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Lügner + Feigling

»Scheiße.«

»Ich weiß.« Henrik lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und streckte die langen Beine aus. »Ich will auch nicht hier sein, aber Frau Schmitt-Wachau will aus irgendeinem Grund, dass du das Abi schaffst.« Er machte eine spöttische Geste, um Dex hereinzubitten. »Also schwing deinen Arsch her.«

Einen Moment sah es aus, als würde Dex auf dem Absatz kehrtmachen.

Ja, verschwinde doch, du beschissener Feigling. Nicht mein Problem. Ich war hier.

Mit einem Knall warf Dex die Tür ins Schloss und betrat das verwaiste Klassenzimmer, das ihnen Frau Schmitt-Wachau überlassen hatte. Dex kickte ein zerdrücktes Tetra Pak Orangensaft über den mit Schmutz und Papierschnipseln übersäten Boden, an dem jede Putzkolonne sicher ihre helle Freude hatte. Oder Tierpfleger, weil es hier drinnen aussah wie in einem verdammten Affenkäfig. Und was noch viel schlimmer war: Es fühlte sich auch so an.

Kein Entkommen möglich.

Als Dex den Tisch erreicht hatte, nahm er seine Tasche von der Schulter und ließ sie auf den Boden plumpsen, bevor er sich auf den Stuhl Henrik gegenüber warf.

Fehlt nur noch, dass er seine Füße auf den Tisch legt.

»Da bin ich.«

»Nicht zu übersehen.«

Dummerweise war er das wirklich nicht: zu übersehen. Es war schon schlimm genug, ihn auf der anderen Seite eines Klassenzimmers oder auf dem Schulhof zu sehen. Aber hier an einem Tisch mit ihm zu sitzen, war die Hölle. Henrik müsste bloß seine Hand über den Tisch ausstrecken, um Dex’ lange, kräftige Finger zu berühren, die auf die Tischplatte trommelten. Oder seinen Fuß ein Stück nach links bewegen, um gegen Dex’ zu stoßen.

Genau. Oder ich tret ihm einfach den Stuhl unter seinem beschissenen Hintern weg.

Henrik zeigte auf seine Tasche. »Hast du die Klausur dabei?«

Dex schnaubte. »Nein, ich hab sie zwischenzeitlich in einer rituellen Zeremonie verbrannt. War in der zweiten großen Pause. Schade, dass du nicht dabei sein konntest.«

Henrik verdrehte die Augen. »Super. Dann hol sie doch mal raus, damit wir sie durchsprechen können.«

»Musste Schmitt-Wachau eigentlich lange betteln oder hast du dich sofort freiwillig gemeldet?«

»Was denkst du denn?« Abermals deutete Henrik auf die Tasche. Er wollte das hier so schnell wie möglich hinter sich bringen. »Die Klausur?«

Anstatt sich nach seiner Tasche zu bücken, lehnte sich Dex über den viel zu kurzen Tisch und fokussierte Henrik aus schmalen Augen. Augen, die verdammt noch mal viel zu grün waren, um echt zu sein. Nur dass sie echt waren. Keine Kontaktlinsen.

Warum zum Teufel konnte dieser Mistkerl dann nicht wenigstens rote Haare haben? Grasgrüne Augen und feuerrote Haare. So gehörte sich das doch. Und Henrik stand absolut nicht auf Rotschöpfe.

Aber nein, Martin Dechser musste mal wieder aus der Reihe tanzen und schmückte sich mit pechschwarzen, dichten Haaren, die sich ganz seidig zwischen Henriks Fingern anfühlten. Es kam ihm vor wie gestern, dass er sie zuletzt berührt hatte. Dabei waren es über zwei Wochen. Eine Ewigkeit.

»Ich denke«, sagte Dex mit einem rauen Unterton in der Stimme, der es in Henriks Nacken kribbeln ließ, »dass du sofort hier geschrien hast.«

»Klar. Weil du schließlich unwiderstehlich bist, richtig?«

Dex grinste selbstgefällig. »Richtig.«

Henrik verdrehte die Augen. »Zu deiner Information: Dieser Scheiß hier« - er deutete zwischen ihnen hin und her - »wirkt sich erheblich auf die Bewertung meines Sozialverhaltens aus. Schmitt-Wachau hat mich sozusagen erpresst.« Er nickte auf Dex‘ Tasche. »Wenn du also bitte endlich deine verdammte Klausur rausholen würdest?«

Dex zögerte einen Moment, in dem er das Kinn angriffslustig vorschob. »Ich wusste nicht, dass du noch so sehr an mir hängst.«

Oh Mann. Henrik wippte ungeduldig mit einem Bein. »Ich hänge nicht mehr an dir.« Lügner. »Und jetzt pack die Scheißklausur aus.«

»Deine Noten sind hervorragend, Sozialverhalten hin oder her. Jede Uni nimmt dich mit Kusshand.« Er legte den Kopf schief und lächelte auf diese unnachahmliche Dex‘ Art. Provozierend. Verlockend. Genauso gut hätte er sich vor Henrik auf dem Stuhl räkeln können. Sieh her, was du nie wieder bekommen wirst.

Henrik beugte sich vor, sodass ihre Gesichter nur noch Zentimeter voneinander entfernt waren. Schwerer Fehler. Dex wich nicht zurück. Sein berauschender Geruch stieg Henrik in die Nase und machte ihn für einen Moment ganz benommen. Er starrte auf Dex‘ Lippen. Gott, was er dafür geben würde, noch einmal -

Henrik riss den Blick hoch. Dex‘ Augen verspotteten ihn selbstgerecht. »Weißt du ...« Er räusperte sich, da seine Stimme erschreckend heiser klang. »Langsam glaube ich, du hängst noch an mir

»Schwachsinn. Ich war derjenige, der es beendet hat.«

»Und ich derjenige, der es angefangen hat.«

Dex‘ grüne Augen blitzten. »Womit nur bewiesen wäre, dass du schon von Anfang an scharf auf mich warst.«

»Nein.« Jetzt grinste Henrik ihn süffisant an. »Das beweist nur, dass du zu feige warst. Bist. Es war ja nicht mal deine eigene Entscheidung, es zu beenden.«

Dex presste die Lippen zusammen. »Natürlich war es das«, zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Und ich bin nicht feige.«

Nein, das war er tatsächlich nicht. Henrik konnte sich noch gut an sein erstes Mal erinnern. Wahrscheinlich hatte er mehr Schiss davor gehabt, einen Schwanz im Hintern zu haben, als Dex. Allerdings hatte er den Typen, der ihn entjungfert hatte, kaum gekannt, während Dex ihm vertraut hatte.

Bei dem Gedanken zog es heftig in Henriks Unterleib, als Erinnerungsfetzen in seinem Kopf aufblitzten. Nicht nur an ihr erstes Mal, sondern an all ihre Male. Dex war viel leidenschaftlicher, viel fordernder, als man ihm auf den ersten Blick ansah. Henrik musste die Fäuste unter dem Tisch ballen, damit er nicht versehentlich auf die Idee kam, seine Hände nach ihm auszustrecken.

Lehn dich doch einfach wieder zurück. Bring Abstand zwischen euch. Aber das konnte er genauso wenig. Wenn jetzt jemand hereinkäme, mussten sie wie die letzten Vollidioten aussehen, so wie sie sich über den Tisch hinweg in die Augen starrten.

Henrik überging den Teil mit der Feigheit. »Genau. Deine Entscheidung, die deines Vaters und die deiner ach so coolen Clique. Wenn die wüssten, dass du schwul bist, wärst du bestimmt nicht mehr -«

Dex schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ich bin nicht ... schwul!« Seine Brust hob und senkte sich heftig, als wäre er vor Wut kurz vorm Platzen - oder als würde Angst ihm die Luft abschnüren. Henrik spürte seinen hektischen Atem auf seinem Gesicht.

Ein kleines, unschuldiges Wort mit sechs Buchstaben. Er hatte nicht Nazi oder Terrorist oder Serienkiller gesagt. Nur schwul. Damit hatte er Dex‘ wunden Punkt genau getroffen. Und als Freund sollte er jetzt aufhören, auf ihn einzuhacken.

Daher war es wahrscheinlich der zurückgewiesene Liebhaber in ihm, der sagte: »Und wie nennst du es dann, wenn man wochenlang Sex mit einem Mann hat?«

Dex warf sich auf seinem Stuhl zurück, bevor Henrik ihn davon abhalten konnte, und verschränkte die Arme vor der Brust. »Vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit.«

Autsch. Das tat unerwartet weh. Unter vorübergehender Unzurechnungsfähigkeit begingen andere Leute Morde. »Ich komme dir ein Stück entgegen. Vielleicht bist du bi.«

»Einen Scheiß bin ich.«

»Stimmt. Immerhin hast du selbst gesagt, dass du noch nie so geilen Sex hattest wie mit -«

Dex schoss von seinem Stuhl hoch. »Weißt du was? Steck dir dein verdammtes Sozialverhalten sonst wohin.« Er riss seine Tasche vom Boden und war schon halb durchs Klassenzimmer, bis Henrik endlich auf die Füße kam.

»Dex!«

»Leck mich!«

»Klar. Bleib einfach stehen.«

Er hatte gewusst, dass Dex daraufhin einen zornigen Blick über die Schulter werfen würde, was ihm die zusätzlichen zwei Sekunden verschaffte, die er brauchte, um ihn noch vor der Tür einzuholen. Er war größer als Dex und hatte die längeren Beine und obwohl Dex sich eine Menge auf seine fünfzehn Punkte in Sport einbildete, war er nicht die einzige Sportskanone der Schule.

Was zum Teufel mache ich hier eigentlich? Henrik hatte die Frage kaum zu Ende gedacht, als er im vollen Lauf gegen Dex prallte und mit ihm zusammen gegen die Tür krachte. Der Zusammenstoß hörte sich in Henriks Ohren wie ein Donnerschlag direkt über seinem Kopf an, aber er konnte Dex nicht ernsthaft verletzt haben. Ein Ellbogen wurde in seinen Magen gerammt, kurz bevor Dex herumwirbelte und ihn so kräftig von sich stieß, dass er tatsächlich einen Schritt zurücktaumelte.

»Hast du ’nen Knall? Wenn das einer gehört hat!«

Das war ihm scheißegal. Was durch und durch beschissen war. Andere Dinge sollten ihm egal sein. Dex sollte ihm egal sein. Sein eigenes Outing war schon kein Zuckerschlecken gewesen, aber wenigstens hatte er es endlich hinter sich, da musste er sich nicht auch noch Dex‘ Komplexe ans Bein binden.

Verdammt. Henrik rieb sich über die pochende Stelle an seinem Bauch. Warum hatten sie nicht einfach die dämliche Matheklausur durchsprechen können?

»Okay, du hast recht.«

»Ich habe immer recht.«

Wenn Henrik Dex‘ Großspurigkeit nicht schon vor einer ganzen Weile verfallen wäre, hätte sie ihn rasend machen können. »Ich hänge noch an dir.«

»Ich ... hab’s doch gewusst.« Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte er allerdings nicht gewusst, dass Henrik es zugeben würde.

Gott, wie sehr diese grünen Augen nach ihm riefen. Das konnte Dex nicht bewusst sein, weil er sonst niemals zugelassen hätte, dass Henrik es sah. Aber jetzt gerade sah er es sehr deutlich. Die Sehnsucht, die Verzweiflung. Die innere Zerrissenheit. Am liebsten hätte Henrik ihn einfach in den Arm genommen und nie wieder losgelassen.

»Du fehlst mir.«

Dex schob das Kinn vor. »Dann schlägst du dir mich besser schnell aus dem Kopf, bevor es noch schlimmer wird.«

»Dex ...« Henrik war nicht klar gewesen, dass er auf ihn zugegangen war, bis Dex eine Hand hob, um ihn aufzuhalten.

»Ich weiß nicht, was ich noch sagen muss, damit es in deinen Dickschädel reingeht. Das mit uns war ein Fehler. Es ist aus.«

Ja, das hatte er ihm schon in genau demselben Wortlaut vor die Füße geknallt. Fast wie auswendig gelernt. Henrik hatte schon beim ersten Mal nichts dagegen ausrichten können. Warum glaubte er also, dass sich inzwischen was verändert hatte? Das Schuljahr war beinahe um. Dann schrieben sie ihre Abiklausuren und anschließend würde jeder seiner Wege gehen. Warum hatte er sich nicht noch ein paar Wochen am Riemen reißen können? Zum Teufel mit Schmitt-Wachau und ihrem erbärmlichen Motivationsversuch, einen leistungsschwächeren Mitschüler zu unterstützen.

Dex war nie der Schwächere von ihnen gewesen.

»Für einen Fehler hat es sich viel zu gut angefühlt.« Gott, er sollte jetzt einfach die Klappe halten und sich nicht noch mehr zum Affen machen.

Dex presste die Lippen zusammen und verschränkte abermals die Arme. Wenn er wüsste, wie verloren er dabei aussah, hätte er sie ganz bestimmt schnell wieder fallen gelassen.

»Außerdem kannst du nichts beenden, was angeblich gar nicht da war.«

»Dann solltest du anfangen, über das hinwegzukommen, was gar nicht da war.«

»Klar. Wenn du den Anfang machst.«

Dex schnaubte abfällig und schüttelte den Kopf. Aber obwohl sich die Tür direkt hinter ihm befand, verließ er das Klassenzimmer nicht.

In Henriks Fingerspitzen kribbelte es. Wieder brauchte er nur die Hand auszustrecken, um Dex zu berühren. Und ehe er wusste, was er tat, hatte er es einfach gemacht. Dex fuhr zusammen, als hätte er auf ihn geschossen, kaum dass Henriks Finger seine Wange streiften.

Dex wandte das Gesicht ab. »Lass das!«, schnappte er. »Versuch nicht, mich wieder einzulullen. Noch mal lasse ich mich nicht von dir einwickeln.«

»Glaubst du wirklich, ich hätte dich einwickeln können, wenn du nicht gewollt hättest?«

Einen Moment lang stand Dex nur da und starrte ihn an. Seine Finger umklammerten den Trageriemen seiner Tasche so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Dann glitt sein Blick für den Bruchteil einer Sekunde zu Henriks Lippen, kurz bevor er die Augen zusammenkniff und den Kopf drehte.

»Scheiße.«

In Henriks Brust zog sich alles zusammen. Wenn er könnte, würde er für Dex Berge versetzen, nur um ihn nicht mehr so zerrissen sehen zu müssen. Aber er hatte mehr oder weniger schon alles getan und gesagt, was er konnte. Er konnte Dex seine Freunde und seinen Ruf nicht ersetzen und schon gar nicht konnte er sich seinem Vater entgegenstellen. Das lag allein in Dex‘ Macht.

Was nichts daran änderte, dass er Dex hier und jetzt in den Arm nehmen wollte.

»Hey ...«

Henrik wollte sich Dex gerade erneut vorsichtig nähern, als Dex ihn wieder ansah. In der nächsten Sekunde lag eine Hand fest in Henriks Nacken und zog ihn zu einem hitzigen Kuss an Dex heran.

Dex küsste immer mit vollem Körpereinsatz und ohne Rücksicht auf Verluste - zumindest Henrik. Er konnte sich nicht daran erinnern, schon mal gesehen zu haben, wie er eine seiner Freundinnen so vor seiner Clique auf dem Schulhof geküsst hatte. Wahrscheinlich wären seinen Freunden dabei glatt die Augen aus dem Kopf gefallen.

Henrik erregte es innerhalb eines Herzschlags bis in die Haarspitzen. Stöhnend schlang er einen Arm um Dex und legte die Hand besitzergreifend auf seinen Hintern, während er die zweite in Dex‘ pechschwarze Haare grub. Er drängte sich an Dex und schob ihn in derselben Bewegung rückwärts gegen die Tür. Als es nicht weiter ging, presste er Dex mit seinem Körper dagegen, während Dex seinen Mund eroberte. Er spürte Dex‘ Erektion an seinem Bein und sorgte dafür, dass auch Dex wusste, wie erregt er war. Im nächsten Augenblick leckte er sein Stöhnen gierig von seinen Lippen.

Oh, warum zum Teufel waren sie in einem verdammten Klassenzimmer?! Wenn er nicht zu hundert Prozent wüsste, dass das eine wirklich beschissene Idee war, bei der Dex nicht im Traum mitmachen würde, hätte er ihn gepackt, auf einen der Tische geworfen und alles nachgeholt, was sie in den letzten zwei Wochen versäumt hatten.

Es fiel Henrik verflucht schwer, es beim Küssen zu belassen. Deswegen musste er Dex schleunigst loslassen.

Schwer atmend löste er sich von ihm, umfasste sein Gesicht mit beiden Händen und lehnte die Stirn an seine. »Was machst du nur mit mir?«, murmelte er und strich über Dex‘ Mund. Als Dex nach seinen Lippen schnappte, schoss Verlangen so heiß durch seinen Unterleib, dass er Dex noch mal küsste - küssen musste -, ohne ihm diesmal die Führung zu überlassen. Meistens tat er das, weil Dex das brauchte. Aber jetzt gerade konnte er sie nicht abgeben.

Dex bog sich ihm mit seinem ganzen Körper willig entgegen. Seine Finger gruben sich schmerzhaft in seinen Nacken. Blind griff Henrik nach ihnen, löste sie und drückte Dex‘ Hände rechts und links neben seinem Kopf gegen die Tür. Normalerweise machte es Dex wahnsinnig, wenn Henrik seine körperliche Überlegenheit gegen ihn einsetzte. Heute erntete er dafür ein beinahe ergebenes Seufzen, das seinen Schwanz zucken ließ.

Verdammter Mist. Er musste jetzt aufhören. Er musste sich zurückziehen. Jetzt. Sofort.

»Henrik.«

Das atemlose Flüstern strich wie mit einer Feder über seine Wirbelsäule und löste ein weiteres Schauern aus. Henrik schloss die Augen, um Dex‘ durchdringendem, flehendem Blick auszuweichen.

»Ich kann nicht ...«

»Ich weiß.«

Als Dex anfing, sich in seinem Griff zu winden, ließ er ihn sofort los, aber er war noch nicht bereit, zurückzuweichen. Stattdessen stützte er die Hände flach gegen die Tür. Mit seinem restlichen Körper schien er Dex an der Tür aufrecht zu halten. Er spürte seinen rasenden Herzschlag auf der rechten Seite seiner Brust. Sein eigenes Herz hämmerte links daneben.

»Mein Vater bringt mich um.«

»Ich weiß.«

»Ich kann einfach nicht ... nicht schwul sein.«

Was zur Hölle sollte er darauf sagen? Am liebsten würde er dem alten Sack den Hals umdrehen.

Als Henrik die Augen wieder öffnete und geradewegs in Dex‘ blickte, blieb ihm die Luft weg. Oh Gott, was sollte er nur dagegen tun? Zwei Wochen lang hatte er sich Dex mühsam abgewöhnt. Oder zumindest hatte er sich das eingeredet. Zwei Wochen für nichts und wieder nichts, denn jetzt würde er wegen eines winzigen Kusses wieder von vorne anfangen müssen.

Zwei. Es waren zwei Küsse, und sie waren alles andere als winzig. Verdammt.

»Dann sei es nicht.« Henrik schluckte. »Dann sei nicht schwul - außer bei mir.«

Er konnte regelrecht spüren, wie Dex der Atem stockte. Kein Wunder.

Er musste den Verstand verloren haben, so was anzubieten. Eine heimliche Beziehung. Er war der heimliche Liebhaber. Der Typ, der sich unterm Bett versteckte oder nackt aus dem Fenster sprang, wenn Dex‘ Eltern früher als geplant von ihrem Wochenendausflug zurückkehrten.

Langsam schüttelte Dex den Kopf. Seine Augen waren leicht geweitet, als sich die Angst wieder Bahn brach. »Ich kann nicht. Wenn das jemand herausfindet ...«

Henriks Schultern sackten nach unten. Das war’s. Mehr konnte er nicht anbieten. Er hatte alles versucht und versagt. Jetzt nimm es wie ein Mann. In seiner Brust wurde es eng. Nur noch ein paar Wochen. Dann brauchte er Dex nie wiederzusehen. Der Gedanke war furchtbar. Umso dringender war es Zeit, etwas Abstand aufzubauen. Schnell.

Mit einem knappen Nicken stieß er sich von der Tür ab. Seiner Stimme traute er nicht. Dann packte Dex ihn am Handgelenk.

»Verflucht.« Henrik konnte beinahe sehen, wie er sich einen mentalen Schubs gab. Das Blut rauschte in seinen Ohren. »O...Okay. Versuchen wir’s.«

Er hatte gar nicht gemerkt, dass er die Luft angehalten hatte. Als er jetzt wieder tief durchatmete, bestürmte Dex‘ wundervoller Geruch augenblicklich seine Sinne. In seinem Kopf zündete ein Funke. Er konnte kaum glauben, was er da hörte. Er konnte auch nichts sagen. Stattdessen zog er Dex an sich und verschloss seine Lippen mit einem weiteren, süßen Kuss.

Bisher hatten sie sich auch nur heimlich getroffen. Heimliche Treffen waren besser als gar keine. Das würde er schon irgendwie hinbekommen, ganz sicher.

Impressum

Texte: Nora Wolff
Bildmaterialien: geralt / pixabay
Tag der Veröffentlichung: 15.06.2016

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