die Leier wieder. Du weißt, dass ich dich nicht für das verurteile, was du in dieser Bar getan hast.«
Hacks Kiefer bildete eine harte, verkrampfte Linie. »Solltest du aber.«
»Der Kerl hatte es verdient. Wenn dir irgendjemand etwas anderes eingeredet hat –«
Hack schüttelte den Kopf. »Nicht heute.«
»Du hast damit angefangen. Von wegen Urteil und so. Obwohl ja nur Richter Urteile sprechen und keine Anwälte.«
»Ich bin kein Anwalt.«
»Aber fast.« Eine Tatsache, die Paul immer noch irgendwie verletzte. Warum hatte Hack nicht einfach mal irgendwann erwähnt, dass er Jura studiert hatte? So, wie er so viele andere Dinge aus seinem Leben einfach mal so erwähnt? Ha.
Einen Moment lang sah Hack aus, als wollte er etwas darauf erwidern, überlegte es sich aber anders. Er trat zur halbgeöffneten Wohnzimmertür und warf einen Blick hinein. »Hübsch.«
Paul hatte keine Ahnung, ob er das erst meinte, aber er wusste, was Hack sah, auch wenn er schon lange nicht mehr hier gewesen war. Antiquierte Möbel, die größtenteils von Oma Biggi stammten, zerschrammtes Laminat und ein deckenhohes Bücherregal mit zerlesenen Liebesschnulzen, die Beate in- und auswendig kannte.
»Deine Mutter hängt zu oft mit dem Kopf in den Wolken«, hatte Oma Biggi immer gesagt und die Liebesromane dafür verantwortlich gemacht. »Es gibt durchaus Gelegenheiten, zu denen man seinen gesunden Menschenverstand einschalten sollte, auch wenn es wehtut. Sich von einem Mann ausnutzen zu lassen, nur weil er gut aussieht und es sich für den Moment gut anfühlt, ist so eine Gelegenheit, Paulchen.«
Gott, ihre Stimme klang in seinem Kopf so real, dass Paul über die Schulter sah, um nachzuschauen, ob ihr Geist über dem ausgefransten Teppich im Flur schwebte.
Natürlich war da niemand. Trotzdem fröstelte es ihn plötzlich und er rieb sich die Arme.
Paul sah wieder zu Hack, der abermals die Fotowand betrachtete. Was Oma Biggi ihm wohl bei ihm geraten hätte?
Paul folgte seinem Blick zu einer gerahmten Fotocollage, die aus verblassten und vergilbten Polaroid-Fotos bestand und hauptsächlich ihn zeigte – mit sechs. Hitze schoss ihm in die Wangen, als er die krakeligen, mit blauem Buntstift geschriebenen Worte oben auf dem gräulichen Pappkarton las: Für Oma, ich hab dich sooooo lieb, dein Paulchen.
Mit hochgezogenen Augenbrauen wandte Hack sich ihm zu. »Paulchen?«
Paul räusperte sich. »So hat sie mich immer genannt. Du warst doch bestimmt Tommy. Oder später Tom.«
»Nein. Eigentlich war ich immer Thomas.«
»Weil du damals schon so groß, gefährlich und düster warst, dass Tommy nicht gepasst hat?«
Hack zuckte die Schultern, als wäre das eine angemessene Antwort. Andererseits gab man sich selten selbst einen Spitznamen – außer Hack mit seiner Hackfleischstory, die er mit allen Mitteln aufrechterhielt. Inzwischen hatte sich Paul so sehr an Hack gewöhnt, dass er sich manchmal nach diesem ominösen Thomas umsah, der andauernd unsichtbar neben ihnen zu stehen schien.
»Wenn du immer Thomas genannt wirst, warum hast du dich mir dann als Tom vorgestellt?«
Noch ein Schulterzucken. »Das ist eine legitime Abkürzung.«
»Gefällt dir Thomas nicht?«
»Nein.«
Überrascht blinzelte Paul ihn an. Mit so einer ehrlichen Antwort hatte er nicht gerechnet. »Meiner Mutter hast du dich aber so vorgestellt.«
»Weil ich nun mal so heiße.«
Okay. Langsam wurde es kompliziert.
Hack wandte sich wieder der Fotowand zu und deutete auf eins der Polaroid-Fotos auf der Collage, die er seiner Oma geschenkt hatte. »Wer ist das?«
»Mein Opa.«
Paul trat einen Schritt näher und betrachtete das lächelnde Gesicht, das in seiner Erinnerung nur noch verschwommen existierte. Als er damals die Polaroid-Kamera gekauft hatte, hatte Paul begeistert von allem und jedem Fotos gemacht und fasziniert beobachtet, wie das Gerät nur Sekunden später die Bilder ausgespuckt hatte. Zunächst hatte sein Opa das gutmütig geduldet, dann hatte er zu meckern angefangen, dass Paul die Kamera nicht nur zum Spaß benutzen dürfte. Daraufhin hatte Paul Collagen gebastelt und sie verschenkt. Wenn er sich recht erinnerte, besaß Frau Fassbinder aus dem Erdgeschoss auch so eine peinliche Zusammenstellung.
»Er starb, als ich acht war«, fuhr Paul fort und legte eine bedeutsame Pause ein. »Lungenkrebs.«
Hacks Mundwinkel zuckten. »Sehr subtil.«
»Das war kein Versuch, subtil zu sein, sondern ein Wink mit dem Zaunpfahl.«
»Eher eine Offenbarung. Es erklärt, warum du keine Zigaretten magst.«
»Ich mag keine Zigaretten, weil sie stinken und du danach wie ein Aschenbecher schmeckst. Dass sie Krebs verursachen, ist nur ein zusätzlicher Grund, sie scheiße zu finden.«
»Ist angekommen.«
Widerwillig brummte Paul. Dummerweise hieß das nicht, dass Hack sich nicht trotzdem eine ansteckte, wenn er nervös war. Manchmal wusste Paul nicht, ob er für diesen Tick dankbar sein sollte oder nicht. Ein eindeutigeres Zeichen, wie es in ihm aussah, bekam er nicht.
»Wer ist das?« Hack zeigte auf das nächste Foto, als wären sie hier bei einem lustigen Bilderrätsel.
»Langsam verstehe ich, wie du dich fühlst, wenn ich dich über deine Vergangenheit ausfrage. Wie wär’s, wenn du mal ein paar Fotos herzeigst? Auf deinem Handy gibt’s doch bestimmt das eine oder andere.«
Hacks Gesicht versteinerte kaum merklich. Noch vor ein paar Wochen wäre Paul das womöglich entgangen, aber inzwischen nahm er feinere Nuancen in Hacks Mimik wahr. »Wir können auch deiner Mutter in der Küche Gesellschaft leisten.«
»Heißt das, du hast keine Fotos auf deinem Handy?« Was definitiv zu Hack passen würde. Aber ... nicht mal eins oder zwei? Von irgendjemandem, der ihm wichtig war?
»Es würde mich wundern, wenn das Ding überhaupt Fotos machen kann.«
»Du lenkst ab.«
»Du auch.«
Beinahe gegen seinen Willen musste Paul lächeln. Scheiße. Auf der einen Seite frustrierte ihn diese Geheimniskrämerei, auf der anderen war sie auf schräge Art liebenswert. Er wusste alles über Hack, was er wissen musste. Wen interessierten unwichtige Details? Wichtig war, dass Hack unter seiner rauen Schale ein guter Mann war – auch wenn er selbst das am meisten zu bezweifeln schien.
Seufzend nickte Paul zu dem Foto, auf das Hack gedeutet hatte. Er und Nicole mit dreizehn in T-Shirt und kurzer Hose. Hinter ihnen ragte die Eiche vor dem Haus auf. Auf ihren Gesichtern spiegelte sich eine unbestimmte Vorfreude und Aufregung. Paul war ziemlich sicher, dass sie später an diesem Abend ihre Initialen in den Stamm geritzt hatten.
»Das ist Nicole, ein Mädchen aus dem Haus. Wir waren ganz gut befreundet.« Er begutachtete das Foto und fragte sich, was aus ihr geworden war. Vielleicht war er ihr irgendwo in München schon mal über den Weg gelaufen, ohne sie zu erkennen? Sie hatte inzwischen bestimmt eine andere Haarfarbe. Dieses mausgraue Blond hatte sie wie die Pest gehasst, aber ihre Eltern waren dagegen gewesen, dass sie sich schon in jungen Jahren verunstaltete. Keine Farbe oder Tönung, keine Tattoos, keine Piercings – nicht mal Ohrringe.
»Was ist mit deinem Vater?«
Paul erstarrte. Sein Vater. Er überflog die Fotos. Er, Beate und Oma Biggi, in verschiedenen Konstellationen, mal mit anderen Erwachsenen, mal mit anderen Kindern. Freunde, ab und zu Nicole mit ihren Eltern, die eine oder andere Geburtstagsparty, das jährliche Straßenfest, Frau Fassbinder mit dem jeweils aktuellen Hund, hin und wieder ein Urlaubsbild.
Kein verdammter Hinweis auf seinen Vater oder einen Mann, den man dafür halten könnte.
»Keine Ahnung. Ist mir auch scheißegal.«
Er spürte Hacks überraschten Blick auf sich, aber er drehte sich nicht um. Stattdessen verschränkte er die Arme vor der Brust und wartete, dass Hack sich dem nächsten Foto zuwandte – oder seine Mutter endlich zum Essen rief. Aus der Küche dröhnte jetzt Taylor Swift. Der schwungvolle Beat passte ungefähr so gut zu seiner Laune wie die Leberterrine auf Steffens Karte auf einen Kindergeburtstag.
Aber Hack schwieg. Paul hatte das Gefühl, als würde jemand in seinem Bauch einen Luftballon aufpumpen. Verdammt. Wie zum Teufel schaffte Hack es immer, nichts zu sagen?
»Er ist ein Arschloch. Oder war. Was weiß ich, ob er noch lebt.«
Hack schlang einen Arm um Pauls Taille, zog ihn jedoch nicht an sich. Wahrscheinlich hätte er es gekonnt, auch wenn Paul reglos wie ein Eisklotz dastand. Oder es zumindest versuchte. Hack strahlte eine Hitze aus, die ihn wie einen Eiswürfel in der Sonne schmelzen ließ.
»Er war verheiratet.« Paul schnaubte. »Allerdings nicht mit meiner Mutter.« Er versuchte, den Rest für sich zu behalten, weil das schon alles sagte. Aber genau wie er nicht hatte weghören können, als Oma Biggi ihm die Geschichte erzählt hatte, konnte er jetzt nicht die Klappe halten. »Als sie ihm erzählt hat, dass sie schwanger ist, hat er ihr damals noch ein paar hundert Mark in die Hand gedrückt, damit sie sich darum kümmert. Hat ihr sogar einen entsprechenden Kontakt in Tschechien vermittelt.«
Seine linke Seite kribbelte, als würde ein eingeschlafenes Bein langsam wieder aufwachen. Irgendwann während der lustigen, kleinen Anekdote hatte er sich gegen Hack gelehnt. Als ihm das bewusst wurde, verschränkte er die Arme fester und stellte sich wieder aufrecht hin.
»Tja. Wie du siehst, hat sie das Geld anderweitig investiert.« Und nie wieder etwas von ihm gehört oder gesehen.
Erst dachte er, dass Hack nichts darauf sagen würde – was denn auch? Nicole, die einzig andere Person, der er je davon erzählt hatte, hatte danach betroffen zu Boden gestarrt.
Hack lehnte sich zu ihm und küsste Paul sanft auf die Schläfe. Gleichzeitig verstärkte er den Griff um Pauls Taille, als wollte er ihn jede Sekunde an sich reißen. Es war eine seltsam zärtliche Geste, so voller Emotionen, dass Paul die Augen schließen musste.
»Dann muss ich deiner Mutter doppelt dankbar sein.« Seine Lippen strichen beim Sprechen über Pauls Haut. Eine wohlige Gänsehaut breitete sich über seinen Körper aus.
»Doppelt?«
»Dafür, dass du hier bist, und die Einladung an Weihnachten. Weil wir sonst jetzt nicht hier stehen würden.«
Zitterig atmete Paul aus. Gott. Das klang wie eine Liebeserklärung, auch wenn er die Worte nicht aussprach. Vielleicht sollte er ... Aber er hatte Hack schon hierher gebracht. Das sagte mehr als Tausend Worte. Keiner seiner Sexpartner hatte bisher diese verdammte Fotowand zu Gesicht bekommen. Und Hack war längst kein einfacher Sexpartner mehr.
Also sagte er nur: »Hm.«
Feigling.
Hack zog ihn nun doch an sich und Paul glitt viel leichter als gedacht in seine Umarmung, wie ein Puzzlestück, das an den richtigen Platz fiel. »Kennst du ihn?«
Okay. Chance vertan.
Paul schüttelte den Kopf. Er hatte Oma Biggi und Beate ein paar Mal nach ihm gefragt, aber mehr als diese Geschichte hatte er nie erfahren. Wahrscheinlich auch gut so. Für ihn war sein Erzeuger gestorben.
»Sei froh.« Hack vergrub seine Nase in Pauls Haaren. »Wer weiß, was er für ein Mann ist und was aus dir geworden wäre, wenn du in seinem Schatten aufgewachsen wärst.«
»Okay, Jungs«, rief Beate aus der Küche, kurz bevor sie das Radio leiser drehte und mit einem Weinglas in der Hand in der Tür erschien.
Großartig. Beschissenes Timing.
Beate seufzte, als sich Paul widerwillig von Hack losmachte. »Ihr seht so toll zusammen aus.«
Paul verdrehte die Augen. »Mama.«
»Was denn? Ich bin so froh, dass du mir endlich einmal einen Freund von dir vorstellst. Und dass mich mein erster Eindruck an Weihnachten nicht getäuscht hat. Walther mag zwar vorein...« Abrupt hob sie das Weinglas und trank einen großzügigen Schluck, als wäre sie gerade von einer mehrwöchigen Rundreise durch die Wüste zurückgekehrt.
Walther. Klar. Dass der kein Fan von Hack war, war keine Überraschung. Alles im Zusammenhang mit Paul fand er prinzipiell scheiße. Das Beuteschema seiner Mutter war fast schlimmer als sein eigenes.
»Egal.« Beate setzte das Weinglas wieder ab. »Was ich eigentlich sagen wollte: Ich mag dich, Thomas. Mir gefällt, wie du meinen Sohn ansiehst.«
Verdammt. Pauls Herz stand kurz vor einem Stillstand, als er sich zu Hack umdrehte, als könnte er den Blick, auf den Beate anspielte, noch auffangen.
Hack lächelte seine Mutter jedoch nur an. »Danke, Beate.«
»Und er ist immer so höflich!« Sie winkte sie heran. »Na los, kommt in die Küche und setzt euch. Habt ihr mir eigentlich schon mal erzählt, wie ihr zwei euch kennengelernt habt?«
*
Paul umrundete das Auto und fing Hack an der Fahrerseite ab, kaum dass der die Tür zugeworfen hatte. »Guck mich mal an.«
Hack runzelte die Stirn. »Was? Warum? Um mir zu sagen, dass ich was zwischen den Zähnen habe, ist es etwas spät, findest du nicht?«
Paul ignorierte die Frage und zog konzentriert die Brauen zusammen. Hacks dunkle Augen wirkten in der Nacht um sie herum beinahe schwarz. Die nächste Straßenlaterne reflektierte sich in der dunkelbraunen Iris und malte einen leuchtenden Lichtakzent hinein.
Das konnte Beate unmöglich gemeint haben. Obwohl es hübsch aussah. Aber Hacks Augen waren sowieso hübsch. Und wie ein Sog. Manchmal hatte Paul immer noch das Gefühl, zu fallen.
»Paul?«
»Ich hab’s gleich.«
Hack umfasste seine Arme und schob ihn sanft zur Seite. »Du bist betrunken.«
»Angetrunken.«
»Okay. Dann formuliere ich es anders: Du hast zu viel Wein getrunken.« Seine Mundwinkel zuckten. »Paulchen.«
»Oh Gott. Nenn mich bloß nicht beim Sex so.«
Obwohl der vertraute Spitzname ein lächerlich warmes Gefühl in seinem Bauch aufsteigen ließ. Wie dieser ganze Abend. War gar nicht so schlimm gewesen, wie er befürchtet hatte. Keine Peinlichkeiten, kein Unwohlsein. Nicht mal sein beschissener Erzeuger konnte diese glückliche Leichtigkeit trüben, die ihn umfing.
Hack stand auf seiner Seite. Hack war froh, dankbar, dass es ihn gab.
Schwungvoll griff er nach Hacks Hand und verschränkte auf dem Weg zu Hacks Wohnklotz ihre Finger miteinander. Hack erwiderte die Geste, als hätte er nie etwas anderes gemacht. Heftig pumpte Pauls Herz den Alkohol durch seine Blutbahnen.
Gott. Er hielt Händchen. Er konnte sich nicht daran erinnern, das vor Hack schon mal gemacht zu haben. Eigentlich blöd, denn es fühlte sich großartig an. So harmlos und unschuldig und gleichzeitig so ... gut.
Kurz wurde ihm schwindelig. Verdammt. So viel Wein hatte er auch wieder nicht getrunken.
Paul räusperte sich. »Also ...« Er hatte keine Ahnung, wie er die Frage stellen sollte. Eigentlich fragte man so was nicht. Man sagte es einfach. Nur dass Hack und Worte meistens nicht die besten Freunde waren, also ... »Gucke ich dich auch an? Manchmal? So?«
Hack warf ihm einen Seitenblick zu. »Im Moment hoffe ich, dass du guckst, wo du hingehst. Die Hälfte der Lampen funktioniert schon wieder nicht.«
Lampen? Was für Lampen?
Paul sah sich um. Die 30er Zone, an der sich Hacks Wohnklotz und noch ein paar andere befanden, lag im diffusen Halbdunkel da. Die Straßenlaterne direkt vor ihnen war kaputt, genauso wie die Lampe an Hacks Haustür. Das Licht vor Haus Nummer 78 hingegen flackerte nervtötend. Auf dem Parkplatz, der zur Wohnanlage gehörte und bei weitem nicht genug Platz für alle Bewohner bot, tummelte sich eine Horde Teenager. Aus einem Handy dröhnte blechern Hip-Hop-Musik. Mehrere Zigaretten glühten unheilvoll in der Dunkelheit auf, untermalt von aufgeregtem Geplapper.
Kein Wunder. Ein schwarzer Porsche, dessen Lack unter einer Laterne matt schimmerte, stand wie ein edles Schlachtross zwischen Ackergäulen auf dem Parkplatz. Könnte ein Panamera sein. Da hat wohl jemand aus der Gegend im Lotto gewonnen.
Etwas zupfte an Pauls Erinnerung, aber er bekam den Gedanken nicht zu fassen. Vielleicht morgen früh, wenn der Alkohol ...
Hack blieb wie angewurzelt stehen und riss so heftig an Pauls Hand, dass Paul ins Straucheln geriet. Dann wurde er ein Stück hinter Hacks breiten Rücken geschoben, der starr und steif wie eine Mauer vor ihm aufragte.
»Was ist denn –«
Hack ließ seine Hand los, als hätte er sich verbrannt. »Was zum Teufel willst du hier?«
Seine Stimme klang plötzlich eisig wie Polarwind. Erst als sich ein Mann aus den Schatten im Eingangsbereich löste, begriff Paul, dass Hack nicht mit ihm sprach. Oh. Ist das nicht ...?
Er hatte Hacks Bruder erst ein einziges Mal durch ein Fenster gesehen, aber er hätte ihn auch wiedererkannt, wenn er Hack nicht so ähnlich gesehen hätte. Wobei ähnlich relativ war. Im Gegensatz zu Hack wirkte Clemens, als wäre er einem Hochglanzmagazin entstiegen. Kein Haar tanzte aus der formvollendeten Frisur und sein Mantel hatte zweifellos mehr gekostet, als Paul in einem Monat verdiente.
Anwalt. Er ist Anwalt. Ein Berufsstand, in dem Kleider Leute machten. Bei Clemens funktionierte es. Er verströmte eine einschüchterne Aura, die ganz anders war als Hacks.
»Ich warte auf dich«, sagte Clemens, der sogar fast wie Hack klang. Nur dass sich Hack gefährlicher anhörte, grimmiger, knurriger. Nicht so ... herablassend.
»Du wartest umsonst. Und jetzt verpiss dich.«
»Glaub mir, das würde ich liebend gern.« Clemens sah sich um und schüttelte missbilligend den Kopf. »Im Ernst, Thomas? Ich dachte schon, diese Spelunke wäre der absolute Tiefpunkt, aber du wohnst tatsächlich hier?«
Er hörte sich an, als würde er von einer Mülldeponie sprechen. Fröstelnd schob Paul die Hände in die Hosentaschen. Eigentlich hatte er sich darauf gefreut, Hacks Bruder zu begegnen und vielleicht in alten Geschichten über den jungen Hack zu schwelgen.
Jetzt war er nicht mal sicher, ob er vortreten und sich vorstellen sollte.
»Du hättest ja nicht herkommen müssen. Und da es dir nicht passt, kannst du gleich wieder verschwinden.«
»Nachdem ich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt habe, um herauszufinden, wo du steckst? Vergiss es.« Er neigte den Kopf und sah an Hack vorbei zu Paul. Sein Blick hatte etwas von einer Faust, die sich in seinen Magen grub und ihm die Luft zum Atmen raubte. »Wer ist das?«
Okay, dein Stichwort. Reiß dich zusammen. Vielleicht guckt er immer wie ein Auftragskiller, der gerade vom Paten persönlich gefeuert wurde. Mit ausgestrecktem Arm trat Paul vor. »Hi, ich bin –«
Hack schob sich ihm in den Weg wie ein Schild. Okay, seine Geheimniskrämerei in allen Ehren und vielleicht war sein Bruder nicht der freundlichste Mensch der Welt, aber wenn er nun schon mal vor ihm stand, konnte er sich doch vorstellen?
»Hack –«
»Was willst du, Clemens?« Paul hatte das Gefühl, dass sich Hack noch ein wenig breiter machte, um den kleinen Größenunterschied zu seinem Bruder auszugleichen. Wie eine Luftmatratze, in die man noch mehr Luft hineinpumpte, obwohl die Nähte schon knarzten. »Und ich frage nicht noch mal.«
»Mit dir reden. Und tu nicht so, als wüsstest du nicht, worum es geht. Wir haben Ende Februar. Wenn du nicht auftauchst, explodiert er.« Er sah an Hack vorbei und schoss einen vernichtenden Blick auf Paul ab. »Hast du nicht gemerkt, dass wir uns hier unterhalten? Verzieh dich.«
»Ich ...«
Langsam glaubte Paul, dass es einen Grund gab, warum er bisher noch niemanden aus Hacks Familie kennengelernt hatte. Die herrische Feindseligkeit in Clemens‘ Stimme verschlug ihm glatt die Sprache – und, was noch viel schlimmer war, sogar Hack. An Weihnachten hatte er kein Problem gehabt, gegen Walther aufzubegehren. Und vor dem Viereck hatte er auch nicht gewirkt, als würde er sich von Clemens Vorschriften machen lassen.
Offensichtlich war schwierige Familienverhältnisse noch eine beschönigende Bezeichnung.
Paul räusperte sich, nachdem er sich halbwegs wieder gefangen hatte. Zeit für etwas Deeskalation. »Vielleicht ist es besser, wenn ich gehe.« Er legte eine Hand auf Hacks Arm. Selbst durch die Jacke spürte er, wie angespannt die Muskeln darunter waren. »Dann könnt ihr euch aussprechen.« Was zweifellos dringend nötig war. »Ich nehme die U-Bahn.«
Hacks Kiefer mahlten, während er noch immer seinen Bruder anstarrte. Wenn Paul nicht damit umzugehen wüsste, hätte ihm das gefährliche Funkeln in seinen Augen Angst eingejagt. Clemens hingegen schien derartige Drohgebärden gewohnt zu sein. Stattdessen betrachtete er interessiert Pauls Hand auf Hacks Arm.
Unwirsch schüttelte Hack sie ab, als wäre ihm die Berührung in derselben Sekunde bewusst geworden. »Okay.«
»Okay.« Einen Moment schwebte Pauls Hand wie ein fremdartiges Objekt zwischen ihnen in der Luft. Dann schob er sie wieder in seine Tasche. »Tja, also ... bis demnächst.«
Hacks Familie, Hacks Regeln. Immerhin hatte er sich Weihnachten auch an Pauls gehalten. Wenn er seiner Familie vorspielen wollte, dass sie nur gute Kumpels oder was auch immer waren, musste er das akzeptieren – so schwer es ihm auch fiel.
Paul zwang sich zu einem möglichst gelassenen Abgang, ohne dem Drang nachzugeben, Hack zum Abschied noch einmal zu berühren oder gar zu küssen. Auch das fiel ihm erstaunlich schwer. Er war ein mieser Schauspieler. Zumindest Oma Biggi hatte ihn sofort durchschaut, sobald er irgendetwas hatte überspielen wollen.
Hinter sich hörte er ein Feuerzeug schnipsen. Hatte Hack etwa doch Zigaretten dabei?
Clemens schnaubte. »Du rauchst immer noch? Das wird ihm nicht gefallen.«
»Werd erwachsen«, sagte Hack kalt.
Noch ein Schnauben. »Aber da du bei ihm eh schon unten durch bist, ist es dir wahrscheinlich egal, wenn er dich umbringt.«
»Erzähl mir doch, was er sonst noch alles Furchtbares tun wird. Das steigert meine Lust auf diese Party ungemein.«
Party? Was für eine Party? Paul spitzte die Ohren und versuchte, sich so langsam wie möglich zu entfernen, ohne aufzufallen. Aber die Stimmen wurden schon fast zu leise, um sie zwischen dem Geschnatter der Jugendlichen herauszufiltern. Nur noch ein kleines bisschen langsamer ...
»Mach ihm doch eine besondere Freude und bring dein Fickhäschen mit.«
Paul erstarrte, was man ihm zweifellos beim Laufen angemerkt hatte. Scheiße.
»Sicher, sobald du deine mitbringst. Wie viele sind es aktuell? Außerdem kenne ich nicht mal seinen Namen.«
Autsch. Nur gespielt. Eine kleine Notlüge. Das meint er nicht so. Trotzdem konnte Paul nicht anders. So sehr er sich auch anstrengte, er musste sich einfach umdrehen. Musste sich davon überzeugen, dass sein hämmerndes Herz völlig überreagierte und das alles vollkommen logisch war.
Clemens beobachtete ihn unverhohlen aus schwarzen Augen, während Hack mit dem Rücken zu ihm stand, als hätte er ihn längst vergessen. Die Zigarette in seiner Hand war fast aufgeraucht.
»Sicher?« Clemens hob eine Hand und winkte Paul spöttisch zu. Im schwachen Licht sah das Grinsen auf seinem Gesicht wie die Fratze eines Teufels aus. Paul erschauderte.
Hack warf nur einen flüchtigen Blick über die Schulter. »Reden wir drinnen weiter. Es ist scheißkalt.« Er schob sich an seinem Bruder vorbei.
»Bist du verrückt? Ich setze doch keinen Fuß in –«
Hack packte Clemens am Kragen und zerrte ihn zur Tür. »Rein. Mit. Dir.«
*
Hack, 03:34 Uhr
Brauche Abstand
Wütend hielt Paul Hack sein Handy unter die Nase. »Was zum Teufel soll das heißen?«
Hack warf nur einen flüchtigen Blick aufs Display und zog an seiner Zigarette. Hinter ihm quoll ein Schwall Dampf aus dem offenen Küchenfenster des Vierecks. »Das heißt, dass du offensichtlich nicht lesen kannst.«
Paul starrte ihn an. Kalter Wind kroch unter seine offene Jacke, die er sich in aller Eile übergeworfen hatte, als er Hack im Innenhof gesehen hatte. Da in Steffens Café gähnende Leere herrschte, hatte er die Gelegenheit beim Schopf ergriffen. Trotzdem war er ziemlich sicher, dass ihm gerade nicht wegen des beschissenen Wetters eiskalt wurde.
»Hack.« Er hörte selbst den bemühten Tonfall in seiner Stimme. Am liebsten hätte er Hack gepackt und geschüttelt, bis er wieder zur Vernunft kam. »Was ist los? Was ist gestern Abend mit Clemens noch passiert?«
»Nichts.«
»Dann verstehe ich nicht –«
»Verdammt.« Hack schnipste seine Zigarette zu Boden. »Es sind zwei Worte, Paul. Was gibt’s daran nicht zu verstehen?«
»Oh, ich weiß nicht, vielleicht die Tatsache, dass du selbst gesagt hast, dass du keinen Abstand zwischen uns mehr willst? Dass dir das gestern mitten in der Nacht urplötzlich eingefallen ist, nachdem wir einen schönen Abend bei meiner Mutter hatten? Dass wir inzwischen praktisch zusammenwohnen und –«
»Wir wohnen nicht zusammen. Du hast ein paar Sachen bei mir vergessen und ich bei dir.«
Pauls Herz setzte einen Schlag aus. Irgendetwas lief hier gewaltig schief. »Das meinst du nicht ernst.«
»Doch. Und da du zu Hause auch eine Zahnbürste hast, lässt du dich besser eine Weile nicht bei mir blicken.« Hack zog eine zerdrückte Zigarettenpackung aus seiner Jackentasche und fummelte ein Feuerzeug und einen Glimmstängel daraus hervor.
Sprachlos beobachtete Paul, wie er sich die nächste Zigarette direkt vor seinen Augen anzündete. Das hatte er seit Wochen nicht gemacht, abgesehen von gestern. Der Schein der Flamme zuckte unruhig über Hacks kantiges Gesicht und ließ die Narbe wie ein lebendiges Wesen wirken. Ein Wurm, vielleicht. Ein Parasit, der ihm langsam die Lebenskraft absaugte. Das würde zumindest die dunklen Schatten unter seinen Augen erklären.
»Warum?«
Hack schob das Feuerzeug zurück in die Packung und verstaute beides in seiner Jackentasche. Er sah Paul nicht an, sondern ließ seinen Blick durch den Innenhof schweifen. Die Fenster der Apotheke waren längst dunkel, im türkischen Gemischtwarenladen huschten noch ein paar Gestalten umher.
»Weil Abstand genau das bedeutet.«
»Das meinte ich nicht.« Vergeblich versuchte Paul, seinen Blick einzufangen. Scheiße, dann eben so. »Ich meinte, warum hat dein Bruder solche Macht über dich?«
Hack zuckte zusammen. Im nächsten Moment biss er die Zähne so fest zusammen, dass Paul glaubte, es knirschen zu hören. »Das hat nichts mit Clemens zu tun.«
»Dann also mit mir?« Paul straffte die Schultern.
»Nein!«
Die Antwort kam so schnell, dass es Hack selbst zu überraschen schien. Paul versuchte, sich seine unendliche Erleichterung nicht anmerken zu lassen. »Womit dann?«
Er trat einen Schritt näher und überlegte gerade, eine Hand nach Hack auszustrecken, als der vor ihm zurückwich, als wäre ihm seine Nähe unangenehm. Er ließ es ganz natürlich aussehen, als hätte er nur kurz das Gewicht verlagert. Wenn er Paul einen Faustschlag ins Gesicht verpasst hätte, hätte das wahrscheinlich weniger wehgetan.
»Ich muss wieder rein.« Hack sog an seiner Zigarette, als wäre das mit mehreren Kubiklitern Wasser um sich herum die einzige Möglichkeit, an Sauerstoff zu kommen. »Meine Pause ist zu Ende.«
Von wegen. Verdammt, so leicht würde er sich nicht abschütteln lassen. »Findest du nicht, dass du mir ein bisschen mehr schuldest? Nach allem?«
Abermals zog Hack an der Zigarette und blies den Rauch an Paul vorbei in die Dunkelheit. Trotzdem drang ihm der Gestank ekelerregend in die Nase. »Eigentlich finde ich, dass du mir ein bisschen was schuldest.« Endlich sah er Paul an. »Und ich will nur etwas Abstand.« Das Bitte! stand so deutlich in seinen Augen geschrieben, dass es Paul ein weiteres Mal die Sprache verschlug.
War das ... Verzweiflung?
Wieder trat er auf Hack zu und wieder musste er mitansehen, wie er einen Schritt zurückwich, als hätte er eine ansteckende Krankheit. »Scheiße, hör auf damit!«
Jetzt packte Paul ihn doch am Kragen, aber trotz seines seltsamen Verhaltens war es eine Illusion, Hack einfach zu sich herunterziehen zu können. Genauso gut hätte er versuchen können, mal eben den Kühlschrank in Steffens Küche quer durch den Raum zu schieben – mit dem kleinen Finger. Stattdessen zog sich Paul eher selbst an Hack heran.
Hack erstarrte. Dann sah er sich um, als würde er sich plötzlich Gedanken machen, was Egon oder Steffen von ihrer Pausengestaltung halten könnten.
Paul ruckte an seiner Jacke. Bei ihren Größenverhältnissen sah das wahrscheinlich ziemlich bescheuert aus. »Was ist gestern Abend passiert, nachdem ich weg war? Nicht, dass nicht schon genug passiert wäre, als ich noch da war. Erst dachte ich, es liegt daran, dass du vielleicht nicht geoutet bist, aber so, wie Clemens sich mit deinen Fickhäschen auskennt ...«
Das Wort schien nicht nur Paul zu missfallen. In Hacks Augen blitzte es grimmig, bevor er Pauls Hände von seiner Jacke löste. »Ich muss rein«, sagte er jedoch nur wieder, obwohl ihm einiges mehr auf der Zunge zu liegen schien.
Wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, dröhnte Egons Stimme auf den Innenhof hinaus und verlangte zwei Portionen Wiener Schnitzel. »Und wo zum Teufel steckt eigentlich schon wieder Hack? Hack!«
Hack zog noch mal an seiner Zigarette, warf sie zu der anderen und machte Anstalten, Egons Ruf zu folgen.
»Wenn du mich vorher eingeweiht hättest«, sagte Paul, »in das Verhältnis zu deiner Familie, dann ... dann hätte es mich vielleicht nicht so getroffen. Jetzt würde es schon helfen, wenn ich diese Sache mit dem Abstand verstehe.« Sekundenlang schlug sein Herz hektisch wie ein in seinem Brustkorb eingesperrter Vogel. Aber bei Hack half es meistens, einen Schritt zu weit zu gehen, also ... »Es hat verdammt wehgetan, so verleugnet zu werden.«
Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte, wenn Hack nicht reden wollte. Durchdrehen? Tatenlos darauf warten, bis Hack wieder auf ihn zukam? Wie lange würde das dauern? Tage? Wochen? Monate? So lange hatte er noch nie auf jemanden gewartet. Irgendwo gab es immer den nächsten Kerl. Verflucht. Und er hatte sich selbst immer für beziehungsunfähig gehalten.
Hack blieb stehen und wandte sich ihm zu. Kurz schweifte sein Blick zum Ausgang des Innenhofs, aber als Paul den Kopf drehte, sah er dort nur einen leeren Straßenabschnitt. Was fesselte Hack da bloß so?
Hack beugte sich dichter zu ihm, so dicht, dass Paul eine verführerische Meeresbrise in die Nase stieg, auch wenn sie von Zigarettenqualm überlagert war. Trotzdem musste er sich zusammenreißen, um sich ihm nicht an den Hals zu werfen und so lange an ihm festzuklammern, bis er ein paar zufriedenstellende Antworten bekommen hatte.
»Glaub mir«, sagte Hack so leise, als würden mindestens zwei Fußballmannschaften mithören, »es ist besser, wenn Clemens so wenig wie möglich über dich weiß. Nicht mal deinen Namen.«
*
Paul knallte die Hintertür zu Steffens Café zu und warf einen letzten Blick auf sein Handy – Brauche Abstand –, ehe er es in seine Hosentasche stopfte. Scheiße. Scheiße!
Er riss die Tür zum Garderobenschrank auf und warf seine Jacke hinein. Einer der Kleiderbügel fiel unter lautem Getöse zu Boden und Paul rammte ihn grimmig zurück auf die Stange. Aus der Küche sang Helene Fischer in ziemlich schiefem Duett mit Steffens Koch Atemlos.
Ja, und wie atemlos er war – vor Wut, Frustration, Enttäuschung. Weil das alles hier so sinnlos war. Hielt Hack ihn wirklich für so dämlich, dass er den Zusammenhang nicht erkannte? Aber was zum Teufel konnte Clemens zu ihm gesagt haben, dass er plötzlich Abstand brauchte? War das so ein beknacktes Gehabe unter Brüdern? Bloß keine Gefühle zeigen oder zu einem Menschen stehen, den man ... ja, was? Mochte? Vögelte? Liebte?
Was auch immer, es war offenbar nicht genug.
Verdammt. Paul hatte wirklich gedacht, sie wären schon weiter. Aber was wusste er schon von Beziehungen?
»Wenn du hier dann genug Randale gemacht hast«, sagte Steffen, der mit verschränkten Armen im Durchgang erschien, »wir haben Gäste.«
»Wo kommen die denn her? Wenn die nur mal schnell die Toilette benutzen wollen, sollten wir fünfzig Cent pro Person verlangen.«
Steffen verzog den Mund. »Sehr witzig.«
Paul riss sich zusammen und versuchte, seinen Ärger beiseitezuschieben. Darüber sollte er keine Scherze machen, immerhin hing sein Job davon ab. Bisher war es ein sehr ruhiger Abend gewesen. Drei frühe Abendessen und Stammgast Hubert an der Bar. Es war erst kurz nach acht, also war noch alles möglich.
Hinter Steffen betrat er den Gastraum und verschaffte sich einen schnellen Überblick. Ein älteres Paar an Tisch zwei studierte die Speisekarte, ein jüngeres Paar hing an Tisch vier über ihren Handys – die Bestellung lag bereits in der Küche – und an Tisch neun hockten sich drei Männer schweigend gegenüber und drehten Däumchen.
Steffen stellte sich an den Zapfhahn und griff nach einem der drei Biergläser darunter, bei denen sich der Schaum gesetzt hatte. »Soll ich mal raten?«
»Wieso raten?«, fragte Paul verwirrt und schnappte sich drei Speisekarten, da Steffen bei den Männern offenbar nur Getränke aufgenommen hatte. Andererseits sagte ihm sein Gespür, dass mit denen kein großer Umsatz zu machen war.
»Warum du so gute Laune hast.«
»Lass es lieber.«
Steffen zuckte die Schultern und füllte das nächste Glas auf. »Wie wäre es dann mit etwas Ablenkung?«
»Danke für das Angebot, aber du bist nicht mein Typ.«
Steffen lachte. »Keine Sorge, du meiner auch nicht. Außerdem halte ich Beziehungen am Arbeitsplatz für schwierig.« Er nickte zum Innenhof. »Oder auch nur an benachbarten Arbeitsplätzen.«
»Wem sagst du das?«
Wegen Beziehungen am Arbeitsplatz hatte Paul schon genug Jobs verloren oder wechseln müssen, um es besser wissen zu müssen. Adrian in der Goldenen Krone, der Koch in diesem Laden in Haidhausen ... Er hatte nicht gewusst, dass sich das auch auf benachbarte Arbeitsplätze bezog – zumal ihre Arbeit überhaupt nichts mit ihrem aktuellen Problem zu tun hatte. Wenn er nur wüsste, wo das verdammte Problem lag.
»Ich meinte eine andere Art von Ablenkung. Etwas Feldforschung, wenn du so willst.« Steffen stellte das Bierglas ab und griff nach dem Reservierungsbuch.
»Feld...forschung?« Irgendwie klang das nicht besser. Eher nach experimentellen Sexpraktiken. Mit der Phase war er durch. Steffen zog eine Visitenkarte zwischen den letzten Seiten hervor und hielt sie Paul hin. Bistro Pan. »Die hast du noch?«
»Offensichtlich. Und nachdem Frau Schuck bei ihrem letzten Besuch in den höchsten Tönen davon geschwärmt hat ...« Steffen zuckte die Schultern, als würde ihm das abtrünnige Verhalten seines Stammgasts nichts ausmachen.
Paul wusste es jedoch besser. Steffen machte sich ernsthafte Gedanken um sein Café, dessen Umsätze im letzten Monat weiter gesunken waren. So ernsthafte, dass er bereits Yvette, die Küchenhilfe, entlassen hatte und selbst einsprang oder Paul schickte, wenn der Koch Hilfe brauchte. Der nächste Posten, der gekürzt werden würde, wäre dann vermutlich ... Pauls.
»Ich dachte, wir fühlen der Konkurrenz mal ein bisschen auf den Zahn. Ich zahle.«
Paul brauchte nur etwa zwei Sekunden darüber nachzudenken. Schließlich schien er auf einmal eine Menge Freizeit zu haben, haha. »Klar, wieso nicht? Wann willst du hingehen?«
»Morgen Abend?«
Paul schürzte die Lippen. Freitag. Prinzipiell einer der besser besuchten Tage, obwohl das mittlerweile kaum einen Unterschied machte. »Da muss ich erst meinen Chef fragen, ob ich freibekomme.«
Steffen schnaubte. »Bekommst du. Das ist die perfekte Gelegenheit, um zu testen, ob die neue Aushilfe was taugt.« Er musterte Paul und wie so oft sah es aus, als würde er die Frage stellen wollen, die ihm seit Adrians plötzlichem Verschwinden auf der Zunge lag.
Paul war bei seiner Erklärung, was an diesem Wochenende passiert war, so vage wie möglich geblieben. Er verstand sich gut mit Steffen und wenn er ihm einen freien Abend spendierte, um ihn zum Essen einzuladen, okay. Aber das bedeutete nicht, dass er ihn in sein verkorkstes Privatleben einweihen musste. Davon bekam er bezüglich Hack schon genug mit.
Doch Steffen hakte nicht nach und schien ein weiteres Mal hinzunehmen, dass Adrian nur ein unzuverlässiger Kellner von vielen war. Stattdessen setzte er auf die drei fertig gezapften Biere eine gekonnte Schaumkrone und stellte die Gläser auf ein Tablett. »Frag auch, ob sie was essen wollen.«
Als Antwort winkte Paul mit den Speisekarten, obwohl er wenig Hoffnung hatte, bevor er nach dem Tablett griff und die Getränke servierte. Natürlich wollte niemand etwas essen. Stattdessen wurde er von dem Glatzkopf mit den winzigen, schwarzen Augen und der Boxernase nach einem Schälchen mit Knabberzeug gefragt.
»Nüsse vielleicht oder so.«
»Tut mir leid, so was haben wir nicht auf der Karte. Aber es gibt eine Käseplatte, die ich Ihnen –«
Der Glatzkopf unterbrach ihn bellend. »Käseplatte? Willst du mich verarschen? Seh ich aus, als würd ich ‘ne Käseplatte bestellen?«
Du siehst aus, als hättest du dich auf dem Weg zum nächsten Fight Club hierher verirrt. Genau wie die zwei anderen Kerle. Groß, breitschultrig, muskulös, mit einem nicht ganz greifbaren Hauch von Gefahr. Normalerweise genau sein Typ. Nur dass diese hier ihm vermutlich einen Knoten in den Schwanz machen würden, wenn er sie versehentlich als schwul bezeichnete. In der Kulisse von Steffens etwas in die Jahre gekommenen Café mit den vielen Pflanzen wirkten die drei wie ein Trio Rottweiler, das in eine vornehme Teeparty gestolpert war.
»Vielleicht werfen Sie doch mal einen Blick in unsere Speisekarte. Ich kann Ihnen ja einfach eine hierlassen.« Paul wollte eine der Karten auf den Tisch legen, aber der Glatzkopf machte eine wedelnde Bewegung, als wollte er eine Fliege verscheuchen.
»Scheiße, ich werd hier bestimmt nix essen. Ist wahrscheinlich eh alles überteuerter Kack.« Seine kleinen, schwarzen Augen funkelten Paul herausfordernd an.
Einer der anderen Rottweiler schlug dem Glatzkopf gegen die Schulter. »Halt die Klappe.« Er wandte sich an Paul. Die auf wenige Millimeter geschorenen, blonden Haare wirkten wie unzählige, winzige Stacheln, die aus seinem Schädel wuchsen. »Danke, wir trinken nur was.«
Paul nickte und warf dem dritten im Bunde noch einen genaueren Blick zu. Eine alte Angewohnheit. Als Kellner versuchte er generell, sich die Gesichter seiner Gäste und ihre Bestellhistorie zu merken. In der Krone hatte ihm das Pluspunkte und damit mehr Trinkgeld eingebracht. In Steffens Café würde es das vermutlich auch, wenn das Geld lockerer sitzen würde.
In diesem speziellen Fall riet ihm jedoch sein Bauchgefühl dazu. Irgendwie rochen die drei nach Ärger. Konnte nicht schaden, sie genauer beschreiben zu können.
Der dritte Mann hatte ein Gebiss wie ein Pferd und Pockennarben im Gesicht. Damit tat sich keiner der drei durch besondere Attraktivität hervor, abgesehen vielleicht von dem Bürstenhaarschnitt – dessen Blick noch immer abwartend auf Paul ruhte.
Paul räusperte sich. »Zum Wohl.« Mit dem sicheren Gefühl, beobachtet zu werden, ging er zurück zur Theke und legte Tablett und Speisekarten ab. »Das scheinen keine großen Esser zu sein. Oder Trinker.«
Steffen musterte die drei. Inzwischen hatten sie ein Gespräch über Fußball begonnen, aber auf Paul machte es den Eindruck, als wollten sie bloß über irgendetwas reden, um nicht schon wieder schweigend voreinander zu sitzen.
Außerdem rührte keiner sein Bier an. Der Glatzkopf hatte kurz dran genippt, das Glas auf einen Blick des Bürstenhaarschnitts aber schnell wieder abgestellt.
Definitiv kein guter Umsatz.
Steffen brummte. »Na toll.« Er griff nach einem Lappen und wischte ein paar Bierkleckse von der ansonsten blitzsauberen Theke. »Heute scheint der Tag der seltsamen Gäste zu sein. Kann nicht mal ein Reisebus voller spendabler Rentner mit großem Hunger und Durst in unserer Straße stranden, die uns dann ihren Freunden weiterempfehlen?«
Paul runzelte die Stirn. »Wieso?«
»Weil uns das eine Menge Geld einbringen würde? Außerdem stehen alte Leute auf dich. Schau dir Frau Schuck an.«
»Nein, ich meine ... Tag der seltsamen Gäste?«
»Als du vorhin draußen warst, war Hacks Bruder hier und hat nach dir gefragt.«
»Clemens?«
»Keine Ahnung, heißt er so? Vorgestellt hat er sich nicht, aber die Ähnlichkeit ist nicht zu übersehen. Na ja, zumindest das, was sie genetisch mitbekommen haben. Sein Bruder sieht viel ... geleckter aus, wenn du verstehst, was ich meine.« Er nickte zum Gastraum. »Hat ungefähr so gut hier reingepasst wie die drei da.«
Pauls Gedanken rasten. Er war ziemlich sicher, dass bei ihrer kurzen Begegnung gestern nicht zur Sprache gekommen war, wo er arbeitete. Und Hack hatte ihm das bestimmt nicht erzählt. Er stockte. »Sekunde. Er hat nach mir gefragt? Er kannte meinen Namen?«
Steffen sah ihn an, als hätte er gefragt, ob man von Alkohol wirklich betrunken wurde. »Natürlich kannte er deinen Namen. Was habt ihr bloß immer alle damit? Hat Clemens auch einen Spitznamen? Sagt man nicht, Gulasch aus jemandem machen? Das würde doch prima passen. Hack und Gulasch. Klingt beides bescheuert.«
»Gulasch ist der Ältere«, sagte Paul und musste sich ein Grinsen verkneifen. Vielleicht würde das auch Hacks Laune heben, wenn ... Wenn er keinen beschissenen Abstand mehr will.
Steffen warf die Hände in die Luft. »Dann eben Gulasch und Hack. Das macht es nicht besser.«
»Hat er gesagt, was er wollte?«
»Nein. Er wollte vor allem so schnell wie möglich wieder hier raus, hatte ich den Eindruck. Ich hätte dich aus der Pause geholt, aber er meinte, das wäre nicht nötig. Dann ist er gegangen und kurz darauf sind auch schon die drei da aufgetaucht und ich hatte andere Dinge im Kopf.« Er nickte in den Gastraum. »Ich glaube, Tisch zwei will bestellen.«
Paul nickte und ging in den Kellnermodus über. Er nahm die Bestellung des älteren Pärchens auf und wechselte ein paar freundliche Worte mit ihnen. Im Gegensatz zu den drei Rottweilern freuten sie sich über Smalltalk.
Im Hinterkopf beschäftigte sich Paul jedoch weiterhin mit Clemens. Nachdem sich Hack so viel Mühe gegeben hatte, Paul vor ihm zu verstecken und zu verleugnen, dürfte er nicht besonders erfreut darüber sein, dass ...
Scheiße. Denk verdammt noch mal nach. Und denk nicht immer zuerst an Hack! Er würde es gar nicht erfahren. Abstand war das Zauberwort. Nur dass Hack wahrscheinlich wissen wollen würde, dass Clemens ihn suchte, so, wie er sich aufgeführt hatte.
Ha. Pech. Er hatte es ja so gewollt. Abgesehen davon, was konnte Clemens schon Schlimmes von ihm wollen?
*
Nach Feierabend überlegte Paul, noch mal mit Hack zu reden. Mangels Gäste hatte Steffen das Café früher als sonst geschlossen, während im Viereck noch reger Betrieb herrschte. Hacks Schicht müsste jedoch gleich vorbei sein. Ab zehn bot auch das Viereck keine warme Küche mehr an.
Er hatte sich gerade dazu durchgerungen, auf Hack zu warten, als er aus dem Augenwinkel auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Bewegung wahrnahm. In einem Hauseingang lungerte ein Kerl herum und rauchte. Ende Februar machte sich zwar langsam der Frühling bemerkbar, aber selbst wenn Paul Zigaretten nicht generell verabscheuen würde, hätte er keine Lust, ständig nach draußen ...
Moment mal. Paul kniff die Augen zusammen. War das nicht das Pferdegebiss von eben?
Neben ihm wurde die Tür des Vierecks aufgestoßen. Paul zuckte zusammen und drehte den Kopf. Danil, Egons andere Küchenhilfe, trat breit grinsend heraus.
»Paul, hey. Alles klar?«
Danils russischer Akzent war immer noch unüberhörbar, klang jedoch nicht mehr so kantig wie noch vor ein paar Wochen. Paul fragte sich, mit wem er sich ständig auf Deutsch unterhielt, um zu üben. Egon würde sich bestimmt nicht dazu herablassen und Hack war keine Plaudertasche. Vielleicht mit dem Koch?
Paul nickte und schob die Hände in die Jackentaschen. In seinem Nacken prickelte es, aber als er den Blick schweifen ließ, war der Raucher aus dem Hauseingang verschwunden. »Wie lange braucht Hack noch?«
Er kannte die Antwort, bevor Danil überhaupt den Mund aufgemacht hatte. Mitgefühl spiegelte sich auf seinem Gesicht wider, als müsste er die Nachricht einer schlimmen Krankheit überbringen. »Hack ist nicht mehr da.«
Paul runzelte die Stirn. »Was meinst du damit, Hack ist nicht mehr da?«
»Ist schon gegangen. Nach Hause.«
»Aber ...« Paul fummelte sein Handy aus der Tasche, um auf die Uhr zu sehen. »Seine Schicht ist doch noch gar nicht vorbei.«
»Er ist früher gegangen. Hat sich mit Egon gestritten. Hack war heute nicht besonders ruhig.«
»Ruhig?« Für Pauls Geschmack war er vorhin im Innenhof viel zu ruhig gewesen. Mit der einen oder anderen Explosion wäre er besser zurechtgekommen, zumal er den Eindruck gehabt hatte, dass sie eh schon unter der Oberfläche schwelte. Stattdessen war er irgendwie abgelenkt gewesen und hatte Paul nur schnell loswerden wollen.
»Kein Geduldsfaden? Stress? Unter Druck? Wie sagt man bei euch?«
»Unter welchem Druck?«
Danil leckte sich über die Lippen und zog den Reißverschluss seiner Daunenjacke bis zum Hals zu, dann nickte er die Straße runter. »Muss zur U-Bahn.«
Als er sich in Bewegung setzte, fiel Paul neben ihm in Gleichschritt. »Danil. Was hat er dir erzählt? Unter welchem Druck steht er?« Und warum zum Teufel redete er mit Danil darüber? Und nicht mit mir?
Klar, sie arbeiteten zusammen, aber sonst war es Paul nicht so vorgekommen, als hätten sie besonders viele Gemeinsamkeiten, außer vielleicht das Rauchen und eine kriminelle Vergangenheit. Möglicherweise. Paul wusste nicht, ob Danil ebenfalls vorbestraft war, obwohl Egon den Ruf hatte, nur Straftäter auf Bewährung einzustellen.
»Frag besser Hack.«
»Das würde ich ja, aber wie du siehst, geht er mir aus dem Weg.«
Danil warf ihm einen Seitenblick zu, der Bände sprach. Er wusste eindeutig über etwas Bescheid, von dem Paul keine Ahnung hatte. »Vielleicht aus gutem Grund.«
»Was soll das wieder heißen?«
Bildete er sich das ein oder beschleunigte Danil seine Schritte?
»Hörst du auch U-Bahn?«
»Nein. Es liegt also an mir? Was hab ich gemacht?«
»Ich schon. Tut mir leid, Paul. Hab’s Hack versprochen.«
Frustriert biss Paul die Zähne zusammen. »Was hast du Hack versprochen?«
»Muss U-Bahn erwischen. Bin noch verabredet. Tschüss.«
»Was ... hey!«
Als Danil die restlichen zehn Meter zur U-Bahn-Station lossprintete, erwog Paul kurz, ihm hinterherzurennen und so lange auszuquetschen, bis er vernünftige Antworten erhalten hatte. Aber damit war er bei Danil an der falschen Adresse. Es gab nur einen, den er wie eine Zitrone auspressen sollte – wenn der nur nicht so eine verflixt harte Schale hätte.
Den Umweg nach Hadern nahm Paul in Kauf. In der U-Bahn starrte er auf sein Handy – Brauche Abstand – und überlegte, Hack zu schreiben, dass er vorbeikam, aber das verringerte wahrscheinlich seine Chance, dass er ihm überhaupt öffnete. Im Innenhof hatte er sich ziemlich deutlich ausgedrückt.
Gott, was tat er hier überhaupt? Hack wollte ihn offensichtlich nicht sehen und er fuhr ihm hinterher wie ein liebeskranker Vollidiot?
Wenn er nur nicht das Gefühl hätte, dass irgendetwas nicht stimmte. Dass Hack ihn sehr wohl sehen wollte, sich aus irgendeinem Grund aber einredete, es nicht zu können. Scheiße, gestern Abend hatten sie noch bei Lasagne bei seiner Mutter in der Küche gesessen und Paul hatte ihm sein Leben auf einem Silbertablett serviert. Hatte Hack ihm nicht sogar mehr oder weniger seine Gefühle gestanden? Mit Blicken, wenn er Beate glaubte? Außerdem hatte er so schöne Sachen gesagt. Auch wenn das Wort Liebe nicht gefallen war, hatte es definitiv im Raum gehangen.
Und heute? Was zum Teufel war passiert? Das konnte doch nur mit Clemens zu tun haben.
Oder mit dir. Paul würgte den Gedanken ab, aber nachdem er einmal in seinem Kopf kreiste, schien er eine ganze Flutwelle mit sich zu bringen. Was, wenn ihm das gestern zu viel geworden ist? Wenn er erkannt hat, dass ihr nicht das Gleiche wollt? Wenn du dich in ihm getäuscht hast? Wenn er manche Sachen nur gesagt hat, um ...
Paul presste eine Hand gegen seine Stirn, als könnte er so aufhören zu denken. Verdammte Scheiße.
Er stopfte sein Handy in die Tasche und stand auf, als sich die U-Bahn der nächsten Station näherte. Inzwischen war er so oft hier gewesen, dass er den Weg im Schlaf gefunden hätte. Mit ihm stieg ein Großteil der Fahrgäste aus und strömte an der Oberfläche in alle möglichen Richtungen davon, auf die riesigen Wohnklötze zu, die vor dem dunklen Himmel aufragten. Ein paar Meter vor ihm ging ein Kerl mit Bürstenhaarschnitt, der ihm bekannt vorkam, allerdings bog er noch vor Paul nach rechts ab.
Langsam wirst du paranoid. Diese Frisur tragen Tausend Leute.
Die Lampe an der Eingangstür zu Hacks Wohnklotz war noch immer kaputt. Paul fischte sein Handy raus und schaltete die Taschenlampen-App ein, um das richtige Klingelschild zu finden.
Bisher hatte er noch nie bei Hack klingeln müssen, weil sie im Gegensatz zu Pauls Wohnung immer zusammen hier aufgetaucht waren. Trotzdem hatte er schon mal einen Blick auf den Namen an Hacks Wohnungstür geworfen: T. Ritter. Er drückte auf die Klingel und wartete. Da sich Hacks Wohnung im zwölften Stock befand, konnte er weder das Klingeln noch Geräusche hören, aber Hack musste doch zumindest nachfragen, wer vor seiner Tür stand.
Die billige Gegensprechanlage blieb stumm.
Vielleicht ist er gar nicht da?
Aber wo sollte er mitten in der Woche nach Feierabend sonst sein? Paul drückte noch mal auf die Klingel, während er eine Nachricht schrieb.
Paul, 22:49 Uhr
Stehe vor deiner Haustür. Mach auf.
Paul starrte die geschlossene Eingangstür an und kam sich wie ein versetzter Trottel vor. Sah auch bestimmt für die restlichen Leute aus der U-Bahn auf dem Weg zu ihren Wohnungen bescheuert aus.
Das Thema Wohnungsschlüssel war bis jetzt nie aufgekommen. Ab und an hatte Paul daran gedacht, aber da Hack es nie angesprochen hatte, hatte er es auch nicht getan – obwohl er die Vorstellung, nach Hause zu kommen und Hack auf seinem Sofa oder seinem Bett vorzufinden, ziemlich angenehm fand.
Vielleicht hat Hack dir den Schlüssel aus gutem Grund nicht gegeben. Hatte Danil nicht so was in der Art gesagt? Dass Hack sich aus gutem Grund –
Sein Handy vibrierte.
Hack, 22:52 Uhr
Bin nicht da. Geh nach Hause.
Paul, 22:52 Uhr
Wann kommst du zurück? Ich kann warten.
Das hatte er schneller geschrieben, als er es durchdenken konnte. Eigentlich war es zu kalt, um lange draußen auf jemanden zu warten, selbst hier im Hauseingang. Und, verflucht, musste er sich anbiedern wie ein verzweifelter Spätzünder? Wo zum Henker steckte Hack denn?
Fünf Minuten verstrichen ohne Antwort, obwohl Hack die Nachricht gelesen hatte. Ungeduldig trat Paul von einem Fuß auf den anderen. Nein, du hakst jetzt nicht nach, verdammt. Allerdings wurde er das Gefühl nicht los, verarscht zu werden. Er hätte nicht gedacht, dass es nach Hacks Nachricht letzte Nacht und der verstörenden Unterhaltung im Innenhof noch schlimmer werden konnte.
Hack, 22:59 Uhr
Geh nach Hause.
Paul, 22:59 Uhr
Zwing mich doch.
Hack, 23:02 Uhr
Bitte.
Pauls Magen zog sich zusammen. Musste er von allen Assen im Ärmel ausgerechnet dieses ziehen? Er starrte das kleine Wörtchen an, dann schlug er mit der flachen Hand gegen die Haustür. Nichts von der Frustration und Enttäuschung in seinem Inneren verschwand, dafür pochte seine Hand im Takt der hämmernden Fragen in seinem Kopf.
Was ist los? Warum redet er nicht mit mir?
Auf dem Heimweg versuchte Paul, seine Gedanken abzustellen, aber je länger er in der U-Bahn saß, desto stärker zweifelte er – an sich, an Hack, an allem. Wollte Hack das damit bezwecken? War das hier irgendein beknackter Test? Ein Treuebeweis? Machte man so was in normalen Beziehungen? Wenn man bei ihrem Verhältnis überhaupt von einer Beziehung sprechen konnte.
An seiner Haltestation stieg er aus und ging die verlassenen Straßen zu seinem Wohnhaus zurück. Obwohl er mitten in einem Wohngebiet lebte, wirkte die Gegend freundlicher als Hacks. Es gab keine Hochhäuser, die höchsten Gebäude hatten fünf oder sechs Stockwerke, viele davon Altbauten, wenn es nicht gerade ein schnell zusammengezimmertes Wohnhaus wie seins war.
Vor dem auf der anderen Straßenseite jemand herumlungerte und an seinem Handy spielte. Nein, nicht jemand. Paul kniff die Augen zusammen. Okay, er war eindeutig nicht paranoid, denn den Glatzkopf bildete er sich nicht ein. Das bläuliche Handylicht spiegelte sich in seinen winzigen, schwarzen Augen.
»Hey.« Ohne nachzudenken, lief er auf den Kerl zu. »Was zum Teufel soll das? Warum verfolgt ihr mich?«
Der Glatzkopf schaute auf. In seinen Augen blitzte Erkennen auf, bevor er sich mit einem unterdrückten Fluch umsah. »Redest du mit mir?«
»Mit wem sonst? Warum spioniert ihr mir hinterher?«
»Ihr? Alter, siehst du schon doppelt? Ich bin allein.«
»Dann eben du. Was willst du hier?«
»Geht dich das was an?« Der Glatzkopf straffte die Schultern und musterte ihn von oben bis unten.
Zum ersten Mal ging Paul auf, dass es vielleicht keine gute Idee gewesen war, den Kerl anzusprechen, wenn er ihm wirklich hinterherschnüffelte. Wahrscheinlich konnte er Paul innerhalb von zwei Sekunden so klein zusammenfalten, dass er in seine Gesäßtasche passte.
Er biss die Zähne zusammen und verpasste den Moment einer Erwiderung. Der Glatzkopf schnaubte, sodass eine weiße Atemwolke vor seinem Gesicht aufstieg, und nickte zu Pauls Wohnhaus. »Geh lieber schnell rein. Nachts laufen manchmal seltsame Gestalten auf der Straße rum.«
Paul starrte ihn an. Schlimmer noch als die unterschwellige Drohung in seinen Worten war das, was er damit preisgegeben hatte. Die drei Rottweiler hatten ihn nicht nur den ganzen Abend lang verfolgt. Der Glatzkopf hatte hier auf ihn gewartet. Er wusste, wo Paul wohnte.
»Brauchst du eine Extraeinladung?«, blaffte der Glatzkopf. »Es ist zu scheißkalt, um stundenlang draußen rumzustehen.«
»Weil du schon stundenlang hier draußen rumstehst und darauf wartest, dass ich nach Hause komme?«
Der Typ verzog den Mund, stopfte die Hände in die Jackentaschen und zog die Schultern hoch. »Quatsch. Und jetzt geh endlich rein, Mann.«
Er war der mieseste Schauspieler der Welt.
»Wenn du hier nicht sofort verschwindest, ruf ich die Polizei.«
Noch ein Schnauben. »Das hier ist ein freies Land. Ich darf mir den Arsch abfrieren, wo ich will.«
»Schon mal was von Stalking gehört?«
Der Glatzkopf schnitt eine Grimasse. »Alter, ich bin nicht schwul. Bleib mir bloß weg mit dem Scheiß.«
»Stalking hat nicht zwangsläufig was mit sexuellem Interesse zu tun.«
»Was? Bist du taub? Ich fick keine Männer. Aber weißt du was? Gute Idee. Geh rein. Bring dich in Sicherheit und zeig mich an. Ich kenn die besten Anwälte der Stadt.«
Etwas zupfte an Pauls Bewusstsein, aber es war zu schnell verschwunden, als dass er es hätte greifen können. Stattdessen gab er die Diskussion mit dem Kerl auf und ging über die Straße zu seinem Wohnhaus. Er war kaum in der Lage, den Glatzkopf zum Gehen zu zwingen, und wollte ihn nicht so lange provozieren, bis er tatsächlich handgreiflich wurde. Vielleicht würde er es wirklich mit der Polizei probieren.
An der Eingangstür drehte er sich noch einmal um. Inzwischen hielt sich der Glatzkopf sein Handy ans Ohr und telefonierte.
Scheiße. Was zum Teufel ging hier vor? Bei all seinen verrückten Männergeschichten war er noch nie an einen Stalker geraten. Oder gleich an drei.
Oben in seiner Wohnung angekommen, tigerte Paul minutenlang unruhig durch das einzige Zimmer. An Schlaf war nicht zu denken. Nur das undurchsichtige Fenster im Bad zeigte nach vorne raus, aber er wollte es nicht öffnen, um nachzusehen, ob der Glatzkopf noch da war. Er zog sein Handy hervor und verharrte mit dem Daumen über dem Display. Die Polizei rufen, Anzeige erstatten. Das wäre vernünftig, aber am liebsten würde er ...
Hack anrufen.
Paul schloss die Augen. Verdammt. Musste er denn immer zuerst an Hack denken? Von dieser Seite war offensichtlich keine Hilfe zu erwarten. Andererseits war er fuchsteufelswild gewesen, als Paul ihm nicht sofort von Adrian erzählt hatte. Aber die Situation war anders gewesen. Sie waren nicht ... auf Abstand gewesen.
Paul zuckte zusammen, als es an seine Tür klopfte. An seine Wohnungstür. Wie zur Hölle war der Glatzkopf –
»Paul?«
Paul erstarrte. Was zum Teufel ...? Diese Stimme ...
»Hier ist Clemens. Mach auf. Ich muss mit dir reden.«
*
Oh mein Gott. Natürlich. Die besten Anwälte der Stadt. Wie hatte er so dämlich sein können?
Paul starrte die Tür an und rührte sich nicht. Hacks Worte kamen ihm in den Sinn: »Glaub mir, es ist besser, wenn Clemens so wenig wie möglich über dich weiß.« Tja, er hatte keine vierundzwanzig Stunden gebraucht, um eine ganze Menge über ihn herauszufinden.
»Paul?« Clemens klopfte erneut. »Ich weiß, dass du da bist. Mach auf.«
Klar weißt du das. Weil du mich den ganzen Abend lang ausspioniert hast. Wut kochte in ihm hoch. Innerhalb einer Sekunde stand er an der Tür und riss sie auf.
In seinem schicken Mantel über dem noch teureren Anzug ragte Clemens lächelnd über ihm auf. Mit der Aktentasche in seiner Hand wirkte er wie das Ebenbild eines Anwalts, der eben erst das Büro verlassen hatte, um noch zwei, drei Stunden zu Hause weiterzuarbeiten. Doch selbst in der gnadenlosen Beleuchtung des Hausflurs wirkte er alles andere als erschöpft oder als würde er sich nach einem ruhigen Feierabend auf dem Sofa sehnen.
Paul fröstelte es. Der Ausdruck in seinen dunklen Augen war hellwach und ... kalt. Hack hatte ihn noch nie so angesehen. Jetzt diesem Blick aus Augen zu begegnen, die Hacks so ähnlich waren, ließ es unangenehm in seinem Nacken prickeln.
»Paul, wie schön, dass ich dich doch noch antreffe. Darf ich reinkommen?« Clemens lächelte weiterhin, aber es wirkte wie eine zusätzliche Socke, die man überstreifte, wenn man fror.
Wenigstens fragte er, aber Clemens hereinzubitten, war das Letzte, wonach ihm gerade der Sinn stand. Er hatte sich von Hacks Abneigung gegenüber seinem Bruder nicht anstecken lassen wollen, aber offenbar bestand dazu ausreichend Grund. »Die drei Typen gehören zu dir, oder? Du hast mir hinterhergeschnüffelt.«
Statt einer Antwort lächelte Clemens nur. Oder immer noch. Langsam wirkte es unheimlich. »Können wir das drinnen besprechen?«
»Was besprechen? Wenn du mit mir reden willst, hättest du heute Abend einfach in Steffens Café auf mich warten können. Dann hättest du nicht mitten in der Nacht auf den Anruf einer deiner Spione bei mir vorbeikommen müssen.«
Clemens winkte ab und überhörte den unangenehmen Teil einfach. »Ich bin daran gewöhnt, mir meine Termine nach meinen Wünschen zu legen. Berufskrankheit, schätze ich.«
Oder, schoss es Paul durch den Kopf, du wolltest demonstrieren, dass du nicht nur meinen Namen und meinen Arbeitsort herausfinden kannst, sondern auch, wo ich wohne.
»Außerdem hatte ich zufällig einen Termin in der Gegend.«
Zufällig. »Erzähl keinen Scheiß.«
»Oh, doch.« Clemens zeigte vage in eine Richtung, ohne sich von seinem Tonfall angegriffen zu fühlen. »Bei dem kleinen Italiener hier um die Ecke. Erstaunlich umfangreiche Weinkarte. Und ein hervorragendes Carpaccio. Warst du schon mal dort?«
»Ich will mich nicht mit dir über den Italiener unterhalten. Warum hast du Leute –«
»Schade«, unterbrach Clemens ihn freundlich und immer noch im unverbindlichen Tonfall eines Geschäftsmannes, der zur Einleitung ein wenig Smalltalk betrieb. »Ich bin fast sicher, dass der eine Kellner schwul ist. Aber mein Gaydar« – er malte mit den Fingern der freien Hand Anführungszeichen in die Luft – »arbeitet da sicher nicht so zuverlässig wie deins.«
»Danke, aber ich bin ganz glücklich mit Hack. Ich meine, mit Tom. Thomas.«
»Hack?« Clemens schüttelte mit einem abfälligen Lachen den Kopf. »Ich habe gehört, dass er sich hinter diesem lächerlichen Spitznamen versteckt.«
Paul biss die Zähne zusammen. Langsam konnte er nachvollziehen, warum Hack nicht besonders erfreut war, als sein Bruder gestern unangekündigt vor seinem Haus aufgekreuzt war. »Was willst du, Clemens?«
»Habe ich das nicht gesagt?« Er nickte an Paul vorbei. »Ich würde gerne reinkommen und kurz etwas mit dir besprechen.«
»Und wenn ich nicht will und stattdessen lieber die Polizei rufe, weil du irgendwelche Leute auf mich angesetzt hast?«
Das Lächeln auf Clemens‘ Gesicht blieb, aber der Blick in seinen Augen wurde eine Spur kälter. Am liebsten hätte er auf der Stelle die Tür zugeschlagen und ... Hack angerufen. Scheiße.
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Aber wenn es dir bei der Entscheidung hilft: Es geht um Thomas.«
Paul packte den Türgriff fester. Verfluchter Mist, war er denn für jedermann so leicht zu durchschauen? »Fünf Minuten«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und trat zur Seite, »und danach ziehst du deine Lakaien von mir ab.«
Er hatte schon mit einigen Situationen zu kämpfen gehabt. Verschmähte Liebhaber, unverständige Ex-Freunde, zornige Partner – mal männlich, mal weiblich – seiner Sexpartner, aufgebrachte Freunde oder Geschwister und einmal sogar der Nachbar einer seiner Bekanntschaften, der sich über die Geräuschkulisse aufgeregt hatte, seit Paul ein- und ausging.
Aber das hier war neu.
Clemens schien nur das zu hören, was er hören wollte, denn er nickte Paul zu und sagte bloß: »Danke, sehr freundlich.«
Als Clemens an ihm vorbei ging, zog sich Pauls Magen in unguter Vorahnung zusammen. Das war eine beschissene Idee. Kurz überlegte er, die Tür einfach offenzulassen, aber offenbar wollte Clemens kein Publikum – bei was auch immer er mit Paul zu besprechen hatte. Sein Bauchgefühl ließ ihm übel werden, als er die Wohnungstür schloss und sich zu Clemens umdrehte.
Der war inzwischen weiter in die Wohnung getreten, die hauptsächlich aus einem großen Wohnraum mit Schlafecke und Kochnische bestand und wenig der Fantasie überließ – genau wie Clemens‘ abschätziger Blick, der über die einfache Einrichtung mit dem kleinen Flachbildfernseher, dem etwas in die Jahre gekommenen Laptop auf dem französischen Bett und die Handvoll Bücher und DVDs in dem einzigen Regal schweifte.
Steffen hatte recht. Clemens passte so gut hier rein wie ein Sibirischer Tiger.
»Die Zeit läuft«, sagte Paul, als Clemens keine Anstalten machte, etwas zu sagen.
Er stellte die Aktentasche auf dem Couchtisch ab und drehte sich zu Paul um. Das Lächeln war endlich aus seinem Gesicht verschwunden, aber dadurch trat die Kälte in seinen Augen nur deutlicher hervor. Paul verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ich möchte dir ein Angebot machen.«
Paul kniff die Augen zusammen. »Was für ein Angebot?« Und was zur Hölle hat das mit Hack zu tun? Gott, er hätte einfach die Tür zuknallen sollen.
»Ein Angebot, das du zweifellos gut gebrauchen kannst, wenn ich mich hier so umsehe.«
Noch nie hatte sich Paul so sehr gewünscht, ein paar Türen mehr zu haben, die er schließen konnte, damit seine ganze Wohnung vor Fremden nicht wie auf dem Präsentierteller dalag. Trotzdem reckte er das Kinn. »Das entscheide immer noch ich.«
Ein schmales Lächeln, das Paul eine Gänsehaut bescherte. Als wäre er der Letzte, der hier irgendetwas zu entscheiden hatte.
Dann zog Clemens ein Bündel Hunderter aus seiner Manteltasche, das mit einer goldenen Geldklammer zusammengehalten wurde. In der Krone hatte Paul so was öfter gesehen, meistens bei einer bestimmten Sorte Mann. Clemens fiel seit spätestens einer Minute in diese Kategorie.
Gemächlich zählte Clemens einige Scheine ab und ging sicher, dass Paul zumindest eine Ahnung von dem Batzen bekam, den er da so gleichgültig präsentierte. Schließlich hatte er zehn Hunderter abgezählt. In der Geldklammer steckte bestimmt noch mal das Doppelte.
»Ich gebe dir tausend Euro bar auf die Hand, wenn du dich von Thomas trennst.«
»Was?«
»Oder ihn nicht mehr wiedersiehst. Aus seinem Leben verschwindest.« Ungerührt wedelte Clemens mit den Geldscheinen. »Wie auch immer ihr dazu sagt.«
»Warum?«
Clemens seufzte, als hätte er es mit einem begriffsstutzigen Erstklässer zu tun. Was vielleicht sogar stimmte. Pauls Kopf war wie leergefegt. »Weil ich glaube, dass er zur Vernunft kommt, wenn du erst mal weg bist.«
»Zur Vernunft ...? Was ...?« Paul klappte den Mund zu und raufte sich die Haare. Bot ihm Hacks Bruder gerade allen Ernstes Geld, wenn sie sich nicht mehr trafen?
»Er ist nicht Hack. Er ist Thomas. Und es wird Zeit, dass er das einsieht.«
Paul konnte nur den Kopf schütteln. Die Worte purzelten in seinem Hirn durcheinander, als er sich nur für eine Sekunde vorzustellen versuchte, Hack nicht wiederzusehen. Gott, er ging ja schon die Wände hoch, wenn Hack aus heiterem Himmel was von Abstand faselte. Schon jetzt fehlte er ihm so sehr, dass er sämtlichen Stolz vergessen hatte und ihm zu seiner Wohnung hinterhergefahren war, obwohl Hack das ausdrücklich nicht gewollt hatte.
Hatte Hack gewusst, dass Clemens so was versuchen würde? Hatte er ihn gestern deshalb so schnell loswerden wollen? Und der Abstand? War das etwa auch wegen ...
Clemens nahm sein Kopfschütteln unbeeindruckt zur Kenntnis und zählte weitere zehn Hunderter ab. Die Anzahl der Scheine in seiner rechten Hand war jetzt größer als die in der Geldklammer.
»Zweitausend.«
»Nein.«
Alle Scheine aus der Geldklammer. »Dreitausend. Überleg’s dir gut. Bar auf die Hand. Steuerfrei.« Er wedelte mit den Scheinen und streckte sie Paul entgegen. »Vielleicht willst du sie mal anfassen, damit du weißt, wie sich so viel Bargeld auf einmal –«
»Nein. Ich bin nicht käuflich, verdammt.«
»Bitte.« Clemens schnaubte. »Muss ich es wirklich sagen?«
»Was?«
»Jeder hat seinen Preis.«
Die Selbstverständlichkeit, mit der Clemens das sagte, war für Paul wie ein Schlag ins Gesicht. »Ich nicht. Und ich werde Hack ganz sicher nicht wegen Geld verlassen.« Nachdem sie gerade erst zusammengekommen waren, halbwegs offiziell. Bis dahin war es schon ein verdammter Kampf gewesen.
Clemens seufzte, als hätte er die Last der Welt auf seinen Schultern zu tragen, steckte die Geldscheine zurück in die Geldklammer und ließ sie wieder in seiner Manteltasche verschwinden. Allein bei dem Gedanken, mit so viel Bargeld in der Jackentasche durch die Gegend zu laufen, erschauderte Paul. Dreitausend Euro. Heilige Scheiße.
Clemens wandte sich seiner Aktentasche zu und öffnete sie. Für einen verrückten Moment glaubte Paul, dass er eine Waffe ziehen würde. Diese Situation war so abgefahren, warum also keine Pistole? Die würde er Clemens zweifellos zutrauen.
Das Herz hämmerte ihm bis zum Hals, als Clemens in die Tasche griff, jedoch nur einen braunen Umschlag hervorzog. Er klappte ihn auf und hielt ihn Paul hin, damit er den Inhalt sehen konnte. Pauls Knie drohten, unter ihm nachzugeben. Noch mehr Geld. Lauter Fünfziger.
»Fünftausend. In kleinen, nicht nummerierten Scheinen«, fügte er spöttisch hinzu.
Achttausend. Der Mann lief mit achttausend Euro in bar durch München.
Kein Wunder, dass er sich die drei Rottweiler angeschafft hatte.
Paul schluckte, weil sein Mund sonst zu trocken zum Sprechen war. Er musste dringend etwas Boden zurückerobern. »Warum willst du mir so viel Geld geben, nur damit ich mich von Hack trenne?«
»Habe ich das nicht gerade gesagt? Es wird Zeit, dass er nach Hause kommt. Er hat lange genug geschmollt. Wenn er zum Geburtstag unseres Vaters erscheint, wäre das schon mal ein guter Anfang. Ein Zeichen des Entgegenkommens.«
Geburtstag. Die Party. Deshalb hatte Clemens Hack gestern aufgelauert. Schwierige Familienverhältnisse war offensichtlich gar kein Ausdruck, wenn Hack nicht mal zum Geburtstag seines Vaters anwesend sein wollte und Clemens herumrannte und Geld wie Bonbons verteilte, um ihn auf Umwegen dazu zu bringen.
Verdammt. Möglicherweise war das hier seine Chance ...
»Vielleicht hat er allen Grund zu schmollen.« Paul wählte seine Worte mit Bedacht. Eigentlich wusste er viel zu wenig, um mit diesem Wissen zu pokern. »Immerhin hat euer Vater damals die Gegenseite vertreten und Hack wurde verurteilt.«
Treffer. Volltreffer.
Zum ersten Mal, seit er die Wohnung betreten hatte, wirkte Clemens aus dem Gleichgewicht gebracht. Er starrte Paul an, als würde er ihn plötzlich mit ganz neuen Augen sehen. »Er hat dir davon erzählt?«
»Ja.« Wobei das Ganze eher einem Lückentext glich, der in einer Fremdsprache geschrieben war, aber, hey, das musste Clemens nicht wissen.
Clemens‘ Augen wurden schmal. Die Temperatur im Zimmer schien ein paar Grad zu fallen. »Wie viel weißt du wirklich?«
»Genug«, sagte Paul bestimmt, auch wenn er daran langsam Zweifel hegte. Was nichts an seinen Gefühlen änderte. Er musste überhaupt nichts wissen, um sich in Hack zu verlieben. »Außerdem kenne ich Hack.«
Clemens hob die Augenbrauen. »Das bezweifle ich. Wahrscheinlich weißt du rein gar nichts über deinen Freund. Oder hast du Ritter mal gegoogelt?«
»Ihr seid Anwälte. Angeblich ganz gut.« Er weigerte sich, die besten der Stadt zu sagen.
»Das ist die Untertreibung des Jahres.« Clemens warf den Umschlag zurück in die Aktentasche. Offenbar war das Angebot gerade verfallen.
»Ansichtssache, wenn man genug Geld hat, um Leute zu kaufen.«
Clemens presste die Lippen zusammen. Dabei ähnelte er Hack so sehr, dass sich Pauls Magen zusammenzog. Scheiße, allmählich begann er zu verstehen, warum Hack so ein Geheimnis um sich machte. Wenn Clemens nur die Light-Version seines Vaters war, würde Paul die gesamte Familie auch verstecken.
Wieder griff Clemens in die Aktentasche.
»Hör auf, mit Geld um dich zu werfen. Du kannst keinen Betrag aus der Tasche zaubern, der mich –«
»Zwanzigtausend.« Clemens trat auf ihn zu und knallte ihm den dicken Umschlag vor die Brust. Automatisch griff Paul danach, als Clemens losließ. Zwanzigtausend. Ganz schön schwer. »Das ist mein letztes Angebot. Und dafür verschwindest du sofort.«
Pauls Finger fühlten sich taub an, als sie über die dick gebündelten Geldscheine in dem Umschlag tasteten. Zwanzigtausend. Es war unfassbar, dass irgendjemand so viel Geld zur Verfügung hatte, um es mal eben zu verschenken. Mit zwanzigtausend wäre er sicher nicht reich. Aber mit einem derartigen Polster auf dem Konto würde er den schwindenden Umsätzen in Steffens Café deutlich gelassener entgegenblicken.
»Was genau meinst du mit verschwinden?« Er hatte nicht wirklich vor, dieses Angebot anzunehmen. Natürlich nicht. Nicht nur wegen Hack. Vor allem wegen Hack, aber München war sein Zuhause. Er hatte nie irgendwo anders gelebt und noch so gut wie nichts von der Welt gesehen. Clemens könnte ihm fünfzigtausend, hunderttausend, eine ... Million bieten, und er würde nicht wegziehen. Eine Million. Heilige Scheiße.
Clemens lächelte kalt. »Nicht wortwörtlich, selbstverständlich. Lass ihn fallen, präsentier ihm einen neuen Stecher, lass dich mit einem anderen erwischen, sag ihm, er wäre ein Schlappschwanz – was weiß ich. Lass dir was einfallen. Das sollte im Preis inbegriffen sein.«
Paul drehte sich der Magen um. Er könnte nie ... Allein bei der Vorstellung sammelte sich bittere Galle in seinem Mund. »Hack hat seinen eigenen Kopf. Was macht dich so sicher, dass er zur Geburtstagsparty kommt, nur weil er nicht mehr mit mir zusammen ist?«
»Meine hellseherischen Fähigkeiten.« Seine Stimme triefte vor Sarkasmus. Nachdem er Paul vermeintlich in der Tasche hatte, wollte er offenbar schnellstmöglich hier weg. »Also, haben wir einen Deal?« Selbstgefällig musterte er Paul, als wäre er eine weitere, nervige Scheißhausfliege, die er gerade erschlagen hatte.
»Nein.« Er streckte Clemens den Umschlag entgegen, der mit jeder Sekunde schwerer zu werden schien. »Ich hab keine Ahnung, was ihr für Familienprobleme habt, aber ich lasse mich bestimmt nicht mit hineinziehen.«
»Zu spät. Du steckst schon mittendrin.« Clemens nahm die Schultern zurück und nickte zum Umschlag, den Paul ihm hinhielt. »Also denk noch mal gut nach, ob du das Angebot nicht doch –«
»Nein. Will ich nicht.« Paul warf den Umschlag in Clemens‘ Aktentasche. Wenn er die ganze Kohle auch nur noch eine Sekunde länger festgehalten hätte, hätte sie ihm die Finger verbrannt.
Clemens‘ Gesichtszüge gefroren zu Eis. »Das war sehr dumm.«
»Tja. Wir können nicht alle Intelligenzbolzen sein und Jura studiert haben.«
Pauls Stimme klang lockerer, als ihm zumute war. Mit einem Mal war er wieder unsicher, ob Clemens zwischen den ganzen Umschlägen in seiner Aktentasche nicht doch noch eine Pistole versteckt hatte – von wegen der wortwörtlichen Bedeutung, aus Hacks Leben zu verschwinden.
Er machte einen schnellen Schritt zur Tür und öffnete sie weit. Gleich fühlte er sich besser. Verflucht, er würde nie wieder über seine winzige Wohnung oder die dünnen Wände jammern.
»Die fünf Minuten sind um. Hau ab.«
*
Dein Bruder war gerade bei
Paul zögerte und starrte den blinkenden Cursor in seinem Handydisplay an. Dann löschte er die Worte wieder und schrieb: Haben eigentlich alle in eurer Familie einen Knall? Aber auch die Nachricht schickte er nicht ab, sondern löschte sie, bevor er versehentlich auf Senden drücken konnte.
Dabei sehnte er sich so sehr danach, mit Hack über diese verrückte, aber nichtsdestotrotz leicht unheimliche Begegnung mit seinem Bruder zu sprechen. Zu hören, was er davon hielt. Oder auch einfach nur seine Stimme. Vielleicht würde er Paul sogar bitten, vorbeizukommen, wenn er erfuhr, dass Clemens ihn trotz Hacks Bemühungen, ihn zu verstecken, gefunden hatte. Vielleicht würde er sogar auf der Stelle herfahren. Um diese Uhrzeit wäre er mit dem Auto sicher schneller hier als Paul mit den Öffentlichen bei ihm.
Abstand. Paul tippte sich mit dem Handy gegen die Stirn. Hack musste gewusst haben, was Clemens versuchen würde. Oder dass er überhaupt irgendwas versuchen würde. Oder was für ein Mensch er war.
Und was für ein Mensch ist er? Kein angenehmer, so viel stand fest. Es war ein Wunder, dass Hack so war, wie er war, wenn er in einer Familie aufgewachsen war, in der der eigene Vater vor Gericht die Gegenseite vertrat, der Bruder dem Freund Geld anbot, um die Beziehung zu beenden, und man sogar Familiengeburtstagen und an Weihnachten fernblieb, als ein paar Stunden die Zähne zusammenzubeißen.
Pauls Blick schweifte zu dem Laptop auf seinem Bett.
»Wahrscheinlich weißt du rein gar nichts über deinen Freund. Oder hast du Ritter mal gegoogelt?«
Nein, verdammt, er hatte Hack nicht gegoogelt. Weil er kein beschissener Stalker war. Weil es unwichtig war, solange er sich in seiner Gegenwart so gut fühlte. Jeder machte Fehler. Das hatte schon Oma Biggi gesagt.
»Jeder macht mal Fehler, Paulchen. Wir sind alle nur Menschen. Wichtig ist, was wir daraus lernen.«
Und Hacks Fehler waren nicht mal richtige Fehler gewesen, sondern die Taten eines guten Freundes, gepaart mit hitziger Impulsivität. Natürlich war es nicht richtig gewesen. Aber der prügelnde Ex von Hacks Freund hatte es zweifellos verdient – auch wenn Hack das nicht einsah.
Ach, zum Teufel damit.
Paul erhob sich vom Sofa, setzte sich aufs Bett und zog den Laptop auf seinen Schoß. Der Cursor in der Google-Suchleiste blinkte ihm unschuldig entgegen, doch sobald er Thomas Ritter München eingetippt hatte, stachen die schwarzen Buchstaben wie eine Anklage vom weißen Hintergrund hervor.
Gott, das fühlte sich an, als würde er in Hacks Handy schnüffeln. Seinen Geldbeutel durchstöbern. Verschlossene Aktenschränke aufbrechen.
Paul schloss die Augen und atmete tief durch. Dann drückte er auf Enter.
*
»Ist wirklich ganz nett hier. Die Einrichtung muss ein Vermögen gekostet haben.«
»Hm.«
»Was die hohen Preise erklären würde. Wer zum Teufel zahlt vier Euro für einen Latte Macchiato?«
»Hm.«
»Ansonsten ist die Karte eher langweilig, oder? Nudeln gibt’s bei uns auch. Wir nennen es nur mit Soße statt an Soße. Meinst du, ich sollte neue Karten drucken lassen?«
»Hm.«
»Paul.«
»Hm.«
»Hast du gesehen, dass neben dir zwei Aliens Polka tanzen?«
»Hm.«
»Verdammt.«
Paul zuckte zusammen, als jemand gegen seine Schulter stieß. Er sah von der Speisekarte auf, die er zwar angestarrt, aber nicht wirklich gelesen hatte. Was war mit dem Latte Macchiato ...?
Steffen saß ihm an dem kleinen quadratischen Tisch aus dunklem Holz gegenüber und hatte grimmig die Brauen zusammengezogen. »Was zum Teufel ist denn heute los mit dir? Du bist schon die ganze Zeit so abwesend.« Die Kerze auf dem Tisch flackerte, als er eine ausschweifende Armbewegung machte, die das Bistro Pan einschloss. »Eigentlich habe ich dich mitgenommen, damit du den Laden mit mir zusammen unter die Lupe nimmst. Aber inzwischen bin ich froh, dass du in diesem Zustand nicht allein in meinem Café stehst.«
Paul schüttelte den Kopf, um die Gedanken, die seit gestern nicht stillzustehen schienen, wenigstens etwas beiseitezuschieben. »Entschuldige.« Er griff nach der Karte. »Ich bin jetzt ganz bei dir.«
»Scheiße. Ich kann dich ja verstehen.« Steffen fuhr sich durch die Haare. »Du machst dir Sorgen um deinen Job und fragst dich, was das hier eigentlich noch soll.«
Ach du ... Tja, das traf den Nagel nicht ganz auf den Kopf, erlangte aber zumindest seine volle Aufmerksamkeit. Paul klappte die Speisekarte zu. »Steffen, wenn du mir kündigen willst, das aber nur nicht im Café, sondern in einer anderen –«
»Was? Scheiße, ich will dir nicht kündigen.«
Gut. Die Erleichterung, die Paul durchflutete, war unerwartet groß. Gestern zwanzigtausend Euro in den Wind geschossen, heute arbeitslos – das hätte ihm gerade noch gefehlt.
»Wenn es so weitergeht, kann es nur sein, dass ich muss.«
Großartig. Paul schluckte an der plötzlichen Enge in seiner Kehle vorbei und nickte. »Schon okay. Wenn du musst, dann musst du.«
»Ja«, sagte Steffen und die Bitterkeit in seiner Stimme hätte beinahe sogar der Kerze die Luft zum Atmen genommen. »Und du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr mich das ankotzt. Ich hab dich echt gern. Als Mensch und als Kellner. Aber auch dein sensationelles Trinkgeld kann nicht aufwiegen, was ...« Er ahmte mit seinen Händen eine Waage nach, die in extremem Ungleichgewicht stand.
Oh Mann. Für dieses Gespräch brauchte er definitiv Alkohol. Er sah sich um. »Vom Service scheint man hier nicht so viel zu halten.«
Steffen schaute auf die Uhr. »Fast fünfzehn Minuten, seit wir die Getränke bestellt haben. Frau Schuck hat gesagt, dass sie händeringend Kellner suchen. Vielleicht hast du Glück ...«
»Noch ist es ja nicht so weit.« Paul beugte sich über den Tisch, obwohl ihre Nachbarn zu beiden Seiten in einem angenehmen Abstand zu ihnen saßen. Für ein Szenelokal mitten in der Stadt eher selten. Zu viel Platz war Geldverschwendung. »Im Ernst. Wie schlimm ist es?«
Die Kerzenflamme schimmerte in Steffens dunklen Augen, aber dahinter schien noch etwas anderes aufzuflackern, das Paul nicht zuordnen konnte. »Es ist nicht nur das Café. Es ...« Seufzend brach er ab und fuhr sich wieder durch die Haare. Diesmal wirkte die Geste weniger frustriert als verzweifelt. Außerdem stellte Paul überrascht fest, dass Steffen seinem Blick auswich. »Scheiße. Ich hab ... in meinem Leben den einen oder anderen Fehler gemacht. Und einer davon beißt mir gerade kräftig in den Arsch.«
»Was für Fehler?«
Die Frage war ihm zu schnell herausgerutscht. Als wäre er ein neugieriger Klatschreporter auf der Suche nach der nächsten Schlagzeile zum Ausschlachten. Er konnte förmlich zusehen, wie Steffen sich wieder fing. Verdammt. Dabei ging es gar nicht um Sensationsgier. Fehler schienen das Motto der Woche zu sein.
»Fehler eben«, wiegelte Steffen ab und lehnte sich demonstrativ zurück, als endlich eine atemlose Kellnerin an ihren Tisch trat und zwei Bier brachte. »Das wurde aber auch Zeit.«
»Entschuldigung.« Die junge Frau blieb freundlich, war mit ihren Gedanken aber offensichtlich schon beim nächsten Tisch. Auf ihrem Tablett standen noch zwei Biergläser, ein Rotweinglas, zwei Cocktails und drei Cola. »Aber Sie sehen ja, was hier los ist.«
»Da wäre vielleicht Verstärkung im Service ganz angebracht.«
Paul verdrehte die Augen. Wollte Steffen ihn gleich hier und jetzt weitervermitteln?
»Oh, wenn Sie Interesse haben, sprechen Sie einfach mit Javier, unserem Barkeeper. Der leitet das dann weiter. Sie haben ja keine Ahnung, wie schwer es ist, gute Leute zu finden.« Aus dem Augenwinkel fing sie ein Handzeichen von einem der anderen Tische auf. »Ich muss weiter. Wegen der Bestellung komme ich gleich noch mal.« Damit wuselte sie davon.
Steffen nickte ihr hinterher. »Deine potentielle, neue Kollegin. Du hast sie gehört. Sprich mit Javier an der Bar.«
»Könntest du aufhören, so zu tun, als wäre das Café schon zu?«
»Ich will nur, dass du gut unterkommst. Im Fall der Fälle.«
Paul zog sein Bier zu sich heran, prostete Steffen stumm zu und trank in langen Zügen. Zumindest schien Javier einen Zapfhahn bedienen zu können. »Wenn du mir sagst, worum es geht, kann ich vielleicht helfen.«
Steffen schnaubte und griff ebenfalls nach seinem Bier. »Es geht darum, dass kein Geld in der Kasse ist.«
Okay, offensichtlich wollte Steffen genauso wenig über seine Fehler reden wie Paul über seine. Da er hinsichtlich Adrian nicht nachgebohrt hatte, sollte Paul es auch auf sich beruhen lassen. »Was ist mit einem Kredit bei der Bank? Oder von Freunden, Bekannten, Verwandten?«
Steffen schüttelte den Kopf, ging aber nicht weiter darauf ein. Möglicherweise hatte er das schon versucht oder es stand so schlecht um ihn, dass ein Kredit von vornherein ausgeschlossen war.
Dann sollte Paul tatsächlich mal mit Javier plaudern. Hoffentlich stellte das Bistro Pan Vollzeit-Servicekräfte ein.
»Und wenn wir was am Café optimieren? Doch die Karte ändern, neue, preisgünstigere Gerichte ... oder irgendwelche Werbemaßnahmen, die nicht so viel kosten? So was kann man bestimmt googeln. Wie wär’s mit –«
»Paul. Lass gut sein. Das kratzt nur an der Oberfläche.«
»Und was liegt darunter?«
»Jede Menge Scheiß.« Er kippte sein Bier zur Hälfte hinunter.
Jede Menge Scheiß. Wie zutreffend das doch war. Unter der Oberfläche der Familie Ritter schien sich auch einiges davon angesammelt zu haben.
»So schlimm kann es nicht sein.«
»Stimmt. Es ist schlimmer.« Er verzog das Gesicht. »Lass uns nicht darüber reden. Das zieht mich runter. Wie findest du die Einrichtung? Alles in allem etwas düster, oder?«
Paul hatte nicht die geringste Lust, über die Einrichtung des Bistros zu sprechen. Jede Einrichtung sah besser aus als Steffens. Das wusste Steffen genauso gut wie er.
»Du willst an der spannendsten Stelle ablenken, nachdem du mich so neugierig gemacht hast?«
Steffen trank noch einen Schluck, als müsste er seine nächsten Worte abwägen. »War keine Absicht. Es kommt nur gerade alles zusammen.«
»Falls es dich beruhigt, ich glaube, ich habe auch einen Fehler gemacht.« Verflucht. Warum zum Teufel musste er immer plappern wie ein Wasserfall? Er hatte das Gefühl, zu platzen, wenn er mit niemandem redete.
»Indem du dich auf Hack eingelassen hast? Zweifellos. Die Stimmung bei euch ist gerade mal wieder sehr angespannt.« Steffen verengte die Augen und beugte sich vertraulich vor. »Er hat dir nichts getan, oder?«
»Nein. Wieso denkst du das nur immer?«
»Weil er ein großer, muskulöser Straftäter auf Bewährung ist und obendrein den sprechenden Spitznamen Hack trägt, vielleicht?«
»Hack hat damit nichts zu tun. Na ja. Nicht direkt.«
»Und indirekt?«
Obwohl Steffen ihn abwartend ansah, griff Paul zunächst nach seinem Bier. Gott, er konnte doch nicht mit Steffen, seinem Chef, darüber reden, wenn er noch nicht einmal mit Hack gesprochen hatte. Nicht, dass er es nicht versucht hätte. Aber in einer Nachricht schien er nicht die richtigen Worte zu finden – ganz zu schweigen davon, dass es zwanzigtausend Gründe gab, dieses Gespräch nicht über WhatsApp oder das Handy zu führen. Und Hack hatte ihn eh nicht zurückgerufen. Praktischerweise hatte er sich heute im Viereck krankgemeldet.
Unschlüssig drehte Paul das Bierglas in seinen Händen, wobei er sich Steffens zunehmend irritierten Blicks bewusst war. Anwälte waren auf ihre Klienten angewiesen und normalerweise wurden sie auch von ihnen ausgewählt. Natürlich gingen die Klienten mit dem meisten Dreck am Stecken zu den besten Anwälten, um die größtmöglichen Chancen vor Gericht zu haben. Das war normal.
Und trotzdem hatte gestern Nacht Clemens in seiner Wohnung gestanden, nachdem er ihn von drei Typen hatte verfolgen lassen, und ihm zwanzigtausend Euro geboten. Einfach so. Aus der Portokasse hatte er die bestimmt nicht.
Die Kellnerin erschien, um ihre Bestellung aufzunehmen. Sie teilten sich einen Fingerfood-Vorspeisenteller, Steffen nahm den Zander, von dem ihm Frau Schuck vorgeschwärmt hatte, Paul ein Nudelgericht, obwohl ihm der Appetit zwischenzeitlich vergangen war.
Als sie wieder allein waren, fragte Steffen: »Geht es um die Sache mit Adrian?«
»Nein.« Paul holte tief Luft. »Sagt dir der Name Lewerenz was?«
Steffen runzelte die Stirn. »Vage. Ist der nicht immer mal wieder wegen diverser dubioser Sachen in den Schlagzeilen?«
»Hm-hm. Aber bisher ist er immer mit einem blauen Auge davongekommen.«
»Schön für ihn. An solchen Kerlen bleibt einfach keine Scheiße haften«, sagte Steffen grimmig, als würde er genug Scheiße für zwei Leben mit sich herumschleppen. »Wieso fragst du? Hat er eine Biografie rausgebracht, die man lesen muss? Der neue Platz eins der Bestsellerlisten?«
»Er wird von der Anwaltskanzlei Ritter vertreten.«
»Hab ich was verpasst? Brauchen wir jetzt schon einen Anwalt?«
»Hack ist ein Ritter. Ich meine, Hack ist Thomas Ritter. Sein Vater und sein Bruder arbeiten in der Kanzlei.«
Steffen blinzelte, als müsste er die Information erst einmal sacken lassen. »Sie scheinen nicht so gut zu sein, wenn sie nicht mal ein Familienmitglied anständig verteidigen können. Weißt du eigentlich inzwischen, was Hack verbrochen hat?«
»Ja. Aber nichts Schlimmes. Zumindest wurde er in meinen Augen nicht fair behandelt.«
»Aha. Und das hat was mit Lewerenz zu tun?«
»Nein. Keine Ahnung. Ich hoffe nicht.« Seufzend starrte Paul in die Kerzenflamme. Ihm gefiel diese Verbindung nur nicht. Und wenn er dem einen oder anderen Artikel im Internet glauben konnte, sah es auch die Staatsanwaltschaft skeptisch, dass Lewerenz wöchentlich mit Arthur und Clemens Ritter Golf spielte oder sie ins Rausch der Sinne einlud.
Er war überzeugt, dass Hack diese Verbrüderung genauso wenig gefiel. Nicht bei seiner eisernen Auffassung von Recht und Unrecht, die er am strengsten bei sich selbst anwandte. Wenn Lewerenz nicht schon seit Jahren Klient der Kanzlei Ritter gewesen wäre, wäre Paul sicher gewesen, dass er der Grund für die Familienprobleme war.
»Und was hast du jetzt möglicherweise für einen Fehler gemacht? Hack ist doch kein Anwalt, oder? Geht so was mit einer Vorstrafe überhaupt?«
Paul zuckte die Schultern. »Keine Ahnung.«
»Dann ist doch alles gut. Hack hat nichts mit Lewerenz zu tun und mit seiner Familie scheinbar auch nicht, wenn er inkognito im Viereck arbeitet.« Steffen betonte das Wort auf eine leicht abfällige Art, die an Clemens‘ erinnerte.
»Nein, stimmt. Hack wahrscheinlich nicht.«
Aber ich. Weil ich gestern dummerweise zwanzigtausend Euro von Hacks Bruder abgelehnt habe, die vermutlich aus Lewerenz‘ dubiosen Geschäften stammen.
*
Selbst fünfzehn Meter vom Eingang des Genesis entfernt, wummerte der Bass in Pauls Bauch. Aus dem Inneren drang ein David Guetta-Remix. Vor der Tür standen mehrere Partyfans in kleinen Grüppchen zusammen, rauchten, lachten und tranken oder warteten mit dem Handy im Anschlag auf Nachzügler. Die meisten wirkten auf den ersten Blick jünger als Paul. Dafür kam ihm einer der beiden Türsteher erschreckend bekannt vor. Durch ihn hatte Paul das eine oder andere Hinterzimmer des Genesis kennengelernt.
Paul war schon lange nicht mehr hier gewesen. Nach der Sache mit Adrian hatte er versucht, ihm aus dem Weg zu gehen, und alle Orte gemieden, an denen er sich gerne aufhielt. Leider gehörte so ziemlich jeder Schwulenclub der Stadt dazu.
Er würde auch jetzt nicht reingehen. Er wollte nicht riskieren, jemandem zu begegnen, den er kannte, weshalb er sich auf der anderen Straßenseite im Schatten eines Gebäudes herumdrückte. Nachdem sie festgestellt hatten, dass es beim Bistro Pan bis auf den etwas schleppenden Service nichts zu beanstanden gab, hatten Steffen und er sich an der U-Bahnstation Lehel getrennt und Paul war einfach losgelaufen, ohne auf seine Umgebung zu achten.
Witzig, dass er ausgerechnet vor dem Genesis gelandet war.
Wieder zog er sein Handy aus der Jackentasche. Keine Nachrichten, keine verpassten Anrufe. Verdammt noch mal, Hack. Sein Daumen schwebte über dem Anruf-Button. Ein letztes Mal. Nach dem dritten Klingeln landete er auf der Mailbox. Er war sicher, dass Hack ihn weggedrückt hatte, weil es schon mal länger geklingelt hatte, bis er diese dämliche Ansage gehört hatte.
Paul, 23:38 Uhr
Ich komme jetzt bei dir vorbei. Und wenn du mir nicht aufmachst, tret ich die Scheißtür ein.
Nichts. Auch kein Hinweis darauf, dass er die Nachricht gelesen hatte. Wahrscheinlich hatte er die Funktion ausgestellt.
Entschlossen steckte er das Handy weg und wollte sich gerade in Bewegung setzen, als ihm inmitten des Partyvolks auf der anderen Straßenseite ein vertrautes Gesicht entgegenblickte: der Bürstenhaarschnitt.
Paul biss die Zähne zusammen und versuchte, zu ignorieren, dass sich sein Herzschlag beschleunigte. Stattdessen konzentrierte er sich auf seine Wut. Clemens wusste, wo er wohnte und arbeitete, warum zur Hölle zog er die Rottweiler nicht endlich von ihm ab? Und wie konnte irgendjemand so schlecht im Beschatten sein, dass sie Paul jedes Mal ins Auge sprangen?
Das machen sie mit Absicht. Damit du langsam durchdrehst.
Paul lief los, ohne sich noch einmal umzudrehen. Trotzdem beschlich ihn auf dem Weg zur U-Bahn jedes Mal ein seltsam kribbeliges Gefühl, wenn er sich allein in einer Nebenstraße befand, und ertappte sich dabei, wie er gelegentlich über die Schulter blickte. Sobald er wieder unter Leuten war, machte sein Herz einen erleichterten Hüpfer. Scheiße. Wenn das so weiterging, musste Clemens sich keine Gedanken mehr machen, wie Paul aus Hacks Leben verschwinden könnte. Dann würde er einfach an einem verfluchten Herzanfall krepieren.
Als er in die U-Bahn stieg, studierte er seine Mitfahrer wie ein Polizist auf der Suche nach einem Terroristen. Vier Frauen in einem Vierer lästerten lauthals über eine Marie und strömten einen Geruch wie eine ganze Douglas-Filiale aus. Der Duft vermischte sich mit dem Gestank nach fettigen Burgern und Pommes, weil sich zwei junge Männer über eine riesige McDonald’s-Tüte hermachten. Sonst fiel ihm niemand unangenehm auf.
Trotzdem griff er wieder zum Handy.
Paul, 23:47 Uhr
Ich werde verfolgt.
Aha, und sofort fing Hack an zu schreiben.
Hack, 23:47 Uhr
Er folgt?
Hack, 23:48 Uhr
Verfolgt?
Hack, 23:52 Uhr
Paul?
Als sein Handy nur eine Minute später zu vibrieren anfing und einen Anruf von Hack anzeigte, erwog Paul für den Bruchteil einer Sekunde, nicht dran zu gehen. Verdammt, genau das hatte er eigentlich nicht gewollt. Er wollte nicht, dass Hack aus Sorge um ihn diese bescheuerte Idee von Abstand begrub, sondern weil er ihn genauso sehr vermisste wie umgekehrt. Weil er sich nach ihm sehnte. Nicht, weil er sich verpflichtet fühlte.
Als er den Anruf annahm, kam er kaum zu einer Begrüßung, bevor Hack fragte: »Bissu sicher? Dassu verfolgt wirst? Wer isses? Beschreib ihn mir!«
Paul merkte erst, dass er die junge Frau mit den blutroten Lippen im Vierer ihm gegenüber anstarrte, als sie ihn anzischte: »Was glotzt du so?«
Er nuschelte eine Entschuldigung und drehte sich leicht weg, als hätte ihm Hack am Telefon gerade einen Mord gestanden. »Bist du ... bist du betrunken?«
Hack war nie betrunken. Weil er nie zu viel trank. Weil er ständig befürchtete, die Kontrolle zu verlieren.
»Nein. Wer?«
»Warum lallst du dann?«
»Tu ich nich‘. Paul, wer verfolgt dich?«
»Ist die viel wichtigere Frage nicht: Wieso?«
»Wieso, weshalb, warum, scheißegal. Bissu sicher?«
»Ziemlich. Immerhin ist dein Bruder gestern Nacht auf einen Spontanbesuch bei mir vorbeigekommen. Wenn du ihm nicht gesagt hast –«
»Clemens war bei ...?« Im Hintergrund krachte irgendetwas, gefolgt von einem Klirren, als würde Glas zersplittern, und einem erschrockenen: »Tom!«
Paul erstarrte. Eine Männerstimme, die er noch nie gehört hatte. »Wer war das? Wo bist du?«
»Zu Hause.«
Zu Hause. Hack ging zu ihm auf Abstand, ignorierte seine Anrufe und Nachrichten und wollte ihm wieder mal nicht sagen, was los war. Aber er hatte einen Mann zu Besuch, mit dem er sich offensichtlich die Kante gab, obwohl er eigentlich krank war. Oder war er krank, um Zeit für seinen Besuch zu haben?
Pauls Brust schnürte sich zusammen. Sekundenlang blieb ihm einfach die Luft weg, sodass bereits schwarze Punkte vor seinen Augen zu tanzen begannen. Dann schnappte er hektisch wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft. Scheiße. Noch nie – noch nie – hatte er in einer Beziehung einen so heftigen Besitzanspruch verspürt – und so ekelhafte Eifersucht.
Ha, wie auch? Das hier war seine erste richtige Beziehung. Falls man das überhaupt so nennen kann.
»Und wer ist bei dir?«, würgte er heraus, als der Druck auf seine Lungen nachgelassen hatte.
»Ein Freund.«
Also hatte er doch welche. Was auch immer Freund bei Hack bedeutete. Vielleicht war Paul auch nur ein Freund. Ein beschissener Freund mit gewissen Vorzügen.
»Komm her«, sagte Hack als Nächstes und es klang eher wie ein Befehl.
»Ob du’s glaubst oder nicht, ich bin schon auf dem Weg.«
»Gut.« Kleidung raschelte. »Ich hol dich ab. Wann kommsu an?«
*
Als die U-Bahn in Hadern einfuhr, stand Paul schon an der Tür. Auf seiner Seite der Station war nicht viel los, da die meisten Leute Richtung Innenstadt wollten und am anderen Gleis warteten. Es hätte jedoch auch von Menschen wimmeln können, Paul hätte Hack trotzdem sofort gesehen.
Scheiße. Hatte er wirklich vergessen, wie groß, breitschultrig und gefährlich Hack aussah, oder lag das an seiner verdammten Sehnsucht? Wie ein Racheengel stand er mitten auf dem Bahnsteig und starrte die hereinfahrende U-Bahn an, als würde er auf eine arme, zu bestrafende Seele warten.
Pauls Herz hämmerte und die Finger, die er bereits auf die Türgriffe gelegt hatte, wurden schwitzig. Verdammt. Reiß dich zusammen. Du bist wütend. Du willst Antworten. Alles andere kann warten.
Als die U-Bahn anhielt, strömte Paul zusammen mit einer Handvoll Fahrgäste auf den Bahnsteig hinaus. Sofort landete Hacks Blick auf ihm, als würde Paul ein blinkendes Leuchtschild um den Hals tragen. Oh Scheiße.
Sein Magen zog sich zusammen. Hitze schoss ihm ins Gesicht und in den Unterleib. Die U-Bahnstation um ihn herum verschwand und zurück blieb nur das Feuer in Hacks dunklen Augen. Selbst auf die Entfernung spürte Paul, wie es ihm die Haut versengte, ihn gnadenlos verschlang.
Er hatte keine Chance.
Hack ähnelte einem Kriegsherr auf Beutezug, als er sich einen Weg durch die Menschen bahnte. Sein Blick nagelte Paul an Ort und Stelle fest, während er mit jedem Schritt größer, bedrohlicher, realer wurde. Paul öffnete den Mund, um etwas zu sagen – Bleib stehen. Komm her. Schneller. Fick mich. Jetzt. Lass uns reden. Ich hab dich so vermisst.
Die Worte zerfielen zu Staub, als Hack ihn erreicht hatte und an sich riss. Sämtliche Luft wurde aus Pauls Lungen gepresst. Er spürte Hacks stahlharte Brust an seiner, seine starken Arme, die ihn wie Schraubstöcke umschlossen und an seinen muskulösen Körper drückten, als versuchte er, aus zwei Wesen eins zu machen. Er stank nach Whiskey und Zigaretten, als hätte er in den letzten zwei Tagen nichts anderes zu sich genommen.
»Paul.« Rau. Belegt.
Paul erschauerte.
Hacks Atem strich warm über Pauls Haut, wo er das Gesicht an seinem Hals vergraben hatte. Er hätte ewig so stehen bleiben können, allerdings ...
»Hack. Du erdrückst –«
Augenblicklich wurde er losgelassen. Er hatte jedoch keine Zeit, sich zu fangen. Hack umfasste sein Gesicht mit beiden Händen und presste seine Lippen auf Pauls, gierig, sehnsüchtig, verzweifelt. Seine Zunge fand Pauls und bevor er sich Gedanken um den Rauchgeschmack machen konnte, fluteten Emotionen seinen Verstand.
Gott. Er versuchte, wieder Oberwasser zu gewinnen. Nicht zusammenzubrechen und Hack mit sich zu ziehen, denn wenn sie einmal in der Waagerechten waren, Hack auf ihm ... Er konnte Hack nicht mitten auf dem beschissenen Bahnsteig bespringen, verflucht.
Wie aus weiter Ferne hörte er Pfiffe und johlendes Gelächter. Doch als er versuchte, sich dem Kuss zu entziehen, knurrte Hack und packte ihn fester. Etwas hatte sich verändert. Und das lag nicht nur an der Erektion, die sich gegen ihn drückte. Die Verzweiflung war in Leidenschaft umgeschlagen. Lust pulsierte durch seine Adern. Pauls Schwanz wurde so schnell hart, dass es ihm den Atem raubte.
»Paul«, murmelte Hack zwischen zwei Küssen, ohne Paul loszulassen. Immer noch heiser. Immer noch voller Zwischentöne.
Paul stöhnte und krallte seine Finger in Hacks Jacke. Er war nicht sicher, ob er ihn wegschieben oder näher an sich ziehen wollte.
Hack nahm ihm die Entscheidung ab und beendete den Kuss. Paul wimmerte.
»Verdammt.«
Hacks Lippen waren zurück auf Pauls, aber nur kurz, viel zu kurz. Der leichte Hauch war schlimmer, als wenn er sich gleich ganz zurückgezogen hätte. Der Blick seiner dunklen Augen brannte sich in Pauls. Er bildete sich ein, unter all dem Feuer tiefe Zuneigung zu entdecken. Vielleicht ... vielleicht sogar mehr. Seine Kehle wurde eng. War es das, was Beate gemeint hatte?
»Hack, ich ...« Scheiße. Warum war das so verflucht schwer? »Was ...« Er räusperte sich. »Was ist eigentlich los?«
Hack griff nach seiner Hand. Einen Moment schien er um Worte zu ringen, dann sah er sich um. »Wer hat dich verfolgt?«
Im Gegensatz zu eben am Telefon klang er schon wieder nüchterner. Vielleicht hatte ihm der Gang zur U-Bahn den Kopf durchgelüftet. Dafür hatte Paul nun das Gefühl, als würde in seinem Kopf eine Nebelbank festhängen.
»Ich ...«
»Paul. Wer hat dich verfolgt? Wie sah er aus? Ist er noch hier?«
Zum ersten Mal, seit er Hack gesehen hatte, nahm Paul seine Umgebung wieder wahr. Einige der wartenden Fahrgäste am anderen Gleis beobachteten sie unverhohlen neugierig, andere zurückhaltender. Die meisten waren mit ihrem Handy beschäftigt oder ins Gespräch vertieft. Alle, die mit Paul ausgestiegen waren, hatten die U-Bahn-Station längst verlassen. Kein bekanntes Gesicht weit und breit.
Er wandte sich Hack zu. »Wer war vorhin bei dir, als ich angerufen habe?«
»Ein Freund. Hab ich doch schon gesagt. Ist der Typ mit dir hier ausgestiegen?«
Ja, ein Freund, in dessen Gegenwart er sich sicher genug fühlte, um sich zu betrinken. »Was für ein Freund? Ist er Krankenpfleger? Oder Arzt?«
»Was? Nein.«
»Warum war er dann bei dir zu Hause? Du bist gar nicht krank, oder?«
»Scheiße. Ist das dein Ernst? Du bist in so einer Situation eifersüchtig?«
»In was für einer Situation befinde ich mich denn? Vielleicht klärst du mich zur Abwechslung mal auf.«
Fluchend wandte sich Hack ab und fuhr sich durch die Haare. Dann griff er nach Pauls Hand und zog ihn Richtung Ausgang. »Hauen wir hier ab.«
Zunächst wollte sich Paul gegen den Zug stellen, ließ sich dann jedoch mitziehen. Ein bisschen Privatsphäre war vielleicht nicht schlecht, obwohl er außer dem Bürstenhaarschnitt keine Verfolger bemerkt hatte.
»Sie haben mich hauptsächlich gestern verfolgt«, sagte Paul, als sie an die Oberfläche traten und Dunkelheit sie umfing. »Heute weiß ich’s nicht genau.«
Hack blieb abrupt stehen. »Sie?!«
»Es waren drei.«
»Drei.« An Hacks Schläfe begann, eine Ader zu pochen, was die dicht daneben liegende Narbe zucken ließ. Er beugte sich zu Paul hinunter, sodass sein Whiskeyatem über sein Gesicht strich. Der kalte Ausdruck in seinen Augen hätte Clemens‘ Konkurrenz machen können. »Wer?«
Seufzend gab Paul eine knappe Beschreibung des Glatzkopfs, des Pferdegebisses und des Bürstenhaarschnitts ab. Hack schien alle zu kennen. Doch obwohl seine Kieferknochen zornig hervortraten, wirkte er erleichtert.
Er setzte sich wieder in Bewegung und zog Paul mit sich. »Gehen wir erst mal zu mir.«
*
Hacks kleine Wohnung im zwölften Stock sah aus wie immer – allerdings roch es wie an Weihnachten durchdringend nach Whiskey. Eine fast leere Flasche des schrecklichen Laphroaig stand auf dem niedrigen Couchtisch, daneben ein Glas. Ein zweites lag zerbrochen am Boden bei der Küchenwand. Über allem schwebte ein leichter Rauchgestank, als hätte Hack stundenlang in der offenen Balkontür gestanden und geraucht.
Auch jetzt steuerte er den Balkon an, nachdem er Jacke und Schuhe ausgezogen hatte. Er griff nach einer halbleeren Packung, die auf dem Fensterbrett lag, und zog eine Zigarette heraus, ehe er zögerte.
»Willst du was trinken?«, fragte er über die Schulter, ohne Paul anzusehen. »Whiskey?«
»Nein.« Paul trat zu ihm und versuchte, Hacks Blick einzufangen, der seinem entschieden auswich. Verflucht. Am Bahnsteig hatte er ihn noch mit Blicken aufgefressen. »Ich will, dass du mir sagst, was los ist.«
Hack tippte mit der Zigarette auf die Schachtel, bevor er sie sich zwischen die Lippen klemmte. »Das ist nicht so einfach.«
»Du hältst mich also für zu blöd, um es zu verstehen?«
»Nein, das ...« Hack spähte in die Zigarettenschachtel und klopfte die Taschen seiner Jeans ab. »Wo zum Teufel ist das Feuerzeug?«
»Keine Ahnung.« Paul schnappte ihm die Zigarette weg, die zwischen seinen Lippen wippte, zerdrückte sie und warf sie zu Boden. »Ist mir auch scheißegal. Warum zur Hölle bietet mir dein Bruder Geld an, damit ich mich von dir trenne?«
Hack starrte ihn an. »Er hat ... er hat was?«
»Mir Geld angeboten. Deshalb war er gestern Nacht bei mir.«
»Er war bei dir«, wiederholte Hack wie ein Papagei.
»Ja. Nachdem er mich den ganzen Abend lang von diesen drei Typen hat verfolgen lassen. Er hat’s zwar nicht direkt zugegeben, aber es war offensichtlich.«
»Er wollte dir Angst machen.« Mit bloßen Füßen trat Hack gegen den Rahmen der Balkontür und zerquetschte die Zigarettenpackung in der geballten Faust.
»Tja.« Paul wollte nicht zugeben, dass Clemens das bis zu einem gewissen Grad gelungen war. Er hatte sich noch nie so beobachtet gefühlt, wenn er in der Stadt unterwegs war. So ... unsicher. »Er ist definitiv kein angenehmer Mensch.«
»Nein.«
»Und er scheint sich in den Kopf gesetzt zu haben, dass du in den Schoß der Familie zurückkehrst, wenn ich mich von dir trenne. Angefangen bei der Geburtstagsfeier deines Vaters.«
Das schien Hack mehr zu erschüttern als das unmoralische Angebot, weil er gegen das Fensterbrett sackte, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggerissen. Wieder fummelte er eine Zigarette aus der zerbeulten Packung. Paul musste zweimal hinsehen, um zu glauben, dass seine Finger zitterten. Ein ekelhafter Druck nistete sich in seinem Bauch ein und schien mit jeder Sekunde zu wachsen und auf Herz und Lunge zu drücken. Er würde Hack so gerne helfen, trösten, beruhigen. Aber er wusste nicht wie, wenn er seine verdammte Klappe nicht aufbekam.
Er legte Hack eine Hand auf den Arm. Die Muskeln darin waren angespannt wie Drahtseile. »Hack.« Wieder suchte er erfolglos nach seinem Blick, der wie magnetisch an der Zigarettenpackung klebte. »Erklär’s mir. Was ist los?«
Hack atmete tief durch. »Wie viel?«
»Zwanzigtausend.«
»Verdammt.« Dann schienen sämtliche Muskeln in seinem Körper auf einmal zu reißen. Er schleuderte die Zigaretten weg und raufte sich die Haare. »Du hättest es annehmen sollen.«
Das tat unerwartet weh und brachte Paul einen Moment ins Wanken. Er schluckte, damit ihn seine Stimme nicht verriet. »Sag bloß, das hätte dich dazu gebracht, Kontakt zu deiner Familie aufzunehmen, die du angeblich so sehr hasst? Denn das ist es offensichtlich, was Clemens will.«
»Nicht nur er.«
»Aha. Und warum glauben sie, mich dazu loswerden zu müssen?«
Hacks Kopf fuhr herum. »Sag so was nicht.«
»Warum nicht? Genau so ist es doch.« Paul verschränkte die Arme vor der Brust. »Anstatt mich kennenzulernen, wollen sie mich gleich loswerden.« Ihm wurde noch immer übel bei dem Gedanken, was Clemens vorgeschlagen hatte, um sich von Hack zu trennen: ihn betrügen. Sich beim Sex mit einem anderen erwischen lassen. Das wäre keine einfache Trennung gewesen. Zumindest nicht für ihn. Aber vielleicht hätte es Hack nur halb so sehr verletzt, wie Paul dachte.
Hack schnaubte. »Glaub mir, du willst sie nicht kennenlernen.«
»Warum? Weil ich dann auch Konrad Lewerenz begegnen könnte?«
Hack erstarrte. »Du hast ...«
»Ein bisschen gegoogelt, ja.«
Ein Schatten huschte über Hacks Züge. Er presste die Lippen zusammen, als würde ihm etwas auf der Zunge liegen, sagte jedoch nichts.
»Ich weiß, ich habe gesagt, dass es mir egal ist. Ist es auch immer noch. Aber nachdem Clemens mit zwanzigtausend Euro in meiner Wohnung stand, war ich ziemlich aufgebracht.« Er konnte nicht verhindern, dass sich ein kleiner Vorwurf in seine Stimme schlich. »Und du wolltest ja Abstand.«
Hack schüttelte den Kopf. »Du musst damit aufhören.«
»Womit?«
»Zu googeln. Informationen zu sammeln. Nachforschungen anzustellen.«
Verärgert warf Paul die Hände in die Luft. »Darum geht es dir? Dass ich dir manche Dinge nicht langwierig aus der Nase ziehen muss, sondern sie selbst im Internet recherchiere? Wo diese Sachen übrigens für jedermann gut lesbar stehen. Wenn auch eher als Spekulation. Die Anwaltskanzlei Ritter macht gemeinsame Sache mit Münchens schwarzem Schaf Konrad Lewerenz.«
»Du bist nicht jeder«, knurrte Hack und das Grollen schien Paul wie eine Welle zu überrollen und etwas in ihm zum Klingen zu bringen. »Also hör auf damit.«
»Sonst was?«
Hacks Kiefer mahlten, als würde er auf der Antwort herumkauen. Dann schloss er die Augen. »Warum hast du das Angebot nicht einfach angenommen?«
Autsch. Schon wieder. War das nicht offensichtlich, verdammt noch mal? Paul würgte die Frustration hinunter. »Du willst also, dass ich mich von dir trenne?«
»Nein, verdammt!« Hack stieß sich von der Fensterbank ab und packte Paul so fest an den Oberarmen, dass es wehtat. »Ich will, dass dir nichts passiert, zum Teufel!« Er verstärkte den Griff. »Ich hab versucht, Clemens von dir abzulenken, damit er nicht merkt, wie wichtig du mir bist. Aber er hat sich trotzdem auf dich gestürzt.«
Seine Finger gruben sich so fest in Pauls Arme, dass er sich bei jedem anderen losgerissen hätte. Bei Hack ließ er es zu. Er hatte keine Angst, dass es ausarten könnte. Im Gegenteil. Bei Hack sagte diese Überreaktion so viel mehr aus. Bei ihm fühlte er sich sicher, egal, wie wütend er war, wie bedrohlich er sich gab. Außerdem ...
Wie wichtig du mir bist.
»Und du fängst an zu googeln. Wenn du auch nur ein bisschen was von dem Zeug im Internet gelesen hast, weißt du, wie gefährlich Lewerenz ist. Also lass die Finger von ihm. Von uns. Von mir.« Sein Blick bohrte sich in Pauls, als wollte er ihm die Worte ins Gehirn meißeln.
Paul zuckte die Schultern. »Ich steh auf gefährlich.«
Hack gab ein abgehacktes Geräusch von sich, halb wütendes Schnaufen, halb verzweifeltes Stöhnen. »Das ist nicht witzig. Und es ist auch nicht dasselbe wie ... wie bei mir.«
Abrupt ließ er Paul los und wandte sich ab. Paul konnte förmlich sehen, wie er die Mauern wieder hochzog. Verflucht. Nicht schon wieder.
»Glaubst du wirklich, ich würde jetzt die Finger von dir lassen, nachdem ich zwanzigtausend Euro abgelehnt habe, nur weil du mal wieder einen auf unheilvoll und mysteriös machst?«
»Ich mache keinen ...« Hack raufte sich die Haare. »Du hast keine Ahnung.«
»Dann sag’s mir, verdammt noch mal. Ich weiß nicht, was ich noch tun oder sagen muss, damit du mir endlich vertraust.«
Hack blitzte ihn an. »Das hat nichts mit Vertrauen zu tun.«
»Oh, offensichtlich doch. Du vertraust mir nicht und du traust mir auch nichts zu. Ich bin schon groß, ich kann’s verkraften.«
Hack verzog das Gesicht zu einem bitteren Feixen. »Allein das zeigt, dass du keine Ahnung –«
»Dann sag –«
Hack schoss so schnell auf ihn zu, dass Pauls Herz ein paar Schläge übersprang. »Ich kann dir nichts sagen, weil du sonst beim nächsten Mal keine zwanzigtausend Euro angeboten bekommst, sondern verschwindest, ohne je wiedergefunden zu werden.«
Was ...? Paul blinzelte. Nur langsam sickerten die Worte in sein Bewusstsein. Eisige Kälte kroch seine Wirbelsäule hoch und wurde nur von der Hitze in Schach gehalten, die Hacks Körper direkt vor ihm ausstrahlte.
»Und?«, wollte Hack mit rauer Stimme wissen. »Ist dir das gefährlich genug?«
Paul starrte ihn an und hatte vergessen, wie man sprach. Das erklärte einiges – und doch viel zu wenig. Von Anfang an hatte Hack diese bedrohliche Aura umgeben, hatte sie sogar mit allen Mitteln genährt, obwohl sie gleichzeitig nicht richtig zu ihm zu gehören schien. Kein Wunder, offenbar versuchte er, den Einfluss seiner Familie abzuschütteln.
Die Verurteilung. Diese Wohnung. Der Kontaktabbruch. Scheiße, vielleicht sogar sein Name. Ein Großteil der Leute aus der Gegend rund um das Viereck und Steffens Café wussten wahrscheinlich nicht mal, wie er richtig hieß. Die erfolgreiche Anwaltskanzlei Ritter, die es nicht geschafft hatte, den eigenen Sohn vor einer Verurteilung zu bewahren, obwohl die Umstände auch zu seinen Gunsten hätten ausgelegt werden können – weil Hack hatte verurteilt werden wollen. Daher seine Vorsicht, dieses ständige Hin und Her, seine Verschwiegenheit – auch und vor allem Paul gegenüber.
Weil er Angst hat.
Pauls Gedanken rasten. Und all das nur wegen ... was? Seiner Familie, die buchstäblich über Leichen ging, die Lewerenz freundlicherweise entsorgte?
Gott. Hab ich das gerade wirklich gedacht?
Hack wandte den Blick ab und wich zurück. »Vielleicht ist es besser, wenn du jetzt gehst.«
Bevor er außer Reichweite war, griff Paul nach seiner Hand. Es war keine bewusste Entscheidung, nicht mal eine bewusste Bewegung. Eher so was wie Atmen. Es passierte einfach.
Trotzdem war er erleichtert, als Hack ihn nicht abschüttelte. Seine Hand fühlte sich heiß in seiner an. Riesig. Beschützend. Er musste an gemütliche Sofaabende und gleichzeitig an leidenschaftliche Stunden im Bett denken. An nichts anderes. Alles andere war unwichtig.
»Tu das nicht. Schließ mich nicht wieder aus.«
Hack wandte sich ihm wieder zu. Sein Blick wirkte so gequält, dass es Paul das Herz zusammenquetschte. »Ich will dich überhaupt nicht ausschließen.«
»Trotzdem tust du es andauernd.«
»Weil ... hast du mir überhaupt zugehört?«
»Jedes Wort.« Er legte den Kopf in den Nacken und schaute Hack an, der so dicht vor ihm stand, dass er die geweiteten Pupillen in dem dunklen Braun erkennen konnte. »Hast du das ernst gemeint?«
»Verdammt, ja. Glaubst du, ich denke mir so was –«
»Dass ich dir wichtig bin?«
Hack klappte den Mund zu. In seinen Augen flackerte es und seine Gesichtszüge wurden weich. »Gott, Paul. Musst du das wirklich fragen?«
Ja, weil er es hören musste. Und nein, weil er es spätestens jetzt wusste.
Hack löste seine Hand aus seiner und umfasste sanft sein Gesicht. »Du bist mir sehr wichtig«, flüsterte er. »Du ahnst nicht, wie sehr. Und deshalb will ich auch nicht ...« Zärtlich strich er mit dem Daumen über Pauls Wange. »Es tut mir so leid. Dass ich dich da mit reingezogen habe.«
»Das muss dir nicht leidtun.«
»Doch, weil –«
Paul stellte sich auf die Zehenspitzen und verschloss Hacks Mund mit einem Kuss. Langsam, innig, voller Gefühl. Er hatte seit Wochen auf eine Bestätigung dessen gewartet, was er tief in sich drinnen die ganze Zeit gewusst hatte.
Als er sich von Hack löste, dröhnte sein Herzschlag in seinen Ohren. »Dazu gehören immer noch zwei. Ich hab mich reinziehen lassen.« Mehr noch, er hatte Hack nie wieder loslassen wollen. Wollte er immer noch nicht. Ohne ihn zu sein, war unmöglich.
»Ja, aber wenn du wüsstest –«
Wieder presste er seine Lippen auf Hacks, fester, fordernder, länger. Als der Kuss dieses Mal endete, atmeten sie beide schwer. In Hacks dunklen Augen spiegelte sich dieselbe Lust, die in Pauls Körper erwachte.
»Dann sag mir nichts. Wenn mich das schützt, sag mir nichts.«
Hack runzelte die Stirn. »Du kannst nicht einfach –«
Noch ein Kuss. Paul schmiegte sich der Länge nach an Hack, spürte seine Hitze, seine Härte, seine Erektion. Hack stöhnte in seinen Mund und schloss ihn endlich – endlich – in die Arme, um ihn noch fester an sich zu drücken. Hitze wallte durch Pauls Körper und sammelte sich in einem Schwelenbrand in seinem Unterleib. Oh Gott. Es kam ihm vor, als wären seit ihrem letzten Mal hundert Jahre vergangen.
»Du wirst mich nicht mehr los«, brachte Paul zwischen zwei Küssen hervor, bevor Hacks Zunge abermals seinen Mund eroberte.
»Du hast keine Ahnung, was gut für dich ist.«
»Du bist gut für mich.« Paul knabberte an Hacks Unterlippe.
Als er spürte, wie Hack zu einer Antwort ansetzte, biss er fester zu. Hacks Erwiderung ging in einem Keuchen unter, das ihm wie elektrische Impulse unter die Haut kroch. Versöhnlich leckte er über die malträtierte Stelle und saugte Hacks Beben wie ein Schwamm in sich auf.
»Gott.« Hack schob die Hände auf Pauls Hintern und presste ihn noch enger an sich. »Ich hab dich so vermisst.«
Paul rieb sich an Hack, was das Feuer in seinem Unterleib lichterloh auflodern ließ. »Dann stoß mich nie wieder weg.«
»Nie wieder.«
Paul erschauerte. Er würde Hack beim Wort nehmen. Wenn er noch mal so eine Scheiße abzog, würde er ihn an genau diese Worte erinnern.
Ohne sich voneinander zu lösen, bewegten sie sich Richtung Schlafzimmer. Inzwischen kannte sich Paul in Hacks Wohnung so gut aus wie in seiner eigenen. Hack zerrte sich den Pullover über den Kopf, bevor er sich an Pauls Hemdknöpfen zu schaffen machte. Die ersten öffnete er noch halbwegs geduldig mit fahrigen Fingern, die restlichen riss er auf. Hoffentlich verlor er nicht schon wieder welche. Und wenn schon.
Gierig strich er über Hacks nackte Brust, die breiten Schultern und die kräftigen Bauchmuskeln, bevor er ihn aufs protestierend quietschende Bett schubste. Hack stieß einen überraschten Laut aus, aber dann war Paul wieder über ihm und leckte das Keuchen von seinen Lippen. Whiskey und Zigaretten und irgendwo dazwischen Hacks ganz eigener Geschmack. Genau wie der unvergleichliche Geruch nach Meer.
Paul setzte sich rittlings auf Hacks Unterleib, spürte seinen harten Schwanz unter sich und rieb sich an ihm. Hack ächzte und grub die Finger in seine Oberschenkel, als müsste er sich davon abhalten, die Kontrolle an sich zu reißen. Paul vergrub das Gesicht an seinem Hals und sog tief den Duft seiner Haut auf. Diese Meeresbrise ... Als hätte es jemand geschafft, eine Woche Nordsee-Urlaub in Parfümflaschen abzufüllen. Nur dass es kein Parfüm war. Paul hatte immer noch nicht rausgefunden, woher dieser Geruch stammte.
»Paul ...«
Der raue Klang schoss direkt in seinen Schwanz, mehr noch als die vom quietschenden Bett begleitende Stoßbewegung, als Hack die Hüften anhob. In seinem Unterleib pochte es heftig.
Während er blind nach Hacks Reißverschluss tastete, tanzte seine Zunge über die hektisch pulsierende Ader an Hacks Hals. Er schabte mit den Zähnen darüber, lauschte Hacks scharfem Einatmen und berauschte sich einen Moment an diesem großen, bedrohlichen Mann, der so ausgeliefert unter ihm lag.
Als er Hacks Schwanz aus der Hose befreit hatte und mit festem Griff umschloss, warf Hack fluchend den Kopf in den Nacken, was seinen Hals streckte und die Ader köstlich hervorhob. Pauls Mund saugte sich an ihr fest. Er spürte das Beben, das Hack durchlief und auf ihn überzugehen schien, dann wurde er gepackt und herumgewirbelt. Beim nächsten Herzschlag drückte ihn Hacks fantastisches Gewicht in die Matratze und seine Zunge rang erneut mit Pauls, bevor er kurzen Prozess mit seiner Hose machte. Sie hing an seinem linken Knöchel fest. Egal. Dafür war sein Schwanz endlich nicht mehr eingesperrt.
Mittlerweile kannte Hack ihn so gut, dass er genau wusste, wo er ihn berühren musste, um ihn in den Wahnsinn zu treiben. Er hatte den mit Gleitgel benetzten Finger an seinem Eingang gerade erst bemerkt, als Hack auch schon in ihn eindrang.
Gott. Paul bog sich ihm entgegen. Mehr. Mehr!
Als Hack über seine Prostata strich, stöhnte Paul in den Kuss. Er klammerte sich an Hacks Schultern fest, als könnte es ihn sonst von dieser Welt katapultieren. So ging es ihm jedes Mal. Verdammt. Er hatte schon so oft Sex gehabt, mit den verschiedensten, durchgeknalltesten Männern, aber bei keinem war seine Welt so sehr aus den Fugen geraten wie bei Hack.
Und er war noch nicht mal in ihm.
Noch ein Stöhnen, als Hack drei Finger in ihm bewegte. Wann waren es drei geworden? Sein Schwanz zuckte und hinterließ eine feuchte Spur auf seinem Bauch. Scheiße. Er zog die Beine an. Ein Blitz durchzuckte seine Lenden, als sich das Gefühl intensivierte. Noch nicht. Ein köstliches Prickeln überzog ihn wie ein Funkenregen. Noch. Nicht.
Blind griff er nach Hacks Schwanz, der steif aus seiner offenen Hose ragte. »Jetzt, Hack. Schnell. Fick mich. Schnell.«
Der Orgasmus lauerte gerade außerhalb seiner Reichweite, sodass Paul sowohl enttäuscht als auch erleichtert war, als Hack seine Finger zurückzog. Er atmete ein paar Mal tief durch und versuchte, wieder etwas runterzukommen, aber allein das Knistern der Kondomverpackung befeuerte die Hitze in seinem Unterleib wie ein Kanister Öl. Wahrscheinlich würde das Ganze keine zwei Minuten dauern. Mist.
Nachdem sich Hack das Kondom übergezogen hatte, wollte Paul sich umdrehen, aber Hack hielt ihn zurück. »Ich will dich ansehen.«
»Oh.« Großartig. Was Intelligenteres fällt dir nicht ein? Er spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. »Ich ... ich glaub, dann komm ich sofort.«
Hack beugte sich über ihn und umschloss seine Hoden gerade so fest, dass es an der Grenze zum Unangenehmen war. Paul wand sich, was Hacks Griff auf verrückte Weise erregender machte. »Dann reiß dich zusammen.«
Seine dunkle Stimme hallte in Pauls Körper nach und brachte sein Blut zum Kochen. Als er ihn losließ, wünschte sich Paul seine Hand augenblicklich zurück, weil der Druck in seinem Schwanz jetzt so stark war, dass er kaum noch atmen konnte.
Hack positionierte seinen Penis, bis die Eichel gegen Pauls Öffnung drückte. Oh Gott. Paul erschauerte und schloss die Augen.
»Nein.« Hacks Lippen strichen über seine Lider. »Mach sie auf.«
Paul atmete aus, tat ihm jedoch den Gefallen. Hacks Gesicht schwebte direkt über ihm. Sein Blick schien jede noch so kleine Regung aufzusaugen. Pauls Puls hämmerte. So hatten sie noch nie miteinander geschlafen. Meistens war es vorbei, bevor es überhaupt richtig angefangen hatte. Schnell, hart, heftig – fantastisch. Und oft von hinten. Oder im Stehen. Oder auf allem, was sich gerade anbot.
Das hier ... ließ sein Herz überquellen.
Dann versenkte sich Hack mit einem einzigen Stoß in ihm. Hacks Lider flatterten. Fast hätte ihn Paul an seine eigenen Worte erinnert, aber dazu fehlte ihm der Atem. Der Fokus. Gott, sah Hack immer so aus, wenn sie –
Der Gedanke löste sich in Luft auf. Sein Gehirn fuhr den Betrieb herunter und im nächsten Moment schien Paul nur noch aus brennenden Nervenenden zu bestehen, als Hack sich zu bewegen begann. Er schlang die Beine um Hack und zog sich ihm bei jedem Stoß entgegen, wobei er den Rücken durchdrückte, um so viel wie möglich von ihm in sich aufzunehmen.
Nicht genug. Nicht genug.
Paul stöhnte, als Hack seine Hüften packte und bei jeder Vorwärtsbewegung an sich heranzog. Mal erwischte er seine Prostata, mal nicht, was das Ganze noch schlimmer machte. Sein Schwanz zuckte, aber immer, wenn er danach greifen wollte, schlug Hack seine Hände weg. Lust ballte sich wie ein Feuerball in seinem Unterleib zusammen, bereit, jede Sekunde zu explodieren.
Und die ganze Zeit lag Hacks Blick durchdringend auf ihm – abwechselnd unfokussiert und voller Verlangen. Paul versuchte, sich daran festzuhalten, aber je härter, je tiefer Hack zustieß, desto schwerer fiel es ihm, die Augen offen zu lassen. Auf Hacks Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet, seine Lippen waren leicht geöffnet und in seinen Augen schien es jedes Mal wie ein Streichholz aufzuglimmen, wenn er sich in Paul rammte.
»Gleich«, keuchte Paul und bewegte eine Hand erneut zu seinem Schwanz. »Gleich. Härter. Hack. Härter.«
Hack zog seine Hand von seinem Penis weg und drückte sie neben seinem Kopf ins Kissen. Wimmernd hob Paul die Hüften an, stieß aber nur in die Luft. Sein Unterleib kreischte genauso erzürnt auf wie das verdammte Bett. Wahrscheinlich hätte er die andere Hand benutzen können, aber die brauchte er, um sich am Kopfteil abzustützen, um von Hack nicht dagegen geschoben zu werden.
Dafür kam Hack seiner Aufforderung nach. Er zog Pauls Bein von seiner Taille und drückte es gegen seine Brust. Sein Schwanz schien noch etwas tiefer in ihn zu gleiten und Hack nutzte den zusätzlichen Raum mit neuer Kraft aus.
Pauls Augen flogen zu. »Hack!«
Hack beugte sich tiefer über ihn. Die Hitze in seinem Unterleib wurde schier unerträglich. Der Feuerball war auf die doppelte Größe angewachsen und verschlang ihn von innen.
»Sag ihn.« Hacks heißer Atem strich über seine Lippen und vermischte sich mit seinem. »Sag meinen Namen.«
Paul zwang die Augen auf. In seinem Kopf herrschte Nebel. Welchen meinte er? Bei klarem Verstand war es schon schwer, da durchzublicken. Doch dann lag die Antwort plötzlich auf der Hand.
»Tom.«
Hack erzitterte und schloss die Augen, als müsste er um Kontrolle ringen.
Paul legte eine Hand an Hacks Wange. »Tom«, sagte er herrischer, als er wollte, und wartete, bis Hack ihn wieder ansah. »Tom. Fick mich. Und hör nicht auf, bis –«
Hack presste seinen Mund auf Pauls und stieß wieder in ihn. Sein Rhythmus geriet aus dem Takt, aber Paul brauchte nicht mehr lang. Er schlang eine Hand um seinen Penis und dieses Mal hielt Hack ihn nicht davon ab.
Stöhnend kam er und spürte nur Sekunden später, wie Hack ihm folgte.
*
Als Paul aufwachte, war das Bett neben ihm wie immer leer. Kopfschüttelnd zog er Hacks Kissen zu sich heran. Kalt. Auch wie immer. Wahrscheinlich war Hack schon seit Stunden wach. Die graue Suppe vor dem Fenster verriet wenig über die Tageszeit. Regentropfen prasselten gegen die Scheibe.
Paul vergrub das Gesicht im Kopfkissen und sog Hacks Meergeruch ein.
»Ich kann dir nichts sagen, weil du sonst beim nächsten Mal keine zwanzigtausend Euro angeboten bekommst, sondern verschwindest, ohne je wiedergefunden zu werden.«
Ein Schauder lief seinen Rücken hinunter. Paul kniff die Augen zusammen, um Hacks Worte aus seinem Kopf zu vertreiben. Er wollte nicht darüber nachdenken, was das bedeutete. Dass es möglicherweise schon mal vorgekommen war. Was Hack alles wusste.
Logisch, dass die Ritters ihn wieder im Kreis ihrer Familie wissen wollten, wo sie ihn im Blick hatten und zurück auf Spur bringen konnten, falls er aus der Reihe tanzte.
Und im Moment sehen sie dich als Hindernis dafür an. Zumindest Clemens.
Verdammt. Mit dem Kissen vorm Gesicht rollte sich Paul auf den Rücken und lauschte sekundenlang seinen tiefen Atemzügen. Dummerweise beruhigte das seinen rasenden Puls nicht.
Dabei war es Hacks Entscheidung gewesen. Hack war gegangen und hatte sich versteckt – warum auch immer. Vielleicht war tatsächlich die Sache mit seinem Freund und dessen prügelndem Ex, der ausgerechnet von Hacks Vater vor Gericht vertreten worden war, der Auslöser gewesen.
Vielleicht will er sich jetzt wieder verstecken, nachdem Clemens ihn aufgespürt hat. Besser. Nicht irgendwo in München.
Und dann? Würde Hack ihn bitten, mitzukommen? Nach Hamburg? Berlin? In die Provinz? Ins Ausland? Oder würde Paul eines Morgens aufwachen und Hack wäre verschwunden, einfach so?
Der Gedanke war grauenhaft. Schlimmer noch als die Möglichkeit, in irgendwas hineingezogen zu werden, dessen Ausmaß er nicht erfassen konnte. Er durfte Hack nicht verlieren.
Er konnte Hack nicht verlieren.
Von einer plötzlichen Unruhe gepackt, warf Paul das Kissen zur Seite, richtete sich auf und sah sich um. Neben dem Kleiderschrank türmte sich der vertraute Wäscheberg, inzwischen angereichert mit dem einen oder anderen Kleidungsstück von Paul. Aus der nur halb geschlossenen Schranktür ragte der Ärmel eines Pullovers heraus. Neben dem Bett lagen mangels Nachtschrank eine angebrochene Packung Kondome, das Gleitmittel und ein Handyladekabel auf dem Boden – vielleicht Hacks, vielleicht seins. Sie benutzten immer das, das sich gerade in Reichweite befand.
Bei der spartanischen Einrichtung war es schwer zu sagen, aber es schien nicht so, als wäre Hack in aller Hektik abgehauen.
Außerdem hörte er aus dem Wohnraum eine undeutliche Stimme. Anfangs hatte er sie dem Fernseher zugeschrieben, den Hack oft nebenbei laufen ließ, aber als er jetzt aufstand und sich der Tür näherte, erkannte er Hacks Stimme. Da er als Einziger sprach, musste er telefonieren. Mit gespitzten Ohren lehnte sich Paul gegen die Tür.
»Ja, verdammt. Aber ich will dein Wort. Und seins.«
Hör auf zu lauschen.
Ertappt fuhr Paul von der Tür zurück, als hätte Oma Biggi ihn kurz vor dem Mittagessen an der Süßigkeitenschublade erwischt.
Nach allem, was er herausgefunden hatte, sollte er gar nicht wissen wollen, womit Hack sich noch so herumschlug. Das hatte er ihm nicht nur angeboten, das war vermutlich auch besser für ihn. Nur dass seine beschissene Neugier das nicht so sah.
Mit wem telefoniert er?
Bevor er wieder in Versuchung kommen konnte, wandte Paul sich ab und suchte seine Pants, die noch in seiner Stoffhose am Boden steckte. Er kramte sein Handy aus der Hosentasche und sah nach der Uhrzeit. Kurz nach elf. Hack machte ihn jedes Mal völlig fertig.
Er öffnete den Kleiderschrank, ignorierte seine Pullover, die er vor ein paar Wochen in eins der freien Fächer geräumt hatte, und zog einen von Hacks Kapuzenpullovern heraus, der ihm zwar viel zu groß war, in dem er sich aber pudelwohl fühlte. Irgendwie beschützt und geliebt, als würde Hack ihn die ganze Zeit umarmen, auch wenn der Stoff eher nach Waschpulver als nach ihm roch.
Dann stand er wieder vor der Tür.
»... ernst. Lasst ihn in Ruhe. Dann können wir über alles reden. – Meinetwegen auch darüber. – Wenn’s sein muss. – Übertreib’s nicht, verdammt noch mal. Euren Scheiß könnt ihr allein machen.«
Wen in Ruhe lassen? Mich?
»Das habe ich doch eben gesagt. Wenn er mich unbedingt dabei haben will, komme ich.« Ein Schnauben. »Den Teufel werd ich. – Nein. – Clemens. Nein. – Konrad kann mich am Arsch lecken.«
Scheiße. Paul biss die Zähne zusammen. Sogar per Du mit Lewerenz.
Ein weiterer, oft zitierter Spruch seiner Oma hallte in seinem Kopf wider: »Neugier ist der Katze Tod, Paulchen. Weißt du, was das bedeutet? Man steckt die Nase nicht in anderer Leute Angelegenheiten. Das führt nur zu Schwierigkeiten.«
Tief durchatmend, öffnete Paul die Tür.
Hack lehnte in Jogginghose und einem seiner vielen Kapuzenpullover an der Küchenzeile, das Handy am Ohr. Dunkle Haarsträhnen fielen ihm in die Stirn, weil er sie nach der Dusche nachlässig an der Luft hatte trocknen lassen. Bei Pauls Eintreten sah er auf. Seine Gesichtszüge wirkten angespannt, aber wenigstens hoben sich bei seinem Anblick seine Mundwinkel – minimal.
»Ich muss Schluss machen.« Ohne auf eine Erwiderung zu warten, legte er auf und warf das Handy so schwungvoll auf die Anrichte, als wollte er es kaputt machen, um weitere Anrufe zu vermeiden. »Hey. Gut geschlafen?«
Paul verbannte alle unangenehmen Fragen aus seinem Kopf. »Nachdem du mich so schön in den Schlaf gevögelt hast? Klar.«
Jetzt verzogen sich Hacks Lippen auf eine Art und Weise, die fast schon als Lächeln durchgehen konnte.
»Ich geh schnell ins Bad«, sagte Paul.
Im Vorbeigehen fiel ihm auf, dass Hack kein Rührei gemacht hatte. Das tat er meistens, wenn sie vor der Arbeit etwas Zeit hatten, egal, ob sie bei ihm oder bei Paul waren. Vielleicht konnte Paul zur Abwechslung mal das Frühstück machen – auch wenn Hack darin besser war als er.
Als er nach dem Zähneputzen und einer kurzen Dusche wieder in den Wohnraum zurückkehrte, stand Hack bei zugezogener Tür auf dem Balkon, rauchte und starrte den gegenüberliegenden Wohnklotz an. Überrascht stellte Paul fest, dass er sich umgezogen hatte. Er sah aus, als hätte er einen Termin mit seinem Bewährungshelfer und müsste besonders vorzeigbar aussehen. Schwarze Jeans, graues Hemd, polierte Schuhe, die Haare ordentlich zurückgestrichen, als hätte er ein paar Mal mit den Fingern hindurchgekämmt.
Er drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und kam wieder rein. Ein Hauch Qualm begleitete ihn.
»Musst du noch wohin?«
»Ja.«
Paul wartete auf eine Ausführung, die nicht erfolgte. »Und wohin?«
»Mittagessen.« Hack verzog das Gesicht, als hätte er plötzlich schlimme Zahnschmerzen. »Mit meiner Familie.«
»Oh.«
Die darauffolgende Stille lastete schwer auf Paul und er wusste nicht so recht, wohin mit seinen Händen. Schließlich schob er sie in die weite Bauchtasche.
Hack hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er seiner Familie lieber aus dem Weg ging. Und jetzt traf er sich mit ihnen zum Mittagessen? Freiwillig?
Hack fuhr sich durch die Haare, ehe ihm einfiel, dass er sie gerade einigermaßen in Form gebracht hatte. Fluchend nahm er den Arm runter und zeigte zur Wohnungstür. »Ich muss dann auch los.«
Er steuerte die Garderobe an und Paul folgte ihm. Seine Kehle fühlte sich staubtrocken an und er musste mehrmals schlucken, um einen Ton herauszubringen. »Meinetwegen?«
Hack sah nur kurz in seine Richtung, bevor er nach seiner Jacke griff.
»Damit Clemens mich in Ruhe lässt?«
Hack seufzte. »Die Scheißwände sind wirklich viel zu dünn.« Als er sich die Jacke anzog, griff Paul nach seinem Arm.
»Hack –«
»Schon okay. Es ist nur ein beschissenes Mittagessen.«
»Aber du willst nicht.«
»Natürlich will ich nicht.« Er hob Pauls Kinn an und drückte ihm einen festen Kuss auf den Mund, der wieder einmal nach Zigaretten schmeckte. Paul hatte so eine dunkle Ahnung, dass er sich daran würde gewöhnen müssen. »Weil ich lieber hier bei dir bleiben würde.«
Davon ließ sich Paul nicht einlullen – vor allem, weil die Worte den Druck auf seine Brust nur verschlimmerten. Er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Als würden diese verdammten Schuldgefühle ihn unter sich begraben. Das Angebot, das Clemens Hack gemacht und der offenbar angenommen hatte, bestand sicher nicht nur aus einem Mittagessen.
»Ich will nicht, dass du irgendetwas tust, das du nicht willst. Schon gar nicht meinetwegen.«
Der Blick in Hacks Augen wurde sanft. Als er dieses Mal mit seinen Lippen Pauls berührte, war der Kuss so liebevoll, dass es hinter Pauls Lidern zu brennen anfing. Reiß dich zusammen.
»Ich tue es nicht deinetwegen, sondern für dich. Weil ich alles für dich tun würde, Paul.«
Pauls Herz setzte einen Schlag aus. »Ich ...« Verdammt. Warum schnürte sich sein verfluchter Hals ausgerechnet jetzt zu?
»Außerdem werde ich eingeladen. Wer lehnt schon ein Gratisessen ab?« Obwohl er sich um einen lockeren Tonfall bemühte, lag keine Heiterkeit in seiner Stimme.
Als Hack sich von ihm löste, griff Paul nach ihm. Nur noch eine Sekunde. Oder zwei. Er brauchte nur zwei Sekunden, um diesen Buchstabensalat in seinem Kopf zu sortieren.
Bestimmt befreite sich Hack von ihm. »Ich muss jetzt los, sonst komme ich zu spät.« Er öffnete die Wohnungstür.
»Ich würde auch alles für dich tun«, platzte Paul heraus. »Alles, was ich kann.« Auch wenn das nach dem jetzigen Stand der Dinge nicht viel sein dürfte.
Hack lächelte. Das wirkte echt. »Ich weiß.«
»Ich ... ich könnte damit anfangen, mich krank zu melden. Du gehst doch heute auch nicht mehr ins Viereck, oder?«
»Nein.«
»Dann könnten wir wenigstens den restlichen Tag zusammen verbringen.«
Hack zögerte, dann sagte er: »Ich bin spätestens um halb drei zurück.«
»Halb drei. Super. Ich warte auf dich.«
ENDE
*
Liebe Leserinnen und Leser,
da sind wir schon wieder am Ende von »Unmoralisches Angebot« angelangt. Ich sage bewusst nicht »am Ende der Geschichte«, weil ihr sicher gemerkt habt, dass es wieder ein offenes Ende ist (ich hoffe kein allzu unbefriedigendes, meine Betaleserin hat mir dafür schon den Kopf gewaschen XD).
Ich kann leider nicht sagen, wann es weitergeht. Momentan ist Paul & Hack ein Spaßprojekt, das ich zwischendurch einschiebe. Ich bin immer noch unsicher, ob ich die Geschichte in einer großen zu Ende erzählen soll oder weiterhin in kleinen, homöopathischen Dosen.
Nichtsdestotrotz vielen, vielen Dank an alle, die mitlesen! Natürlich freue ich mich einen Tick mehr über die, die mir auf die eine oder andere Art Feedback hinterlassen ;) Die Statistiken von ff.de bzw. Bookrix sind da nur bis zu einem gewissen Grad hilfreich – immerhin haben sich Paul und Hack seit dem Weihnachtsessen in eine recht düstere Richtung entwickelt. Ich bin neugierig, was ihr davon haltet :)
Unterm Strich hoffe ich einfach, dass es euch gefallen und ihr Spaß beim Lesen hattet! Ich freue mich, wenn man sich beim nächsten Projekt wiederliest :D
LG
Nora
Texte: Nora Wolff
Bildmaterialien: leandrodecarvalhophoto / pixabay
Tag der Veröffentlichung: 14.01.2017
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