»Sie sind wirklich ein so aufmerksamer junger Mann, Paul.« Frau Schuck hatte ihre Geldbörse in ihrer umfangreichen Handtasche gefunden. Mit einer knorrigen Hand rückte sie ihre Brille zurecht und zog die Rechnung näher zu sich heran. Ihre beiden Freundinnen beugten sich ebenfalls vor, um die Endsumme zu erkennen.
»Vielen Dank, Frau Schuck. Das macht 81,80 Euro.«
Paul wandte diskret den Blick ab, als sich Frau Schuck im Flüsterton mit ihren Freundinnen beriet. Ein Pärchen saß zwei Tische weiter am Fenster und Stammgast Hubert hockte wie immer am Ende der Bar über einem Bier, ansonsten war Steffens Café leer. Im Hintergrund spielte ein lokaler Radiosender leise einen aktuellen Popsong aus den Charts. In der Küche hatte der Koch das Sagen über die Musikauswahl, im Gastraum regierte Steffen mit eiserner Hand über die Stereoanlage hinter dem Tresen. Beide ließen keine Abwechslung zu.
Frau Schuck war sich mit ihren Freundinnen einig geworden und legte Paul ein paar Scheine hin. »Das stimmt so, mein Lieber. Es war wirklich ein sehr schöner Abend.«
90 Euro. Paul hatte mit 85 Euro gerechnet, da es Frau Schuck war. Der gewöhnliche Café-Gast rundete nur auf oder quälte sich einen Euro zusätzlich ab.
»Danke schön. Es freut mich, dass es Ihnen gefallen hat.«
»Wie jedes Mal«, sagte Frau Schuck. »Deswegen komme ich so gerne her.«
»Auch wenn das Essen besser sein könnte«, bemerkte eine von Frau Schucks Freundinnen. »Es gibt da dieses neue Bistro im Lehel. Eine wunderbare Küche. Mediterran angehaucht und schön leicht.«
»Im Service sind sie noch unterbesetzt«, warf die zweite Freundin ein, ehe sie aus dem Fenster in die Dunkelheit sah, die nur schwach von den wenigen Straßenlaternen durchbrochen wurde. Auf der anderen Straßenseite stand eine Gruppe junger Männer um einen mattschwarzen Porsche Panamera herum, der hier so fehl am Platz wirkte wie das Märchenschloss von Walt Disney. »Und die Gegend ist … angenehmer.«
Frau Schuck beugte sich vor. »Haben Sie schon mal daran gedacht, zu wechseln, Paul? Ich finde, Sie würden hervorragend in dieses kleine Bistro passen. Wenn Sie möchten, lege ich ein gutes Wort für Sie ein.«
»Gute Servicekräfte werden immer gebraucht.«
»Und die Gäste sind … anders. Dadurch ist die Bezahlung wahrscheinlich besser.«
Paul verstaute sein Portemonnaie und lächelte die drei Frauen an. In gewisser Weise erinnerte ihn jede einzelne an Oma Biggi. Sie hatte damals versucht, ihn dazu zu überreden, in der Goldenen Krone zu bleiben, weil er so gut dorthin passte und die Bezahlung hervorragend war. Allerdings konnte er sich Hack wahrscheinlich abschminken, wenn er ging. Aus den Augen, aus dem Sinn.
»Vielen Dank für das Angebot, aber ich fühle mich hier ganz wohl.« Er zwinkerte. »Und mit den Gästen habe ich auch keine Probleme.«
Damit trat er eine weitere Argumentationsrunde los, die ihn von einem Jobwechsel überzeugen sollte. Frau Schuck steckte ihm eine Visitenkarte zu. Bistro Pan. Sagte ihm nichts.
Als er aus dem Augenwinkel ein Handzeichen des Pärchens auffing, eiste er sich höflich von den Frauen los. Er kassierte ab, nahm die 0,65 Euro Trinkgeld dankend entgegen und kehrte zur Theke zurück, hinter der Steffen ein Bier für Hubert am Tresen zapfte.
»Ich glaube, Frau Schuck wollte mich gerade abwerben.«
Steffens Kopf ruckte hoch. »Was?« Er schloss den Zapfhahn und tauschte Huberts geleertes Glas mit dem gefüllten aus. »Zum Wohl.« Dann wandte er sich Paul zu. »Frau Schuck ist seit Ewigkeiten Stammgast bei mir. Ich habe nur ihretwegen die Leberterrine noch auf der Karte.«
»Und wegen der wird sie wahrscheinlich weiterhin kommen, bis man sie mit den Füßen voran aus deinem Laden trägt.« Er zeigte Steffen die Visitenkarte. »Aber ihren Freundinnen gefällt es da wohl besser.«
Steffen stellte Huberts leeres Bierglas ab und studierte das Kärtchen. »Klar. Lehel«, murmelte er.
Paul wappnete sich gegen Steffens übliche Tirade über die schlechte Lage und seine Umzugspläne, doch stattdessen zog er sein Handy aus der Hosentasche und fotografierte die Visitenkarte von beiden Seiten ab. Paul nutzte den Moment, um sich im Café umzusehen.
Das Pärchen war bereits gegangen und Frau Schuck und ihre Freundinnen brachen soeben auf. Obwohl der Gastraum aufgeräumt war und die Tische ordentlich aussahen, wirkte das Café trostlos. Steffen besaß zwar einen grünen Daumen, den er in verschiedenen Pflanzen auslebte, die im Raum verteilt waren, doch das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Einrichtung abgewohnt war und ersetzt werden musste.
Wahrscheinlich wäre es klug, sich dieses Bistro Pan doch einmal anzusehen.
Wenn Hack nur nicht …
Eine Bewegung aus dem Augenwinkel lenkte seine Aufmerksamkeit aufs Viereck nebenan. Zwei Männer stürmten die Stufen zum Eingang hinunter. Sie waren ungefähr gleich groß, hatten eine ähnlich muskulöse Statur mit breiten Schultern und beide dunkle Haare.
Paul hätte Hack auf mehrere hundert Meter Entfernung erkannt. Die Art, wie er in der Hosentasche nach seinen Zigaretten kramte, verriet ihn ebenso wie die gefährliche Aura, die die Luft um ihn herum vibrieren zu lassen schien. Doch Pauls Blick saugte sich an dem anderen fest. Sein Herz machte einen Satz.
Der Mann sah aus wie Hack. Nur dass Hack mit seiner schmutzigen Kochjacke, den zerzausten Haaren und der Zigarette zwischen den Lippen perfekt vor das blinkende OPEN-Schild im Fenster neben der Tür vom Viereck passte. Der irgendwie geleckt aussehende Mann, der ihm gegenüberstand, nicht.
Steffen stieß ihn an und gab ihm die Visitenkarte zurück. »Ist das sein Bruder?«
»Sieht so aus. Für seinen Vater wäre er ein bisschen jung.«
»Du weißt es nicht?«
Paul schwieg. Wenn er es wüsste, würde er den Kerl vermutlich nicht anstarren, als wäre er die Lösung zu einem besonders kniffligen Rätsel, an dem er sich festgebissen hatte. Fünf Minuten allein mit ihm und er wüsste wahrscheinlich mehr über Hack, als er in den vergangenen fünf Wochen aus ihm herausbekommen hatte.
»Ich dachte, auf dem Straßenfest … und dann Weihnachten … ich weiß nicht, irgendwie hatte ich das Gefühl, dass da was zwischen euch ist. Aber umso besser.«
Paul drehte den Kopf. »Umso besser?«
Steffen verzog die Mundwinkel. »Diese Sache zwischen dir und Hack hat mir von Anfang an nicht gefallen.«
»Scheiße. Das geht dich ja wohl überhaupt nichts an.«
Gab es nicht noch irgendwas zu tun? Abgesehen von Huberts Glas hatte Steffen die Bar so gut in Schuss gehalten, dass nicht mal irgendwo ein verdammtes Staubkorn herumschwirrte. Vielleicht sollte er schnell zum verlassenen Tisch von Frau Schuck flitzen und die leeren Gläser …
Draußen vor dem Fenster versuchte Hacks vermeintlicher Bruder, ihm mit einer herrischen Geste die Zigarette wegzunehmen.
Keine gute Idee.
Hack zog den Arm zurück und machte einen Schritt auf seinen Bruder zu. Auf die Entfernung sah es so aus, als wäre Hack unwesentlich kleiner, dennoch wich der andere zurück und hob ergeben die Hände, ehe er sie in die Taschen seines Mantels rammte.
Die Geste ähnelte Hack so sehr, dass es beinahe unheimlich war.
»Ich meine, was weißt du überhaupt über diesen Kerl?«
Abgesehen davon, dass er vögelt wie ein junger Gott? »Ich muss nichts über ihn wissen.« Wenn er sich das oft genug vorsagte, glaubte er es irgendwann vielleicht selbst.
Steffen schüttelte den Kopf und schnappte sich das dreckige Bierglas, um es im Waschbecken abzuspülen. An den meisten Abenden der Woche lohnte es sich kaum, die Spülmaschine anzuwerfen.
»Solltest du aber, immerhin ist Hack auf Bewährung. Irgendwas muss er also angestellt haben.«
Ach. Sag bloß. Dummerweise war es leichter, eine Auster zu knacken, als mit Hack zu reden. Die Auster konnte auch beim dritten und vierten Versuch nicht wegrennen – Hack schon.
»Außerdem ist er von dir besessen.«
Paul zog eine Augenbraue hoch. »Was? Quatsch.«
»Doch. Er ist von dir besessen. Und du von ihm. Aber Besessenheit ist niemals eine gute Grundlage für eine Beziehung. Oder Sex. Oder irgendwas.«
»Klingt, als hättest du mit so was Erfahrung.«
Steffen schnaubte und widmete sich akribisch dem Abtrocknen des Glases, als hätte sich das Gesundheitsamt für eine Inspektion angemeldet. Für die Gäste, die er in seinem Café bediente, hatte er eindeutig zu hohe Standards. Vielleicht arbeiteten sie deshalb so gut zusammen.
Für einen kurzen Moment huschte ein Schatten über Steffens Gesicht wie bei einem Leuchtturm, dessen Licht gerade an einem vorbeigewandert war und der einem jetzt seine dunkle Seite zugewandt hatte. Der Spitzname, den ihm die Küchencrew verpasst hatte, hatte nie besser gepasst.
Dann hob er den Kopf und Paul befand sich wieder im Lichtkegel. »Wir reden hier nicht über mich.«
»Weil mich das nichts angeht?«, schlug er höflich vor. Mal sehen, ob Steffen den Wink verstand.
»Weil ich mir Sorgen um dich mache. Hack ist … gefährlich.«
Beinahe hätte Paul gelacht. Er wusste nicht, was Steffen gehört hatte, aber die Geschichten konnten nicht viel schlimmer sein als die, die er selbst kannte. Aus Erzählungen von Steffens Küchencrew, von Danil, der anderen Küchenhilfe aus dem Viereck, oder von Hack selbst. Ob da nun etwas Wahres dran war oder nicht, Hacks Hackfleischstory zog weite Kreise.
»Hast du schon mal was von Hunden gehört, die bellen, aber nicht beißen?«
Steffen knallte das Bierglas ins Regal. »Dieser Hund beißt, da bin ich sicher.«
Die Worte ließen Paul erschauern und er wandte sich wieder dem Fenster zu. Hacks Bruder redete hitzig und mit ausschweifenden Gesten auf ihn ein, während Hack beinahe reglos dastand und rauchte. Vermutlich seine zweite Zigarette. Paul hatte es aufgegeben, ihm die Dinger abzugewöhnen. Irgendwie würden sie sich Hacks Mund teilen müssen. Wenigstens vermied er es meistens, zu rauchen, wenn Paul dabei war oder wenn er wusste, dass er ihn gleich noch sehen würde.
Was wohl hieß, dass Hack heute wieder nicht warten würde.
Vielleicht sollte er ihm eine Nachricht aufs Handy schicken und darum bitten?
Toll, geht’s noch verzweifelter? Vielleicht hatte Steffen recht. Vielleicht war er besessen. Anders konnte er sich nicht erklären, warum er sich weiterhin von Hack flachlegen ließ – wenn es denn mal dazu kam –, anstatt einen Haken hinter die Sache zu setzen oder es ihm wenigstens schwerer zu machen.
Paul wandte den Blick ab und versuchte, seine Gedanken abzuwürgen. Er drehte sich sowieso nur im Kreis. »Hast du inzwischen eigentlich eine Aushilfe fürs Wochenende gefunden? Morgen sollte kein Problem sein, aber Freitag, Samstag und Sonntag wäre ein wenig Hilfe ganz nett.« In der Hoffnung, dass dann mehr Gäste kamen, sonst würde die Aushilfe mehr kosten, als das Wochenende einbringen. Vielleicht hätten sie absichtlich das Risiko eingehen sollen, auch auf die Gefahr hin, dass er ohne Pause durcharbeiten musste. Er hatte schon andere Dinge gemeistert.
»Hältst du mich für einen Anfänger?«
»Ich mein ja nur. An Weihnachten war deine Planung ziemlich kurzfristig.«
»Weil du dich nicht festlegen konntest.« Steffen nickte zum Fenster. »Seinetwegen.«
Da Paul nicht weiter über seine Nicht-Beziehung mit Hack sprechen wollte, hakte er zum wiederholten Mal nach: »Was hast du gleich noch mal vor?«
»Darf ich nicht auch mal ein paar Tage freinehmen?«
»Doch.« Aber angesichts ihrer Situation wurde Paul immer nervös, wenn er das tat. »Ich hoffe, du sagst mir rechtzeitig, wenn ich mir was Neues suchen muss.« Er schwenkte die Visitenkarte vom Bistro Pan wie den symbolischen Zaunpfahl.
Steffen schnaubte. »Ich hab nicht vor, dichtzumachen.«
»Nur weil du es nicht vorhast, heißt das nicht …« Als Steffen einen finsteren Blick auf ihn abschoss, schluckte er den Rest herunter und fragte stattdessen: »Aushilfe?«
Steffen nickte. »Ist erledigt. Adrian kommt Freitagabend, Samstag und Sonntag.«
Pauls Herz setzte einen Schlag aus. »Adrian?«
Zufall. Der Name kommt bestimmt tausendmal in München vor. Millionenmal in Deutschland.
»Ja. Ziemlich fixer Kerl. Er hat mir auch an Weihnachten ausgeholfen. Kam fast so gut an wie du.«
Verdammt. »Wo hast du ihn her?«, fragte Paul so beiläufig wie möglich.
Steffen zuckte die Schultern. »Hat sich irgendwann mal hier beworben, aber da hatte ich dich schon. Er war auch in der Krone. Da ich mit dir einen Glücksgriff getan habe, dachte ich, dass ich mit ihm nicht viel falsch machen kann.«
Verdammte Scheiße. Das klang nicht mehr nach Zufall. Das klang beschissen.
Paul hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Gänsehaut lief seine Arme hoch und schloss sich zu einem unangenehmen Prickeln in seinem Nacken zusammen.
Reiß dich zusammen, du Weichei.
Er ballte die Hände zu Fäusten, bis sich seine Fingernägel in die Handflächen gruben. Der Schmerz half ihm, die Beklemmung abzuschütteln. Langsam und kontrolliert holte er Luft, bis er das Gefühl hatte, sich wieder zu entspannen.
»Alles okay, Paul? Du bist auf einmal so blass.«
»Alles bestens.«
»Sag bloß, du wirst krank? Das kann ich so kurz vor meinem freien Wochenende echt nicht gebrauchen.«
»Nein, keine Panik. Mir geht’s gut. Du kannst dir ruhig freinehmen.«
Er zwang sich, seine Fäuste zu lockern, was erstaunlich schwer war, schnappte sich das Tablett und ging zum Tisch von Frau Schuck, um die leeren Gläser abzuräumen.
Normalerweise neigte er nicht zu Gewaltausbrüchen, das überließ er anderen. Aber in München gab es verdammt noch mal Tausende Restaurants, Bars und Cafés. Hatte sich dieses Arschloch ausgerechnet bei Steffen bewerben müssen?
Vielleicht hat er nach dir gesucht, wisperte eine hinterhältige Stimme in seinem Kopf, der er am liebsten den Hals umgedreht hätte, wenn sie nicht körperlos gewesen wäre.
Wenn Adrian tatsächlich nach ihm gesucht hatte, dann sollte er ruhig kommen. Noch mal würde er sich nicht von ihm verprügeln lassen.
*
Kaum hatte Paul die Tür von Steffens Café aufgestoßen, schnitt eisige Kälte in sein Gesicht und seine nackten Finger. Laut Wetterbericht sollte der Winter in den nächsten Tagen doch noch kommen und einige Zentimeter Schnee mitbringen. Für Paul bedeutete das im schlimmsten Fall, dass die öffentlichen Verkehrsmittel lahmgelegt wurden und sich noch weniger Gäste ins Café verirrten.
Ganz besonders tolle Aussichten für ein Wochenende mit Adrian.
Zigarettenqualm wehte zu ihm herüber und ließ ihn den Kopf drehen. Hack stand im Schatten von Steffens Café und brachte Pauls Blut allein durch seinen Anblick in Wallung. In der Dunkelheit glomm die Glut seiner Zigarette so lange und intensiv auf, dass sie wie das starrende Auge eines blutrünstigen Monsters wirkte. Der Schein hob seine kantigen Gesichtszüge messerscharf hervor, bevor sie wieder in der Nacht verschwanden.
Paul konnte sich nur vorstellen, wie heftig Hack an dem Glimmstängel ziehen musste, um ihn so leuchten zu lassen. Als er noch vorgegeben hatte, Raucher zu sein, hatten die paar Male, die er das versucht hatte, stets in einem Hustenanfall geendet.
»Hi«, sagte Paul. »Du hast gewartet.« Er konnte nicht verhindern, dass er überrascht klang. Gleichzeitig zuckte ein schmerzhaft heftiges Ziehen durch seinen Unterleib. Definitiv besessen. Oder konditioniert.
»Das hört sich an, als würde ich das nie machen.«
»Tust du auch nicht. Okay, neuerdings nur noch selten.« Viel zu selten.
Mit jedem Schritt, den Paul näher an ihn herantrat, schien Hacks Präsenz stärker zu werden. Paul erschauerte. Am liebsten hätte er sich ihm an den Hals geworfen und sich einen Begrüßungskuss abgeholt, der die Taubheit in seinen Knochen in Flammen aufgehen ließ. Wenn Hack nur nicht Hack wäre. Und diese verdammte Zigarette nicht zwischen seinen Lippen stecken würde. An der er jetzt schon wieder zog, als würde sein Leben davon abhängen. Wie ihm dabei vor Kälte nicht die Finger abfallen konnten, war Paul schleierhaft.
»Stress?«
»Im Viereck?« Hack schnaubte. »Nein.« Dann schien ihm der Blick aufzufallen, mit dem Paul die Zigarette bedachte. Er schnipste sie zu Boden, wo bereits zwei Kippen lagen, und trat sie aus.
Wartete Hack etwa schon zweieinhalb Zigarettenlängen auf ihn? Er musste bestimmt eine Woche zurückdenken, bis ihm einfiel, wann er das zuletzt gemacht hatte.
»Dein Bruder weckt in dir offenbar wie ich das Bedürfnis nach einer Zigarette. Oder mehreren.«
Ohne die aufleuchtende Zigarettenglut lag Hacks Gesicht größtenteils wieder im Schatten. Dennoch konnte Paul beinahe hören, wie seine Kiefer mahlten.
»Du hast uns gesehen.«
»Ich glaube, die ganze Straße hat euch gesehen.« Paul deutete die Straße hinunter, auf der wie so oft kein einziges Auto fuhr und sich kein Fußgänger blicken ließ. Auf der anderen Straßenseite flackerte eine Laterne. Die Gruppe junger Männer war genauso verschwunden wie der Porsche.
Zwei Männer, die so gefährlich wirkten wie Hack und sein Bruder und denen eine Frau Schuck bestimmt nicht allein in einer dunklen Gasse begegnen wollte, stachen wie zwei Tiger in einer Schafherde heraus.
»Ihr seht euch sehr ähnlich.«
Hack brummte und machte einen Schritt auf Paul zu, sodass er den Kopf in den Nacken legen musste. Verdammt. Hack wusste ganz genau, wie er seine Wirkung auf Paul auszuspielen hatte.
»Kommst du mit zu mir?«
Das Kratzen in Hacks Stimme rieb wie Sand über seine Haut. »Tu ich das nicht immer, wenn du auf mich wartest?« Ein erbärmlicher Konter, der viel zu viel preisgab. Hack schien es zu überhören.
»Ich dachte, ich frag lieber.«
Als hätte Paul eine Wahl, als Hack sich vorbeugte. Er schloss die Augen, noch bevor Hacks Lippen auf seine trafen. Der Geschmack von Rauch breitete sich in seinem Mund aus, doch in diesem Moment hätte Paul nichts weniger interessieren können. Er legte eine Hand in Hacks Nacken und schmiegte sich an ihn, um den Kuss zu vertiefen.
Gott, es war Tage her, seit sie sich zuletzt geküsst hatten. Er hatte ganz vergessen, wie Hack sich anfühlte und was er in Paul auslöste. Die Hitze und Erregung kannte er. Sie breiteten sich wie ein Flächenbrand in ihm aus, den nur Hack löschen konnte. Was ihm jedoch zu schaffen machte, war dieses Gefühl, nach Hause zu kommen, diese Vertrautheit, von der er immer mehr wollte.
Als sie sich voneinander lösten, rangen sie beide nach Luft. Paul spürte Hacks Erektion an seinem Bein, die ihn gleichzeitig erregte, erleichterte und zur Verzweiflung brachte.
»Ist er älter oder jünger als du?«
»Was?« Hack hob den Blick von Pauls Lippen, um ihm in die Augen zu sehen. Der Ausdruck darin war nicht schwer zu deuten. Hack war mit seinen Gedanken woanders.
»Dein Bruder.«
Bei dem Wort schien sich eine innere Schleuse in Hack zu schließen. Die Warnung hätte nicht deutlicher sein können. Paul hatte jedoch noch nie die Finger von etwas oder jemandem lassen können, nur weil er gewarnt worden war.
»Älter. Drei Jahre.« Hack zog Pauls Hand aus seinem Nacken und verschränkte ihre Finger miteinander. Trotz der Kälte lagen Hacks warm und rau an Pauls, dessen Hand beinahe komplett in seiner verschwand. »Gehen wir? Es ist arschkalt.«
Paul ließ sich in Richtung U-Bahn mitziehen. »Drei Jahre heißt, er ist dreißig und du siebenundzwanzig? Oder er sechzig und du siebenundfünfzig? Dann hast du dich wirklich verdammt gut gehalten.«
Hack knurrte. Noch eine Warnung. Auch wenn er bei seinem aufbrausenden Chef Egon eine Engelsgeduld zu haben schien, schaffte Paul es jedes Mal, seinen Geduldsfaden auf die Probe zu stellen.
»Ich bin übrigens siebenundzwanzig. Und habe keine Geschwister. Was du natürlich schon weißt. Meine Mutter, meine einzige noch lebende Verwandte, kennst du ja auch schon. Und meine potentielle neue Verwandtschaft. Hast du –«
»Verdammt.« Hack blieb stehen. Das blaue U der U-Bahnstation war noch gute zwanzig Meter entfernt. Er löste seine Hand aus Pauls und versenkte sie in seiner Jackentasche. »Ich bin neunundzwanzig, mein Bruder zweiunddreißig. Er heißt Clemens und ist Anwalt für Strafrecht.«
Paul starrte ihn an. Bisher hatte sich diese Wand aus Granit wie der Mount Everest vor ihm aufgetürmt und jetzt hatte Hack ihm gleich vier Informationen über sich auf einmal gegeben. Nicht, dass ihn sein Bruder wirklich interessierte. Höchstens ein bisschen. Weil er eben zu Hack gehörte. Und weil sein Einfluss auf ihn groß genug zu sein schien, dass Hack mit Infos herausplatzte, die er normalerweise hinter schlagfertigen Kontern versteckt hätte.
»War’s das jetzt? Können wir gehen und –«
»Ficken?«
Hacks Augen wurden schmal. »Ich hab gefragt, ob du mit zu mir willst.«
»Was eine höflichere Umschreibung für ficken ist. Weil du alles andere nicht willst.« Wodurch ich mich zum Deppen mache.
Das war das falsche Thema. Er erkannte es an Hacks Blick und daran, wie seine Hand abermals zu seiner Hosentasche mit den Zigaretten zuckte. Dann zog er sie zurück und fuhr sich stattdessen durch die zerzausten Haare. Sah aus, als würde er das heute nicht zum ersten Mal machen.
»Nicht das wieder. Ich hab heute keinen Nerv für so was.«
Tatsächlich klang er erschöpft. Nicht auf körperliche Art, als hätte er gerade einen Triathlon absolviert oder die Nacht durchgemacht. Eher, als hätte ihn etwas seelisch zermürbt.
Oder jemand.
Aber Paul würde kein schlechtes Gewissen bekommen. Er konnte sehen, dass es Hack nicht nur ums Vögeln ging, auch wenn er Paul etwas anderes weismachen wollte und dafür sogar auf Abstand zu ihm ging. Wenn er sich davon abschrecken lassen würde, wäre es bei dem einen Quickie in Egons Küche geblieben.
»Aber du hast Nerven genug, meine Gesellschaft und Sex zu fordern.«
»Ich fordere überhaupt nichts. Ich habe gefragt. Du hättest verdammt noch mal Nein sagen können.«
Genau. Und er könnte sich auch einfach ein Bein ausreißen. War doch nichts dabei. »Kann ich nicht.«
»Gut. Dann tu so, als hätte ich nicht gefragt.«
Das konnte er noch viel weniger. Nicht wenn seine Lippen noch von ihrem Kuss prickelten und sein verdammter Schwanz nach der tagelangen Abstinenz strammstand wie eine ganze Armee.
»Aber du hast gefragt. Obwohl du weißt, dass ich mehr will als Sex.«
Hack schnaubte und wandte den Blick ab. Irgendwo über ihnen wurde ein Fenster zugeknallt und schnitt einen blechernen Fernsehton ab. In der Ferne war die Sirene eines Rettungswagens zu hören.
»Wir kriegen nicht immer das, was wir wollen.«
»Und weil du das glaubst, rennst du vor mir weg.«
Zu spät biss er sich auf die Zunge. Eigentlich wollte er dieses Fass nicht aufmachen, weil er noch genau wusste, wie Hack letzte Woche mitten in der Nacht aus seiner Wohnung gerauscht war, nur weil er es gewagt hatte, sich dem Thema Gefühle zu nähern – die Hack offensichtlich nicht für ihn haben wollte.
Hack schloss die Augen. »Paul. Nicht heute.«
»Sieh mich an.«
Paul wartete, bis Hack sich dazu durchgerungen hatte. Wenn ihm Paul so egal war, warum hatte er dann solche Schwierigkeiten mit dem Thema?
»Es ist mir scheißegal. Was du gemacht hast. Warum du verurteilt wurdest. Wer dein Bruder ist. Oder deine sonstige Familie. Ob du Leichen im Keller hast. Warum es kein einziges Scheißfoto in deiner Wohnung gibt. Ob dein Auto geklaut ist. Es ist mir egal. Ich frage zwar nach, aber eigentlich ist das Vorspiel. Ich rechne mit keiner Antwort. Ich will nur …«
Hervorragend. Da hatte sein Monolog so reibungslos begonnen und jetzt blieben ihm die Worte im Hals stecken. Dass Hack ihn mit diesem Blick ansah, machte es nicht besser. Ein getretener Hund war nichts dagegen.
»Mehr«, führte er den Satz lahm zu Ende. »Ich will nur etwas mehr.«
Einen furchtbaren Moment lang dachte er, Hack würde gar nicht darauf reagieren. Die Sekunden verstrichen. Jeder Atemzug holte eisige Kälte in seine Lungen, bis er das Gefühl hatte, husten zu müssen.
Dann trat Hack auf ihn zu und legte eine erstaunlich warme Hand an Pauls ausgekühlte Wange. In seinen Augen leuchtete ein Funke auf, nach dem sich Paul schon so lange gesehnt hatte. Er war jedoch so schnell wieder verschwunden, dass er nicht sicher war, ob er ihn sich nur eingebildet hatte.
»Mir ist es aber nicht egal.«
Paul legte eine eiskalte Hand über Hacks. »Hack …« Paul verstummte, als Hack seine Hand zwischen seine nahm und wärmte. Gott, dieser Kerl machte ihn wahnsinnig. Hatte er überhaupt eine Ahnung, wie das aussah? Ganz bestimmt nicht nach nur Sex.
»Außerdem ist das Auto nicht geklaut.«
Beinahe gegen seinen Willen musste Paul lächeln. Klar, dass er sich aus allem, was er angeboten hatte, ausgerechnet das verdammte Auto herauspicken musste.
»Ich hab es von …« Bei Hacks Zögern ließ Paul die Schultern sinken. Oder auch nicht. Offensichtlich gab es in seinem Leben nichts, das leicht war. »Von einem Bekannten.«
Paul versuchte zu ignorieren, dass Hack begonnen hatte, mit dem Daumen über seinen Handrücken zu streicheln. »Einem Autoschieberbekannten?«
Hacks Mundwinkel zuckten. »Einem ganz normalen Bekannten.«
Warum hatte er dann gezögert? Paul sprach die Frage nicht aus. Er hatte nicht gelogen. Manche Dinge bezüglich Hack waren ihm egal. Sollte Hack sie für sich behalten, wenn er glaubte, ihm was verschweigen zu müssen. Er würde sie bestimmt nicht aus ihm herausbekommen, indem er immer wieder nachbohrte. Andere Dinge hingegen …
Hack beugte sich zu ihm hinunter und streifte mit seinen Lippen über Pauls, ehe er zum Eingang der U-Bahnstation nickte. »Kommst du mit?«
Scheiße, wie sollte er da ablehnen?
Besessen, besessen, besessen, hämmerte es in Pauls Kopf. Und wenn schon. Ein bisschen Hack war besser als gar keiner. »Ja.«
*
Oma Biggi war der Ansicht gewesen, dass es egal war, was ein Mann sagte, weil nur seine Taten zählten. »Die meisten Männer reden ohnehin nicht viel, und wenn doch, dann ist es Unsinn.«
Wahrscheinlich hatte sie damit gar nicht so unrecht – auch wenn sich Paul damals furchtbar beleidigt gefühlt hatte, weil er schließlich auch ein Mann war. Allerdings war er mit sechzehn und inmitten eines schweren Gefühlschaos wegen eines Mitschülers nicht in der Lage gewesen, zu begreifen, dass Oma Biggi diese Weisheit nur auf bestimmte Bereiche bezog.
Als Hack ihn in seine Wohnung zog, die Tür hinter ihm zuwarf und ihn dagegen zurückdrängte, dämmerte Paul, welche Bereiche sie gemeint hatte.
Hungrig landete Hacks Mund auf seinem, während seine Hände an Pauls Jacke und Schal zerrten, als hätte er Paul in den letzten Tagen genauso sehr vermisst wie Paul ihn. Das Gefühl war berauschend. Paul schloss die Augen und ließ sich treiben. Hacks Kuss war verzehrend, seine Bewegungen verzweifelt, als er Paul die Jacke über die Schultern schob.
Paul kam kaum hinterher, Hack von seinen Klamotten zu befreien, da stand er schon halbnackt an der Tür. Verlangen pulsierte durch seinen Körper und knipste ein Licht nach dem anderen in seinem Verstand aus, bis er außer Hack nichts anderes mehr wahrnahm.
»Zieh die Schuhe aus.«
Schuhe. Paul blinzelte und starrte Hacks Mund an, der nur fünf Zentimeter von seinem entfernt war und doch nicht weiter weg sein könnte.
»Paul«, sagte Hack, während er sich die Jacke von den Schultern riss und Pullover und T-Shirt zusammen über den Kopf zerrte. Der vertraute Geruch von Gebratenem und Fett wehte zu ihm herüber, untermalt von Hacks herrlichem Meeresduft. »Deine Schuhe.« Er trat sich seine eigenen von den Füßen und fummelte am Gürtel seiner Jeans herum.
Bevor er sie öffnen konnte, hakte Paul einen Finger in den Bund und zog Hack an sich heran. Er presste seine Lippen auf Hacks, lockte seine Zunge in seinen Mund und umschmeichelte sie lange genug, dass sein Angriff überraschend kam, als er in Hacks Zunge biss. Nicht so fest, das Blut floss, aber fest genug, dass Hacks Stöhnen seine Nervenenden zum Vibrieren brachte.
Er spürte eine Hand auf seiner Schulter. Mit einem Ruck wurde Paul zurückgedrückt, bis er mit dem Rücken gegen die Eingangstür prallte. Das schäbige Türblatt klapperte im Rahmen. Das raue Holz fühlte sich erregend kühl an Pauls nackter Haut an und bot ihm Halt, als er Hacks Blick begegnete.
Hacks dunkle Augen brannten und verliehen seinem Gesicht zusammen mit der Narbe eine Wildheit, bei der sich Paul auf die Unterlippe biss. Er drängte gegen die Hand auf seiner Schulter, doch gegen die starken Muskeln in Hacks Arm hatte er keine Chance. Paul erschauerte. Hack war so viel stärker als er. Allein bei dem Gedanken zuckte sein steifer Schwanz in seiner Pants.
»Schlafzimmer«, presste Hack heiser hervor und grub seine Finger schmerzhaft in Pauls Schulter. Er sah zu Pauls Füßen, die immer noch in seinen Schuhen steckten und um deren Knöchel seine Stoffhose hing. »Wenn du die nicht ausziehst, trag ich dich.«
Paul schlang die Finger um Hacks angespannten Oberarm. Die Muskeln waren hart wie Stahl – obwohl Paul den Eindruck hatte, dass sie unter seiner Berührung zu zittern begannen. »Hier.«
Hack starrte ihn an und lockerte den Griff seiner Hand. In seinen Augen blitzte es auf, doch er zögerte. »Ich hab kein –«
»Ich schon. Im Geldbeutel.«
Falls Hack es komisch fand, dass er ein Kondom mit sich herumschleppte, sagte er es nicht. Er war gerne vorbereitet. Das war ihnen damals im Viereck entgegengekommen, genauso wie ihm und dem Koch bei seiner vorherigen Arbeitsstelle. Oder bei Adrian.
Beinahe wäre Paul zusammengezuckt. Du wirst jetzt nicht an Adrian denken!
Paul stieß Hacks Arm zur Seite, was ihm nicht bei jedem gelungen wäre. Hack hingegen schien genau zu wissen, wann er zupacken und wann er lockerlassen musste.
Als er sich bückte und das Kondom aus seinem Geldbeutel zog, knurrte Hack von oben: »Hast du da auch Gleitmittel drin?«
»Nein.« Paul richtete sich wieder auf und drückte Hack das extrafeuchte Kondom in die Hand. »Ich will kein Gleitmittel. Ich will es hier. Und ich will es jetzt. So wie damals im Viereck.«
Erregung huschte über Hacks kantiges Gesicht. »Verdammt.«
Im nächsten Augenblick wurde er von Hacks muskulösem Körper gegen die Tür gedrängt. Im Gegensatz zu der Hitze, die Hack ausstrahlte, fühlte sich das Holz noch kälter an seinem Rücken an. Sein Herz hämmerte in seiner Brust, als Hack sein Gesicht dicht an seins heranbrachte. Obwohl Paul die Narbe, die sich nur knapp an Hacks linken Auge entlang zog, inzwischen aus allen möglichen Perspektiven kannte, wirkte sie neben der Glut in seinem Blick Furcht einflößend.
Bebend hob Paul Hack sein Gesicht entgegen. Er spürte bereits das Kribbeln auf seinen Lippen, als Hack ihn packte und umdrehte. Die Stoffhose wickelte sich weiter um seine Knöchel, aber bevor er das Gleichgewicht verlieren konnte, presste ihn Hacks Gewicht gegen die Tür.
Paul ächzte, als das Holz auf seine erhitzte Vorderseite traf. Er konnte Hacks körperliche Überlegenheit so deutlich spüren wie seine pochende Erektion, die zwischen ihm und der Tür eingeklemmt war. Sein Nacken prickelte, als Hacks Atem ihn streifte. Kurz darauf spürte er seine Zähne, die über die empfindliche Haut schabten. Gänsehaut schoss über seine Wirbelsäule direkt in seinen Unterleib.
Mit einem Wimmern zerrte Paul seine Pants ein Stück herunter und drängte seinen Hintern gegen Hacks harten Schwanz, der immer noch in der Jeans steckte. Er hob die Arme, um sich an der Tür abzustützen, die bei jeder Bewegung leise klapperte – was bei Weitem nicht so schlimm war wie Hacks quietschendes Bett.
Dann gruben sich Hacks Zähne in seinen Nacken und zwei feuchte Finger stießen in ihn.
Spucke, war ihm gerade noch klar, bevor der Ansturm die Verbindung zu seinem Hirn kappte. Zitternd ließ er den Kopf nach vorne sinken, als sich Lust explosionsartig in ihm ausbreitete. Er schob die Beine weiter auseinander, was mit der Stoffhose und den Schuhen nicht ganz einfach war. Ungeduldig kämpfte er seinen rechten Fuß frei.
Hack ließ von seinem Nacken ab und leckte über die malträtierte Stelle. Als er sich das Mal vorstellte – ein Bluterguss? Ein Zahnabdruck? Eine Bisswunde? –, bebte Paul. Er bewegte sich den Fingern entgegen, schloss die Augen und flüsterte: »Noch mal.«
Er wusste nicht, ob Hack ihn gehört hatte. Sein Mund und seine Zunge arbeiteten sich zur anderen Seite. Alles in ihm war bis zum Zerreißen gespannt wie ein überdehntes Gummiband.
Komm schon.
Das Blut rauschte in seinen Ohren, bis das Knistern der Kondomverpackung es durchschnitt. Hack zog seine Finger zurück und grub sie in Pauls Hüfte. Dann spürte er Hacks Schwanz an seinem Eingang und seine Zunge, die über seinen Nacken tanzte.
Als Hack sich in ihn schob, biss er wieder zu – in fast dieselbe Stelle wie beim ersten Mal. Paul schrie heiser auf, als der pochende Schmerz in seinem Hintern und Nacken zusammentrafen und sich gegenseitig hochschraubten. Er krümmte die Finger, als wollte er sich an der Tür festkrallen. Sein schwerer Atem hatte das Holz beschlagen und die Feuchtigkeit fiel auf sein Gesicht zurück.
Hack hatte seine Jeans nur geöffnet und ein Stück heruntergezogen. Als er sich zu bewegen begann, spürte Paul nicht nur seinen Schwanz in sich, sondern auch den rauen Stoff, der über die Rückseite seiner Oberschenkel rieb. Mit gefährlicher Präzision reizte Hack Pauls Prostata, bis Pauls Beine zitterten.
Jeder Stoß trieb Pauls Erektion gegen die lärmende Tür. Falls Nachtschwärmer im Treppenhaus vorbeigingen, hielten sie vermutlich irritiert inne. Vielleicht weckte das Geräusch auch den einen oder anderen von Hacks Nachbarn. Abgesehen von den letzten Tagen hatten sie in den vergangenen Wochen einiges mitmachen müssen.
Die Vorstellung befeuerte die unerträgliche Hitze in Pauls Unterleib. Seine Hand rutschte am Türblatt hinunter. Bevor er sie jedoch um seinen Schwanz legen konnte, landete Hacks Hand auf seiner und zog sie wieder hoch. Er hätte die andere Hand nehmen können, tat es aber nicht.
Mit einer Sanftheit, die im krassen Gegensatz zu den heftigen Bewegungen seiner Hüften oder den Bissen stand, küsste Hack seinen Nacken.
»Hack …« Er konnte es nicht verhindern. Die Gefühle in seinem Inneren drängten an die Oberfläche.
Hacks Hand schob sich von seiner Hüfte in seinen Schritt. Als er Pauls Schwanz umfasste, zuckte er ihm hilflos entgegen. Hack folgte der Bewegung und nagelte Paul an die Tür, bis er kaum noch Bewegungsspielraum hatte. Und dann – endlich, endlich – kam er.
Der Orgasmus überrollte ihn so heftig, dass es ihn von den Füßen gefegt hätte, wenn Hacks Gewicht ihn nicht aufrecht gehalten hätte. Hack stöhnte, als er mitgerissen wurde. Er drückte seinen Mund gegen Pauls Hals, als wollte er den Laut dämpfen.
Die Erinnerung an ihr erstes Mal im Viereck legte sich über dieses Mal, aber etwas war anders. Damals in der Küche des Vierecks hatte sich Hack nicht so schwer gegen ihn gelehnt. Er hatte seine Finger nicht mit Pauls verschränkt. Er war danach nicht so dicht bei ihm geblieben, dass er an seiner Haut spüren konnte, wie sich Hacks Atem wieder beruhigte.
Paul schloss die Augen und lehnte die Stirn gegen die Tür. Scheiße. Das würde ihn umbringen.
Er ächzte, als Hack sich schließlich aus ihm zurückzog und von ihm löste. Kühle Luft traf seinen verschwitzten Rücken. Er hörte, wie Hack sich entfernte, rührte sich jedoch nicht. Er traute seinen Beinen noch nicht.
»Hier.« Paul nahm den warmen Waschlappen entgegen, den Hack ihm reichte. Seine Jeans war noch offen, sein nackter Oberkörper eine faszinierende Mischung aus groben Muskeln und glatter Haut, die Pauls Blick wie magnetisch festhielt. Bis Hack scharf die Luft einsog. »Verdammt.«
Pauls Kopf fuhr hoch. »Was?« Eine federleichte Berührung an seinem Nacken, der noch immer pochte. Ach so. Er hob die Hand, um die Stelle vor Hacks entgeistertem Blick zu verstecken, und räusperte sich. »Schon okay.«
Scham kribbelte in seinen Wangen, während er sich mit einer Hand säuberte. Hoffentlich war sein Gesicht nicht so erhitzt, wie es sich anfühlte. Das Letzte, was er jetzt brauchte, war, dass Hack sich deswegen schlecht fühlte. Oder schuldig. Oder sonst was Beschissenes. Er hatte schon genug eingebildete Gründe, um sich von Paul fernzuhalten.
»Okay?« Hack knirschte mit den Zähnen. »Scheiße, das sieht aus … du bringst mich andauernd dazu …« Fluchend fuhr er sich durch die Haare, als könnte er damit davon ablenken, dass der Satz noch nicht zu Ende war.
Mit hochgezogenen Augenbrauen drehte sich Paul ganz zu ihm um. »Ja?«
»Nichts.«
»Ich bringe dich wozu?«
»Scheiße.« Hack deutete auf seinen Hals. »Dazu.«
»Wenn ich dich zu irgendetwas bringen könnte, käme mir so was als Letztes in den Sinn.«
»Dann solltest du mal einen Blick in den Spiegel werfen. Das sieht nämlich aus, als hätte dich ein verfluchter Vampir angefallen.«
Paul nahm die Hand von seinem Hals und warf einen Blick darauf. Kein Blut. Von wegen. »Heißt das, ich darf dich ab jetzt Dracula nennen?« Der Gedanke war so absurd, dass Paul sich nur mühsam ein Grinsen verkneifen konnte. »Dürfte deinem Hackfleisch-Image doch entgegenkommen. Hey, wie wäre es mit Graf Hack?«
Hacks Miene verfinsterte sich. »Das ist nicht lustig.«
»Findest du?«
»Nein!«
Er riss Paul den Waschlappen aus der Hand, trat an ihm vorbei und hockte sich hin, um Pauls Sperma zu Leibe zu rücken, das in milchigen Bahnen die Tür hinunterlief. So, wie er darüber rubbelte, versuchte er allerdings eher, Rotweinflecken aus einem weißen Lammfellteppich zu entfernen. Eine Scheißarbeit. Das war ihm mal in der Goldenen Krone beim Aufräumen in einer der Suiten passiert. Zum Glück war in dem Glas nur noch ein Rest Rotwein gewesen.
»Du bringst mich dazu, die Kontrolle zu verlieren«, knurrte Hack. Inzwischen hatte er sich fast durch die Tür geschrubbt. »Und das ist gefährlich.«
Wahrscheinlich glaubte er das wirklich. »Hack.« Behutsam legte Paul eine Hand auf Hacks Schulter. Als er damit nichts bewirkte, grub er seine Finger tiefer hinein, bis Hack innehielt. Er starrte allerdings weiterhin die Tür an, als könnte er Pauls Anblick nicht ertragen. »Alles gut. Ich hab’s gewollt.«
Eigentlich hätte Hack in einem Paralleluniversum gewesen sein müssen, um das nicht mitzubekommen. Dennoch brummte er wieder, als würde er Pauls Einverständnis als Entschuldigung nicht gelten lassen.
»Außerdem weiß ich …« … dass du mir nichts tun wirst.
Das wäre gelogen gewesen. Das konnte er nicht wissen. Hack hätte sich nicht solche Mühe gemacht, seinen Ruf aufzubauen und Paul immer und immer wieder abzuschrecken, wenn er völlig harmlos gewesen wäre. Aber die Gefahr, die er ausstrahlte, war eine ganz andere als bei Adrian. Das hatte er vom ersten Moment an gewusst – gespürt – und diese Gewissheit hatte sich noch verstärkt, nachdem er mit Hack bei Walthers Weihnachtsessen gewesen war. Er war nicht so dumm, denselben Fehler zweimal zu machen.
Paul lockerte seinen Griff und strich mit den Fingern über Hacks Nacken in seine dichten, schwarzen Haare hinein. »Ich vertraue dir.«
Hack versteifte sich und sagte nichts.
»Und jetzt lass die Scheißtür in Ruhe und komm mit ins Bett.«
*
In Hacks Bett aufzuwachen, erinnerte ihn an einen Tag am Meer, den man dösend im Strandkorb verbrachte – und das dämliche Quietschen war das Kreischen der Möwen. Als Kind war er ein paar Mal mit Oma Biggi und seiner Mutter an der Nordsee gewesen und als Jugendlicher einmal in einem Ferienlager. Gott, war das ein Scheißsommer gewesen. Die meiste Zeit über hatte es geregnet wie zum Weltuntergang und der Typ, den er von Anfang an angeschmachtet hatte, war nach einer Woche nach Hause geschickt worden, weil er den obligatorischen Außenseiter verprügelt hatte, um der Ferienlagerschönheit zu imponieren.
Er hatte schon damals eine Schwäche für Idioten und böse Jungs gehabt.
Nur dass Hack weder ein Idiot noch ein böser Junge war. Okay, kein richtig böser Junge.
Paul schlug die Augen auf. Schwaches, graues Licht fiel durch den lückenhaften Rollladen ins Zimmer. Keine Sonne. Kein gutes Zeichen.
Auch ohne sich umzudrehen, wusste er, dass Hack nicht neben ihm im Bett lag. Das tat er nie, wenn Paul aufwachte. Als hätte er einen inneren Wecker eingebaut, der ihn immer vor Paul aus dem Bett trieb, damit es sich bloß niemand zu kuschelig machte. Paul hatte sich nie für einen Langschläfer gehalten, aber im Gegensatz zu Hack war er ein Komapatient.
Nur um wirklich ganz sicher zu gehen, drehte er sich unter protestierendem Quietschen auf den Rücken.
War ja klar. Der leise gestellte Ton des Fernsehers im Nebenzimmer hatte ihm eigentlich schon genug verraten.
Mit einer Hand strich er über die freie, kühle Fläche neben sich, die bei dem 1,40 Meter breitem Bett kaum groß genug für Hack zu sein schien. Wenigstens hatte er inzwischen ein zweites Kopfkissen gekauft. Ein winziges Zugeständnis, obwohl Hack es in letzter Zeit seltener gebraucht hatte.
Paul schlug die Decke zurück und rutschte an die Bettkante – begleitet von nervenaufreibendem Quietschen. Wie zum Teufel schaffte Hack es, sich so klammheimlich aus dem Bett zu schleichen, dass Paul nicht einmal wach wurde?
Während er zu dem schmalen Kleiderschrank ging, hörte er es aus dem Nebenzimmer klappern. Das verdammte Bett hatte Hack informiert, dass er aufgewacht war. Wahrscheinlich kaufte er sich deshalb kein neues oder benutzte Schmieröl. Die beiden steckten unter einer Decke.
Neben dem Kleiderschrank türmte sich wie immer ein Berg Wäsche, der schwach nach Essen roch. Da Hack keine eigene Waschmaschine in seiner Wohnung hatte, war es nicht immer einfach, eine der Gemeinschaftswaschmaschinen im Keller zu ergattern, wenn gerade Not an Klamotten war – zumal hier ungefähr Tausend Leute wohnten.
Paul hatte ihm schon mal angeboten, bei ihm zu Hause zu waschen. Hack hatte ihn angestarrt, schnaubend den Kopf geschüttelt und mit einer ironischen Bemerkung abgelehnt, als hätte er vorgeschlagen, zusammenzuziehen.
Er öffnete den Kleiderschrank, in dem es erstaunlich ordentlich aussah. Ein paar Jeans, T-Shirts und Pullover. Eine Handvoll Hemden. Ohne nachzuzählen, wusste Paul, dass er mehr Klamotten besaß.
Er zog einen Kapuzenpullover von Hack heraus, der ihm viel zu groß war. Normalerweise hätte er kein Problem damit, nackt durch die Wohnung zu spazieren, aber dafür war es nicht warm genug. Er vermutete, dass entweder Hacks Heizung nicht richtig funktionierte oder dass dieser Bau schlecht isoliert war.
Er sammelte seine Pants von gestern vom Boden auf und stieg hinein. Obwohl Hack nicht so sehr auf Kuscheln am Morgen stand, war es ihm abends umso lieber. Natürlich nackt. Dann zog er Paul fest an sich und wärmte ihn mit seinem großen, starken Körper.
Paul hatte keine Ahnung, wann in der Nacht der Punkt kam, an dem er von ihm abrückte und gefühlte Stunden vor ihm aufstand. Er würde einiges dafür geben, morgens einmal mit ihm zusammen aufzuwachen.
Er ging zur Tür und öffnete sie. Der Geruch nach gebratenem Speck und Rührei schlug ihm entgegen. Mit einem Pfannenwender bewaffnet, stand Hack in Jogginghose an seiner winzigen Küchenzeile und sah ihm entgegen. Feuchte Haarsträhnen fielen ihm in die Stirn.
»Morgen.«
»Morgen. Du musst nicht jedes Mal Rührei für mich machen.«
Hack zuckte die Schultern. »Die Eier mussten weg.«
Die Eier mussten jedes Mal weg. »Ich komm auch mit Toast klar.«
»Du kannst ja Toast essen, wenn du willst. Ich nehme das Rührei.«
Paul schnitt eine Grimasse und durchquerte den Wohnraum, um zum Bad auf der anderen Seite zu gelangen. Dabei blieb sein Blick an den Fenstern hängen, hinter denen es in dicken Flocken dicht an dicht schneite. Verdammt. Hoffentlich war die MVV ausnahmsweise auf den Winter vorbereitet.
Er verschwand ins Bad, in dem die Ersatz-Zahnbürste auf ihn wartete. Seit Weihnachten hatte weder Hack noch er sie weggeschmissen. Jetzt konnte er sie bald gegen eine neue austauschen. Und Hack hatte auch nicht aufgehört, ihm bei jedem seiner Besuche ein frisches Handtuch bereitzulegen. Der Kerl war besser als ein Hotel. Frühstück, frische Handtücher, Sex.
Als er aus der Dusche stieg und nackt vor den Spiegel trat, fiel ihm eine rote Stelle an seinem Hals auf. Das hätte er fast vergessen. Er beugte sich über das Waschbecken, drehte den Kopf ein wenig und musterte das wütende Mal. Gestern hatte es schlimmer ausgesehen. Da hatte er tatsächlich Zahnabdrücke erkennen können. Jetzt sah es eher aus wie ein verunglückter Knutschfleck. Viel zu harmlos. Scheiße.
Enttäuscht kehrte er in den Wohnraum zurück. Hack stellte gerade zwei Teller mit Rührei auf den kleinen quadratischen Tisch an der Wand neben der Kochnische. Darum standen zwei Plastikstühle, von denen der eine aussah, als gehörte er eher auf einen Campingplatz. Der andere war grün und kippelte.
Paul nahm den Campingstuhl. Hungrig sah er auf sein dampfendes Rührei hinunter und griff nach der Gabel.
Hack stellte seine rote I love SF-Tasse ab und nickte Paul zu. »Du warst an meinem Kleiderschrank.«
»Bei dir ist es kalt. Und es hat dich vorher auch nicht gestört.« Einmal hatte er gewitzelt, dass Hack ihm ein Regalfach frei räumen könnte – ganz, ganz üble Idee.
Paul spießte ein Stück Tomate auf. Wenn Hack Rührei machte, war es nie einfaches Rührei. Wahrscheinlich hatten die Tomaten und der Schnittlauch auch weggemusst. »Du scheinst im Viereck doch ein bisschen mehr zu machen, als nur Teller zu spülen.«
»Ja, Gemüse schneiden.«
Paul zog die Augenbrauen hoch. »Egon hat Gemüse auf der Speisekarte?«
»Manchmal.« Er trat neben Paul und zog den Kragen des Kapuzenpullovers herunter. Seine Finger strichen so zärtlich über Pauls Haut, dass er beinahe geseufzt hätte. »Sieht immer noch übel aus.«
»Quatsch.« Paul zog die Schulter hoch und Hacks Finger verschwanden.
»Ich glaube, ich hab irgendwo noch eine Salbe.«
Als er sich umdrehen wollte, schüttelte Paul den Kopf. »Schon okay. Wirklich. Mach mir lieber auch einen Kaffee, wenn du mir was Gutes tun willst. Ich muss gleich schon ins Café. Steffen ist bis Sonntag weg.«
»Du bist vier Tage alleine? Übers Wochenende?«, fragte Hack, während er zur Küchenzeile ging und eine Tasse aus dem Schrank holte.
Perfektes Timing. »Er hat eine Aushilfe engagiert.«
Pauls Stimme klang ruhig und beiläufig und falls sich doch irgendein Unterton eingeschlichen hatte, war Hack zu beschäftigt damit, ihm Kaffee einzuschenken, um ihn zu hören. Das Letzte, was er brauchte, war, dass Hack und Adrian aufeinandertrafen. Er würde sein Geld zwar auf Hack setzen, aber unterm Strich würde es eine einzige Hackfleischorgie werden.
Hack kehrte mit der Tasse zurück und stellte sie vor ihm ab, ehe er sich ihm gegenübersetzte. Der grüne Stuhl ächzte unter seinem Gewicht. »Hast du deine Mutter eigentlich mal gefragt?«
Verdammt. Paul schaufelte Rührei auf seine Gabel und stellte sich dumm. »Was meinst du?«
»Wegen eines Termins«, sagte Hack langsam, als würde er mit einem begriffsstutzigen Erstklässler reden. »Für unser Treffen zu dritt.«
»Ach so. Nee. Vergessen. Mach ich beim nächsten Mal.« Er konnte Hacks Unmut, der in Wellen über den Tisch zu strahlen schien, förmlich spüren. Er weigerte sich jedoch aufzusehen und schob sich stattdessen eine Ladung Rührei in den Mund.
»Vielleicht solltest du es dir aufschreiben. Oder einen Termin beim Facharzt machen. Du bist eigentlich noch zu jung für Alzheimer.«
Autsch. Jetzt hob er doch den Blick. Hack sah ihn mit einer durchdringenden Mischung aus Verärgerung und Verwirrung an, auf die er eigentlich kein Recht hatte. Wenigstens wusste er jetzt, wie es sich anfühlte, so in der Luft zu hängen.
»Man könnte meinen, du wärst ganz versessen darauf, meine Mutter wiederzusehen.«
»Und du sie von mir fernzuhalten.«
Paul legte die Gabel weg und griff nach seiner Kaffeetasse. »Ich hab dir gesagt, dass ich sie nicht gerne anlüge.«
»Und ich hab dir versprochen, mit dir hinzugehen. Ich halte meine Versprechen. Ich werde mich wie ein Vorzeigefreund benehmen.«
Und genau das war das verdammte Problem.
»Dein Rührei wird kalt.«
»Paul. Ich werde nichts sagen, das –«
»Scheiße. Das weiß ich doch.« Er knallte die Tasse auf den Tisch und könnte sich im selben Moment für diese unbedachte Geste in den Hintern treten, denn Hack zuckte nicht mal mit der Wimper. Klar. Vielleicht sollte er nackt auf dem Tisch tanzen, damit bekam er bestimmt eine Reaktion aus ihm heraus. Paul raufte sich die Haare. »Ich weiß, dass du das kannst. Nichts sagen. Sonst wüsste ich mehr von dir. Dass du einen Bruder hast, zum Beispiel. Oder warum du –«
»Also geht es doch darum, dass –«
»Nein, verdammt, es geht nicht darum.«
Hack verzog die Mundwinkel, schob seinen vollen Teller ein Stück weg und beugte sich über den Tisch. »Worum geht es dann?«
Hervorragend. Paul zog einen nackten Fuß auf die Sitzfläche hoch. Selbst das billige Laminat ließ ihn frieren. Warum kam er sich eigentlich so scheißerbärmlich vor? »Ich will meiner Mutter keine Beziehung vorspielen.«
»An Weihnachten war dir das egal.«
»Das waren besondere Umstände. Und es war ja nicht so, als hätten wir so getan, demnächst zusammenziehen zu wollen. Du warst ein Date.«
»Dann bin ich jetzt wieder ein Date. Dasselbe wie beim letzten Mal.«
Paul seufzte. Wahrscheinlich konnte er es nicht verstehen. Und warum zum Teufel wollte er sich unbedingt als Pauls Freund ausgeben? Nicht, dass sie nicht sowieso schon die ganze Zeit einen auf schräge Beziehung machten. Mit regelmäßigem Sex, Frühstück, gegenseitigen Übernachtungen …
Gut, in letzter Zeit eher unregelmäßigem Sex. Und theoretisch konnte Hack von heute auf morgen einfallen, lieber jemand anderen vögeln zu wollen. Vielleicht neben Paul, vielleicht anstatt Paul. Nicht einmal das wollte er ihm versprechen. Keine Versprechungen, keine Verpflichtungen und erst recht keine Bekenntnisse. Kein gar nichts. Nur zwei Männer, die fickten.
»Okay. Ich will ihr keine Beziehung mit dir vorspielen.« Ich will eine haben, verdammt noch mal.
Im ersten Moment befürchtete er, seinen Gedanken laut ausgesprochen zu haben. Hack starrte ihn an, als könnte er geradewegs in seinen Kopf hineinblicken. Scheiße. War die Vorstellung denn wirklich so schrecklich? Warum gab er sich dann überhaupt mit ihm ab? Nur wegen des Sex?
Paul biss die Zähne zusammen und würgte die Gedanken ab. »Ich liebe meine Mutter.«
Hack schnaubte, griff nach seiner Gabel und stocherte im Rührei herum.
»Ich weiß, dass du das nicht verstehst. Trotzdem ist es so. Mir bedeutet es was, dass sie meine Mutter ist und mich großgezogen hat. Na ja, so gut sie eben konnte.«
Hack verspannte sich, als hätte er ihm vorgeworfen, seiner eigenen Familie den Rücken gekehrt zu haben. Dabei wusste er das überhaupt nicht. Seine Eltern könnten genauso gut ein Stockwerk über ihm wohnen und gelegentlich zum Kaffee runterkommen.
»Mein Bruder …«
Paul hob den Kopf. Was …?
Hack stieß einen Laut aus, der unterwegs zu einem höhnischen Lachen verhungerte. »Mein Bruder wollte, dass ich eine Wiederaufnahme des Verfahrens beantrage.« Er schichtete so konzentriert das Rührei auf, als würde er am offenen Herzen operieren.
Pauls Puls schoss in die Höhe. »Deines Verfahrens?«
»Wessen sonst?«
»Aber … das ist doch gut, oder? Das heißt doch …« Paul hatte keine Ahnung, was das hieß. Sein gesamtes Wissen über Rechtswissenschaften beschränkte sich auf das, was er aus dem Fernsehen mitbekam. Keine sehr zuverlässige Quelle. Aber es hörte sich gut an. Es hörte sich nach genau dem an, was er schon die ganze Zeit gewusst hatte.
»Nein, das ist nicht gut.«
»Warum nicht? Heißt das nicht, dass sich irgendetwas verändert haben muss? An der …« Er zermarterte sich das Hirn. »… Beweislage? Dass du dich doch nur verteidigt –«
Hacks Kopf ruckte hoch. In seinen Augen blitzte es gefährlich und Pauls Schwanz reagierte sofort darauf. Verdammt. Zum Glück stand der Tisch zwischen ihnen.
»Nein, ich habe mich nicht verteidigt. Ich habe ihn angegriffen.«
Paul blieb ruhig, obwohl sein Schwanz ihn abzulenken drohte. Er verschob seinen Fuß auf der Sitzfläche, bis sein Bein im Weg war. Nur zur Sicherheit. »Das hast du schon gesagt. Aber dein Bruder scheint was anderes zu denken, wenn er das Verfahren wiederaufnehmen will.«
»Mein Bruder kann denken, was er will. Ich weiß, was passiert ist.«
»Aber als dein Anwalt –«
»Er ist nicht mein Anwalt.«
Verblüfft klappte Paul den Mund zu. Irgendwie war er seit gestern davon ausgegangen. Wieso hatte Hack darauf verzichtet, sich vor Gericht von seinem eigenen Bruder verteidigen zu lassen, der von Natur aus schon auf seiner Seite stehen müsste? Und es offensichtlich auch tat, sonst wäre er vermutlich nicht bei Hacks Arbeitsplatz aufgekreuzt. Spätabends. Als hätte er keine andere Gelegenheit gehabt.
Vielleicht hatte Hack seine Handynummer gewechselt? Paul sah sich in dem spärlich möblierten Wohnraum um. Da jegliche persönlichen Gegenstände fehlten, sah es aus, als wäre Hack erst vor Kurzem eingezogen. Vielleicht war er das ja. Und vielleicht hatte er seinem Bruder seine neue Adresse nicht mitgeteilt. Und vielleicht wusste er nur von dem Bewährungshelfer, wo Hack …
Paul schüttelte den Kopf. Verdammt. Er musste sofort damit aufhören.
Er zwang sich, sich aufs Gespräch zu konzentrieren. »Ist er so schlecht?«
Eine Sekunde lang starrte Hack ihn an, als hätte er ihn gefragt, warum das Viereck nicht mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet war. Dann wich die Anspannung aus seinem Gesicht und er lächelte matt. In Pauls Magengegend nistete sich ein Kribbeln ein. Hack lächelte viel zu selten.
»Er ist sogar ziemlich gut.«
Überrascht hörte Paul einen Hauch von Stolz aus seiner Stimme heraus. »Warum ist er dann nicht dein Anwalt?«
»Weil ich ihn nicht wollte. Und weil er mich eh nicht hätte vertreten können. Interessenskonflikt.«
»Was für ein Interessenskonflikt?«
Hack zuckte die Schultern. Dann stand er auf und kramte aus einer Schublade der Küchenzeile eine Packung Zigaretten und ein Feuerzeug hervor. Genauso gut hätte er ein Stopp-Schild zücken können.
»Märchenstunde für heute beendet?«
Hack schnaubte belustigt. »Ich dachte, dir ist das sowieso alles egal?«
»Irgendwie wäre es schon nett, zu wissen, was mir eigentlich egal ist.« Und was Hack so sehr an die Nieren ging, dass er seit gestern Kette zu rauchen schien.
»Meine Familie.« Hack pflückte eine Zigarette aus der Schachtel. »Deine ist unangenehm, meine ist schlimmer. Deshalb versuche ich, einen Bogen um sie zu machen.« Er ließ die Zigarette zwischen seinen Fingern tanzen. »Dass Clemens zu mir gekommen ist, heißt, dass sie mir auf die Pelle rücken. Und das will ich nicht.«
Die unerwartete Offenheit machte Paul sprachlos, auch wenn er Hacks Worte nicht einordnen konnte. Wenn es jemand perfektioniert hatte, etwas zu sagen, ohne etwas zu sagen, dann Hack. »Wollen sie … Geld von dir?« Nicht, dass bei Hack viel zu holen wäre, aber Geld war meistens ein starkes Motiv.
Hack rang sich ein mattes Lächeln ab. »Nein.«
Paul wartete, aber natürlich führte Hack das nicht aus. »Wie lange wohnst du schon hier?«
Ein nichtssagendes Schulterzucken. »Wieso, bist du nebenberuflich Immobilienmakler?«
»Hier sieht es nicht besonders wohnlich aus, das ist alles.«
»Du beschwerst dich über meine Einrichtung?«
»Ich mache mir nur Gedanken.«
»Weil du mit mir zu IKEA willst? Oder weil dir sowieso alles egal ist?« Hack klemmte sich die Zigarette zwischen die Lippen.
Paul schnitt eine Grimasse. Diesen Satz würde er ihm ewig vorhalten. »Weil du ein verbohrter Sturkopf bist.«
Hack grinste, aber es wirkte nicht ganz echt, sondern eher fahrig. Er ging zum Balkon hinüber, zog die Tür auf und stellte sich in Socken, Langarmshirt und Jogginghose mit einem Bein auf den winzigen Vorsprung hinaus. Mit dem ganzen Schnee, der Kälte und der Feuchtigkeit da draußen war das bestimmt nicht der gemütlichste Ort der Welt. Dennoch zündete Hack sich die Zigarette an und pustete den Rauch von der Tür weg. Der Wind trug den Qualm trotzdem anteilig ins Zimmer, sodass Paul die Nase rümpfte.
Irgendwann vielleicht würde Hack statt nach einer Zigarette nach Paul greifen und sich ihm anvertrauen, anstatt alles in sich hineinzufressen. Paul wäre so gerne für ihn da, aber solange Hack nicht einmal anerkennen wollte, dass da mehr zwischen ihnen war als Sex, würde er sich auch nicht an ihn lehnen. Bis dahin blieb Paul nichts anderes übrig, als das Zupfen an seinem Herzen, das ihn zu Hack ziehen wollte, zu ignorieren.
*
Adrian war überpünktlich. Etwas anderes hatte Paul auch nicht erwartet. Einerseits war er froh, weil er endlich aufhören konnte, nervös aus dem Fenster zu sehen oder die Tür anzustarren. Gestern hatte er keine Probleme damit gehabt, Steffens Café alleine am Laufen zu halten. Heute war er den ganzen Tag schon fahrig und angespannt, was er hasste, weil Adrian erst am späten Nachmittag eintraf.
Außer Stammgast Hubert an der Bar war das Café leer, als die Tür aufging und Adrian schneebedeckt eintrat.
In der ersten Sekunde wusste Paul, dass Adrian nicht überrascht war, ihn hier zu sehen. Er hat es also gewusst. Als er merkte, dass er das Glas, das er gerade abtrocknete, zu fest umklammerte, zwang er sich lockerzulassen. Ganz ruhig. Er stellte das Glas ins Regal, legte das Handtuch beiseite und sah Adrian entgegen. Nur dass er jetzt nicht mehr wusste, was er mit seinen Händen anstellen sollte. Scheiße. Er stützte sie gegen den Tresen. Das musste reichen.
»Paul.« Adrian lächelte, als er sich die Mütze vom schwarzen Haarschopf zog und auf ihn zukam. »Lange nicht gesehen.«
»Nicht lange genug.«
Adrian lachte, als hätte Paul als Eisbrecher einen höflichen Witz gerissen. Die eisblauen Augen, die Paul damals so faszinierend gefunden hatte und deren stechender Blick ihm jetzt unangenehm war, blitzten.
Mit jedem Schritt zur Bar wurde Adrian größer, wie Paul beunruhigt feststellte. Nicht so groß wie Hack, aber größer als Paul. Er bewegte sich geschmeidig, fast wie ein Raubtier, mit fließenden Bewegungen und einem Selbstbewusstsein, als würde ihm der Laden gehören. Gefahr sickerte aus jeder seiner Poren und machte die Luft im Raum zu schwer zum Atmen. Er war Hack in so vieler Hinsicht ähnlich und hatte doch überhaupt nichts von ihm. Vielleicht war Paul inzwischen auch einfach nur klüger.
Als Adrian die Theke erreichte, hatte Paul die Zähne so fest aufeinandergebissen, dass sein Kiefer pochte.
Adrian stopfte seine Mütze in die Tasche seines Parkas und klopfte nachlässig den Schnee ab, bevor er die Jacke auszog. »Entspann dich. Ich hab nicht gewusst, dass du hier arbeitest, bis Moreau es erwähnt hat.«
Paul war einen Moment von dem kräftigen Oberkörper abgelenkt, der sich unter dem weißen Hemd abzeichnete, um darauf zu achten, ob das gelogen war oder nicht.
Wieder ließ Adrian seine Zähne aufblitzen. Das Lächeln erinnerte Paul an einen Hai, kurz bevor er zuschnappte. Er konnte sich nicht daran erinnern, ob er das früher auch gedacht und ob es ihn aufgegeilt hatte. Unwahrscheinlich war es nicht.
Verschwörerisch beugte sich Adrian über den Tresen zu ihm. »Ich geh jetzt öfter trainieren.«
Als wäre er nicht schon vorher beschissen stark gewesen. »Sieht man.« Hatte er das gerade wirklich gesagt?
Adrian grinste. »Danke. Bringt mir irgendwie noch mehr Trinkgeld ein. Und jetzt mach dich mal locker. Ist damals dumm gelaufen.«
Paul schnaubte. »Superdumm.«
Falls er auf eine Entschuldigung oder einen Funken Reue gewartet hatte, konnte er das offensichtlich bis in alle Ewigkeit tun. Adrian hob seine Jacke hoch und raschelte damit. »Kann ich die irgendwo loswerden? Wieder hinten?«
Paul zwang sich, die Starre, die ihn überkommen hatte, abzuschütteln. »Klar. Du warst ja Weihnachten schon mal hier. Soll ich dir trotzdem noch mal schnell alles zeigen?« Er nickte in den Raum hinein. »Bevor es voller wird.« Hoffentlich.
Adrian sah sich um. Sein Blick blieb kurz an Hubert hängen, den er mit deutlicher Verachtung musterte. »Moreau hat mich schon vorgewarnt, dass der Alltagsbetrieb im Gegensatz zu Weihnachten anders ist. Aber ganz ehrlich, gibt’s hier überhaupt so was wie Trinkgeld? Oder wird alles auf Bierdeckeln angeschrieben?«
»Wenn es dir hier nicht gefällt, wieso bist du dann nicht in der Krone geblieben?«
Adrian zuckte die Schultern. »War ohne dich nicht mehr dasselbe.«
Das war Schwachsinn. Das Gehalt und das Trinkgeld waren nichts, worüber man als Kellner einfach so hinwegsehen konnte. Nicht, dass es ihn interessierte, warum Adrian weggegangen war. Vielleicht wollte er nicht zugeben, dass er rausgeschmissen worden war, vielleicht hatte es ihm tatsächlich nicht mehr gefallen. War ihm scheißegal.
»Komm mit.« Paul zwang sich, die Theke loszulassen. »Wir sagen der Küchencrew schnell Hallo, bevor der Abendbetrieb losgeht.« Mit einem Blick zu Hubert vergewisserte er sich, dass sein Bierglas noch zu zwei Dritteln voll war. »Wir sind gleich wieder da, Hubert.«
Hubert hob sein Glas und nickte ihm huldvoll zu, als würde er über einen Königssaal voller treuer Untergebener herrschen und nicht über eine leere Bar mit vier Hockern.
Ohne den Tresen als Schutzwall wirkte Adrian noch größer und auf erschreckende Weise noch gefährlicher. Als könnte er jeden Moment seine Klauen ausfahren und in Pauls Fleisch schlagen, da es kein Hindernis mehr gab, das sie voneinander trennte. Seine körperliche Präsenz war erdrückend. Pauls Nacken kribbelte, als er ihm voraus in den schmalen Gang neben der Bar verschwand. Obwohl er gegen den Drang anzukämpfen versuchte, musste er einfach einen Blick über die Schulter werfen.
Adrian hielt Abstand. Aber er starrte auf Pauls Arsch. Als er dabei ertappt wurde, sah er Paul ins Gesicht und grinste. »Sorry, aber Gucken ist ja wohl noch erlaubt, oder?«
Paul unterdrückte ein Schaudern. »Solange es beim Gucken bleibt.« Er blieb vor einem unauffälligen Wandschrank stehen und öffnete ihn, damit Adrian seine Jacke zu denen der anderen hängen konnte. Am Ende des Gangs befand sich die Tür zum Hinterhof, schräg gegenüber die zur Küche.
»Ist es okay, den Säufer allein im Gastraum zurückzulassen? Nicht, dass der sich an der Bar bedient und über den teuren Schnaps hermacht«, meinte Adrian, als er den Bügel mit seiner Jacke im Schrank verstaut hatte.
»Hubert trinkt nur Bier.«
»Dann sollte er vielleicht besser in das Loch nebenan gehen.«
Adrian machte eine ausschweifende Armbewegung, bei der er Paul in dem engen Flur beinahe berührt hätte. Der Windzug reichte aus, um ihm sein dezentes Parfüm entgegenzuwehen. Ein anderes als damals. Nicht aufdringlich, aber trotzdem unangenehm, weil er ihm nicht entkommen konnte. Paul wollte aus diesem Scheißflur raus.
»Ich meine, das Café ist ja ganz süß, aber die Gesellschaft ist scheiße. Der Säufer passt drüben viel besser rein. Sollte ihm mal einer sagen.«
Paul knirschte mit den Zähnen. »Hubert ist Stammgast. Und er tut keiner Fliege was. Er mag den Geruch im Viereck nicht.«
Was nicht verwunderlich war, da sich der Geruch nach altem Fett in sämtlichen Stoffen festgesetzt hatte. Selbst Hack roch manchmal wie eine ganze Pommesbude, je nach dem, wie viel Betrieb tagsüber gewesen war. Meistens duschte er als Erstes, wenn er in seiner Wohnung war – wenn er nicht gerade über Paul herfiel. Im Moment war Paul alles lieber als Adrians Parfüm, das er gar nicht mehr aus der Nase zu bekommen schien, nachdem es sich einmal dort festgesetzt hatte.
»Shit. Steht es so schlecht um den Laden, dass ihr selbst auf solche Leute angewiesen seid?«
»Du bist nur die Aushilfe. Solche Fragen müssen dich nicht kümmern.«
Wieder dieses Grinsen. Langsam wurde der Wunsch, es ihm aus dem Gesicht zu schlagen, stärker.
»Ich hab ganz vergessen, wie kratzbürstig du sein kannst.«
»Ich erinnere dich gern dran.« Ruckartig nickte er zur Küchentür, hinter der Gerätschaften klapperten und Helene Fischer aus voller Kehle sang. Ihr Koch war ein glühender Fan und hatte mit seiner Begeisterung den Rest der Crew infiziert – oder zumindest fügten sie sich kommentarlos in ihr Schicksal. »Gehen wir in –«
»Fuck!«
Bevor Paul reagieren konnte, hatte Adrian lachend einen Arm hochgerissen und nach ihm ausgestreckt. Als seine Fingerspitzen Pauls Hals streiften, explodierte eine Gänsehaut in seinem Nacken, die ihn automatisch zurückweichen ließ. Er spürte die Wand in seinem Rücken. Mit einer Hand rieb er über die Stelle, die Adrian eben für eine, maximal zwei Sekunden berührt hatte, aber das unangenehme Gefühl blieb.
»Fass mich nicht an!«
»Hey, ganz locker.« Adrian hob die Hände, als würde Paul ihn mit einer Waffe bedrohen. Sein Blick klebte allerdings an seinem Hals, dort, wo der Kragen seines Hemds Hacks Bissspuren inzwischen wieder verdecken musste. »Konnt mich grad nicht zurückhalten. Was zum Teufel ist das?«
»Auch das geht dich einen Scheiß an.«
»Sieht aus, als hätte jemand versucht, dich zu fressen. Was ich verstehen kann, ehrlich.« Er kam noch einen Schritt näher. Die Härchen auf Pauls Armen stellten sich auf, als wäre die Luft um sie herum elektrisch aufgeladen. »Bist ja auch zum Anbeißen.«
»Halt die Klappe. Und bleib verdammt noch mal stehen.«
»Ich mach doch gar nichts.« Wieder streckte er den Arm aus. »Darf ich noch mal sehen?«
»Bleib stehen.«
Adrian grinste spöttisch, aber wenigstens blieb er tatsächlich stehen – keine dreißig Zentimeter vor Paul. Er musste den Kopf in den Nacken legen, um den Blickkontakt nicht zu unterbrechen, wobei er sich seltsam schutzlos fühlte. Sein Puls hämmerte, was Adrian sicher an seinem Hals sehen konnte. Bei Hack fühlte er sich nie so hilflos.
»Hast einen Neuen, was? Na ja, wär ja auch zu schön gewesen, wenn das hier unser großes Wiedersehen geworden wäre.« Er zwinkerte Paul zu, als würden sie ein schlüpfriges Geheimnis teilen. Paul ballte die Hand zur Faust. Plötzlich machte ihn die Wand in seinem Rücken, die er eben noch als beruhigende Stütze empfunden hatte, wütend. Warum zum Teufel hatte er sich in die Ecke drängen lassen? »Aber offensichtlich magst du manche Sachen immer noch.«
»Ich mochte es nie, geschlagen zu werden!«
»Du hast das völlig falsch verstanden. Ich bin sicher –«
»So sicher wie damals? Ich konnte zwei Wochen lang nicht arbeiten gehen!«
»Jetzt übertreibst du aber. So schlimm –«
Paul schoss vor und prallte gegen Adrians breite Brust. Er war Adrian so nah, dass er sehen konnte, wie sich seine Augen überrascht weiteten. »Doch«, sagte er und untermauerte den Nachdruck in seiner Stimme, indem er Adrian noch mal vor die Brust stieß. Adrian taumelte nicht mal einen Schritt zurück, aber die Geste war trotzdem verdammt befriedigend. »Genau so schlimm war es.«
Blinzelnd schaute Adrian zu ihm hinunter. »Ich –«
»Nein. Thema durch.« Paul sprach schnell und entschlossen, damit sich kein zittriger Unterton in seiner Stimme festsetzen konnte. »Du hilfst mir bis Sonntag aus und danach hoffe ich, dass ich dich nie wieder sehen muss.«
Adrian legte den Kopf schief und schien einen Moment über die Worte nachzudenken, als hätte er ihren Sinn nicht ganz verstanden. Dann nickte er. »Okay, ja, meinetwegen. Wobei es wirklich nur Zufall ist, dass ich hier bin.«
Das war Paul scheißegal. Hauptsache war, dass derselbe Zufall sie nicht wieder irgendwo zusammenführte.
Paul wartete einen Augenblick länger, als notwendig gewesen wäre, um zurückzuweichen. Adrians Präsenz kribbelte auf seiner Haut wie eine Horde Ameisen und Blut rauschte in seinen Ohren. Sein Parfüm löste eine kleine Welle der Übelkeit in ihm aus.
»Und noch was«, fügte Paul hinzu, als er sich schon halb der Küchentür zugewandt hatte, »wenn du mich noch einmal anfasst, brech ich dir jeden Finger einzeln. Verstanden?«
*
Als sich der Feierabend näherte, war Paul fertig mit den Nerven. Die ganze Zeit fühlte er sich wie unter Strom. Er musste Adrian ständig im Blick behalten oder zumindest wissen, wo er sich gerade aufhielt, obwohl er sich seit seiner Ansage tadellos verhielt und einen wunderbaren Job machte. Wenig überraschend kam er gut bei den Gästen an. Er ließ sich sogar zu einem albernen Selfie mit der Teenagertochter eines Stammgastpärchens herab, das dafür beim Bezahlen ein beachtliches Trinkgeld springen ließ. Wenn Paul etwas mehr bei der Sache gewesen wäre, hätten sie doppelt so viel Trinkgeld wie sonst machen können.
Die Küchencrew mochte ihn und freute sich, dass er wieder als Aushilfe eingesprungen war. Sie blödelten mit ihm herum, als wäre er schon seit Ewigkeiten Teil des Teams. Hinter vorgehaltener Hand tuschelten sie miteinander, dass Adrian gerne öfter einspringen könnte, woraufhin sich Pauls Magen zusammenzog.
Er ärgerte sich, dass er sich den Albereien nicht anschließen konnte. Und dass er überhaupt nicht lockerer zu werden schien, obwohl Adrian ihn in Ruhe ließ und professionell mit ihm umging.
Vielleicht hat er’s jetzt kapiert. Entspann dich endlich, sagte ihm sein Kopf in der einen Sekunde, während er ihn in der nächsten auslachte. Lass dich doch nicht verarschen.
Zweimal sah er Hack durch ein Fenster draußen im verschneiten Hinterhof rauchen. Zweimal riss er sich zusammen, nicht zu ihm zu gehen, um eine Portion Mut, Selbstbewusstsein oder Beruhigung zu tanken. Er wollte nicht riskieren, dass Adrian ihn bei Hack sah und die richtigen Schlüsse zog. Ein Unbekannter, der Male auf seinem Körper hinterließ, war effektiver als jemand, den Adrian kennenlernte.
Und außerdem war Adrian sein verdammtes Problem.
Kurz vor halb eins verabschiedeten sich die letzten Gäste. Adrian räumte den Tisch ab und brachte das volle Tablett zurück zur Theke, wo Paul es ihm abnahm.
»Danke. Du kannst Feierabend machen. Ich übernehme das Aufräumen.«
»Bist du verrückt? Wo gibt’s denn so was? Ich helfe dir natürlich.«
»Nein, wirklich. Ist okay. Geh nach Hause.«
Warme Küche gab es bis 22:00 Uhr, weshalb ihr cholerischer Koch zusammen mit einer der beiden Küchenhilfen schon gegangen war. Die andere Hilfe, Yvette, hatte sich eben aus dem Staub gemacht, als sich abgezeichnet hatte, dass die letzten Gäste auch keine kalten Kleinigkeiten mehr essen wollten. Vor dem Viereck war Hack zu ihr gestoßen und zusammen waren sie zur U-Bahnstation gegangen.
Paul hatte nicht damit gerechnet, dass er warten würde. Nicht wirklich. Hatte er gestern schließlich auch nicht gemacht. Trotzdem hatte er den beiden mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend hinterhergesehen.
Adrian lehnte sich über den Tresen und ließ seine Zähne aufblitzen. »Angst, ich könnte über dich herfallen? Wo wir zwei hier so ganz allein sind?«
Scheiße. Er musste seine Mimik besser kontrollieren. »Witzig. Ich will dir bloß was Gutes tun.«
»Wie wär’s, wenn ich stattdessen dir was Gutes tue und beim Aufräumen helfe? Dann geht’s schneller.«
Paul stieß ein unwilliges Geräusch aus. »Wenn du unbedingt willst.«
Wenn er sich weiter sträubte, würde es nur länger dauern. Verdammt, wenn sie sich beeilten, waren sie in zwanzig Minuten fertig. Das meiste hatte er schon während der ruhigen letzten Stunde erledigt. Und es war ja nicht so, als könnte er Adrian einfach packen und zur Tür hinausbefördern, wenn er sich weiterhin weigerte, zu gehen.
»Super, wie in alten Zeiten.«
Grinsend kam Adrian um den Tresen herum und fummelte an der Stereoanlage herum, bis er einen Sender mit Clubmusik gefunden hatte, eine Mischung aus House, Elektro und Pop. Er fand den Lautstärkeregler und drehte ihn schwungvoll nach rechts, bis die schnellen Beats tief in Pauls Magengrube hämmerten.
»Übertreib’s nicht!«, rief Paul über die Musik hinweg und streckte eine Hand aus, doch bevor er auch nur in die Nähe der Stereoanlage kam, hatte Adrian ihn gepackt und zog ihn hüftschwingend hinter dem Tresen hervor. Sofort stemmte Paul sich gegen den Zug. Ihm kam der beunruhigende Gedanke, dass die Musik ihn übertönen würde, falls er nach Hilfe schreien musste. Scheiße. Bevor sich Panik in ihm festsetzen konnte, ließ Adrian ihn bereits los.
»Komm schon. Sei kein Spielverderber!« Adrian beugte sich über den Tresen, schnappte sich den Lappen aus der Spüle und wackelte im Takt der Musik zu dem Tisch hinüber, den er gerade abgeräumt hatte.
Paul atmete tief durch und widmete sich den letzten dreckigen Gläsern. Langsam wurde er paranoid. Er rollte die verspannten Schultern und zwang sich zur Ruhe. Aus dem Augenwinkel behielt er Adrian im Blick, der selbstvergessen von einem Tisch zum nächsten tanzte. Gerade sah er so gefährlich aus wie ein swingender King Louie aus dem Dschungelbuch.
Trotz seiner Statur hatte er sich schon immer gut bewegen können – in einer stinknormalen Wohnung ebenso wie auf der Tanzfläche oder im Bett. Paul bezweifelte, dass er Hack dazu überreden könnte, eine spontane Tanzeinlage aufs Parkett zu legen – falls er überhaupt tanzen konnte. Bei Adrian gehörte das genauso zum ansprechenden Gesamtpaket wie die Gefahr, die er ausströmte. Paul hatte eine Schwäche für diese Mischung. Besonders, da Adrian gerade auf irritierende Weise albern und sexy aussah.
Nein. Nicht sexy. Er ist nicht sexy. Er ist Adrian. A-dri-an!
»Das hab ich gesehen!«, rief Adrian und warf ihm einen koketten Blick über die Schulter zu. Sein knackiger Hintern zeigte genau in Pauls Richtung und wippte aufreizend von links nach rechts.
Paul schnaubte. »Was hast du gesehen?«
»Das Grinsen auf deinem Gesicht. Nur zu, lass es raus. Ich verrat’s keinem.«
»Idiot.« Er unterdrückte den Impuls, ein Handtuch nach ihm zu werfen, wie er es früher wahrscheinlich getan hätte. Aber inzwischen war er ein anderer und er kannte Adrian. Er würde sich nicht von ihm einlullen lassen!
Und wenn es wirklich nur so was wie ein Missverständnis war …?
Paul schüttelte den Kopf und räumte die sauberen und abgetrockneten Gläser ins Regal, ehe er mit einem zweiten Lappen über den Tresen wischte.
»Woohoo!«, grölte Adrian und tänzelte zurück zur Bar. Schwungvoll warf er den Lappen in die Spüle, bevor er sich auf dem Tresen räkelte wie ein Gogo-Tänzer und Paul verführerische Blicke zuwarf. Wenn er jetzt noch sein Hemd auszog und sich die Muskeln darunter als genauso verlockend entpuppten, wie sie unter dem Stoff wirkten, wäre die Show durchaus einen Blick wert.
Was zum Teufel?
Jetzt warf Paul doch etwas nach ihm – allerdings den feuchten Lappen. Er traf Adrian an der Schulter. »Lass den Scheiß.«
»Mann. Wann ist dir bloß dein Humor abhandengekommen?«
Paul konnte ihm den Zeitpunkt ziemlich genau benennen, aber Adrian hatte es damals nicht verstanden und würde es heute auch nicht tun, also verkniff er sich eine Antwort. Er hatte keine Lust auf eine Diskussion, die von vornherein ins Nirgendwo führen würde und Adrian im schlimmsten Fall auf dumme Gedanken bringen könnte.
Adrian löste sich von der Theke und warf den Lappen zu dem anderen. »Hast du vergessen, wie oft wir das früher gemacht haben?«
Möglicherweise. Und er wollte sich auch nicht erinnern, weil es schmerzliche Erinnerungen wachrief. Aber da Adrian es einmal angesprochen hatte, fiel es ihm gegen seinen Willen wieder ein. Er verbiss sich ein Lächeln. »Frank hat dir in der Krone mal einen Fünf-Euro-Schein in den Gürtel gesteckt.«
»Und Susi hätte fünfzig springen lassen, wenn wir uns an der Dirty Dancing-Hebefigur versucht hätten.« Adrian breitete die Arme aus und warf den Kopf filmreif in den Nacken.
Paul biss sich auf die Unterlippe, damit sich das Lächeln nicht doch noch Bahn brach. Adrian kannte ihn jedoch zu gut, um es nicht zu sehen. Grinsend zwinkerte er ihm zu.
»Und noch ein Lächeln. Gib’s ruhig zu. Wir hatten auch Spaß.« Sein Blick wurde hitzig und so intensiv, dass Pauls Mund trocken wurde. »Auf mehreren Gebieten.«
Paul durchzuckte ein träges Kribbeln, für das er sich regelrecht schämte. »Das ist lange her.«
»Aber du weißt es noch.« Die eisblauen Augen funkelten, als wüsste Adrian ganz genau, was ihm gerade durch den Kopf gegangen war. Er streckte Paul eine Hand entgegen, als wäre er eine verschüchterte Jungfrau, die er zum Tanz aufforderte.
Gott, das war so lächerlich.
Und er musste den Verstand verloren haben, denn er legte seine Hand in Adrians und ließ sich diesmal freiwillig von ihm hinter der Bar hervorziehen.
Adrian lachte. »Der Wahnsinn! Kurz hab ich echt gedacht, du kannst es gar nicht mehr.«
»Was? Tanzen?« Paul vollführte eine alberne kleine Drehung. In seinem Magen erwachte eine kribbelige Freude. »Das ist wie Sex. Das verlernt man nicht.«
Adrians Augen blitzten. »Das hast du jetzt gesagt.«
Sie bewegten sich im Rhythmus der Musik und mit jedem Takt wurden Endorphine durch Pauls Venen gepumpt. Der Bass wummerte durch Steffens Café wie durch ihre eigene kleine Privatdisko und fand sein Echo tief in Pauls Knochen. Sie umtanzten einander und berührten sich flüchtig, bis sie sich immer länger anfassten und schließlich gar nicht mehr losließen.
Paul konnte nicht in Worte fassen, wie sehr er das vermisst hatte. Er fühlte sich in der Zeit zurückversetzt, als er mit Adrian die Clubs unsicher gemacht und neidische Blicke geerntet hatte, wenn er mit Adrian in den Darkroom oder nach Hause verschwunden war. Zum ersten Mal an diesem Abend entspannte er sich. Er fühlte sich fast wie im Rausch und grinste jetzt so breit, dass seine Wangen schmerzten.
Plötzlich ließ Adrian Paul los und warf jubelnd die Arme in die Luft. »Geiler Song!« Er lehnte sich zur Stereoanlage rüber, um die Musik lauter zu drehen, bevor er Paul wieder an sich zog.
Lachend schüttelte Paul den Kopf. »Das ist viel zu laut!«
»Das ist mir scheißegal!«
»Aber die Nachbarn –«
»Scheiß auf die Nachbarn!«
Das schwache Kribbeln breitete sich wie Fieber in Pauls Unterleib aus. Er versuchte, sich dagegen zu wehren, aber er konnte nicht anders, als Adrians Scheißegal-Haltung anziehend zu finden. Das war sein verdammter Fluch.
Scheiße, was waren schon zehn Minuten? Oder fünfzehn? Er hatte hier in der Gegend nach Feierabend schon aus Dutzenden Fenstern viel zu laute Musik gehört. Einmal hatte ein getunter BMW auf der anderen Straßenseite geparkt, der im Kofferraum eine Anlage herumkutschierte, die jeden DJ neidisch gemacht hätte. Keine fünf Minuten später hatte sich eine Gruppe junger Leute um das Auto versammelt und eine kleine Privatparty auf der Straße geschmissen. Es hatte beinahe eine Stunde gedauert, bis die Polizei das Ganze aufgelöst hatte.
So weit würde er es natürlich nicht kommen lassen. Steffen würde ihm die Ohren langziehen, wenn die Polizei hier wegen Ruhestörung aufkreuzte. Er würde das Ganze gleich abbrechen. Quasi sofort. Jede Sekunde.
Er schloss die Augen, ließ sich von der Musik mitreißen und schmiegte sich an Adrian. Der breite Brustkorb fühlte sich sensationell unter seinen Fingern und an seinem Körper an, stark und kräftig. Bedrohlich. Er spürte Adrians halbsteifen Schwanz an seinem Oberschenkel und genoss es einen Moment zu lange.
Dann beugte sich Adrian zu ihm herunter und küsste ihn.
Wahrscheinlich hing er irgendwo in einem Paralleluniversum zwischen den Zeiten fest, weil er für ungefähr drei Sekunden darauf einging. Adrians Parfüm stieg ihm in die Nase. Hier im offenen Gastraum war es zwar nicht mehr erdrückend, aber immer noch nicht angenehm. Paul zuckte zurück und unterbrach den Kuss.
»Ich glaube, das reicht jetzt.«
Adrians Lächeln wirkte gefährlich. »Was reicht? Vorspiel?« Obwohl er schrie, um die Musik zu übertönen, lag ein Unterton in seiner Stimme, bei dem sich Paul die Nackenhaare aufstellten. Auf einmal fühlten sich Adrians Hände auf seinem Hintern wie Brandzeichen an.
Wann zum Teufel waren die auf seinem Hintern gelandet?
»Nein. Das hier. Ich hab mich mitreißen lassen.«
»Oh, und wie du das hast. Von wegen, ich brech dir die Finger. Alles nur Show.«
Er verstärkte den Griff auf Pauls Hintern und lehnte sich gleichzeitig vor, als würde er ihn wieder küssen wollen. Paul stemmte die Hände gegen seine Brust. Adrian lachte. Der Klang brachte Pauls Herzschlag ins Stolpern.
»Was denn? Willst du dich weiter zieren?«
»Nein. Das war ein Fehler.« Mit einem Ruck machte er sich los, aber als er zur Stereoanlage gehen wollte, packte Adrian ihn am Arm und hielt ihn fest. »Adrian –«
»Weißt du, eigentlich darfst du dich nicht wundern.«
»Worüber wundern?« Als Paul ihm seinen Arm entwinden wollte, verstärkte Adrian den Griff.
»So, wie du dich verhältst, bettelst du ja förmlich drum. Ein Teil von dir weiß das.«
Pauls Herz hatte seinen Rhythmus wiedergefunden und galoppierte in seiner Brust. Er zerrte an seinem Arm. »Lass los. Sofort.«
»Komm schon. Erst bringst du mich mit deiner bockigen Art auf Touren, dann geilst du mich auf und jetzt zierst du dich. Du willst es auch. Das muss dir nicht peinlich sein.«
»Ich ziere mich nicht. Und ganz bestimmt will ich nichts von dir. Lass los.«
Stattdessen umfasste Adrian auch seinen zweiten Arm und brachte sein Gesicht dicht an Pauls heran. »Du kannst mir nichts vormachen. Du hast es damals gewollt und willst es immer noch. Ich hab gesehen, wie geil es dich gemacht hat. Wie sehr es dir gefallen hat.«
»Es hat mir nicht –«
Wieder presste Adrian seinen Mund auf Pauls, nur dass er diesmal seine Unterlippe zwischen die Zähne zog und zubiss. Der Geschmack von Blut breitete sich auf seiner Zunge aus. Bevor er überhaupt darüber nachdenken konnte, holte er mit dem Fuß aus und trat Adrian gegen das Schienbein. Adrian jaulte auf, krümmte sich und lockerte seinen Griff lange genug, dass Paul sich losreißen konnte.
Weg hier!
Nach zwei Schritten erwischte Adrian ihn am Hemd und riss ihn zurück. Paul wurde gegen die Bar geschleudert, deren Tresen sich hart in seinen Rücken bohrte und ihm die Luft aus den Lungen presste. Einer der Barhocker fiel polternd um, was im Krach der Musik kaum zu hören war.
Scheiße, Scheiße, Scheiße. Er war so ein Idiot.
Pauls Herz raste, als er Adrian ins Gesicht sah, dass vor Wut und Erregung verzerrt war. Sein Mund zierte ein verschmierter Streifen Blut. Paul wischte sich an seiner blutenden Lippe entlang, die dumpf pochte. Gott, und das hier erregte dieses Arschloch tatsächlich, egal, was Paul dazu sagte. Wie beim letzten Mal.
»Und jetzt sag mir, dass dich das nicht scharf macht!«, brüllte Adrian ihn an. »Auf so was stehst du doch, du dreckiges, geiles –!«
»Du hast überhaupt keine Ahnung, worauf ich stehe. Und jetzt verpiss dich!«
Adrian lachte verächtlich, als hätte er ihm gerade gedroht, ihn mit einem Strohhalm zu durchbohren, und kam auf ihn zu.
Paul brach der Schweiß aus. Verdammt. Er tastete sich am Tresen entlang und achtete darauf, die Hocker zwischen sich und Adrian zu schieben. Ein lächerliches Hindernis, bei dem er sich obendrein wie in der Falle vorkam. Sie waren allein. Auf ihn wartete niemand. Und Adrian interpretierte in diesen kurzen, selbstvergessenen Moment sonst was hinein.
Was, wenn er dich schnappt?
Pauls Fingerspitzen streiften einen Flaschenhals. Plötzlich musste er an Hack denken, an die Narbe in seinem Gesicht.
»Eine Flasche … hat geblutet wie Sau … der andere hat sich verteidigt …«
Er umschloss den Flaschenhals und riss die Flasche hinter dem Tresen hervor. Eine fast volle Flasche Rum. Steffen würde wahrscheinlich denken, dass er sich hier mit der Küchencrew einen feuchtfröhlichen Abend gemacht hatte.
Er zögerte nur eine Sekunde, bevor er die Flasche gegen den Tresen schlug, ohne den Blick von Adrian zu nehmen. In der dröhnenden Musik hörte sich das Klirren wie ein schlecht reingemixter Song an. Rum spritzte über seine Hand und durchnässte den Saum seiner Hose. Er betete, dass die Flasche einigermaßen brauchbar zerbrochen war, ließ Adrian jedoch nicht aus den Augen.
Weniger als zwei Meter entfernt, blieb Adrian stehen. Jetzt bloß nicht kleinbeigeben. Paul riss den Arm nach vorne und zielte auf Adrian. Die Flasche war knapp unterhalb des Halses zerbrochen, wahrscheinlich viel zu kurz, um sie als richtige Waffe einzusetzen. Aber die Glaskanten sahen stabil und sehr scharf aus. Blut lief zwischen Pauls Fingern entlang. Zwischen Zeige- und Mittelfinger brannte der Rum in einer Schnittwunde. Hoffentlich war das der einzige Grund, warum seine Scheißhand zitterte.
»Und was jetzt?«, rief Adrian über die Musik hinweg. »Willst du mich abstechen?« Jegliche Belustigung war aus seiner Stimme verschwunden. Er schien sich tatsächlich nicht sicher zu sein.
»Nicht unbedingt. Aber wenn du mich nicht in Ruhe lässt, vielleicht.«
»Komm schon, Paul. Du weißt –«
Mit der Flasche durchschnitt Paul die Luft vor Adrian, der sich wieder in Bewegung gesetzt hatte. »Bleib stehen.«
Adrian hielt inne. »Scheiße. Du meinst das echt ernst.«
Paul sagte nichts. Er konnte kaum seine eigenen Gedanken hören. Hatte Adrian bisher wirklich angenommen, er würde Witze machen? Hoffentlich würde das Rauschen in seinen Ohren irgendwann wieder abklingen. Ihm wurde jetzt schon schlecht davon.
Mit wild hämmerndem Herzen beobachtete er, wie Adrian ihn in einem weiten Bogen umrundete und zur Stereoanlage ging, und folgte der Bewegung mit der zerbrochenen Flasche. Mit einem einzigen Knopfdruck war es totenstill in Steffens Café. Zu dem Rauschen in Pauls Ohren gesellte sich ein durchdringendes Piepen.
»Gut, weißt du was?« Adrian zeigte auf den schmalen Gang neben der Bar. »Ich hole jetzt meine Jacke und lass dich den Mist hier alleine aufräumen, okay? Und morgen sprechen wir noch mal in Ruhe –«
»Nein. Hol deine Jacke und verschwinde. Ich will dich hier morgen nicht mehr sehen. Ich will dich hier nie wieder sehen.«
Adrian entfuhr ein überraschtes Auflachen. »Ich glaube nicht, dass du das zu entscheiden hast, oder? Moreau hat mich fürs ganze Wochenende engagiert. Du brauchst mich.«
»Nein.« Wahrscheinlich hatte Adrian die Einnahmen bereits fest verplant. Paul wusste, wie unangenehm es war, sich mit Aushilfsjobs hier und da über Wasser zu halten. Zwischen seinen Festanstellungen war er immer wieder in dieser Situation gewesen. Aber in diesem Augenblick hätte ihm nichts gleichgültiger sein können. »Verschwinde und bleib weg.«
»Jetzt mach mal halblang.«
»Geh.«
»Aber –«
»Geh!«
Er hoffte, dass er nicht so verzweifelt klang, wie er sich anhörte, aber letztendlich war er derjenige mit der improvisierten Waffe in der Hand. Er konnte verzweifelt, hysterisch oder psychopathisch klingen, er hatte hier das Sagen.
»Okay, okay, meinetwegen.« Brummend verschwand Adrian in den Gang und kehrte nur wenige Sekunden später mit seiner Jacke zurück. Skeptisch musterte er Paul, der sich keinen Millimeter gerührt hatte. »Denkst du nicht, du kannst das Ding jetzt runternehmen?«
Paul sparte sich eine Antwort. Für einen verrückten Moment glaubte er, dass jetzt doch noch eine Entschuldigung kommen würde – für heute, für damals, generell – oder dass Adrian vielleicht einen Funken Reue über das zeigte, was sie verloren hatten, aber nicht mal das bekam er hin. Schnaubend zuckte er die Schultern, schlüpfte unter Rascheln in seine Jacke und umrundete Paul erneut in einem Bogen – dieses Mal in einem demonstrativ größeren und mit spöttisch erhobenen Händen. An der Tür angekommen, machte er eine abfällige Handbewegung, ehe er kopfschüttelnd das Café verließ.
So einfach, so unspektakulär. Nur dass die verdammte Flasche in seiner Hand noch immer zitterte.
Er ist weg. Du hast ihn in die Flucht geschlagen. Nichts passiert.
Paul stieß die Luft aus, die er irgendwann angehalten hatte. Seine Beine fühlten sich an wie weichgekochte Spaghetti und für eine Sekunde befürchtete er, einfach wegzusacken. Der verschüttete Rum brannte in seiner Nase und löste eine späte Welle der Übelkeit aus. Mit einem Mal fühlte er sich völlig kraftlos. Erschöpft lehnte er sich gegen den Tresen in seinem Rücken, sodass zumindest ein Teil seines Gewichts gestützt wurde.
Langsam nahm er die Flasche runter, ohne seinen Griff zu lockern – der einzige Körperteil, der noch vollkommen verkrampft war und von der Anspannung schmerzte. Die Schnittwunde zwischen seinen Fingern pochte, genau wie seine Lippe und eine Stelle an seinem Rücken, wo Adrian ihn gegen die Theke geschleudert hatte.
So weit, so gut. Beim letzten Mal war er in weitaus schlechterem Zustand gewesen.
Als die Eingangstür aufgerissen wurde, fuhr Paul zusammen und riss den Arm wieder hoch. Sein Herz sprang in seine Kehle und schnürte ihm die Luft ab. Sein Verstand gaukelte ihm die verrücktesten Bilder vor, angefangen mit Adrian, der mit einer gefährlicheren Waffe als einer zerbrochenen Flasche zurückgekehrt war.
Dann erkannte er Hack und hätte beinahe erleichtert aufgestöhnt.
»Was zum Teufel …?!« Hack blieb an der Tür stehen, als wäre er vor eine unsichtbare Wand gelaufen. Mit einem Blick erfasste er den Raum und die Situation. Als er niemanden sonst entdecken konnte, lief er auf Paul zu. »Paul, was –«
»Alles gut. Nichts passiert. Alles gut.« Er wich Hacks brennendem Blick aus, sog allerdings gierig die frische Meeresbrise ein, die er mitbrachte. Sein Herzschlag normalisierte sich langsam wieder. Als er jedoch versuchte, den Arm sinken zu lassen, fühlte es sich an, als wäre er mit einem Riegel festgestellt worden. Er zitterte, aber aus irgendeinem Grund konnte er nicht lockerlassen.
Hack legte eine schwere Hand auf seinen Unterarm. Als wäre das alles, was es an Druck benötigte, sackte sein Arm nach unten. Der Flaschenhals entglitt seinen Fingern und zerbrach klirrend am Boden. Ha. Hieß es nicht, Scherben bringen Glück? Ihm auf jeden Fall.
Bis auf die Tatsache, dass Hack vor ihm stand und eine Million unausgesprochener Fragen zwischen ihnen hingen. Sein großer Körper strahlte eine Hitze aus, die sich angenehm auf Pauls Haut anfühlte. Plötzlich wurde ihm bewusst, wie kalt ihm war.
Hack umfasste sein Kinn und hob es sachte an. »Was zum Teufel ist hier passiert?« Sein knurriger Tonfall stand im krassen Gegensatz zu seiner sanften Berührung. Vorsichtig strich er mit dem Daumen an Pauls Lippe entlang, hielt jedoch inne, als Paul zusammenzuckte. »War das dieser Kerl, der eben gegangen ist? Die Aushilfe?« Hack klang, als würde er nur auf Pauls Stichwort warten, damit er loshetzen und Adrian jagen konnte, um ihn zu zerfetzen.
Paul riskierte einen Blick zu Hack. Auf seiner Jacke und in seinen Haaren glitzerte Schnee, was ihm eigentlich etwas Komisches hätte geben müssen. Stattdessen ragte er über Paul auf wie der Yeti, dem man sein Futter geklaut hatte. Wenn er sich nicht so ausgelaugt gefühlt hätte, hätte er den Anblick vermutlich erregend gefunden.
»Paul«, sagte Hack drängend und beinahe klang es, als würde Sorge in seiner Stimme mitschwingen.
Paul holte tief Luft und befreite sein Kinn aus Hacks Griff. »Alles gut.«
»Das hast du schon gesagt.«
»Dann meine ich es wohl so.« Er hob eine zitterige Hand, um sich vielleicht übers Gesicht oder durch die Haare zu fahren, aber so weit kam er nicht. Hack fing seine Hand ein und inspizierte seine Finger.
»Du blutest.«
»Muss mich geschnitten haben.«
Hack sog so tief und langsam Luft ein, dass sich sein Oberkörper unter der Jacke raschelnd aufblähte. Unter seiner Oberfläche brodelte eine Wut, die in Wellen von ihm abzustrahlen und den Boden zum Vibrieren zu bringen schien. Trotzdem fühlte Paul sich sicherer, als er es mit Adrian in einem Raum je gekonnt hätte.
Abgesehen von deinen dummen zehn Minuten gerade.
Hätte Adrian ihn in Ruhe gelassen, wenn er sich nicht hätte hinreißen lassen? Wenn er weiterhin auf Abstand und bockig geblieben wäre, anstatt Adrian Hoffnungen zu machen?
Beinahe hätte Paul gelacht. Hoffnungen?
Hack musterte ihn immer noch, als könnte er direkt in seinen Kopf hineingucken. Pauls Herzschlag beschleunigte sich wieder. Er entwand ihm seine Hand und nickte zu den Toiletten auf der anderen Seite des Gastraums.
»Ich geh mal schnell. Das Blut abspülen.«
Hack sagte nichts, ließ ihn aber gehen. Wahrscheinlich sah er auch, dass seine Schritte alles andere als selbstbewusst oder sicher waren. Er war noch nie so froh gewesen, dass Steffens Café so überschaubar war. Verdammt. Wenn Hack nicht da gewesen wäre, hätte er sich vermutlich an der Wand abgestützt.
Die Toiletten bestanden aus jeweils einem einzigen abschließbaren Raum mit Toilette, Waschbecken und Spiegel und waren nahezu identisch eingerichtet. Es roch schwach nach Lavendel und in der Herrentoilette war es zudem arschkalt. Jemand hatte das schmale Fenster oberhalb der Toilette geöffnet und seitdem hatte es niemand mehr geschlossen.
Als Paul sich nach dem Fenstergriff streckte, durchzuckte ein pochender Schmerz seinen Rücken. Nicht so schlimm, dass er befürchtete, sich etwas gebrochen zu haben, aber schlimm genug, um unangenehm zu sein. Jetzt, da das Adrenalin allmählich absank, kam er sich doch ein wenig verprügelt vor.
Er ging zum Waschbecken und ließ lauwarmes Wasser laufen, wobei er anfangs den Blick in den Spiegel vermied. Dann siegte seine Neugier und er sah doch hinein.
Er sah aus wie ausgekotzt. Und wie ein Gespenst. Wie ein ausgekotztes Gespenst. Kein Wunder, dass Hack ihn eben so angesehen hatte.
Wieso ist er überhaupt zurückgekommen? Unwahrscheinlich, dass es vor Sehnsucht nach ihm war.
Der Schnitt an seiner Hand war nichts Weltbewegendes und seine Lippe wäre morgen wahrscheinlich bereits abgeschwollen. Damit konnte er problemlos arbeiten – was er auch musste. Wie er Steffen erklären wollte, dass er Adrian kurzerhand gefeuert hatte, wusste er noch nicht.
Paul spritzte sich eine Ladung kaltes Wasser ins Gesicht, wobei der Riss in seiner Lippe unangenehm ziepte. Wenigstens hatte er jetzt etwas Farbe auf den Wangen.
Als er in den Gastraum zurückkehrte, fegte Hack mit einem Kehrblech die Scherben der Flasche zusammen. Seine Jacke hing über einem Stuhl und die beiden Lappen aus der Spüle lagen auf dem Boden ausgebreitet und saugten den Rum auf.
»Danke«, sagte er, als Hack die Scherben in den Mülleimer kippte.
Hack brummte und stellte Kehrblech und Handfeger zurück unter den Tresen. »Sonst noch was?«
»Nein. Wir … wir waren eigentlich fertig.«
»Du meinst, bevor das hier außer Kontrolle geraten ist.«
»Sozusagen.« Paul verschwand in den schmalen Gang, um seine Jacke aus dem Wandschrank zu holen.
»Was genau ist denn außer Kontrolle geraten?«, fragte Hack vom Ende des Gangs aus.
Umständlich zog Paul seine Jacke an, aber als er zurückging, stand Hack noch immer da und wartete auf eine Antwort. »Wieso bist du eigentlich noch da? Ich hab dich vorhin weggehen sehen.«
»Die U-Bahn fährt nicht. Betriebsstörung.«
Scheiße. Und wie zum Teufel kam er jetzt nach Hause? Er wollte nur noch ins Bett. »Und Yvette?«
»Hat den Bus genommen.« Hack ging zu seiner Jacke und schlüpfte hinein. »Wenn du mir nicht sagen willst, was passiert ist, dann verrat mir wenigstens, ob dieses Arschloch morgen wieder hier auftauchen wird.« Seine Miene verfinsterte sich. »Dann frage ich nämlich ihn, was hier los war.«
Paul schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Nein, ich soll ihn mir nicht schnappen und höflich fragen?«
Paul konnte sich gut vorstellen, wie höflich bei Hack aussah. »Nein, er kommt morgen nicht wieder.« Hoffentlich. Vielleicht sollte er Steffen anrufen und ihm zumindest teilweise erzählen, was passiert war. Falls Adrian morgen wiederkommen und das Café auch nach Aufforderung nicht verlassen würde, könnte er ihm androhen, die Polizei zu rufen.
»Und da bist du so sicher, weil der Kuss zwischen euch so abstoßend war oder weil du mit einer abgebrochenen Flasche auf ihn losgegangen bist?«
Was? Wie lange …? Paul versuchte, die zeitliche Abfolge auf die Reihe zu bekommen, aber sein Hirn blockierte.
»Ich habe euch durchs Fenster gesehen.« Oh Scheiße. »War ‚ne ziemliche Show, dazu die laute Musik …«
Paul räusperte sich. »Wenn du uns gesehen hast, wieso bist du dann nicht reingekommen?«
»Ich wollte nichts unterbrechen.« Irgendwie klang Hack hölzern. Oder lag das an dem blöden Geraschel seiner Jacke? »Konnte ja keiner ahnen, dass die Stimmung so umschlägt. Ich war schon wieder auf dem Weg zur U-Bahn, als die Musik plötzlich ausging und der Kerl gegangen ist.«
Also hatte Hack nicht alles gesehen. Vermutlich sollte er froh darüber sein. Wenn Hack wie die Kavallerie durch die Tür gebrochen wäre, als Adrian handgreiflich geworden war, wäre wahrscheinlich mehr Blut geflossen. Bestimmt nicht gut für seine Bewährung, wenn er wieder in eine Schlägerei verwickelt wurde.
Als Paul nichts sagte, begann Hack, seine Jackentaschen nach seinen Zigaretten abzuklopfen. »Ich hätte dich nicht für einen Tänzer gehalten.«
Paul zog seinen Schal höher. »Ist lange her.«
»Du bist siebenundzwanzig. Wie lange kann das her sein?«
Scheiße. Fühlte sich Hack jedes Mal so, wenn er ihm eine Frage stellte, die er nicht beantworten wollte? Oder einem Thema zu nahe kam, über das er nicht reden wollte?
»Sah jedenfalls aus, als hätte es dir Spaß gemacht.« Hack hatte seine Zigaretten gefunden, schüttelte eine aus der Packung und zog sie mit den Lippen heraus. »Mich bekommst du nicht in einen Club.«
Schwach zupfte es an Pauls Mundwinkeln. »Hätte ich auch nicht gedacht.«
Hack gehörte in dunkle Straßenecken und kleine, verwinkelte Bars, in denen die Rauchschwaden von zig Zigaretten unter der Decke hingen und verschiedene Whiskeys in urigen Holzregalen aufgereiht waren – und nicht in einen weitläufigen Club mit Darkroom und Laser-Lichtkonzept, in dem halbnackte Männer auf der Tanzfläche zappelten, bunte Cocktails serviert wurden und Glitter von der Decke fiel.
Hack fischte ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche und nickte zur Tür. »Gehen wir. Ich hab ein Taxi bestellt. Müsste gleich da sein.«
Paul zog die Augenbrauen hoch. »Ein Taxi? Und damit willst du zuerst mich nach Hause fahren und anschließend weiter zu dir? Bist du mit Dagobert Duck verwandt?«
Hack nahm die Zigarette aus dem Mund. »Eigentlich hab ich gehofft, du kommst mit zu mir.«
Womit sie immer noch viel zu viel zahlen würden. »Ich weiß nicht …«
»Ich würde dich ungern allein lassen.« Der Unterton in Hacks Stimme klang seltsam, obwohl Paul nicht genau sagen konnte, woran das lag.
»Ich bin schon groß, keine Sorge.«
»Ich weiß. Trotzdem. Du hast immer noch diesen Ausdruck in den Augen.«
Paul schluckte. »Welchen Ausdruck?«
»Der, der dich eine Flasche hat zerschlagen lassen, damit du dich mit irgendwas verteidigen kannst.«
Paul wandte den Kopf ab. Vermutlich kannte Hack sich mit solchen Blicken aus. Schließlich hatte er genau wie Adrian mal auf der anderen Seite einer zerbrochenen Flasche gestanden.
»Du musst nicht drüber reden, wenn du nicht willst«, sagte Hack leise. »Aber bitte komm mit zu mir.«
Die Einladung klang anders als noch am Mittwoch. Da hatte er Paul gebraucht, um sich nicht zu viele Gedanken zu machen. Jetzt schien er ihm anbieten zu wollen, genauso für ihn da zu sein.
Pauls Puls schoss in die Höhe. War das nicht genau das, was eine Beziehung ausmachte? Für den anderen da zu sein, wenn er ihn brauchte?
»Da ist das Taxi«, sagte Hack. Seine Jacke raschelte leise, als er zur Tür ging, sie aufzog und dem Fahrer ein Handzeichen gab. Er schob die Zigarette samt Feuerzeug zurück in seine Jackentasche und drehte sich um. »Paul?«
Paul fuhr sich durch die Haare und vergaß dabei die Schnittwunde zwischen seinen Fingern. Er zuckte zusammen und starrte auf den kleinen Riss in seiner Haut, in dem sich erneut ein Blutstropfen sammelte und der wieder dumpf zu pochen begonnen hatte.
Wenn er sich früher als Kind wehgetan hatte, hatte ihn sein erster Weg immer zu Oma Biggi geführt. Nicht nur, um sich verarzten zu lassen, sondern auch um Trost bei ihr zu suchen. Als Teenager war es komplizierter geworden. Die Wunden waren andere und als Heranwachsender ließ man sich natürlich nicht mehr von seiner Oma trösten. Oma Biggi hatte sich jedoch nur schwer abschütteln lassen.
»Sei nicht albern, Paulchen. Niemand ist mit seinem Schmerz gern allein. Ich stelle auch keine Fragen, versprochen. Ich setze mich einfach nur hierhin und leiste dir Gesellschaft, in Ordnung? Und können wir die Musik vielleicht etwas leiser machen?«
Paul ging zu Hack, um ihm einen kurzen Kuss auf den Mund zu drücken. »Danke.« Er zückte den Schlüssel, um Steffens Café abzuschließen. Als Hack nicht zur Seite trat, hob er den Kopf.
Hack sah aus, als wollte er etwas sagen. Sekundenlang schauten sie sich in die Augen. Pauls Nacken kribbelte. Dann beugte Hack sich vor und küsste ihn erneut, wobei er anfangs nur vorsichtig über Pauls Unterlippe strich. Als Paul nicht zurückwich, vertiefte er den Kuss, der einen seltsam verzweifelten Beigeschmack hatte. Dennoch wurde Paul so schwindelig, dass er sich an Hack festhalten musste, damit seine Knie nicht doch noch einknickten.
Als hätte er damit einen Bann gebrochen, löste sich Hack von ihm und räusperte sich. »Gehen wir.« Behutsam löste er Pauls Griff von seinem Arm und ging zum Taxi.
*
Die Taxifahrt kostete über 35 Euro, die Hack ohne mit der Wimper zu zucken zahlte. An den meisten Tagen machte Paul nicht mal so viel Trinkgeld. Für den Preis bekamen sie einen geschwätzigen Fahrer mit italienischen Wurzeln, der Pizza auf den Tod nicht ausstehen konnte und eine Vorliebe für Jennifer Lopez hatte. Irgendwann hatte Hack ihn mit zusammengebissenen Zähnen gebeten, die Lautstärke runterzudrehen, was der Fahrer nur widerwillig getan hatte, aber dafür hatte er danach nicht mehr gegen J.Lo anbrüllen müssen.
In Hacks Wohnung angekommen, fühlte sich Paul für einen schrecklichen Moment verloren. Er wollte schon bereuen, hergekommen zu sein, als Hack ihm seine Jacke abnahm, ihn anwies, die Schuhe auszuziehen, und aufs Sofa schickte. Hack hantierte im Küchenbereich herum und kam mit zwei Gläsern und einer Flasche mit goldgelber Flüssigkeit zurück. Er setzte sich neben Paul, schenkte ihnen beiden drei Finger breit ein und drückte Paul ein Glas in die Hand.
»Trink.«
Paul umklammerte das Glas, in dem die Flüssigkeit hin und her schwappte. Obwohl sie bestimmt dreißig Zentimeter von seinem Gesicht entfernt war, konnte er die herbe, rauchige Note riechen. Allein bei dem Geruch wollte er sich schütteln. »Ich glaube nicht, dass mir gerade nach Alkohol ist.«
Hack schien keine Probleme damit zu haben und trank einen Schluck. »Das beruhigt.«
Interessant. Warum sich Hack wohl beruhigen musste? »Ich bin ruhig.«
»Okay. Hast du reflexartig nach der Flasche gegriffen oder weil du deinem Freund auch so eine verpassen wolltest?« Er lehnte sich zu Paul und tippte auf die Narbe an seinem linken Auge.
»Er ist nicht mein Freund.«
»Aber du kennst ihn.«
»Das … Scheiße.« Er stieß Hack mit dem Ellbogen an. »Du hast gesagt, ich muss nicht reden.«
»Musst du auch nicht.«
»Dann hör auf, mich in ein Gespräch zu verwickeln.« Wie um einen demonstrativen Punkt hinter diesen Satz zu setzen, hob er das Glas an die Lippen und trank. Der Whiskey war kaum über seine Zunge geflossen, als sich alles in ihm zusammenzog. Kräftiger, torfiger Rauchgeschmack erfüllte seinen Mund. Hustend stellte er das Glas auf den Tisch. »Scheiße.« Noch ein Husten. Hack schnaubte belustigt und klopfte ihm beinahe großväterlich auf den Rücken. »Was zum Teufel ist das denn?«
»Ein echt guter Whiskey?«
Paul verkniff sich das nächste Husten und griff stattdessen nach der Flasche. »Von wegen beruhigen. Das ist wie eine Explosion im Bauch.«
»Das nächste Mal bekommst du einen Prosecco zum Runterkommen.«
»Jack Daniel’s würde auch reichen.« Er musterte das Etikett der Flasche. Ein schottischer Whiskey aus der Islay Region. Laphroaig. Großartig. Hatte Hack nichts Kräftigeres für ihn gefunden? Er schüttelte sich. Als Kellner hatte er den Gästen schon alles serviert, was das Herz begehrte, aber manche Geschmäcker würde er nie nachvollziehen können. »Keine Ahnung, wie du das runterkriegst.«
»Jahrelange Übung.« Damit kippte er den Rest in seinem Glas hinunter und tauschte es gegen Pauls aus. »Meinen ersten Whiskey hab ich mit vierzehn getrunken.«
Paul riss die Augen auf. »Mit vierzehn?«
»Man muss dem großen Bruder schließlich alles nachmachen, oder?« Er zuckte die Schultern. »Ist mir nicht besonders gut bekommen.«
»Wenn es so einer war« – Paul schwenkte die Flasche, ehe er sie zurück auf den Tisch stellte – »kein Wunder.«
Noch ein Schulterzucken. Hack starrte in das Glas in seinen Händen hinunter und drehte es zwischen den Fingern. »Der …« Er stockte. »Der Lieblingswhiskey meines Vaters.«
Paul erstarrte und sah Hack von der Seite an. Seine Stimme klang seltsam. Eine verrückte Mischung aus Respekt, Abneigung und unzähliger weiterer Nuancen, die so viel mehr über das Verhältnis zu seinem Vater verriet, als er wahrscheinlich offenbaren wollte.
Derselbe schlimme Vater, der ihm auf die Pelle rückt und um den er lieber einen Bogen macht?
Paul schlug das Herz bis zum Hals. Es kam ihm vor, als würde Hack ihm einen Schatz auf einem Silbertablett präsentieren, als hätte er jedoch keine Ahnung, was er damit anfangen sollte. Zugreifen und riskieren, dass er ein uraltes, kniffliges Sicherheitssystem auslöste, das ihn aussperrte, oder liegen lassen und abwarten, dass der Schatz von selbst in seinen Schoß sprang?
Hacks Kiefer mahlten, als hätte er an einer alten Geschichte zu knabbern. Unruhig rutschte Paul auf dem Sofa in eine bequemere Position und zog ein Bein auf die Sitzfläche hoch.
»Ist er tot?« Verdammt. Das war ihm einfach so rausgerutscht.
Hack schnaubte. »Nein. Er erfreut sich bester Gesundheit. Er ist der Ansicht, dass ein gesunder Geist in einem gesunden Körper wohnt, also achtet er auf sich. Whiskey ist sein einziges Laster. Er …« Hacks Stimme erstarb. Er verzog den Mund, setzte das Glas an und leerte auch dieses. Als er sich vorbeugte, sah es im ersten Moment aus, als wollte er nach der Flasche greifen. Dann überlegte er es sich anders und stellte das Glas ab.
Je nervöser Hack wurde, desto ruhiger wurde Paul. Die Einstellung seines Vaters erklärte vermutlich Hacks trainierten Körper. Und warum sein Bruder ihm neulich die Zigarette hatte abnehmen wollen. So ekelhaft Paul Rauchen auch fand, so wenig konnte er sich Hack ohne die Glimmstängel vorstellen. Ob er früher heimlich geraucht hatte?
In einer beinahe unwilligen Geste fuhr sich Hack übers Gesicht und ließ die Hand weiter in seine rabenschwarzen Haare wandern. Paul hätte ihn gerne berührt, wusste aber nicht, ob ihn das aus diesem kostbaren Moment herausreißen würde.
»Er ist auch Anwalt.«
»Oh.« Damit hatte er nicht gerechnet. Irgendwie hatte er angenommen, Clemens wäre die Ausnahme gewesen. »Das scheint bei euch in der Familie zu liegen.«
Er musterte Hacks kantiges Profil. Bis vor kurzem hätte er die Vorstellung von Hack in einem schicken Anzug mit Krawatte in einer Kanzlei oder bei Mandantenterminen, geschweige denn in einer Robe im Gerichtssaal lächerlich gefunden. Andererseits würde er mit seiner Statur jedes Hemd und jedes Jackett zweifellos eindrucksvoll ausfüllen.
Sein Blick glitt weiter zur Narbe. Irgendetwas zupfte an seinem Unterbewusstsein, aber er bekam den Gedanken nicht zu fassen.
»Du bist aber nicht auch ein verkappter Anwalt, oder?« Eigentlich hatte er das als Scherz gemeint, aber ausgesprochen hörte es sich nicht mehr so an.
»Nein.« Er seufzte und fuhr fort: »Ich hab das Studium abgebrochen.«
Paul klappte die Kinnlade herunter. »Du hast Jura studiert?«
Hack sah ihn aus dem Augenwinkel an. »Angefangen. Und dann abgebrochen.«
Machte das einen Unterschied? Immerhin hatte er offensichtlich die Voraussetzungen für das Studium gehabt. Er hatte Hack nie für dumm gehalten, aber plötzlich kam sich Paul wie der letzte Vollidiot vor.
»Hast du noch was anderes zu trinken da außer diesen tollen Whiskey?« Paul stand auf und ging zur Küchenzeile.
»Reste links oben, Bier im Kühlschrank.«
Paul warf einen Blick in den linken Oberschrank und entdeckte eine fast leere Flasche Jack Daniel’s, mit dem Hack an Weihnachten den Whiskeypunsch zubereitet hatte. Er streckte sich nach der Flasche und zur selben Zeit, als es unangenehm in seinem Rücken zog, rastete plötzlich etwas in seinem Gehirn ein. Interessenskonflikt.
Er wirbelte herum. »Wenn dein Bruder dich wegen eines Interessenskonflikts nicht vertreten wollte … heißt das, dein Vater war Anwalt … der Gegenseite?«
Hack hob den Kopf und starrte ihn an. Erwischt.
»Ich bin nicht so blöd, wie ich aussehe.«
»Du siehst überhaupt nicht blöd aus, Paul«, sagte Hack.
»Verglichen mit dir wohl doch.«
»Es ist nur ein verdammtes Studium.«
»Ja, und was kommt noch alles dazu? Offensichtlich verkaufst du mich schon die ganze Zeit für dumm, Hack.« Wütend schwenkte er die Whiskeyflasche, um damit auf die spartanisch eingerichtete Wohnung und die Umgebung im Allgemeinen zu weisen. »Wer weiß, ob das alles überhaupt echt ist? Ob du echt bist?«
Hack knirschte mit den Zähnen. »Gehen wir ins Schlafzimmer, dann zeig ich dir, wie echt ich bin.«
Paul schnaubte. »Oh, Sex, klar. Der ist zweifellos echt. Das Einzige, was von Anfang an echt war.« Er schlug sich die freie Hand vor die Stirn. Mit der anderen umklammerte er weiterhin die Flasche, als müsste er sich an irgendetwas festhalten – schon wieder. »Und ich lass das auch noch mit mir machen, indem ich rumtöne, dass mir alles egal ist, ich keine Fragen stellen werde und du so viele Geheimnisse haben kannst, wie du willst.«
»Du willst über Geheimnisse reden? Schön. Fangen wir mit dem Kerl an, den du dir mit einer abgebrochenen Flasche vom Leib halten musstest.«
Paul schraubte den Jack Daniel’s auf und trank direkt aus der Flasche. »Na, was denkst du denn?«
»Ich weiß nicht, ob mir gefällt, was ich denke«, grollte Hack und in seinen Augen blitzte es unheilvoll. In Kombination mit seiner knurrigen Stimme jagte das Paul einen kribbeligen Schauer über den Rücken.
Toll. Super Zeitpunkt. Manchmal hasste Paul seine verdammte Libido. Er wollte nicht erregt sein, er wollte wütend sein. In der Hoffnung, die Lust einzudämmen, schüttete er noch einen Schluck Whiskey oben drauf.
»Wir hatten mal was miteinander. Ich stehe auf groß, dunkel und gefährlich, wie dir bestimmt schon aufgefallen ist. Und Adrian ist sehr groß, sehr dunkel und sehr gefährlich.«
Die Offenbarung schien Hack nicht zu überraschen, aber auch nicht gerade zu erfreuen. Er wandte den Blick ab und starrte den scheußlichen Whiskey auf dem Tisch vor sich an. Nach einem Moment griff er danach und goss sich erneut ein. Sein Arm war so angespannt, dass es ein Wunder war, dass die Flasche nicht zerbarst.
»So, und jetzt du.«
Hack kippte den Whiskey runter und stand auf, um sich an die Balkontür zu stellen.
Klar, dass von seiner Seite wieder nichts kommen würde. Warum versuchte er es überhaupt? Er war in eine Scheißhülle verliebt, ohne Vergangenheit, mit nebulös schlimmer Familie und ohne beschissene Hobbys.
Hack starrte in die Nacht hinaus zu dem Hochhaus gegenüber, in dem nur vereinzelte Fenster erleuchtet waren oder von flackerndem Fernsehlicht erhellt wurden. Wahrscheinlich sah er kein einziges davon. »Ja, mein Vater war Anwalt der Gegenseite. Was übrigens ein weiterer Interessenskonflikt ist und damit eigentlich nicht möglich.«
Paul war so verblüfft, eine Antwort zu bekommen, dass er das Erste sagte, was ihm durch den Kopf ging: »Wieso eigentlich?«
»Weil mein Vater es möglich gemacht hat.« Er drehte sich um und fixierte Paul aus schmalen Augen. »Was heißt, ihr hattet mal was miteinander?«
Themenwechsel. Wie immer. Gut, wenn er es unbedingt so wollte, konnte Paul ihm gerne ein paar Details liefern. »Dass wir gevögelt haben. Ständig und überall, was super funktioniert hat. Fast wie … fast wie bei dir. Nur dass wir mehr Zeit miteinander verbracht haben und es keine Geheimniskrämerei gab. Wir haben es nicht Beziehung genannt, aber wahrscheinlich war es eine.«
»Dann tut’s mir leid, dass ihr euch getrennt habt«, sagte Hack steif.
»Mir nicht.« Paul rieb sich über den Nacken. Scheiße. Er war einfach nicht so verschlossen wie Hack. Es würde keinem von ihnen etwas bringen, wenn er darüber redete. Aber war er nicht genau deshalb hergekommen? »Adrian war grob. Ist grob. Aber … auch das gefällt mir, wie du ja weißt. Manchmal.«
Hack sagte nichts und klopfte seine Jeans ab. Als ihm auffiel, dass seine Zigaretten noch in seiner Jackentasche waren, stopfte er die Hände in die Hosentaschen.
Mit einem Mal fand Paul es schrecklich, dass er auf der anderen Seite des Zimmers stand. Es war zwar nicht groß, aber genauso gut hätte ein Fußballfeld zwischen ihnen liegen können. Andererseits bezweifelte er, dass er weiterreden könnte, wenn er Hacks Wärme spürte.
»Einmal hat er übertrieben.« In der ersten Sekunde wusste er nicht, wer gesprochen hatte, bis ihm aufging, dass das Flüstern aus seinem Mund gekommen war.
Hack zog die Hände aus den Taschen und verschränkte in einer ungelenk aussehenden Geste die Arme vor der Brust. Seine Schultern wirkten verkrampft, genau wie seine Kieferpartie. Möglicherweise stand er absichtlich da hinten. Um Abstand zu wahren. Um Paul nicht zu packen. Um ihm keine Angst einzujagen.
Paul spürte seinen Zorn bis zur Küchenzeile. Er wusste, dass er nicht gegen ihn gerichtet war, was das Ganze jedoch nur schlimmer machte. Er war so ein Idiot.
»Inwiefern übertrieben?«, fragte Hack gepresst.
Er wandte den Blick ab. »Er hat mich … geschlagen, wenn man so will. Die ersten ein, zwei Hiebe waren okay und haben mich vielleicht ein bisschen scharf gemacht, aber eigentlich …« Er schüttelte den Kopf. »Auf jeden Fall hat’s Adrian gefallen. Dann hat er weitergemacht. Und nicht mehr aufgehört. Am Ende … hat er mich eher verprügelt, als ein lustiges Sexspiel gespielt.«
Er versuchte, zu überspielen, dass seine Stimme brach, indem er sich in ein lapidares Schulterzucken rettete und noch einen Schluck Whiskey trank. Die Flüssigkeit lief ihm bitter wie Galle die Kehle hinunter und er stellte die Flasche weg. Vielleicht sollte er doch noch mal ernsthaft darüber nachdenken, mit dem Rauchen anzufangen. Hack schien es zu helfen.
»Verdammt.«
»Tja, na ja, so macht halt jeder seine üblen Erfahrungen.« Auf der Anrichte prangte etwas, das aussah wie ein Soßenfleck. Tomate oder vielleicht Ketchup. Paul strich darüber und fing an, daran zu knibbeln.
»Du hättest was sagen sollen. Beim Frühstück letztens. Dass die Aushilfe …« Hacks Stimme erstarb in einem Schnaufen.
»Und was hätte das gebracht?«
»Dann hätte ich ihn heute nicht gehen lassen, sondern umgebracht.«
Paul sah über die Schulter und war überrascht, dass Hack sich durch den Raum auf ihn zubewegt hatte. Er hatte gar nichts gehört. Hack hielt ein paar Schritte Abstand, dennoch war die stählerne Härte in seinem Blick Furcht einflößend. Paul war sich nicht sicher, ob das nur so daher gesagt war oder ob Hack es ernst meinte.
»Toller Plan. Hättest du es wie einen Raubüberfall aussehen lassen? Vielleicht hätte dir einer deiner ominösen Bekannten oder Autoschieberkontakte helfen können, es zu verschleiern.«
Hack knurrte. »Ich finde das nicht witzig.«
»Ich auch nicht. Und deswegen habe ich dir auch nichts gesagt.« Unter anderem. »Soweit ich weiß, ist Adrian im Gegensatz zu dir nicht vorbestraft.«
Hack stutzte. »Du hast ihn damals nicht angezeigt?«
»Spricht da der Jurastudent aus dir?«
»Paul!«
»Nein, ich hab ihn nicht angezeigt. Ich war … Scheiße, ich hab kaum verstanden, was da überhaupt passiert ist. Schließlich war Adrian so was wie mein Freund.« Und außerdem hatte er sich in Grund und Boden geschämt, so sehr, dass er sich vor Oma Biggi und seiner Mutter versteckt hatte, bis die blauen Flecke verschwunden waren und er wieder arbeiten gehen konnte, ohne unangenehme Fragen beantworten zu müssen – wobei man ihn in der Goldenen Krone mit einem blauen Auge gar nicht erst zu den Gästen vorgelassen hätte. Auch jetzt noch schämte er sich für seine grenzenlose Dummheit, sein verkorkstes Verlangen und weil er nicht in der Lage gewesen war, es abzuwenden.
Adrian hatte sich danach ganz normal verhalten, sodass er sich manchmal gefragt hatte, ob er andere Erinnerungen an diesen Abend hatte als Paul. Er hatte Paul angerufen und gefragt, wie es ihm ging, auch wenn er sich nie entschuldigt hatte oder vorbeigekommen war. Erst als Paul nach knapp zwei Wochen wieder zur Arbeit gegangen war, waren sie aneinander gerasselt – weil Adrian das Ganze wiederholen wollte. Als er zudringlicher geworden war, hatte Paul in einer Kurzschlussreaktion gekündigt und den Kontakt abgebrochen. Adrian hatte ein-, zweimal versucht, ihn wieder herzustellen, ihn dann aber offensichtlich schnell vergessen.
Definitiv keine seiner Vorzeigebeziehungen. Falls es so was überhaupt gab.
Hack trat näher an ihn heran. »Falls sich weitere psychopathische Ex-Freunde von dir ankündigen, wäre es schön, wenn du mir davon erzählst. Vorher.«
»Klar. Sobald du mir einen deiner Ex-Freunde vorgestellt hast.«
Hack überging das, indem er zögerlich einen Arm ausstreckte, Pauls Hemdkragen zur Seite schob und über das verblasste Mal an seinem Hals strich. Sein Gesichtsausdruck wirkte beinahe gequält. »Und es wäre schön, wenn du mir sagst, wenn ich … irgendetwas tue, das dich –«
Paul legte eine Hand auf Hacks und sah ihn eindringlich an. »Du bist ganz anders als Adrian.«
Hacks Mundwinkel zuckten. »Das will ich hoffen. Aber trotzdem. Wenn –«
»Mach dir bitte nicht wegen jedem Biss und jedem Zwicken Gedanken. Ich mag es, wie du mich anfasst, das Gefühl, das du mir dabei gibst.« Ich mag dich. »Ich bin nicht aus Zucker. Ein bisschen grob ist okay.«
Hacks Blick haftete an seinen Lippen. »Ich kann auch anders.«
Paul wurde flau im Magen. Jedes Mal, wenn sie Sex hatten, war es eine impulsive, fast hektische Angelegenheit. Die Lust baute sich immer so schnell auf, dass sie schier überrumpelt wurden, bis sich die Spannung in einer gewaltigen Explosion entlud. Die Vorstellung, es langsam und zärtlich angehen zu lassen, versetzte seinem Herzen einen Stich. Damit würde er wahrscheinlich gar nicht klarkommen.
»Weiß ich.« Verdammt. Warum zitterte seine Stimme jetzt? »Aber wie gesagt, ist okay.«
Hack legte die zweite Hand ebenfalls an Pauls Hals und ließ sie zu seiner Wange hochwandern. Zärtlich strich er mit dem Daumen über die Haut. »Ich möchte nicht, dass du Geheimnisse vor mir hast. Nicht, wenn das damit endet, dass du dich mit kaputten Flaschen verteidigen musst.«
»Ich auch nicht. Ich meine, umgekehrt. Ich will auch nicht, dass du welche vor mir hast.« Gott, die Worte purzelten in seinem Kopf durcheinander wie in einer Buchstabensuppe. Hitze kroch ihm ins Gesicht, obwohl er versuchte, sie zu unterdrücken. »Und das mit der Flasche … Vielleicht hab ich ganz kurz an dich gedacht, bevor ich zugegriffen habe. Mir ist nichts Besseres eingefallen.«
»In diesem Fall bin ich froh.« Er beugte sich vor und in der ersten Sekunde dachte Paul, dass er ihn küssen würde. Stattdessen lehnte er nur mit geschlossenen Augen die Stirn gegen Pauls. »Vielleicht verstehst du jetzt, wie der andere sich gefühlt haben muss, als ich vor ihm stand.«
Paul hob sein Gesicht und küsste Hack auf den Mund. »Ich weigere mich, irgendetwas zu verstehen, solange du mir nicht die ganze Geschichte erzählt hast.« Egal, wie oft Paul das lückenhafte Szenario vor seinem geistigen Auge abgespielt hatte, ihm fiel keine Variante ein, die rechtfertigte, dass Hack – sein Hack – sich zurecht so geißelte. Er war nicht wie Adrian. Selbst wenn er die Kontrolle verlor, könnte er nie so sein.
Hacks warmer Atem strich in einem lautlosen Seufzen über seine Lippen. »Ein guter Freund war in einer Beziehung mit einem Kerl, der ihn geschlagen hat.« Er öffnete die Augen und zog sich ein Stück zurück. »Auf regelmäßiger Basis und nicht im Zusammenhang mit Sex. Ich habe ewig gebraucht, um dahinterzukommen, und er, um sich mir anzuvertrauen. Ich habe ihn dazu gedrängt, das Arschloch anzuzeigen. Das Ganze ging vor Gericht, aber das Schwein kam davon.«
Hack zog seine Hände zurück, doch Paul hielt eine weiterhin fest. Er wollte den Körperkontakt nicht abbrechen lassen, auch wenn Hack das in diesem Moment unangenehm war. Er konnte kaum glauben, dass er ihn wirklich zum Reden bekommen hatte, und wagte kaum zu atmen. Dennoch wollte er Hack zeigen, dass er hier war und nicht weggehen würde, falls er das befürchtet hatte. Er suchte seinen Blick, aber Hack wich ihm aus.
»Ich bin dem Arsch in einer Bar über den Weg gelaufen. Er hat ein paar Sprüche geklopft, ich bin ausgeflippt und hab mich auf ihn gestürzt. Er war kein Gegner für mich. Obwohl er meinen Freund geschlagen hat, war ich ihm haushoch überlegen. Wenn er nicht mit der Flasche auf mich losgegangen wäre, hätte ich vielleicht …«
Für den Bruchteil einer Sekunde begegnete sein Blick Pauls und plötzlich war ihm vollkommen schleierhaft, wie er eben noch hatte annehmen können, dass Hack Adrian tatsächlich umbringen könnte. Allein der Gedanke, kurz davor gewesen zu sein, jagte Hack offenbar eine Heidenangst ein.
Flüchtig fragte sich Paul, was das für ein guter Freund von Hack war und ob er jetzt noch Kontakt zu ihm hatte. Er sprach nicht über Freunde – natürlich nicht. Wenn Paul mit ihm zusammen war, erhielt er keine Anrufe oder Nachrichten von Leuten, die mit ihm ein Bier trinken gehen oder in den guten, alten Zeiten schwelgen wollten.
Nicht, dass das bei Paul besonders oft vorkam, aber immerhin standen in seinem digitalen Adressbuch ein paar Kontakte – und er hatte nicht mit allen Sex gehabt.
»Dann haben andere Gäste eingegriffen und die Polizei kam.«
Der Satz hörte sich seltsam endgültig an, als wäre die Geschichte damit abgeschlossen. Paul blinzelte. »Und dann?«
»Dann hat er mich angezeigt und ich wurde verurteilt. Eigentlich hätte ich keine Bewährung bekommen dürfen. Er musste ins Krankenhaus. Mehrere Knochenbrüche, teilweise komplizierte. Und … ich hab ihm zwei Zähne ausgeschlagen.«
Paul wartete, aber Hack schien dem nichts hinzufügen zu wollen. Er wurde das Gefühl nicht los, dass Hack ihm noch immer Dinge verschwieg, auch wenn er nicht genau sagen konnte, warum. Wenn sich das allerdings wirklich so abgespielt hatte, war er sich einer Sache ziemlich sicher.
»Wenn das alles war, hat es der Kerl verdient.«
Erschöpft schloss Hack die Augen. »Paul …«
»Was denn? Willst du mir erzählen, dass du das nicht gedacht hast, als du auf ihn losgegangen bist?«
Hack sah ihn an und löste seine Hand aus Pauls, ohne dass er es verhindern konnte. »Ich habe gar nicht gedacht. Das ist das Problem.«
»Aber es war richtig, dass du –«
»Nein«, sagte Hack scharf, »war es nicht. So funktioniert das nicht. Es gibt Regeln und Gesetze, an die wir uns halten –«
»Und die in diesem Fall ganz offensichtlich versagt haben.«
»Trotzdem kann nicht jeder machen, was er will.«
»Jetzt vergiss doch mal diesen Jurascheiß. Jeden Tag gibt es irgendwo eine Schlägerei, die meisten davon aus deutlich weniger edlen Motiven –«
»Verdammt.« Hacks Augen brannten. »Das war nicht edel. Und es war keine harmlose Kneipenschlägerei unter Betrunkenen. Ich hab ihn attackiert und wenn er mir die Chance dazu gegeben hätte, hätte ich ihm seinen beschissenen Kopf abgerissen!«
»Aber –«
»Kein Aber! Ich wurde zurecht verurteilt. Eigentlich hätte man mich ins Gefängnis stecken müssen, sie haben es nur nicht gemacht, weil …« Er brach so abrupt ab, dass es aussah, als hätte er sich verschluckt.
Das Blut rauschte in Pauls Ohren. »Weil?«
»Verdammt.« Er fuhr herum, rammte die Hände in die Hosentaschen und steuerte den Balkon an. Auf halber Strecke fiel ihm ein, dass er seine Hose eben schon erfolglos abgesucht hatte. »Wo sind meine Scheißzigaretten?«
»In deiner Jacke. Hack. Weil … du ein Ersttäter warst?« Er verstand so wenig vom Rechtssystem, dass er einfach irgendwas in den Raum warf, das ihm aus zahllosen Krimiserien im Kopf geblieben war.
Die Lippen fest zusammengepresst marschierte Hack zur Garderobe, fummelte seine Zigarettenpackung aus der Jacke und ging in Socken auf den Balkon hinaus. »Gib mir zwei Minuten«, knurrte er, bevor er die Tür hinter sich zuzog, damit der Raum nicht auskühlte.
*
Aus den zwei Minuten wurden zwanzig. Obwohl Hack die erste Zigarette in Lichtgeschwindigkeit geraucht hatte, hatte er sich danach eine zweite angezündet, mit der er sich deutlich mehr Zeit ließ. Er war ans Geländer getreten und hatte die Arme darauf abgestützt, den Blick in die Ferne gerichtet. Auch wenn auf seinem Balkon wegen des anderen eine Etage höher nicht viel Schnee lag, reichte es doch aus, um seine Socken innerhalb kürzester Zeit zu durchnässen. Nach zehn Minuten öffnete Paul die Balkontür und stellte ihm wortlos ein Paar Schuhe nach draußen, in die Hack nach kurzem Zögern schlüpfte.
Es war so kalt draußen, dass er überlegte, ihm auch seine Jacke rauszureichen, entschied sich jedoch dagegen – immerhin war er nicht Hacks Mutter. Stattdessen räumte er die Whiskeyflaschen und Gläser weg und als Hack danach immer noch draußen stand, ging er ins Bad, um sich die Zähne zu putzen und zu duschen. Es war viertel nach drei. Er gehörte längst ins Bett. Die nächsten zwei Tage musste er allein bewerkstelligen und das war im ausgeschlafenen Zustand besser zu schaffen.
Er machte sich keine Illusionen; das Gespräch mit Hack war vorbei. Vielleicht war er sauer, dass er Paul so viel erzählt hatte, vielleicht konnte er über manche Dinge tatsächlich nicht sprechen. Paul sammelte jedes Stückchen Information wie Puzzleteile auf und setzte sie zu einem Bild zusammen, dessen Motiv er noch nicht kannte, das jedoch nicht so schlimm sein konnte, wie Hack ihm weismachen wollte.
Nach der Dusche fühlte er sich entspannter und irgendwie sauberer, als hätte er sich Adrians Berührungen und Geruch abgewaschen. Vorher hatte er nicht bewusst wahrgenommen, dass beides an ihm zu haften schien.
Als er nur mit Pants bekleidet in den Wohnraum zurückkehrte, saß Hack auf dem Sofa und sah ihm entgegen. Ein schwacher Funke glomm in seinen Augen auf, konnte die Erschöpfung aber nicht ganz aus seinem Blick vertreiben. Doch selbst die kurze Ablenkung war es Paul wert, in der kühlen Wohnung ein wenig zu frösteln.
»Tut mir leid.«
Paul zuckte die Schultern. »Keine Ahnung, wofür du dich entschuldigst.«
Paul wollte sich neben ihn aufs Sofa setzen, aber Hack griff nach ihm und zog ihn auf seinen Schoß. Verblüfft ließ Paul es zu und sortierte seine Beine rechts und links von Hacks, während Hack die Arme um seine Taille schlang und ihn an sich zog.
Die Geste hatte nichts Sexuelles, sondern wirkte eher verloren, besonders als Hack sein Gesicht an Pauls Hals vergrub. Erneut stieg ihm die Meeresbrise in die Nase, vermischt mit dem unvermeidlichen Zigarettengestank und Essensgeruch, irgendwas mit Zwiebeln und Fett. Sein warmer Atem strich über Pauls Haut und seine Haare kitzelten ihn unterm Kinn. Seine Lippen konnten nur ein, zwei Millimeter von seiner Haut entfernt sein, denn als er sprach, berührten sie ihn wie bei einer Reihe federleichter Küsse.
Die Situation war so ungewohnt intim, dass sich eine kribbelige Wärme in seinem Bauch einnistete.
»Ich weiß nicht, wie du das machst.« Sogar seine Stimme klang ausgelaugt, aber Paul bezweifelte, dass es an der Uhrzeit lag.
Paul wusste nicht, was er meinte, aber gerade war es ihm auch egal. Sein Herz klopfte viel zu laut und schnell. Wenn er Pech hatte, konnte Hack es spüren. Zögerlich strich er durch Hacks Haare, aber nur eine Sekunde später hatte er die Hände tief hineingewühlt. Gott, fühlte sich das gut an.
»Ich will gar nicht so viel sagen, aber dann … mache ich es doch.«
Ach so, das meinte er. »Muss an dem ähnlichen Erlebnis liegen. Aber wenn es dich beruhigt: Ab jetzt versuche ich zu vermeiden, mich mit Flaschen zu verteidigen.«
Er hatte einen Lacher oder wenigstens ein belustigtes Schnauben provozieren wollen, aber stattdessen hob Hack den Kopf und sah ihn an. Pauls Mund wurde staubtrocken. Plötzlich war er sich Hacks Hände auf seinem Rücken überdeutlich bewusst, seines Körpers unter seinem.
»Ich will nicht, dass ich irgendwann etwas sage … dass du irgendwann etwas über mich erfährst …«
»Hey.« Weil er den Ausdruck in Hacks Augen nicht länger ertrug, beugte er sich vor und küsste ihn. Träge wand er seine Zunge um Hacks, aber plötzlich wurde der Kuss viel intensiver und bedeutsamer, als er beabsichtigt hatte. Er erschauerte. Hitze sammelte sich in seinem Unterleib. Der Riss in seiner Lippe ziepte.
Atemlos löste er sich von Hack und hatte eine Sekunde Mühe, geradeaus zu denken. Scheiße. Wo waren sie stehen geblieben? Er räusperte sich, doch seine Stimme war trotzdem kaum mehr als ein Flüstern, als er sagte: »Ich bin immer noch hier, oder? Wenn mich das Hackfleisch nicht abgeschreckt hat, was dann? Es nützt ja nicht mal was, dass du mich loswerden willst.«
Hack deutete ein Kopfschütteln an. »Ich will dich nicht loswerden. Im Gegenteil.« Seiner Stimme haftete ein so erregend rauer Unterton an, dass Pauls Schwanz zuckte.
»Warum hältst du mich dann auf Abstand? Oder schlimmer noch, gehst mir aus dem Weg?« Als Hack den Kopf zur Seite drehen wollte, grub Paul seine Finger tiefer in Hacks Haare und hielt ihn fest. »Erzähl mir jetzt nichts von wegen, das wäre besser für mich. Oder dass du mich nur beschützen willst oder so ein Scheiß.«
Hack schnaubte und pflückte Pauls Hände aus seinen Haaren. »Das würde nichts bringen, weil du dich offensichtlich sehr gut selbst in Schwierigkeiten bringen kannst.«
»Und wieder heraus.«
Damit schaffte er es, Hack ein Lächeln zu entlocken. Sanft strich er über Pauls Rücken. Als er die Stelle erreichte, an der er unfreiwillig Bekanntschaft mit dem Tresen geschlossen hatte, zuckte Paul zusammen.
Hack legte den Kopf schief. »Was ist?«
»Ach, nichts, ich hab nur – au!« Er zog Hacks Hände weg, nachdem er etwas nachdrücklicher über die Stelle gestrichen hatte.
Hacks Miene verfinsterte sich. »Ich hab schon gesagt, dass ich ihn umbringen werde, oder?«
»Ja. Nur glaube ich dir das jetzt nicht mehr, du Superverbrecher.«
»Versprich mir trotzdem, dass du mir Bescheid sagst, wenn er morgen doch aufkreuzen sollte.« Als Paul die Augenbrauen hochzog, fuhr er fort: »Damit ich ihm persönlich Hausverbot erteilen kann. Ich glaube, das ist in Steffens Sinne. Bevor noch mehr vom Inhalt seiner Bar auf dem Fußboden landet.«
Unwillig verzog Paul den Mund. Er wollte nicht den Eindruck vermitteln, nicht allein mit seinen Problemen fertigzuwerden, oder riskieren, dass Hack seine Kontrolle tatsächlich verlor. Andererseits wäre er da, um es zu verhindern. Und immerhin bestand eine kleine Chance, dass Adrian anmaßend genug war, wenigstens noch einmal kurz hereinzuschauen. Also …
»Okay, meinetwegen.«
Hack wirkte tatsächlich erleichtert, bevor er auf den Platz neben sich nickte. »Lass mich mal sehen.«
Nach kurzem Zögern tat Paul ihm den Gefallen, rutschte von seinem Schoß und setzte sich neben ihn. Als er ihm den Rücken zudrehte, fühlten sich Hacks Hände nicht wie die einer neutralen Partei an, die ihn objektiv auf Verletzungen untersuchte.
Hack brummte in seinem Nacken. »Da entsteht jetzt schon ein blauer Fleck.«
»Der geht auch wieder weg.«
Hack schnaubte, als wäre er mit dieser lapidaren Einstellung alles andere als zufrieden. Sein Atem prickelte auf Pauls Haut, kurz bevor er Hacks Lippen an seinem Nacken spürte. Er seufzte und zog die Schultern leicht hoch.
»Ich will keinen Abstand.«
Was? Paul starrte die Armlehne des Sofas an. Er wagte kaum zu atmen, aus Angst, er könnte irgendetwas verpassen, was Hack sagte. Sein Herz klopfte so laut, dass alle Geräusche nur gedämpft an seine Ohren drangen. Heißt das …?
»Okay«, sagte er nach einer Weile, als Hack nichts weiter sagte. Er schüttelte Hacks Hände ab und wandte sich ihm wieder zu. Seine Augen waren so unfassbar dunkel und tief, dass es wie ein Sog war. Scheiße. Ihm lagen ein paar wirklich dumme Sachen auf der Zunge, die er sich nur mühsam verkneifen konnte. »Gehört dazu auch, dass du mir Platz in deinem Schrank freiräumst?«
»Reicht dir ein Fach?«
Das musste ein Traum sein. Wärme breitete sich in seiner Brust aus. »Fürs Erste. Wachst du morgens auch mit mir zusammen auf?«
»Wenn du willst, dass ich dich wecke?«
»Kommt auf die Art des Weckens an. Oder du könntest auch einfach liegen bleiben?«
»Ich bin Frühaufsteher.«
»Ist mir aufgefallen.«
»Warum stehst du nicht früher auf?«
»Weil es halb vier nachts ist und man dann am nächsten Tag nicht früher aufsteht.«
Hack zuckte die Schultern. »Das müssen wir wohl auf einen Versuch ankommen lassen.«
Das? Wohl eher alles. Aber Paul war absolut gewillt, es zu versuchen.
Hack stand auf und streckte ihm eine Hand entgegen. »Na, komm. Gehen wir ins Bett.«
ENDE
Texte: Nora Wolff
Bildmaterialien: SplitShire/pixabay.de
Tag der Veröffentlichung: 05.05.2016
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