Im Herbst waren Rauchpausen schon unangenehm, aber im Winter waren sie richtig beschissen. Vor allem, wenn man eigentlich nicht rauchte. Er musste den Verstand verloren haben.
»Hast du mal Feuer?« Die Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger geklemmt, ging Paul auf die große Gestalt auf der anderen Seite des Innenhofs zu. Der eisige Dezemberwind schnitt ihm durch das dünne Hemd bis auf die Haut und er ging einen Schritt schneller. Das nächste Mal musste er an seine Jacke denken. Sofern Steffen ihn nicht rauswarf, wenn er noch mal nach einer Rauchpause fragte.
Der Mann auf der gegenüberliegenden Seite des spärlich beleuchteten Innenhofs zog an seiner eigenen Zigarette, während er in seiner Hosentasche nach einem Feuerzeug kramte. Kurz wurden seine kantigen Züge von der Glut beleuchtet, dann verschwand sein Gesicht wieder im Zwielicht. Was Paul gesehen hatte, reichte jedoch aus, um es in seinem Nacken kribbeln zu lassen. Oma Biggi würde sich im Grab umdrehen, wenn sie wüsste, was er hier tat. Sie war immer dafür gewesen, der Gefahr aus dem Weg zu gehen und sie nicht noch nach Feuer zu fragen.
»Danke.« Paul nahm das hellblaue Plastikfeuerzeug entgegen und schirmte die Flamme mit einer eiskalten Hand ab, als er seine Zigarette anzündete und den Rauch einatmete.
Ekelhaft. Paul mochte weder den Geschmack noch den Geruch. Er hätte sich eine bessere Strategie zurechtlegen sollen, aber langsam lief ihm die Zeit davon.
Er lehnte sich neben Hack gegen die Wand, zuckte angesichts des kalten Mauerwerks jedoch zusammen und brachte wieder etwas Abstand zwischen sich und die Wand. Hack beobachtete ihn. Der Mistkerl sagte nichts, doch jedes Mal, wenn er an seiner Zigarette zog, schien es in seinen dunklen Augen zu tanzen.
Wenn er sich erinnerte, warum sagte er nichts, verdammt noch mal? Inzwischen hatte Paul ihm mehr als eine Gelegenheit dazu gegeben.
Wieder frischte der Wind auf und ließ ihn fröstelnd die Schultern hochziehen. Er starrte über den leeren Innenhof auf Steffens Café. Hinter sich hörte er das Rumoren aus der Küche des Vierecks. Die übrigen Zugänge zum Hof gehörten zu einer Apotheke und zu einem seltsamen türkischen Gemischtwarenladen, der nicht nur Obst und Gemüse im Angebot hatte, sondern auch Schuhe reparierte, Schlüssel nachmachte und jetzt zur Weihnachtszeit Weihnachtsbäume verkaufte. Vier armselige Exemplare in unterschiedlichen Größen hatten es heute nicht über die Ladentheke geschafft und lagen gut verschnürt neben dem Hinterausgang an der Wand.
Paul nickte zur Küche des Vierecks. »Viel los bei euch?«
Hack zuckte die Schultern und warf seine aufgerauchte Zigarette zu Boden, um sie auszutreten. Drei Kippen lagen bereits dort. Paul wusste nicht, ob Hack die über den Tag verteilt geraucht hatte oder ob seine Rauchpause bereits vier Zigarettenlängen lang anhielt.
»Das Übliche.«
Hack fummelte eine Zigarettenschachtel aus seiner fleckigen, weißen Küchenjacke, die sich über breite Schultern und muskulöse Oberarme spannte. Muskulös genug, um jemanden wie Paul gegen eine Wand zu drücken und festzuhalten, während er ihm das Hirn rausvögelte.
Okay, Konzentration. Das ist nicht hilfreich.
»Habt ihr Weihnachtsfeiern?«
Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Hack ihn an. »Sieht das Viereck für dich so aus, als würde da irgendjemand seine Weihnachtsfeier veranstalten wollen?«
Okay, blöde Frage. Steffen hatte schon Schwierigkeiten, den Firmen in der Umgebung sein Café als Location für Veranstaltungen schmackhaft zu machen.
»Wenn du es da so beschissen findest, warum gehst du nicht woanders hin?« Paul musterte Hack, wobei sein Blick an einem länglichen, roten Fleck über seinem flachen Bauch hängen blieb. Vielleicht Tomate, obwohl Pauls Hirn beharrlich auf Blut tippen wollte. Hack war der Typ, dem man zutraute, mit Blut besudelt zu sein. Wie kommt man sonst auf den Spitznamen Hack? »Köche werden überall gesucht. Oder bist du nur eine Küchenhilfe?«
Hack klemmte sich die Zigarette zwischen die Lippen. »Und du? Es gibt Gegenden, da kann man als Kellner mehr Trinkgeld machen als hier.« Mit der Handfläche nach oben streckte er Paul eine Hand entgegen. Als Paul sie irritiert ansah, sagte Hack: »Feuerzeug.« Dabei wippte die Zigarette in seinem Mund.
Ach so. Er legte das Feuerzeug in Hacks Hand, wobei er nicht widerstehen konnte, mit den Fingerspitzen über die raue Innenfläche zu streichen. Gott, diese Hände hatten sich fantastisch auf seinem Körper angefühlt, um seinen Schwanz.
Hack zündete seine Zigarette an, als hätte er Pauls Berührung gar nicht wahrgenommen. Doch der Schein der Flamme, als er das Feuerzeug aufschnipsen ließ, verriet das Blitzen in seinen Augen.
»Dir ist kalt.«
»Es sind Minusgrade und ich hab keine Jacke an. Klar ist mir kalt.«
»Dann geh rein.«
War das ein Wink mit dem Zaunpfahl, dass er verschwinden sollte?
Hinter ihm polterte und schepperte es in der Küche des Vierecks, gefolgt von einer wüsten Schimpftirade, die Steffens neurotischem Koch die Röte ins Gesicht getrieben hätte.
Paul nickte zum gekippten Fenster. »Hört sich an, als würde deine Mannschaft ohne dich untergehen.«
Eigentlich war es egal, ob Hack Koch, Küchenhilfe oder nur zu Dekorationszwecken eingestellt war. Paul war so verzweifelt, dass er schon Martin gefragt hatte – und der fuhr hauptsächlich diese kostenlosen Anzeigenblättchen aus. Auch nichts, womit man unbedingt hausieren ging.
Dennoch frustrierte es ihn, dass Hack auch auf diesen Versuch, seine Anstellung im Viereck herauszubekommen, nicht einging. Stattdessen drehte er sich ein wenig an der Wand, bis er nur noch mit einer Schulter dagegen lehnte. Er steckte seine Zigarette zwischen seine Lippen und griff mit der freien Hand nach Pauls, die inzwischen ein gutes Stück heruntergebrannt war. Mist, er hatte vergessen, alibihalber da dran zu ziehen. Oder die Asche abzuklopfen. Hack warf sie auf den Boden und trat sie aus.
»Hey.«
»Du rauchst doch gar nicht, Paul.«
Beim Klang seines Namens erschauerte Paul. Das ist gut. Er weiß also doch, wie du heißt. In den vergangenen Wochen hatte er ernsthaft daran gezweifelt.
»Woher willst du das wissen?«
Hack legte den Kopf schief, als wäre das offensichtlich. »Was machst du hier?«
Bildete er sich das ein oder war Hacks Stimme auf einmal dunkler geworden? Noch dunkler? Paul bekam eine Gänsehaut, die nichts mit der Kälte, die ihm langsam in die Knochen kroch, zu tun hatte.
»Rauchen. Zumindest hatte ich das vor. Jetzt muss ich mir erst eine neue Zigarette schnorren. Du hast nicht zufällig noch eine?«
Paul hatte keine Zeit, sich für seinen lässigen Tonfall auf die Schulter zu klopfen. Hack hatte sich von der Wand abgestoßen und stand breitbeinig vor ihm, eine Hand neben Pauls Kopf gegen die Wand gestützt, mit der anderen schnipste er die gerade erst angezündete Zigarette weg.
Er ist riesig. Paul musste den Kopf in den Nacken legen und versuchte, nicht daran zu denken, wo Hack noch überall riesig war. Hacks bloße körperliche Präsenz nagelte Paul an die Wand, was ihn wohlig erschauern ließ. Er wünschte, Hack würde ihn einfach packen und hier und jetzt wiederholen, was er vor drei Monaten gemacht hatte. Scheiße. So viel zum nicht dran denken.
»Ich hab noch ungefähr zwei Minuten, bis irgendjemand kommt und nach mir sieht«, sagte Hack. Paul versuchte, sich auf seine Worte zu konzentrieren, was schwierig war, wenn Hacks Blick zwischen seinen Augen und seinen Lippen hin und her sprang.
Ja, tu’s doch. Küss mich. Küss mich!
»Also entweder sagst du mir jetzt, warum du mir seit Wochen hinterherläufst oder –«
»Vier Wochen. Maximal.« Es war nicht so, als hätte er nicht nach anderen Möglichkeiten Ausschau gehalten.
»Deine komischen Rauchpausen haben schon im Oktober angefangen.«
Das hatte andere Gründe gehabt. Im Oktober hatte ihn das verzweifelte Verlangen nach einer zweiten Runde äußerst befriedigendem Sex angetrieben. Wie eine Achterbahnfahrt, die so aufregend war, dass man sich gleich das nächste Ticket kaufte. Und noch eins und noch eins.
Nur dass Hack diese kleine Episode offenbar nicht als halb so angenehm im Gedächtnis geblieben war. Was die ganze Angelegenheit noch schlimmer machte. Aber er hatte keine Zeit mehr. Weihnachten war in drei Tagen. Hack war seine letzte Option.
»Paul?«
»Ich wollte dich um einen Gefallen bitten.«
Damit hatte er Hack zweifellos überrascht. »Einen Gefallen?«
»Ja.« Als seine Stimme nur als kaum hörbares Krächzen herauskam, räusperte sich Paul. »Ja«, sagte er fester. »Du … als wir vor drei Monaten …« Oh, hervorragend. Im Gegensatz zu Hack hatte er gerade preisgegeben, wie tief sich ihr kleiner Wandquickie in Pauls Gedächtnis gebrannt hatte. »Du hast gesagt, du verbringst Weihnachten mit einer Ladung Whiskeypunsch und der Feuerzangenbowle auf der Couch.«
Hack stutzte und wich ein Stück zurück. »Hab ich das?«
»Du warst betrunken.« Und befriedigt.
»War ich das?«
»Ziemlich.« Da Hacks großer Körper fehlte, um die Kälte von ihm fernzuhalten, zog Paul die Schultern hoch. »Jedenfalls dachte ich, dass du Weihnachten dann bestimmt Zeit hast.«
»Ich dachte, du hast mir gerade meine Pläne für Weihnachten erzählt.« Hacks Augen wurden schmal. »Zeit wofür?«
Paul räusperte sich. »Jetzt kommen wir zu meinem Gefallen.« Besser, er brachte das so schnell wie möglich heraus. »Ich brauche sozusagen ein Date für ein Familienessen.«
Hack hätte nicht perplexer aussehen können, wenn er ihn um einen Mord gebeten hätte. Nein, wahrscheinlich stand das sogar noch vor einer Einladung zum familiären Weihnachtsessen.
»Was?«
»Ja. Ich hab’s meiner Mutter versprochen.« Sozusagen.
»Deiner Mutter?«
Paul rollte die Augen. »Wenn du so weitermachst, könnte ich glauben, du hast was an den Ohren. Ja, meiner Mutter. Du hast doch auch eine Mutter, oder? Oder hattest, wenn du Weihnachten lieber allein auf dem Sofa –«
»Paul!« Plötzlich war Hack wieder bei ihm. Sein Körper hüllte Paul ein wie in eine Decke. Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte sich in diese Wärme geschmiegt. »Wir haben einmal miteinander gefickt und du lädst mich zu deiner Mutter nach Hause ein? An Weihnachten?«
Also erinnerte er sich doch an diesen einen Abend im September. Gut. Alles andere hätte seinem Ego schwere Schlagseite verpasst.
»Natürlich nicht als Fick. Oder One-Night-Stand. Oder Koch-Schrägstrich-Küchenhilfe von gegenüber. Als … Freund.«
»Als Freund.« Als Paul den Kopf schief legte, weil er sich schon wieder wiederholt hatte, machte Hack eine unwirsche Handbewegung. »Du kennst nicht mal meinen richtigen Namen.«
»Das lässt sich ändern.« Fragend zog er die Augenbrauen hoch. »Wie ist dein richtiger Name?«
Hack schüttelte den Kopf. »Das ist Irrsinn.«
»Es gibt ein leckeres Weihnachtsessen, vermutlich mehrere Gänge. Suppe, Salat, Gans, Nachspeise«, zählte Paul an den Fingern ab. »Außerdem jede Menge Alkohol. Bestimmt auch Whiskey.«
Wieder schüttelte Hack den Kopf. »Nein. Frag einen deiner anderen Sexpartner. Vielleicht einen, mit dem du zweimal gefickt hast.«
Als Hack sich umdrehen wollte, schoss Pauls Hand vor und packte ihn am Unterarm. Die Muskeln unter seinen Fingern waren steinhart. Paul erschauerte – und sein Herz begann zu rasen, als Hack ihn mit einem gefährlichen Blitzen in den Augen ins Visier nahm, als wäre es eine schlimme Straftat, ihn anzufassen. Hitze entlud sich in seinem Unterleib und verbrannte den nächsten Satz noch auf seiner Zunge. Er brauchte zwei Anläufe, um seinen staubtrockenen Mund zum Sprechen zu bewegen.
»Wenn das dein Problem ist, können wir das ändern.« Mit einem Ruck zog er Hack an sich, sodass sein harter Körper gegen Pauls prallte und ihn gegen die Wand drückte. Das kühle Mauerwerk in seinem Rücken wirkte jetzt seltsam erregend. Pauls Atem ging flach, als er Hack sein Gesicht entgegenhob. »Gleich hier und jetzt, wenn du willst.«
Für den Bruchteil einer Sekunde flammte es in Hacks Augen dunkel und verlangend auf. Er legte seine großen Hände auf Pauls Hüften und packte so fest zu, dass Paul ein Keuchen entfuhr. Instinktiv schob er sein Becken vor und drängte seinen halbsteifen Schwanz gegen Hacks Unterleib.
Neben ihnen explodierte ein Knallen wie von einem Silvesterböller, als die Hintertür des Vierecks aufflog.
»Hack!«, brüllte Egon, der Besitzer des Vierecks, dessen massige Gestalt fast das komplette, erleuchtete Rechteck der Tür ausfüllte. Paul hatte kaum genug Zeit, sich gegen die Wand zurückzudrängen, bevor Egons Blick sie erfasste. »Ich fress ›nen Besen. Fick gefälligst in deiner Freizeit rum! Und komm wieder rein, bevor ich deinen Scheißbewährungshelfer anruf, aber plötzlich!«
Bewährungshelfer? Paul starrte Hack an, der zurücksah, als würde Egon nicht existieren. Wieder lief ein Schauer durch ihn hindurch. Verdammt, er hatte es gewusst. Die Narbe verriet schon einiges, aber wenn er einen Bewährungshelfer hatte … Tut mir leid, Oma Biggi. Kein Wunder, dass weder Martin noch einer der anderen Pfeifen mit Hack mithalten konnte.
»Hack! Aber plötzlich, hab ich gesagt!« Egons Stimme hallte von den Wänden des Innenhofs wider und bohrte sich in Pauls Trommelfell.
Hack, dessen Hände noch immer locker auf Pauls Hüften lagen, drehte den Kopf. »Ich komme gleich.«
»Nein, sofort! Seh ich aus wie ein beschissener Wohltätigkeitsverein? Hier gibt’s Arbeit zu tun!«
»Ich sagte, ich. Komme. Gleich.«
Obwohl Hack die Stimme nicht anhob, schwangen mehr Nachdruck und mehr unterschwellige Drohungen in seinen knappen Worten mit, als Egon mit seinem Gebrüll bewerkstelligt hatte. Pauls Magen zog sich zusammen. Wahrscheinlich sollte er sich schämen, aber er konnte nichts dafür, dass ihn so was anzog.
Egon hatte die Botschaft ebenfalls verstanden. Er schnaubte ein paar Mal wie ein wütender Stier, kurz bevor er in Spanien zum Stierlauf getrieben wurde, ehe er die Faust gegen die Hintertür schlug.
»Scheißdreck. Aber mach schnell. Und ich ruf deinen Bewährungshelfer trotzdem an.« Kopf schüttelnd und leise vor sich hin brummelnd kehrte Egon ins Viereck zurück und zog die Hintertür mit einem Knall hinter sich zu.
Als der Knall verhallt war, war es gespenstisch still im Innenhof. Selbst das Klappern und Fluchen aus der Küche des Vierecks hinter ihnen schien gedämpfter zu klingen.
Paul betrachtete Hacks harsches Profil, der weiterhin die Tür anstarrte. Wahrscheinlich war es verrückt, ausgerechnet Hack zu fragen. Er würde den Kindern Angst einjagen – und allen anderen vermutlich auch, jetzt, da er die Bestätigung hatte, dass Hack kein unbeschriebenes Blatt war. Aber, Gott, er hatte es versucht. Er hatte sich auf die lieben, netten und friedlichen Männer gestürzt. Herausgekommen waren mäßiger Sex, viel Langeweile und noch mehr Zurückhaltung. Und keiner von seinen Eroberungen vor und nach Hack, die er hatte auftreiben können, war bereit gewesen, ihn zum Weihnachtsessen zu begleiten. Schisser.
Paul wartete, bis Hack ihn wieder ansah. »Bewährungshelfer, hm? Was hast du angestellt?«
Hack schnaubte und ließ ihn los. Sofort fraß sich Kälte durch Pauls Hemd, wo eben noch Hacks warme Hände gelegen hatten. »Angestellt? Das ist etwas harmlos ausgedrückt. Wenn man etwas anstellt, bekommt man Taschengeldverbot und Hausarrest.«
»Okay. Weswegen wurdest du verurteilt?«
Hack schob die Hände in seine Hosentaschen und trat einen Schritt zurück. »Hack kommt von Hackfleisch. Weil ich in der Regel nicht viel von meinen Opfern übrig lasse. Körperverletzung.«
Paul merkte erst, dass er zu atmen aufgehört hatte, als der Druck auf seine Lungen zu groß wurde. Körper… Nein. Er kannte Schlägertypen, sogar besser als ihm lieb war. Hack war keiner davon. Schon gar nicht, wenn seine Strafe zur Bewährung ausgesetzt war und er frei herumlief. Er war grob, er war ungehobelt und er war ganz bestimmt nicht sanft. Aber er war kein … Und doch kannst du die Finger nicht von ihm lassen. Er geht dir nicht aus dem Kopf, weil er genau das ist.
»Such dir jemand anderes für dein Familiendate«, sagte Hack tonlos und wandte sich der Tür zu. »Oder noch besser: einen Partner.«
*
Steffen redete andauernd davon, endlich mit dem Café umzuziehen. In eine bessere Gegend mit besserer Laufkundschaft. Bisher hatte er nur bessere Kellner eingestellt: Paul. Sein Vorgänger hatte nicht einmal drei Teller auf einmal balancieren können. Außerdem war Paul charmanter. Das wusste er von der Küchencrew, die sich über die Steigerung beim Trinkgeld gefreut hatte, auch wenn es nur minimale Beträge waren.
Wahrscheinlich rettete ihm das den Arsch, weil er den restlichen Abend über mit den Gedanken woanders war und sich mehr als einen Anschiss von Steffen abholte.
Als um kurz nach eins die letzten Gäste gegangen waren und die Küchencrew in den letzten Zügen der Aufräumarbeiten lag, brütete Steffen über dem Schichtplan für die Feiertage, während Paul in seine Jacke schlüpfte.
»Sicher, dass du Weihnachten nicht kannst?«
»Ja.«
»Letzte Woche hast du noch vielleicht gesagt.«
»Und jetzt sage ich, ich hab keine Zeit.«
Steffen raufte sich das kurze, schwarze Haar. »Und wo soll ich drei Tage vor Weihnachten einen verdammten Ersatz herbekommen?«
»Keine Ahnung. Nicht mein Problem. Du hättest dich schon darum kümmern können, als ich vielleicht gesagt hab.«
Steffen richtete sich zu seiner vollen Größe auf, was beeindruckend war, da er insgesamt noch länger und noch dünner war als Paul. In seiner Abwesenheit nannte ihn die Küchencrew Leuchtturm. Paul hatte noch nicht herausgefunden, ob das ein positiver oder ein negativer Spitzname war. Steffen schien seine Augen und Ohren überall zu haben – wie das Licht eines Leuchtturms, das sich um die eigene Achse dreht. Andererseits schien er, gerade was sein Café anging, mit dem Kopf in den Wolken zu hängen – ebenfalls wie ein Leuchtturm.
»Vorsicht, Paul. Ich bin gerade nicht gut auf dich zu sprechen. Du warst den ganzen Abend abwesend. Bei Tisch 3 hast du die letzte Runde nicht auf die Rechnung gesetzt und Tisch 7 hat erst die falsche Nachspeise bekommen, bevor du ihnen den Pudding gebracht hast.«
Vielleicht weniger ein Leuchtturm, sondern ein verdammter Schnüffler. »Ich zahl die Differenz, wenn du willst.« Er schob die Hände in die Hosentaschen seiner schwarzen Stoffhose – ein Kleidungsstück, auf das Steffen neben dem Hemd bestand –, als würde er nach Geld kramen. Zum Glück hatte er die Geschenke für Weihnachten schon besorgt. Der Jahreswechsel ging immer ins Geld.
Steffen winkte ab und wackelte mit dem Kugelschreiber in seiner Hand. »Sag mir lieber, was heute mit dir los war. Oder versprich mir, dass es nicht wieder vorkommt.«
»Es kommt nicht wieder vor.«
Steffen grunzte. »Sag’s nicht nur, weil ich es hören will.«
Pauls Mundwinkel zuckten. »Ich bin mit den Gedanken bei Weihnachten gewesen.« Das war zumindest nicht gelogen.
Er warf einen Blick aus dem Fenster an der Seite zum Viereck. Das hässliche Schild über der Tür, das ein Schwein, einen Stier und ein auf einer Spitze stehendes Viereck beinhaltete, wurde nur noch von einer statt von zwei Lampen angestrahlt. Das Eck vom Viereck war in der Dunkelheit von hier nicht zu lesen. In dem Fenster links neben der Tür blinkte ein rotblaues Neonschild in epileptischen Anfällen auslösender Geschwindigkeit und verkündete OPEN.
Bis jetzt war Hack noch nicht gegangen. Er musste ihn unbedingt abfangen. Normalerweise war das Viereck länger geöffnet als Steffens Café, außer es waren keine Gäste da. Dann schloss Egon den Laden gerne schon mal um zehn.
»Kennst du eigentlich Hack?«
»Hm?« Steffen hatte sich wieder seinem Schichtplan zugewandt, strich einige Sachen durch und kritzelte ein paar Pfeile und Notizen hin. »Hackfleisch?«
»Nein. Hack. Von drüben. Vom Viereck.«
Mit gerunzelter Stirn sah Steffen auf und klickte ein paar Mal mit dem Kugelschreiber. »Der Neue? Macht er dir Probleme?«
»Nein.«
Das war ihm vielleicht etwas hastig über die Lippen gekommen, weil Steffen den Kopf schief legte. »Paul?«
»Er macht mir keine Probleme.« Er würde nur Probleme mit seiner Mutter bekommen, wenn er am vierundzwanzigsten ohne Begleitung bei Walther auftauchte. Wobei Probleme vermutlich das falsche Wort dafür war. Aber er konnte sich jetzt schon vorstellen, wie sie ihre Enttäuschung zu verbergen versuchte. Scheiße, er wäre selbst enttäuscht und würde sich neben Walthers perfekter Familie wie ein armseliger Trottel vorkommen, der sich zu Weihnachten in ein Märchen verirrt hatte.
Vielleicht sollte ich Hack und seinem Whiskeypunsch bei der Feuerzangenbowle Gesellschaft leisten. Wie schmeckt überhaupt Whiskeypunsch?
Wieder klickte Steffen mit dem Kugelschreiber, ehe ihm aufzufallen schien, was er da tat, weil er ihn zur Seite legte. Er ging um den kleinen Bartresen herum und stützte die Hände auf einen der vier Barhocker. »Soweit ich weiß, ist er auf Bewährung. Wenn er dir also Probleme macht, solltest du mit Egon sprechen. Oder ich rede mit ihm.« Er verzog das Gesicht. »Ich habe ihm schon tausend Mal gesagt, dass er sich nicht immer die Straftäter reinholen soll. Aber er kennt da wohl irgendjemanden bei der Dienststelle im Gericht, deswegen –«
»Es ist alles okay. Ich hab ihn nur draußen gesprochen, das ist alles.«
»Er arbeitet seit ein paar Monaten für Egon. Muss kurz nach dir angefangen haben. Wenn er Egon bis jetzt noch nicht den Kopf abgerissen hat, muss er eine Engelsgeduld haben. Der letzte Kerl auf Bewährung hat nach zwei Monaten aufgegeben.«
Eine Engelsgeduld zu haben, passte nicht zu Pauls Vorstellung, jemanden zu Hackfleisch zu verarbeiten. An dem einen oder anderen Tag stand er selbst kurz davor, Egon eine reinzuhauen, und dass nur, weil er ihn von der anderen Seite des Innenhofs erlebte.
»Ist er Koch?«
»Küchenhilfe.«
Verdammt. Koch wäre besser gewesen zwischen dem Arzt, der Bankangestellten, der Anwältin und … was machte noch mal der Mann von Wilma?
»Ich dachte, ihr hättet euch vor drei Monaten auf dem Straßenfest unterhalten.«
Na ja, unterhalten konnte man das wohl nicht nennen. Es sei denn, Steffen verstand darunter, dass Hacks Schwanz Hallo zu Pauls Hintern gesagt hatte.
Paul räusperte sich. »Nur kurz.«
Drüben beim Viereck wurde die Tür aufgestoßen und Hack sprang in Begleitung des Russen Danil die zwei Stufen zum Eingang hinunter. Sofort schob er eine Hand in die Hosentasche und zog die Packung Zigaretten heraus. Er bot Danil eine an, der mit einem Nicken eine aus der Schachtel zog.
Auf dem Straßenfest hatte er nicht ständig an einer Zigarette gehangen, also musste er es auch ein paar Stunden ohne aushalten. In etwa so lange, wie ein mehrgängiges Weihnachtsmenü dauerte. Falls Walther und sein Anhang überhaupt zulassen würden, dass in einem Radius von zehn Kilometern ums Haus geraucht wurde.
Paul zog den Reißverschluss seiner Winterjacke hoch. »Ich muss los. Bis morgen.«
Steffen war nicht entgangen, was Pauls plötzlichen Aufbruch ausgelöst hatte. Er brummte unzufrieden. »Bis morgen. Und pass auf dich auf.«
Hack und Danil hatten sich trotz der Kälte in eher gemütlichem Gang auf dem Weg zur U-Bahn gemacht. Selbst Danil, der unter seiner Daunenjacke ein Paar beeindruckender, tätowierter Oberarme verbarg, wirkte neben Hack eher wie ein Durchschnittsmensch. Als Paul näher herankam, hörte er, dass sich seine Aussprache wieder verbessert hatte, seit er das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte. Ob Danil auch verurteilt und von Egon während seiner Bewährungszeit aufgenommen worden war? Ihm würde Paul zwar keine Engelsgeduld bescheinigen, aber anfangs hatte er Egons Beleidigungen vielleicht schlicht nicht verstanden.
»Hey.«
Hack und Danil drehten sich um. Wenn Paul nicht alles täuschte, rollte Hack die Augen, bevor er seine Zigarette an den Mund führte und daran zog.
»Auch auf dem Weg zur U-Bahn? Ich schließ mich an.«
»Paul! Wie geht’s?« Danils harter Akzent ließ seine Worte eckig klingen.
Mit leichtem Smalltalk setzten sie sich wieder in Bewegung. Danil würde gleich morgen Früh zu seiner Familie nach Russland fahren, wo bereits eine dicke Schneeschicht lag. Paul bemerkte, dass er auch gerne weiße Weihnachten haben würde, woraufhin Danil lachend verkündete, dass er zur Abwechslung lieber irgendwo wäre, wo keine zweistelligen Minusgrade herrschten. Hack sagte nichts und rauchte.
Als sie die U-Bahn-Station erreichten, fuhr gerade eine U-Bahn ein.
»Oh, die will ich kriegen. Muss noch was schlafen«, sagte Danil, während er schon die Treppen hinuntersprintete. »Frohe Weihnachten! Bis bald.«
Die Türen der U-Bahn schlossen sich bereits, als sich Danil für seinen Körperbau erstaunlich geschickt durch den schmalen Türspalt schlängelte. Die U-Bahn fuhr aus der Station und Hack und Paul kamen ein paar vereinzelte Nachtschwärmer entgegen, die an dieser Haltestelle ausgestiegen waren. Unten am Gleis angekommen, zeigte die Anzeigetafel neunzehn Minuten bis zur nächsten U-Bahn an. Im Hintergrund dudelte in gerade noch erträglicher Lautstärke irgendein klassisches Stück, damit es sich niemand über Nacht zu gemütlich in dem U-Bahnhof machte. Bis auf einen älteren Herrn, der am anderen Ende mit Hut und Gehstock auf einer der Bänke Platz genommen hatte, waren sie allein.
Perfekt.
Paul wandte sich Hack zu. »Hast du’s dir überlegt?«
Hack, der trotz des Rauchverbots seine Zigarette mit nach unten ans Gleis genommen hatte, nahm einen letzten Zug und drückte sie auf dem nahestehenden Mülleimer aus. »Was?«
»Das Weihnachtsessen.«
»Du willst immer noch, dass ich mitkomme?«
»Warum nicht?«
Hack schnaubte. »Entweder musst du deine Mutter hassen oder du bist sehr verzweifelt.«
»Ist das ein Ja?«
»Nein.«
»Hab ich schon von dem fantastischen, mehrgängigen Menü erzählt, dass es wahrscheinlich geben wird? Inklusive Gans mit Füllung? So was gibt’s in Egons Küche nicht.«
»Sehe ich aus, als würde ich mich mit einem schicken Essen bestechen lassen?«
Betont lässig zuckte Paul die Schultern. »Du siehst auf jeden Fall nicht aus, als würdest du wahllos Leute verprügeln. Also such dir besser was anderes, mit dem du mich abschrecken kannst.«
Hack packte ihn so schnell und wirbelte ihn so unvermittelt herum, dass sich Paul an seinen Schultern festklammern musste, als er das Gefühl hatte, die Welt würde sich um ihn drehen. Dann spürte er etwas Hartes in seinem Rücken, das leicht knarzte. Der Schaukasten mit dem Fahr- und Linienplan drin. Hack ragte über ihm auf und hielt ihn fest. Pauls Herz hämmerte bis hinunter in seinen Schwanz.
»Sorry.« Seine Stimme war rau vor Verlangen und er konnte die genaue Sekunde bestimmen, in der Hack das ebenfalls auffiel. »Das macht mich höchstens scharf.« Er ergriff Hacks Schultern fester und zog ihn so dicht an sich, dass Hack seinen Ständer spüren musste. Nein, spürte. Denn er ächzte auf, bevor er die Zähne zusammenbiss.
»Scheiße«, stieß er hervor, ehe er seinen Mund auf Pauls presste.
Zigarettenqualm, schoss es Paul durch den Kopf, doch bevor sich Widerwillen in ihm festsetzen konnte, verbrannte die Hitze seine Geschmacksnerven.
Paul schloss die Augen, öffnete die Lippen und lockte Hacks Zunge in seinen Mund, bevor er es sich anders überlegen konnte. Allerdings musste er keine besondere Überredungskunst anwenden. Hack war ausgehungert – und geschickt. Er eroberte Pauls Mund mit wütender Zunge, gierigen Lippen und verzweifelten Bissen. Paul stöhnte und krallte die Finger in Hacks Nacken.
Gott, warum war er nur nicht früher auf die Idee gekommen, das Ganze körperlich anzugehen? Wenn er sich Hack schon vor zwei Monaten an den Hals geworfen hätte, wäre ihm vielleicht die eine oder andere Niete erspart geblieben.
Mit einem Keuchen riss Paul seine Lippen los und rang nach Luft. Hacks Blick lag dunkel und verlangend auf seinem Mund, seine Hände fest auf Pauls Hintern und Hüfte. Wenn der alte Mann und die U-Bahn-Kameras nicht gewesen wären, hätte er ihn vielleicht wieder umgedreht und …
Paul erschauerte. Doch als sich Hack erneut vorbeugte, hielt Paul ihn an den Schultern zurück. »Komm mit mir zum Essen.«
Hack knurrte – er knurrte – und Paul hätte als Antwort darauf beinahe geschnurrt. »Nein.«
»Bitte.«
Hacks Kiefer mahlten. »Nein.«
»Muss ich erst betteln?«
Hack stemmte die flache Hand neben Pauls Kopf gegen die Plastikscheibe des Schaukastens, sodass das Plastik in der Halterung klapperte. »Das ist keine gute Idee.«
Paul biss sich auf die Zunge, um nicht zu grinsen. »Hinterher bekommst du auch eine Belohnung.«
In Hacks Augen blitzte es auf und er schob ein Bein zwischen Pauls, sodass sein Oberschenkel gegen Pauls Erektion drückte – und Paul Hacks spüren konnte. »Und wenn ich die Belohnung vorher will?«
»Du kannst sie vorher und nachher haben.«
Er fühlte, wie Hack sich verspannte, als wäre die Aussicht auf mehr als einmal Sex vergleichbar mit einem Termin bei seinem Bewährungshelfer. Selbst wenn er nicht so dicht bei Paul gestanden hätte, hätte er gesehen, wie Hack mit sich rang.
Komm schon. Gib dir einen Ruck. Es ist Weihnachten, verdammt noch mal. Und nur ein einziges Scheißessen. Dass es kein harmloses Essen werden würde, würde er ihm später mitteilen.
Wahrscheinlich war es unfair, aber er legte den Kopf leicht in den Nacken, hob Hack sein Gesicht entgegen und öffnete die Lippen. Hacks Blick saugte sich daran fest wie ein Saugnapf, nur eine Sekunde, bevor er sich tatsächlich daran festsaugte und mit der Zunge über Pauls glitt.
Scheiße, hatten sie sich beim letzten Mal auch so geküsst? Paul hatte das Gefühl, nicht genug davon bekommen zu können.
Dieses Mal war es Hack, der sich von ihm löste. Er sah ihn an, als würde er erwarten, dass Paul plötzlich von ihm wegspringen und »Scherz!« brüllen würde.
»Verdammt.«
Paul grinste. »Ist das jetzt ein Ja?«
Hack brummte.
»Wir müssen nach Zorneding.«
»Scheiße.«
Der Vorort von München ließ auch Paul nicht gerade in Begeisterungsstürme ausbrechen, weil es gerade an Weihnachten beschissen sein würde, von dort wieder wegzukommen. Hacks Abneigung, die sich wie mit Karnevalsfarben auf seinem Gesicht zeigte, war hingegen beinahe komisch.
»Sollen wir uns an der S-Bahn-Station treffen oder willst du zusammen hinfahren?«
Hack runzelte die Stirn. »Hast du kein Auto?«
»Nein.« Und selbst wenn würde er diesen Abend nicht ohne eine große Menge Alkohol überstehen – auch auf die Gefahr hin, dass ihm dann Sachen rausrutschten, die allen unangenehm waren, allen voran seiner Mutter.
»Dann fahre ich.«
»Du? Und was ist mit deinen Whiskey-Plänen?«
»Sind wohl gerade den Bach runtergegangen.«
»S-Bahn ist okay für mich.«
»Ich sagte doch gerade, ich fahre.«
Bei diesem Tonfall schwang nicht ganz so viel zwischen den Zeilen mit wie vor ein paar Stunden bei Egon, dennoch ließ es Pauls Nacken kribbeln. »Okay.«
»Gib mir deine Adresse, dann hol ich dich ab.«
Paul sagte sie ihm und sah zu, wie Hack sie in sein Handy einspeicherte, auch wenn er sich dafür von Paul lösen musste. Das Handy war ein Smartphone der älteren Generation, das Pauls nicht unähnlich war. Paul nutzte die Gelegenheit, zog sein eigenes heraus und tauschte mit Hack Handynummern.
Vor Freude tanzten die Endorphine durch seinen Blutkreislauf. Solche Fortschritte hatte er in den letzten drei Monaten nicht erzielt. Er hatte gedacht, er müsste sich Hack langsam und gemächlich nähern, wenn er noch mal Sex mit ihm wollte. Aber offensichtlich war der Weg zum Erfolg genauso wie ihr erstes Mal: schnell, wie aus dem Nichts und ohne Rücksicht auf Verluste.
»Hol mich um vier ab.«
Hack brummte, was sowohl eine Zustimmung als auch eine Kritik an der frühen Uhrzeit sein konnte. Dann steckte er sein Handy weg und wandte sich zum Gehen.
Pauls Herz sackte in seine Hose. »Hey, wo willst du hin?«
»Rauchen.«
Paul verzog das Gesicht. Irgendwie musste er Hack noch beibringen, die Finger von den Glimmstängeln zu lassen. »Die U-Bahn kommt in zwei Minuten.« Und ich dachte, wir vögeln jetzt noch?
Als Antwort erhielt er wieder nur ein Grunzen. Als Hack schon fast die Treppe erreicht hatte, rief Paul: »Hack, warte!« Er setzte sich in Bewegung, doch als sich Hack umdrehte, ließ ihn etwas in seinem Blick stehen bleiben.
»Tom.«
Was? Ist das …?
»Ich heiße Tom.«
»Tom …«, wiederholte Paul leise und prüfte, wie sich der Name auf seiner Zunge anfühlte. In seiner Brust und in seinem Magen löste er jedenfalls ein warmes Gefühl aus. Tom. War das noch eine Abkürzung? Für Thomas vielleicht?
Als der plötzlich aufkommende Wind die Einfahrt der U-Bahn ankündigte, nickte Hack – Tom – in Richtung der Gleise. »Deine U-Bahn fährt ein.«
»Das ist auch deine …« Paul sparte sich den Rest, als sich Hack umdrehte und die Stufen hochstieg. Eine Sekunde später war er verschwunden.
*
Paul zog die Augenbrauen hoch, als der graue 1er BMW neben ihm am Bordstein hielt. Er wartete noch nicht lange draußen, trotzdem hatte der Temperaturabfall heute Morgen seine Füße innerhalb kürzester Zeit in Eisklumpen verwandelt. Gefütterte Schneestiefel sahen nun mal scheiße zu schwarzen Anzughosen aus.
Vorsichtig trat er näher. Der Wagen war kein neues Modell, bestimmt schon zehn, zwölf Jahre alt, was nichts daran änderte, dass Paul Hack eher etwas Kleineres zugetraut hätte – kleiner, zerbeulter, schrottreifer… günstiger.
Das Fenster in der Beifahrertür wurde heruntergelassen und beseitigte letzte Zweifel. Hack sah ihn missmutig an. »Steigst du ein, oder was?«
»Wurdest du auch wegen Autodiebstahl verurteilt?«
»Was?«
»Ist der Wagen geklaut?«
Hack schnaubte belustigt. »Dir auch frohe Weihnachten. Schwingst du jetzt deinen Arsch hier rein oder vergessen wir das Ganze?«
Ihm war nicht entgangen, dass Hack nicht auf seine Frage eingegangen war – was auch überflüssig war, da er wegen einer anderen Straftat verurteilt worden war. Trotzdem hätte im Verlauf dieser Tat irgendwo ein Autodiebstahl Thema gewesen sein können. Oder warum sagte Hack nicht einfach: War ein Schnäppchen?
»Auch gut«, sagte Hack, als Paul noch immer zögerte, und fuhr die Fensterscheibe wieder hoch.
Der Wagen rollte ein paar Zentimeter vorwärts, ehe Paul fluchend nach dem hinteren Türgriff langte und die Tür aufriss. Immerhin war es seine Idee gewesen, oder? Außerdem konnte er nicht behaupten, dass es Hack uninteressanter machte, dass er eventuell ein Auto geklaut hatte. Wenn überhaupt machte es ihn interessanter. Scheiße. Er war wirklich verrückt.
Behutsam stellte Paul die zwei Tüten mit Weihnachtsgeschenken hinter den Beifahrersitz, bevor er sich selbst auf diesen Sitz schwang und die Tür zuzog. Im Inneren war es behaglich warm und seine Füße erwachten kribbelnd und stechend wieder zum Leben. Es roch schwach nach Zigarettenqualm, doch darunter lag der dezente Duft einer frischen, herben Duschseife und Shampoo, bei denen sich Paul aus irgendeinem Grund ans Meer erinnert fühlte. Etwas verspätet ging ihm auf, dass das Hack sein musste, und er warf ihm einen genaueren Blick zu.
Unter der dicken Winterjacke konnte er nicht viel erkennen, aber Hack trug eine schwarze Jeans anstatt einer blauen. Und er sah … gut aus. Paul kam die Bezeichnung frisch gewaschen in den Sinn, was unfair war, da niemand taufrisch aussah, wenn er stundenlang in einer schmierigen, kleinen Küche wie der des Vierecks schuftete, in der es hauptsächlich fettige Burger, Schnitzel und Pommes gab. Seine dunklen Haare waren ordentlich zurückgekämmt und schimmerten in einem seidigen Ton, der an Ebenholz erinnerte. Paul juckte es in den Fingern, seine Hände dort hinein zu wühlen.
Er räusperte sich. »Du siehst gut aus.«
Hack warf ihm einen Seitenblick zu, während er auf den Mittleren Ring in Richtung Osten abbog. Paul bekam ein schlechtes Gewissen.
»Ich meine, ich dachte nicht, dass du in deiner Kochjacke auftauchst, aber …« Verdammt, er machte es nur noch schlimmer. Er zuckte die Schultern. »Egal. Den Weg nach Zorneding kennst du?«
»Ja.«
Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Hack hatte das Radio nicht eingeschaltet, sodass das einzige Geräusch das sanfte Brummen des Autos um sie herum war. Irgendwie war das nicht besonders angenehm. Lag das daran, dass er nervös war – oder Hack?
Ach Scheiße, Tom. Er heißt Tom. Fang bloß nicht an, ihn vor deiner Mutter Hack zu nennen!
Er würde so sehr aufpassen müssen, was er sagte, dass es wahrscheinlich keine gute Idee war, Alkohol zu trinken. Allerdings hatte er keinen Schimmer, wie er den Abend ohne einen Tropfen überstehen sollte. Er war jetzt schon ein Wrack, dabei hatte das Essen noch nicht einmal angefangen.
Er wünschte sich Oma Biggi und ihren zerschrammten, quadratischen Küchentisch mit Bockwürstchen und Kartoffelsalat zurück. Natürlich gönnte er seiner Mutter ihr Glück mit Walther, aber … bei Oma Biggi war es einfacher gewesen. Da hatten sie alle sie selbst sein können. Jetzt fing es schon damit an, dass er Hack als seine Begleitung mitbrachte.
»Irgendwie habe ich das Gefühl, dass du mir nicht alles gesagt hast.«
Paul sah Hack an, der den Blick geradeaus auf die Straße gerichtet hielt. Allerdings umklammerte er das Lenkrad eindeutig zu fest. Seine Fingerknöchel traten im Rhythmus der Anspannung, mit der er seine Hände lockerte und wieder verkampfte, weiß hervor.
»Was meinst du?«
»Du hast zum Beispiel nichts von Geschenken gesagt.« Er nickte nach hinten auf die zwei Plastiktüten.
»Schon okay, du musst niemandem was schenken. Ich sag einfach, sie kommen von uns beiden.«
Noch ein Schnauben. »Und wie lange sind wir beide schon ein glücklich liiertes Paar?«
Paul zog die Schultern hoch. »Äh … wir müssen nicht lügen. Oder uns eine tolle Geschichte ausdenken.« Die ihnen wahrscheinlich sowieso niemand abkaufen würde. »Am besten bleiben wir bei der Wahrheit.«
»Dass wir während des Straßenfests im September in der Küche des Vierecks gefickt haben? Dass du mir in meinen Rauchpausen aufgelauert hast, weil du nicht wusstest, wie du mich nach einem Date fragen sollst? Dass du mich letztendlich mit leckerem Essen und dem Versprechen auf jede Menge Sex hierhergelockt hast?«
Paul wandte den Blick ab, als Hitze in seine Wangen schoss. Gott, wieso waren die Straßen heute so verdammt leer? Sie kamen viel zu schnell voran! »Den Sex hättest du schon vorher haben können«, sagte er zum Beifahrerfenster. »Aber du wolltest ja nicht.«
Tatsächlich hatte er das Gefühl, dass Hack ihm die letzten zwei Tage aus dem Weg gegangen war. Soweit er es mitbekommen hatte, hatte er keine einzige Rauchpause gemacht – was theoretisch gut war. Dann war er tatsächlich nicht so abhängig von den Glimmstängeln. Oder er hatte sich an einen anderen Ort als den Innenhof zurückgezogen, genauso wie er das Viereck immer weit vor oder nach Ende von Pauls Schicht verlassen hatte. Bis Hack eben bei ihm vorgefahren war, war Paul nicht sicher gewesen, ob er überhaupt auftauchen würde.
»Vielleicht wollte ich ihn nur nicht mit dir.«
Autsch. Paul sah ihn wieder an. »Dann bist du ziemlich dumm. Und das solltest du nachher tatsächlich nicht sagen.«
»Was darf ich denn sagen?«
»Dass wir uns schon seit ein paar Monaten kennen, nebeneinander arbeiten, uns ganz sympathisch sind und dass du deshalb Ja gesagt hast, als ich dich … als ich dich nach einem Date gefragt hab.«
»Was für eine nette Umschreibung.«
Paul warf die Hände in die Luft. »Sei einfach … ich weiß auch nicht. Charmant.«
»Charmant?« Hack warf ihm einen Seitenblick zu. »Vielleicht hättest du besser einen Callboy engagiert.«
So verrückt das auch klingen mochte, aber Paul hatte kurzzeitig darüber nachgedacht. Aber dafür war sein Stolz doch zu ausgeprägt gewesen. Und, verdammt noch mal, er brachte doch keinen Callboy mit zum Weihnachtsessen mit seiner Mutter! Die ganze Situation war schon abgefahren genug.
»Offensichtlich ist dein Verhältnis zu deiner Mutter ziemlich gestört, wenn du mir so was vorschlägst. Apropos. Was macht eigentlich deine Familie an Weihnachten, dass sie auf dich verzichten können?«
Hack bleckte die Zähne, sagte jedoch nichts.
Unruhig rutschte Paul auf seinem Sitz herum. »Du hast doch eine Familie, oder?« Wenn nicht, war er jetzt schon mehrmals kopfüber in ein sehr unangenehm stinkendes Fettnäpfchen gefallen.
»Ja.«
Paul wartete, ob Hack das ausführen würde, und hakte nach einer Minute nach: »Aber?«
»Wir sind aus offensichtlichen Gründen nicht besonders gut aufeinander zu sprechen.«
Wenn die Heizung nicht immer noch beständig warme Luft ins Auto pusten würde, hätte Hacks Stimme eine solche Kälte angehaftet, dass Paul eine Gänsehaut bekommen hätte. Sein Tonfall trug nicht dazu bei, die Atmosphäre im Auto aufzulockern. Im Gegenteil. Paul wusste nicht, ob er nachfragen konnte, ob das Verhältnis zu seiner Familie wegen seiner Verurteilung oder seiner Homosexualität schlecht war, ohne es noch schlimmer zu machen. Vielleicht war es eine Mischung aus beidem.
Hacks Finger begannen abermals, das Lenkrad zu massieren. »Und?«
»Was, und?«
»Und was verschweigst du mir? Langsam kommt es mir klüger vor, umzudrehen.«
»Hat der große Schlägertyp und verurteilte Straftäter etwa Angst?«
Die Art, wie Hack die Mundwinkel verzog, sagte ihm, dass Hack keine der beiden Bezeichnungen besonders gefiel – oder vielleicht auch die Unterstellung, Schiss zu haben.
Großartig, Paul. Mach so weiter und er dreht gleich tatsächlich um.
»Ich will nur wissen, ob deine Mutter mir den Schwanz abschneiden wird, wenn sie denkt, dass ich ihren Goldjungen der Sünde zugeführt hab. Dann kann ich mich darauf einstellen.«
Das war eine so komische Vorstellung, dass Paul lachen musste. In der immer noch angespannten Atmosphäre im Auto tat das gut. Es fühlte sich an, als würde er damit ein paar von den Seilen, die ihnen die Luft zum Atmen abschnürten, abschütteln.
»Meine Mutter weiß, dass ich schwul bin, seit ich sechzehn war. Sie hatte zwar selten Zeit für mich, hat sich aber immer alle Mühe gegeben. Sie ist ein sehr freundlicher, harmonieliebender Mensch.«
Hack ließ das einen Moment lang sacken, weil er offensichtlich etwas ganz anderes erwartet hatte. »Deshalb brauchst du also ein Date für Weihnachten.«
Überrascht sah Paul ihn an. War das so offensichtlich oder war Hack einfach gut darin, Zusammenhänge zu erkennen? Dabei hatte Paul noch gar nicht alles gesagt.
Hack begegnete seinem Blick. »Um deine Mutter glücklich zu machen.«
»Ja.«
Auch wenn da noch weitere Aspekte einflossen, traf das annähernd den Kern der Sache. Denn seine Mutter war auch stets am Küchentisch von Oma Biggi glücklich gewesen, ganz egal, ob Paul gerade fest mit jemandem zusammen gewesen war oder nicht. In gewisser Weise waren sie an Weihnachten die drei Musketiere gewesen, einer für alle und alle für einen. Da hatte er es sogar kommentarlos über sich ergehen lassen, dass Oma Biggi ihn auch noch mit über zwanzig Paulchen genannt hatte.
Hack sah wieder auf die Straße. »Und warum willst du dann nicht, dass wir uns eine perfekte Geschichte für sie ausdenken?«
Da war dieses grauenhafte Wort schon wieder. Perfekt. Scheiß auf perfekt.
»Weil es für sie nicht perfekt sein muss. – Da vorne geht’s nach Zorneding.«
Hack schien noch etwas sagen zu wollen, aber da Paul den Blick demonstrativ aus dem Seitenfenster richtete, schluckte er es herunter.
Paul wies Hack den Weg durch das aufgeräumte Wohngebiet, in dem sich Doppelhaushälften und freistehende Häuser aneinander reihten. Das eine oder andere kleine Mehrfamilienhaus stach regelrecht heraus. In vielen Gärten befanden sich Schaukeln oder Rutschen. Vor den meisten Häusern standen mehrere Fahrzeuge, während es drinnen einladend hell erleuchtet war, was in der einsetzenden Dämmerung noch gemütlicher und wohnlicher aussah. Es waren nur wenige Leute auf den Straßen unterwegs und falls doch, waren es größere Gruppen über alle Generationen hinweg.
Wohin man sah, war Weihnachtsdekoration zu erkennen. An Balkonen kletterten Weihnachtsmänner empor, in vielen Fenstern leuchteten Sterne, Tannenbäume oder Lichtbögen. Eingangstüren und Vorgärten waren mit Lichterketten verziert und der eine oder andere übertrieb es mit überbordender, amerikanisch angehauchter Deko. Das albernste, an dem sie vorbeifuhren, war ein gigantischer rot-weißer Schlitten, vor den vier Rentiere mit blinkenden Nasen gespannt waren und der von einem winkenden Weihnachtsmann gelenkt wurde.
Fehlte nur noch der Schnee, doch obwohl es kalt war, ließ er wieder einmal auf sich warten.
Paul war erst ein paar Mal hier gewesen – eigentlich so selten wie möglich –, aber er erkannte das Haus trotzdem sofort wieder. Allerdings nicht, weil er so viele gute Erinnerungen daran hatte. Eher weil jedes Treffen mit Walther und seinem Anhang einem Lauf über glühende Kohlen glich.
»Da vorne ist es. Beim beleuchteten Tannenbaum.«
Paul versuchte, das Haus mit Hacks Augen zu sehen, als würde er es zum ersten Mal betrachten. Vermutlich sah es verglichen mit dem einen oder anderen kleineren Anwesen, an dem sie vorbeigefahren waren, harmlos aus. Man könnte argumentieren, dass das Nachbarhaus ein wenig zu dicht stand – worüber sich Walther zweifellos gerne aufregte –, aber auf den ersten Blick war es ein hübsches, unauffälliges, kleines Haus aus rotem Klinker mit zwei Stockwerken, einem sorgsam gepflegten Vorgarten und einer Garage rechts daneben.
Der schwarze BMW X6 und der silberne Audi Q7, die vor dem Haus parkten und beide augenscheinlich so neu waren, dass praktisch noch das Verkaufsschild in der Windschutzscheibe klebte, könnten ein wenig abschrecken. Der kleine Ford Fiesta seiner Mutter wirkte dazwischen wie ein tollpatschiger Hundewelpe zwischen zwei ausgewachsenen, reinrassigen Zuchtrüden.
»Nett«, sagte Hack, als er langsamer wurde.
»Höre ich da schon wieder Angst raus?«
»Wo soll ich parken?«
Paul zuckte die Schultern. »Die Straße ist frei. Wo du willst.« Einer der Vorteile, wenn man in einem kleinen Vorort und nicht im Stadtzentrum wohnte.
Hack setzte den Wagen vor den anderen BMW und schaltete den Motor aus. Keiner von ihnen rührte sich. Sie hatten noch eine Viertelstunde bis fünf, was der eigentliche Beginn dieses Abends war. Es wunderte Paul jedoch nicht, dass Walthers Kinder schon da waren.
Hack, der bis eben an Paul vorbei, die Hausfront und die warm erleuchteten Fenster gemustert hatte, stieß die Luft aus. »Okay. Steigen wir aus?«
Nein. Fahren wir zu dir, betrinken uns mit Whiskeypunsch und vögeln, bis wir die Englein singen hören. »Ja.« Paul schnallte sich los und stieg aus. Er war schon auf halber Strecke zum Haus, als Hack ihn rief.
»Paul. Deine Geschenke.«
Ach ja. Er kehrte um. Sein Blick blieb an Hack hängen, der neben dem Wagen stand und ihn musterte. Er sah heute wirklich gut aus. Da der kleine Innenhof und das schmierige Viereck fehlten, wirkte er nicht einmal so riesig und furchteinflößend. Wahrscheinlich trug er unter der Winterjacke ein Hemd. Vielleicht einen Pullover. Ganz sicher keine Krawatte.
Trotzdem wusste Paul, dass das nicht reichen würde.
Er öffnete die Tür zur Rückbank und nahm die beiden Plastiktüten aus dem Fußbereich. Nachdem er die Tür zugeworfen hatte, drehte er sich um und marschierte zum zweiten Mal los, doch Hack hielt ihn am Arm fest. Paul drehte sich um und war überrascht, als sich Hack zu ihm beugte und ihm einen trockenen Kuss auf die Lippen drückte.
»Und jetzt noch mal«, sagte er leise, da er sich nur ein paar Zentimeter zurückgezogen hatte. Sein Blick brannte sich in Pauls. »Was verschweigst du mir? Oder gib mir wenigstens ein paar Infos. Ist dein Vater das Arschloch? Deine Geschwister? Großeltern? Ich fühle mich nicht wohl dabei, so ins kalte Wasser geworfen zu werden.«
Er hatte recht. Das war unfair. Allerdings hatte Paul befürchtet, dass es sich Hack anders überlegen würde, wenn er zu viel erzählte.
»Mein Vater hat meine Mutter sitzen gelassen, da war ich noch nicht mal geboren. Sie hat mich mehr oder weniger alleine großgezogen. Das hier« – er nickte zum Haus – »gehört ihrem Freund. Walther. Sie sind seit etwa … zwei Jahren zusammen. Die da« – er deutete auf die beiden protzigen Karossen – »gehören seinen Kindern. Bernhard, Herzchirurg, und Wilma, Fachanwältin für Familienrecht. Beide sind seit Jahren glücklich verheiratet und haben jeweils zwei Kinder, wobei bei Bernhard gerade das dritte unterwegs ist. Wilma ist mit zwei Kindern bedient und hat sich stattdessen zwei Zwergpinscher angeschafft, Mario und Luigi. Bernhards Kinder heißen –«
»Was?!« Paul konnte nicht ganz deuten, ob Hack entsetzt oder wütend war. »Das da drin ist gar nicht deine Familie?«
»Doch. Meine Mutter, Beate. Sie ist die einzige Familie, die ich habe.«
Auch damit schien Hack nicht gerechnet zu haben, denn er klappte den Mund zu und ließ Pauls Arm los. Wahrscheinlich stammte er aus einer größeren Familie. Andererseits hatte man davon auch nichts, wenn die Familienverhältnisse so kompliziert waren, dass man sich nicht einmal an Weihnachten zusammenraufen konnte.
Hack fuhr sich durch die Haare, ehe ihm einfiel, dass er sie heute ausnahmsweise frisiert hatte, und sie fluchend zurückzog. »Das hättest du ruhig vorher erwähnen können.«
»Wieso? Weil du dann gekniffen hättest?«
»Scheiße. Vielleicht.« Als er seine Hosentaschen abzuklopfen begann, schüttelte Paul den Kopf.
»Ich an deiner Stelle würde mir jetzt keine anstecken. Das hier ist ein absoluter Nichtraucherhaushalt.«
»Großartig.« Hack warf die Hände in die Luft. »Dafür schuldest du mir eigentlich mehr als Sex. Oder eine verdammte gefüllte Weihnachtsgans.«
Paul wusste zwar nicht, wann der mögliche Sex zwischen ihnen zu einer billigen Bezahlung verkommen war, wenn Hack ihn mehr oder weniger jederzeit haben konnte, aber diesen Gedanken konnte er nicht mehr aussprechen.
Die Haustür, an der ein Adventskranz hing, wurde geöffnet und Beate erschien im Türrahmen.
»Paul?« Sie trat ein paar Schritte nach draußen, die Arme gegen die Kälte um den Oberkörper geschlungen. »Warum kommt ihr denn nicht rein? Hier draußen ist es furchtbar kalt.«
Okay, das war’s. Feuer frei. Kein Kneifen mehr möglich. Und er kam sich vor, als hätte er Hack nicht einmal ansatzweise vorbereitet. Er warf Hack einen letzten Blick zu, der ihn eigentlich ermahnen sollte, nett und charmant zu sein, aber für Paul fühlte er sich eher verzweifelt an.
Theoretisch war es weniger schlimm, Weihnachten mit einer fremden Familie zu verbringen als mit der eigenen. Praktisch wollte Beate so sehr zu dieser fremden Familie gehören, dass sich Paul permanent unter Druck gesetzt fühlte.
»Wir wollten uns gerade auf den Weg machen«, sagte Paul, ehe er Beate zur Begrüßung umarmte. »Frohe Weihnachten.«
»Schön, dass du da bist«, strahlte sie ihn an, bevor sie neugierig an ihm vorbei sah, ohne eine Miene zu verziehen. Paul lächelte. Was anderes hätte er von ihr auch nicht erwartet. »Hallo. Ich bin Beate.« Sie streckte eine Hand aus, die Hack nach nur minimalem Zögern lächelnd ergriff.
»Thomas.«
»Thomas. Freut mich sehr. Auch dass du heute hier sein kannst.« Sie zwinkerte Paul zu. »Bisher hat Paul dich gut versteckt. Wie lange seid ihr denn schon zusammen?«
»Mama. Hack arbeitet nebenan. Wir sind –«
»Hack?« Verwirrt sah Beate von Paul zu Hack.
Scheiße. Nach nicht mal fünf Minuten! »Ich meine –«
»Hack ist mein Spitzname.«
Entsetzt riss Paul die Augen auf. Er hatte zwar gesagt, dass sie so weit wie möglich bei der Wahrheit bleiben sollten, aber die lustige Anekdote vom verurteilten Straftäter auf Bewährung, der seine Opfer zu Hackfleisch verarbeitete, fiel definitiv nicht darunter, sondern eher in die Kategorie hübsch umschreiben!
»Oh. Das ist aber ein seltsamer Spitzname.«
»Nicht wenn man in einer Küche arbeitet und die beste Hackmasse für Frikadellen macht.«
Während Beate belustigt auflachte, fiel Paul ein Stein vom Herzen. Das war gut. Hatte er den Spruch schon öfter gebracht, wenn jemand mit seinem Spitznamen herausgeplatzt war? Oder entsprach das vielleicht sogar der Wahrheit? Paul legte den Kopf schief und taxierte Hack, der etwas selbstgefällig zurücksah.
»So, kommt mit rein, Jungs, bevor wir hier noch fest frieren.« Sie streckte die Hände nach Pauls Plastiktüten aus. »Gib mir die, Schatz, dann kann ich sie in einem unbemerkten Moment noch unter den Baum schmuggeln.«
Da sich Paul nicht darum riss, sich an den Kindern vorbeizuschleichen oder sich eine glaubwürdige Geschichte aus den Fingern zu saugen, warum der Weihnachtsmann die Geschenke versehentlich bei ihm abgeladen hatte, überreichte er ihr die Tüten.
»Oh, und ihr müsst unbedingt von der fantastischen Weihnachtsbowle probieren, die Kathrin gemacht hat. Natürlich alkoholfrei, damit sie und die Kinder auch etwas davon trinken können. Aber sie schmeckt köstlich!« Beate drehte sich um und eilte zurück ins Haus, während Hack und Paul ihr langsamer folgten.
»Kathrin?«
»Die Frau von Bernhard, Bankangestellte, im fünften Monat schwanger.« Als sie die Türschwelle überschritten, schlug ihnen ein fantastischer Bratengeruch entgegen, der Paul das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Man konnte sagen, was man wollte, aber er hatte in diesem Haus noch nie schlecht gegessen. Er schluckte und setzte flüsternd hinzu: »Das war gut. Das mit der Hackmasse.«
Erneut bedachte Hack ihn mit diesem Blick, bei dem sich aus irgendeinem Grund Schuldgefühle in Paul breit machten – als hätte er wirklich erwartet, dass Hack seine Verurteilung unter dem Weihnachtsbaum ausbreiten würde.
»Wieso weiß deine Mutter nicht, ob du in einer Beziehung bist und falls ja, wie lange schon? Ich dachte, sie ist deine einzige Familie?«
Paul wandte den Blick ab, indem er sich umständlich aus seiner Jacke und dem Schal schälte. »Nur weil sie meine einzige Familie ist, muss sie nicht alles über mich wissen.« Eigentlich wusste sie sogar sehr viel weniger über Paul als Oma Biggi. Es war nicht so, als würde sie sich nicht bemühen. Es lag eher daran, dass sie nie seine erste Bezugsperson gewesen war.
Hack zog ebenfalls seine Jacke aus. Darunter kam ein hellblaues Hemd zum Vorschein, das in seiner dunklen Jeans steckte. Der Stoff spannte über einem schön geformten Oberkörper, der in der Kochjacke erstaunlicherweise klobiger wirkte. Paul war überrascht, wie gut Hack das Hemd stand. Irgendwie hatte er erwartet, dass er verkleidet aussehen würde.
Hack bemerkte seinen Blick. »Was?«
»Nichts. Du siehst … gut aus. Das ist alles.«
»Du wiederholst dich.« Als Hack seine Jacke am Garderobenhaken über Pauls hängte, lehnte er sich dicht an ihn heran. Paul stieg die betörende Mischung aus Shampoo und Seife in die Nase. Unwillkürlich atmete er ihn tief ein und hatte das Gefühl, dass sich seine Nervosität ein wenig legte. Er hatte sein Bestes getan, oder? »Also, irgendwelche letzten Instruktionen?«
Paul schüttelte den Kopf. »Augen zu und durch.«
»Klingt vielversprechend.«
Weil es ihm irgendwie richtig vorkam, schob Paul seine Hand in Hacks. »Okay?«
Hack zuckte die Schultern, umschloss Pauls Finger jedoch mit festem Griff.
Paul zog Hack den schmalen Flur entlang auf eine angelehnte Tür aus dunkelbraunem Holz gegenüber dem Eingang zu. Stimmen und leise Musik – Rockin’ Around The Christmas Tree – drangen dahinter auf den Flur hinaus. Für eine verrückte Sekunde überkam Paul der Drang, anzuklopfen, doch dann stieß er die Tür zum Wohnzimmer nur auf und zwang sich, den vielen Augenpaaren entgegen zu lächeln, die sich sofort auf sie richteten.
Walther und seine nicht gerade kleine Familie hatten sich hinten links im Raum auf den zwei Sofas und den zwei Sesseln verteilt. Trotzdem waren noch zusätzlich Stühle vom Esstisch dazu gestellt worden, damit jeder Platz hatte. Im gemauerten Kamin dahinter prasselte hinter einem Funkenschutzglas ein gemütliches Feuer und verbreitete nicht nur angenehme Wärme, sondern auch eine heimelige Atmosphäre. Links zwischen dem Esstisch und der Sofaecke schlich Beate um den deckenhohen und pompös in Rot- und Goldtönen geschmückten Weihnachtsbaum herum und verteilte Pauls Geschenke, während die Kinder am Wohnzimmertisch von ihren Müttern abgelenkt wurden.
Aufgeregtes Bellen erklang, gefolgt von einem helleren Kläffen, bevor die beiden Zwergpinscher von Wilma unter dem Tisch hervorsausten und die Neuankömmlinge nervös begrüßten. Sofort sprang Wilma ein und beorderte Mario, selbstverständlich der mit dem hirschroten Fell, und Luigi, der rot-schwarze, im strengen Tonfall zurück zu sich. Beide Hunde gehorchten aufs Wort.
»Paul, wie schön, dass du da bist.« Walther, ein groß gewachsener Mann mit leichtem Bauchansatz und ergrauenden Schläfen, der rund fünfzehn Jahre älter als Beate war, erhob sich aus dem Sessel am Kopfende und trat auf sie zu. Wie aufs Stichwort erhoben sich auch alle anderen am Tisch, um Paul und insbesondere Hack zu begrüßen. Sie hatten ihre Mimik nicht so gut im Griff wie Beate. Wenigstens sah er nirgendwo eine einzige Krawatte, auch wenn Wilma passend zu dem kleinen Schwarzen natürlich High Heels trug.
Paul schlug das Herz bis zum Hals, während er reihum Hände schüttelte, lächelte und auf Smalltalk einging. Er hoffte, dass man ihm seine Anspannung nicht so wie Hack ansah, der ein wenig steif wirkte. Nicht ängstlich, sondern eher eingerostet. Vermutlich würde er sich lieber in die Küche zurückziehen und der Gans im Ofen beim Garen zusehen.
Kathrin verteilte Weihnachtsbowle aus der riesigen Schale auf dem Wohnzimmertisch in kleine Gläser und drückte Paul und Hack je eins in die Hand, bevor sie die Gläser der anderen erneut auffüllte. Langsam ließen sich alle wieder am Tisch nieder, wobei Paul und Hack nebeneinander auf zwei der Stühle saßen, die zum Esstisch gehörten.
Offensichtlich waren gerade die Urlaubsziele fürs nächste Jahr das Thema, denn sie stiegen sofort wieder ins Gespräch ein, als wären sie nie unterbrochen worden. Paul wusste bereits, dass Walther plante, seiner Mutter die Westküste der USA zu zeigen. Nach anfänglichen Bedenken wegen der hohen Kosten freute sie sich inzwischen sehr darauf, weil Walther einen Teil des Geldes beisteuern würde. Bernhard und Kathrin hatten sich für Schweden entschieden, während es Wilma und Sven eher ins warme Andalusien zog.
»Aber wir wollen in den Herbstferien noch einmal weg«, verkündete Wilma. »Vielleicht zieht es uns dann auch nach Skandinavien.« Mit blitzenden Augen sah sie Paul an. »Stehen deine Urlaubspläne schon für nächstes Jahr?«
Unruhig rutschte Paul auf seinem Stuhl herum. Zählte eine Woche an einer der schönen Ecken Deutschlands? Mit Andalusien, Schweden oder gar den USA konnte er nicht einmal ansatzweise mithalten. Hack wusste das vermutlich, da sein Gehalt im Viereck wahrscheinlich noch mickriger ausfiel.
Paul räusperte sich. »Ich hab ein paar Ideen, aber noch nichts Konkretes.«
Er fing einen seltsamen Blick von Hack auf, dessen Bedeutung ihm allerdings erst klar wurde, als Bernhard überrascht einwarf: »Ach? Du und Thomas fahrt gar nicht zusammen in den Urlaub?« Er lachte einmal kurz und bellend auf. »Ist wohl noch nicht so weit bei euch.«
Scheiße. Paul biss die Zähne zusammen und vermied es, in Beates Richtung zu sehen. »So meinte ich das nicht. Wir … äh …« Er wusste nicht, ob er zusammenzuckte, als Hack eine Hand auf seinen Oberschenkel legte. Was er mit ziemlicher Sicherheit wusste, war, dass sämtliche Blicke am Tisch auf diese Hand fielen – aber nur Beate lächelte.
»Wir haben noch nicht darüber gesprochen.« Hack wandte sich Paul zu. Der liebevolle Ausdruck auf seinem Gesicht hätte beinahe echt gewirkt, wenn seine Augen nicht so scharf geblickt hätten. »Wir hoffen auf ein Last-Minute-Angebot.«
Walther nickte langsam. »Last minute. Aha.«
»Da kann es durchaus auch gute Arrangements geben«, sagte Bernhard in einem Tonfall, als hätte er nur mal entfernt von solchen guten Arrangements gehört und als wäre der Rest in seinen Augen Schrott.
»Ja, ich bin auch mal last minute geflogen.« Wilma sah ihren Vater an. »Das war damals direkt nach dem Abi mit meiner besten Freundin nach Mallorca an den Ballermann, erinnerst du dich, Papa?«
Walther brummte ungehalten, als wäre das keine schöne Erinnerung. Vielleicht wechselte er deshalb das Thema zu Wilmas neuem BMW.
Mario und Luigi, die sich zu langweilen begannen, trotteten auf Paul und Hack zu, um an ihren Schuhen und Beinen zu schnüffeln. Nachdem sie nichts Interessantes finden konnten, ließen sie sich von den drei Jungen, die dem Gespräch offenbar ebenfalls nicht viel abgewinnen konnten, und einem Tennisball ablenken. Ab und zu ermahnte einer der Elternteile die Jungs, nicht so wild zu spielen, aber das ging in dem Quietschen, Kreischen, Knurren und Kläffen unter.
Marie, Wilmas jüngste, beteiligte sich nicht am Spiel. Sie kletterte neben Hack auf den Schoß ihrer Mutter und starrte Hack an. Irgendwann streckte sie den Arm aus und zeigte mit dem Zeigefinger auf Hacks linkes Auge.
»Hast du dir da wehgetan?«
Paul, der bis eben an seiner Bowle genippt und sich verzweifelt nach einem Tropfen Alkohol gesehnt hatte, erstarrte. Hack neben ihm auch.
»Ähm …«
»Marie, Schatz«, sagte Wilma und drückte den Arm ihrer Tochter sanft nach unten, »es ist unhöflich, mit dem Finger auf andere Leute zu zeigen.«
»Aber er hat da doch was.«
»Eine Narbe, Liebling.« Sie warf Hack einen Seitenblick zu, als würden durch ihren Kopf die Top Ten der schlimmsten Möglichkeiten geistern, wie er sie sich zugezogen haben könnte. »Magst du nicht ein bisschen mit deinem Bruder und deinen Cousins spielen?«
Marie schüttelte vehement den Kopf, befreite sich aus dem Griff ihrer Mutter und krabbelte so lange auf ihrem Schoß herum, bis sie sich dichter zu Hack beugen konnte. Hack lehnte sich – absichtlich oder unbewusst – dichter zu Paul, bis ihre Schultern gegeneinander stießen. Paul hatte das Gefühl, dass sie schon wieder Mittelpunkt der Runde waren, denn sämtliche Gespräche am Tisch waren verstummt.
Verdammt. Er hatte gewusst, dass die Narbe ihre Aufmerksamkeit erregen würde. Praktisch allen stand ins Gesicht geschrieben, dass sie auf eine kriminelle Schauergeschichte warteten. Er hätte Hack vorwarnen sollen. Zum Glück traute sich keiner, direkt nachzufragen – dazu war Hacks Erscheinung vermutlich zu eindrucksvoll.
Marie schien jedoch gar nicht von der Narbe lassen zu können. Aus zusammengekniffenen Augen musterte sie Hacks linke Gesichtshälfte. »Hat dich jemand gehauen?«
Hack räusperte sich unwohl. »Könnte man so sagen.«
»Warum?«
»Gibt es eigentlich noch was anderes als Bowle?«, fragte Paul laut in der Hoffnung, damit etwas Bewegung in die Runde zu bringen. Genauso gut hätte er versuchen können, die Titanic mit einem Dutzend Korken am Sinken zu hindern.
»Warst du gemein?«, fragte Marie weiter. »Weil, manchmal sind Jungs gemein. Gerade zu Mädchen. Aber die hauen nicht zurück. Warst du gemein zu einem Jungen? Manchmal hauen sich Lukas und Marc.«
Marie legte eine Pause ein und sah Hack an, als hätte sie ihm damit eine gewichtige Information überlassen. Dabei hatte er wahrscheinlich schon wieder vergessen, dass das Bernhards Söhne waren.
»O…kay.«
»Ja. Hoffentlich kriegt der Weihnachtsmann das mit, dass sie nicht brav waren. Dann kriegen sie keine Geschenke. Dann bleibt mehr für mich. Ich war nämlich brav! Ich hab niemanden gehauen.«
Die Bestimmtheit und die Überzeugung, mit der sie das sagte, löste sanftes Gelächter am Tisch aus.
Als offensichtlich war, dass Hack auch keiner Sechsjährigen erzählen würde, was vorgefallen war, schlang Wilma die Arme um Marie und wuschelte ihr durch die braunen Locken. »Natürlich warst du brav, meine Kleine. Was meinst du, sollen wir einen kleinen Teil der Bescherung vorziehen? Wollen wir mal schauen, ob der Weihnachtsmann etwas für dich gebracht hat?«
»Au ja!«
Geschenke waren offensichtlich ein effektives Mittel, um Marie abzulenken, denn sie sprang vom Schoß ihrer Mutter und stürmte auf den Weihnachtsbaum zu. Ihr Bruder und ihre Cousins wurden sofort hellhörig und schlossen sich ihr an, Geschenke hochzuheben und zu inspizieren. Bernhard fragte Paul, ob er seine Geschenke auch mit Namen versehen hatte, und Paul bejagte.
Kathrin und Beate erhoben sich ebenfalls und gingen zum Weihnachtsbaum hinüber, damit die vorgezogene Teilbescherung nicht ausartete. Bernhard räumte die Bowle und die leeren Gläser weg, während Walther fragte, ob alle Wein zum Menü tranken oder ob jemand einen Sonderwunsch hätte. Beim Zusatz sah er insbesondere Paul und Hack an.
»Wir fangen mit einem Grauburgunder an. Das ist ein Weißwein. Zur Gans gibt es dann einen Cabernet Sauvignon, ein schwerer Rotwein. Selbstverständlich habe ich auch Bier da, wenn euch das eher zusagt.«
Möglicherweise meinte er das höflich, doch bei Paul hinterließ der Unterton ein unangenehmes Stechen in der Magengegend. Er wechselte einen Blick mit Hack, der die Schultern zuckte. Er würde vermutlich eh nur ein, zwei Gläser oder ein Bier trinken.
»Wein ist in Ordnung für mich.«
Mit einem Nicken verließ Walther das Wohnzimmer. Bernhard streckte den Kopf zur Tür herein und fragte nach Hilfe beim Auftragen der Vorspeise. Wilmas Mann Sven, der noch als Einziger mit ihnen am Tisch saß, bot sich an und stand in derselben Sekunde auch schon auf.
Nachdem die Kinder jeder ein Geschenk ausgepackt hatten, scheuchte Kathrin alle an den großen Esstisch aus dunklem Holz, der in festlichem Rot und Weiß passend zum Baum gedeckt war. Auch Paul und Hack durften sich bereits setzen, obwohl sie ihre Hilfe anboten, die jedoch abgelehnt wurde. Paul kannte das schon. Inzwischen verkniff er sich die Bemerkung, dass er als Kellner geradezu prädestiniert dafür war, gefüllte Teller am Tisch zu verteilen.
Er versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn das untätige Herumsitzen nervte, während alle anderen Erwachsenen im Raum umher zu wuseln schienen. Die Jungs begannen, sich ohne Essen am Tisch zu langweilen, standen auf und machten die Hunde wieder nervös, die Wilma gerade mit einem Kauknochen zur Ruhe gebracht hatte.
Während Beate und Kathrin die Kinder beaufsichtigten, drückte sich der Rest der Familie in der Küche herum, als würde es vier Leute benötigen, den Shrimpscocktail für die Erwachsenen und den Salat für die Kinder vorzubereiten.
Wahrscheinlich eine spontane Krisensitzung. Bisher war der Abend in Pauls Augen vergleichsweise friedlich verlaufen, aber die lange Abwesenheit machte ihn nervös. Als Walther den Fehler beging, die geöffnete Flasche Weißwein unbeaufsichtigt in einem Weinkühler auf eine nahestehende Anrichte zu stellen, ehe er zurück in die Küche ging, bediente sich Paul und schenkte sich und Hack ein.
Das erste Glas stürzte er so schnell hinunter, dass Hack ihn misstrauisch von der Seite ansah. »Alles okay?«
»Alles bestens.« Er füllte sein Glas erneut und zwang sich, in kleineren Schlucken zu trinken. Dennoch war das Glas nach fünf Minuten leer. Scheiße.
Er sah zu dem Knäuel aus Jungen und Hunden hinüber, über das Beate zusammen mit Kathrin wachte, während Marie ihrem Bruder und ihren Cousins gelangweilt zusah. Beate lachte mit Kathrin, die sich liebevoll über ihren gerundeten Bauch strich. Seine Mutter war glücklich. Und sie hatte nicht gesehen, wie er zwei Gläser Weißwein hinuntergestürzt hatte. Paul schenkte sich ein drittes Mal nach.
»Paul.«
Paul stellte die Flasche weg und sah dann erst Hack an, der jetzt tatsächlich ungehalten wirkte.
»Was zum Teufel machst du da?«
Mich betäuben. »Der Wein ist gut.«
»Kein Grund, ihn wie Leitungswasser hinunterzustürzen.«
Nervös sah Paul zur Wohnzimmertür, die angelehnt war. Die Küchentür war bestimmt geschlossen. Unmöglich, irgendetwas von dem zu hören, was dort drinnen besprochen wurde. Oder andersherum. Vielleicht sollte er die Gelegenheit nutzen und Hack doch noch schnell erklären, dass das alles ganz normal war.
»Wenn es um die Sache mit der Narbe geht: Das ist mir egal. Ich hab gesehen, wie sie mich angestarrt haben. Das passiert mir öfter. Ich finde es erstaunlich, dass niemand nachgefragt hat.«
Niemand? Wilma hat ihre sechsjährige Tochter vorgeschickt.
»Vielleicht machen sie das noch.« Sobald die Kinder nicht mehr in Hörweite waren.
»Du hast auch nicht gefragt. Kein einziges Mal.«
Paul sah Hack an. Sein Blick wanderte an der Narbe entlang, die nur knapp am linken Auge vorbeiführte und sich über seinen Wangenknochen zog. Wahrscheinlich hatte nicht viel gefehlt und das wäre buchstäblich ins Auge gegangen.
»Vielleicht mach ich das noch.«
Bis schließlich alle am Tisch saßen und die Vorspeise aufgetischt wurde, war es zwanzig nach sechs. Paul wusste, dass er jetzt schon zu viel getrunken hatte, denn Walter verzog missbilligend das Gesicht, als er merkte, dass Paul die erste Flasche fast alleine geleert hatte. Hack hielt sich an einem einzigen Glas fest. Paul aß zu viel Brot und schlang den Shrimpscocktail innerhalb von Sekunden hinunter, doch er hatte nicht das Gefühl, dass irgendetwas davon half, den Alkohol in seinem Magen aufzusaugen.
Die Gespräche am Tisch plätscherten dahin. Es drehte sich viel um die Kinder und die Schule, aber auch um Bernhards Erfolge in der Herzchirurgie oder Wilmas Siege vor Gericht. Kathrin gab die eine oder andere Anekdote aus ihrer Bankfiliale zum Besten und sprach über ihre dritte Schwangerschaft. Sven – er war Steuerberater, wie Paul irgendwann wieder eingefallen war – plauderte über einfallsreiche Schlupfwinkel in den Steuergesetzen oder bekräftigte Wilmas Aussagen. Walther brachte alle hinsichtlich der Nachbarschaftsstreitereien auf den neuesten Stand.
Paul hatte Mühe, bei all den Namen, Erfolgsgeschichten und Belanglosigkeiten den Überblick nicht zu verlieren. Ab und zu warf er Hack einen Blick zu. Entweder konnte er sehr gut verbergen, dass er zu Tode gelangweilt war, oder das milde Interesse auf seinem Gesicht war echt.
Aber Beate lächelte in die Runde, ihre Augen strahlten bei jeder kleinen Geschichte und sie zwinkerte Paul mehrmals fröhlich über den Tisch hinweg zu.
Hin und wieder wurde das Wort an Paul und Hack gerichtet, aber alles in allem konnten sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie eine eingeschworene Gemeinschaft waren, die zwar Beate Walther zuliebe aufgenommen hatte, sich bei Paul und ganz besonders bei Hack jedoch sträubte.
»So, dann werde ich mal die Gans holen«, verkündete Walther, nachdem Wilma und Beate die Suppenschüsseln abgeräumt hatten. »Damit ihr alle zusehen könnt, wie ich mich beim Tranchieren abmühe.« Er wandte sich an Paul und Hack. »Tranchieren bedeutet, die Gans in einzelne Portionen zu zerschneiden.«
»Was du nicht sagst.« Paul klappte den Mund zu, als ein strenger Blick seiner Mutter ihn traf, und griff nach seinem Weinglas, in dem jetzt Rotwein schwamm, weil sie nach der Suppe die Sorte gewechselt hatten.
»Sag mal, Paul, arbeitest du immer noch bei diesem Restaurant in Haidhausen? Wie hieß das doch gleich? Beate konnte es uns nicht sagen.« Wilma sah ihn mit einer seltsamen Mischung aus Neugier und Überheblichkeit an. Als würde sie die Antwort kennen, noch bevor Paul den Mund aufgemacht hatte. Ob sie ihre Klienten auch so ansah? Wie eine Wissenschaftlerin, die gerade ein Tier seziert hatte, nur um festzustellen, dass sie bereits gewusst hatte, was sie vorfinden würde.
Paul würgte den Rotwein hinunter. »Nein. Hat mir da nicht gefallen.« Er hörte selbst, dass er zu lallen anfing, und stürzte ein Glas Wasser hinterher.
»Es hat dir dort nicht gefallen?«, betonte sie so überdeutlich, als wollte sie sichergehen, dass sie ihn richtig verstanden hatte. »Aber als wir uns das letzte Mal gesehen haben, hast du doch gerade erst da angefangen?«
»Genau«, schloss sich Bernhard an. »Und hast du nicht gesagt, dass das Restaurant gut ist? Was ist denn passiert?«
Passiert war, dass der verdammte Besitzer ihn und den Koch in der Vorratskammer erwischt hatte – was den ganzen Reiz an der Sache ausgemacht hatte. Es war Pauls Pause gewesen und der Schwanz des Kochs, der in seinem Hintern gesteckt hatte, aber trotzdem war er rausgeworfen worden, weil der Koch angeblich so was wie begnadet war. Das konnte Paul nicht bestätigen. Und der Angsthase hatte sich geweigert, Paul zu diesem Essen zu begleiten.
»Differenzen zwischen mir und dem Chef.« Er versuchte, Beate nicht anzusehen, bekam jedoch trotzdem mit, dass sie ihn überrascht ansah. Von seinem letzten Jobwechsel hatte er ihr nichts erzählt. Er hatte ihr einiges nicht erzählt oder besser: nicht korrigiert. Wie zum Beispiel, als sie ihn gebeten hatte, seinen Freund mit zu diesem Essen zu bringen.
»Ach so«, sagte Wilma gedehnt. »Oje, das scheint dir ja häufiger zu passieren. Zum Glück gibt es in München zahllose Restaurants, nicht wahr?« In ihrem Tonfall schwang ein Augenzwinkern mit. Und Häme.
»Und wo arbeitest du jetzt?«, wollte Kathrin wissen.
»Steffens Café.« Unwahrscheinlich, dass irgendjemand außer ihm und Hack hier am Tisch das Café kannte.
»Ein Café, wie süß! Aber verdient man da überhaupt irgendetwas?«
»Paul kann sehr gut mit Menschen umgehen«, sagte Beate und das Lächeln in ihrer Stimme klang aufrichtig. Dennoch schloss Paul beschämt die Augen.
Lass es, Mama.
»Ich bin überzeugt davon, dass er sämtliche Gäste um den Finger wickelt und ihnen das Trinkgeld aus der Tasche zieht.«
Wilma griff nach ihrem Weinglas und murmelte: »Im wahrsten Sinne des Wortes.«
Beate hatte sie nicht gehört und fuhr voller Überzeugung fort: »Wenn es eine Auszeichnung oder einen Preis für Kellner geben würde, wäre Paul jedes Jahr Anwärter darauf.«
»Tatsächlich?« Jetzt verbarg Bernhard sein Feixen hinter seinem Weinglas. »Hört sich nach einem Traumberuf an. Sag, Paul, musstest du dafür studieren oder bist du ein Naturtalent im Bedienen?«
Wilma prustete in ihr Weinglas. »Oh Gott, Entschuldigung.« Hastig griff sie nach einer Serviette, um den Rest ihres Lachens darin zu ersticken. »Diese Erkältung hat mich schon seit Tagen im Griff.«
Unvermittelt wurde ein Stuhl über den Boden zurückgeschoben. Pauls Kopf ruckte hoch, als Hack neben ihm aufstand. Ohne ein Wort ging er zur Tür, die Walther just in diesem Moment mit der Hüfte aufstieß. In den Händen trug er ein Holzbrett mit einer gigantischen Gans darauf, deren verführerischer Duft sich augenblicklich im Wohn- und Esszimmer ausbreitete. Die Kinder, die allmählich ungeduldig wurden – nach der Hauptspeise würde der Rest der Bescherung erfolgen –, jubelten.
»Oh, Thomas«, sagte Walther und sah ihn irritiert an. »Wir essen jetzt.«
Hack nickte und schob sich dennoch an ihm vorbei.
»Wo willst du hin?«
»Rauchen«, hörte Paul ihn knurren. Kurz darauf krachte die Eingangstür ins Schloss.
Der Weg in den Garten wäre kürzer gewesen, dachte Paul benommen und starrte die Terrassentür an, die sich gegenüber der Sofaecke befand.
Für den Bruchteil einer Sekunde zog er ernsthaft in Erwägung, ihm genauso wortlos zu folgen, auch wenn der Effekt dann nur noch halb so theatralisch gewesen wäre. Aber dann hob er den Blick und begegnete Beates, die irritiert und ein wenig erschrocken aussah.
»Rauchen?«, wiederholte Kathrin entsetzt und starrte Paul an. »Dass er das nicht vor meinen Kindern macht!«
»Deswegen ist er wahrscheinlich vorne raus.« Als ob Hack das dabei im Sinn gehabt hätte. Wahrscheinlicher war, dass er sich auf der Terrasse unter ihrer aller Blicken nicht hätte abreagieren können.
»Ich könnte ihm darlegen, was Rauchen mit seinem Herzen anstellt.« Bernhard schüttelte den Kopf. »Aber offensichtlich hat er noch ganz andere Probleme. Wen hast du da nur ins Haus meines Vaters geschleppt, Paul? Wie lange kennst du diesen Mann überhaupt?«
»So, Schluss jetzt«, sagte Walther, allerdings ohne besonderen Nachdruck, als er die Gans auf dem Tisch abstellte. Dann strich er Beate kurz über den Nacken und lächelte sie an. »Es ist Weihnachten. Benehmt euch.« Auch das kam ohne besonderen Nachdruck, aber Beate sah ihn dankbar an, ehe sie aufstand.
»Wer hilft mir bei den Semmelknödeln und dem Rotkohl? Jungs, kommt ihr mit?« Die angesprochenen Jungs waren nicht sonderlich begeistert, doch Marie rutschte eifrig von ihrem Stuhl. Nach kurzem Zögern schlossen sich die Jungs an.
»Aber pass auf, dass sie nichts runterwerfen, Beate«, rief Wilma ihr streng hinterher.
»Das ist doch viel zu heiß«, sagte Kathrin und erhob sich, um ihr zu folgen. Wilma schloss sich kurz darauf an.
»So.« Mit eisigem Blick richtete Walther das große Schneidemesser zum Tranchieren der Gans auf Paul. »Und du holst jetzt deinen Freund wieder rein. Gott, da möchte man dir einmal etwas Gutes tun. Und Beate. Du weißt, wie sehr sie sich auf diesen Abend und auf dich gefreut hat. Und du willst uns das mit Absicht kaputt machen!«
»Ich bin nicht derjenige, der mit Giftspritzen um sich schießt.«
»Ach, du meine Güte, die paar Sticheleien.« Bernhard tat das mit einer Handbewegung ab. »Ich wusste nicht, dass du so zart besaitet bist.«
»Schluss jetzt.« Walther wedelte mit dem Messer. »Hol Thomas jetzt wieder rein. Wir essen. Und reißt euch um Gottes willen zusammen!«
Paul öffnete den Mund, um automatisch zu erwidern, dass nicht er sich zusammenreißen musste, klappte ihn jedoch wieder zu. Wozu? Er würde niemals dazu gehören, ganz egal, wie viel Mühe er sich gab. Beate zuliebe tolerierten sie ihn an wenigen Tagen im Jahr. Mehr war partout nicht drin.
Stumm erhob er sich, verließ das Wohnzimmer und durchquerte den Flur, wobei er sich ein Stück an der Wand entlangtasten musste, als sich der viele Wein bemerkbar machte. Aus Richtung der Küche hörte er Wilmas mahnende Stimme und Maries und Beates Lachen.
Noch eine Stunde. Maximal zwei. Länger kann dieses verdammte Essen nicht dauern.
Paul öffnete die Haustür und streckte den Kopf zum Vorgarten hinaus, in dem eine hübsche, kleine Laterne den kurzen Gehweg beleuchtete. Hack stand ohne Jacke ein Stück rechts im Halbschatten vor einem rund getrimmten Strauch, der im Sommer möglicherweise blühte. Paul hatte keine Ahnung, was das für ein Gestrüpp war, aber jetzt im Winter sah er genauso trostlos aus, wie sich Paul fühlte.
Paul beobachtete Hack ein paar Sekunden, in denen er bestimmt zehnmal an seiner Zigarette zog. Falls er fror, ließ er es sich nicht anmerken, doch Paul stach die Kälte bereits jetzt durch den dünnen Hemdstoff in die Haut, dabei stand er noch mit einem Fuß im Haus.
»Hack.« Er wartete, ob er sich zu ihm umdrehte, doch Hack rauchte nur in derselben Geschwindigkeit weiter. »Kommst du wieder rein? Es gibt Essen.«
Keine Reaktion.
»Hack?«
Hack warf ihm einen Blick über die Schulter zu, der vor Hitze brannte. Selbst unter diesen Umständen zog sich Pauls Magen zusammen, obwohl das Glühen in Hacks Blick nichts Sexuelles an sich hatte. Vielleicht war das mit der Körperverletzung doch nicht so abwegig. Im Moment sah er aus, als könnte er einen Mord begehen.
Hin und her gerissen, ob er es wagen konnte, die Tür zu schließen und darauf zu hoffen, dass man sie wieder reinlassen würde, entschied Paul, sie anzulehnen und den Schuhanzieher von der Garderobe als Stopper dazwischen zu legen. Er schlang die Arme um seinen Oberkörper und trat zu Hack nach draußen.
»Hack –«
»Warum zum Teufel lässt du dir das gefallen? Scheiße, warum tust du dir das überhaupt an?!« Er war unangemessen wütend dafür, dass das da drin nicht seine Familie war und dass man nicht ihn mit Seitenhieben getriezt hatte.
»Meine –«
»Vergiss es. Ich weiß schon. Deine Mutter.« Er pfefferte seinen Zigarettenstummel in Walthers prächtig gepflegten Vorgarten und rammte seinen Hacken auf die Kippe, um die letzte Glut zu löschen. »Nichts gegen deine Mutter, sie ist wirklich nett, aber es kann ihr doch nicht scheißegal sein, was da drin vor sich geht!«
Paul fröstelte und rieb sich die Arme, obwohl sich sein Gesicht viel zu heiß anfühlte. »Vielleicht ist dir aufgefallen, dass sie ihre Spitzen sehr gezielt setzen.«
Hack schnaubte. »Ich kenne sie seit drei Stunden und mir ist keine einzige verfluchte Spitze entgangen. Verdammt. Tranchieren bedeutet, die Gans in einzelne Portionen zu zerschneiden.«
Obwohl es nicht lustig war, musste sich Paul ein Grinsen verkneifen, als Hack Walther nachäffte. »Nur noch ein, zwei Stunden. Danach können wir gehen.«
Hack schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht, wie du wollen kannst, dass ich … dass das irgendjemand mitbekommt. Wenn ich noch eine Geschichte über den großen Bernhard hören muss, der mitten in einem Stromausfall unter widrigsten Bedingungen und nur mit einem Küchenmesser eine erfolgreiche, lebensrettende Herztransplantation durchführt, kommt mir der Shrimpscocktail wieder hoch.«
Jetzt grinste Paul tatsächlich. »Wann hat er denn die Geschichte erzählt? Da muss ich gerade eingenickt gewesen sein.«
Hack schnaubte, doch es schwang ein Hauch Belustigung mit. »Oder Wilma, die zwei süße, blondgelockte Zwillingsengel aus den Fängen ihrer schäbigen Mutter rettet, weil sie ihnen den verdammten Reitunterricht nicht mehr bezahlen kann, und stattdessen zur wohlhabenden Oma rüberschiebt, bei der es die Kleinen sowieso viel besser haben.«
»Ich glaube, es war nicht der Reitunterricht, sondern die Tatsache, dass die Mutter die Zwillingsengel im Einkaufszentrum vergessen hat, was den Ausschlag gegeben hat.«
»Scheiße, ihr Mann ist gerade gestorben und dann nimmt man ihr auch noch vorübergehend die Kinder weg? Nichts gegen familiäre Ernstfälle, aber das ist einfach lächerlich.«
Als Hack automatisch begann, in seiner Hosentasche nach den Zigaretten zu kramen, legte Paul eine Hand auf seinen Arm. »Nicht. Die Gans ist fertig. Gehen wir rein und essen.« Er rang sich ein Lächeln ab. »Wenn es dich tröstet: Kochen können sie.«
Hack sah ihn einen Moment lang an, als hätte er den Verstand verloren. Dann schlang er einen Arm um seine Taille, legte eine Hand an sein Gesicht und zog ihn grob an sich. Hacks Lippen glühten heiß auf seiner kalten Haut und seine Zunge wütete so rücksichtslos in Pauls Mund, dass er eine Hand gegen Hacks Brust stemmte und sich ohne echten Willen loszumachen versuchte. Es musste wenigstens so aussehen, als würde er sich wehren. Sie standen in Walthers Vorgarten, verdammt.
Und doch stöhnte er in den Kuss hinein, als Hack ihn nicht losließ, sondern noch dichter an seinen großen, harten, heißen Körper zog. Er spürte Hacks Erektion und erschauerte.
Nicht gut. Wenn das die Kinder sehen …
Der Gedanke war so absurd, dass er lachen musste. »Hack«, nuschelte er. »Hack, hör auf.«
Er war ein wenig enttäuscht, als Hack tatsächlich von ihm abließ. Allerdings wich er nicht zurück, sondern sah direkt in seine Augen. Ihr Atem tanzte in weißen Wölkchen zwischen ihnen in der Luft.
»Ich hab keine Lust mehr. Gehen wir zu mir.«
Paul schüttelte den Kopf. »Wir können nicht vor der Hauptspeise –«
»Verdammt, und ob wir das können. Besser, als sich noch mal an diesen Tisch voller Halbgötter zu setzen.«
Wenn Hack das schon unerträglich fand, sollte er besser nicht warten, bis die Kinder mit ihren Weihnachtsgeschenken beschäftigt oder gar im Bett waren.
»Das würde meiner Mutter das Herz brechen.«
»Wenn meine Mutter …« Abrupt brach er ab und ließ Paul kopfschüttelnd los. Augenblicklich fraß sich die Kälte durch seine gesamte Vorderseite, die eben noch eng und warm gegen Hack geschmiegt war. Oder lag das gar nicht an der Außentemperatur, sondern an Hacks grimmigem Blick?
Mit der Zunge fuhr sich Paul über die Lippen. »Wieso küsst du mich eigentlich immer, nachdem du geraucht hast? Das ist ekelhaft.«
»Weil ich gegen meine Bewährungsauflagen verstoßen werde, wenn ich mich nicht abreagiere. Und in deiner Nähe scheine ich ständig das Bedürfnis nach einer Zigarette zu haben.«
Autsch. Wenigstens dürfte der Zigarettenrauch, der an Hack haftete, Walther und alle anderen da drin genauso stören wie ihn. »Dann bringen wir das hier besser schnell hinter uns.«
*
Paul wusste nicht, ob es an Walthers halbherziger Ansprache oder an dem vielen Wein lag, dass er das Gefühl hatte, dass der restliche Abend besser verlief. Wahrscheinlich an beidem, denn Wilma und Bernhard sahen ihn immer noch nicht an, als würden sie ihn als neuen Stiefbruder herzlich in ihrer Familie willkommen heißen wollen. Der Wein milderte die Schärfe in ihren Blicken und ließ ihn gegen ihre Sticheleien abstumpfen.
Als die Kinder mit ihren Weihnachtsgeschenken beschäftigt waren, musste es kurzzeitig schlimmer geworden sein, denn Hack stieß seinen Löffel so heftig durch das Lebkuchen-Tiramisu, dass er mit einem unangenehmen Kreischen über die Schale fuhr. Hatte Wilma eine abfällige Bemerkung über Pauls Geschenke gemacht? Er hatte sich auf Bücher, Brettspiele und Süßigkeiten beschränkt, da die Kinder aus der elektronischen Ecke sowieso schon alles hatten und das Zubehör so verdammt teuer war.
Kaum waren alle gesättigt und der Verdauungsschnaps verteilt, wurde er von Hack auf die Füße gezerrt und zur Haustür geschleift. Beate folgte ihnen, während sich alle anderen mit einem müden Lächeln und einem schwachen Winken von ihnen verabschiedeten. Paul konnte sich praktisch vorstellen, wie sie loslegten, sobald die Wohnzimmertür geschlossen war.
An der Garderobe zog Beate Paul in eine feste Umarmung. »Es ist wirklich schade, dass ihr schon gehen müsst.«
Paul lag ein Müssen wir? auf der Zunge, aber sein Hirn schaltete nicht schnell genug, um die Worte auch auszusprechen.
»Aber es war so schön, dass ihr da wart!« Sie drückte einen lauten Kuss auf seine Wange, was zeigte, dass sie auch nicht mehr ganz nüchtern war, ehe sie ihn aus ihren Armen entließ. »Ein wirklich schönes Weihnachtsfest. Hoffentlich können wir das nächstes Jahr wiederholen.« Sie strahlte Hack so begeistert an, dass sich Pauls Herz zusammenzog. »Dann ohne Kopfschmerzen.«
Kopfschmerzen?
»Es tut mir wirklich leid, Beate, aber mir brummt schon den ganzen Tag der Schädel. Muss die gleiche hartnäckige Erkältung sein, unter der Wilma leidet.«
»Na, dann auf jeden Fall gute Besserung, Tom.«
Tom? Wann waren sie zu Spitznamen übergegangen? Paul blinzelte, als Beate die Arme um Hacks Hals warf und ihn ebenfalls zu einem Schmatzer auf die Wange zu sich herunterzog.
»Oh Gott, Mama, lass ihn.« Es fühlte sich an, als würden die Worte in einem einzigen Knäuel ohne Punkt, Komma oder jedwede Pausen aus seinem Mund purzeln. Sowohl Hack als auch seine Mutter sahen ihn an. Mit mahnendem Gesichtsausdruck tätschelte Beate seinen Arm.
»Sag mir nicht, was ich zu tun und zu lassen hab, sonst sag ich dir, dass du zu viel trinkst. Außerdem darf ich deinen Freund ja wohl etwas besser kennenlernen, wenn du ihn schon den Rest des Jahres vor mir versteckst.« Sie wandte sich wieder Hack zu. »Vielleicht können wir das noch mal in kleinerer Runde wiederholen. Meine Wohnung ist zwar nicht so groß und ich koche nicht so gut wie –«
»Sehr gerne«, unterbrach Hack sie lächelnd und Paul musste schon wieder blinzeln.
Lächelte Hack gerade seine Mutter an?
Moment. Was hat er eben gesagt?
Beate nahm sie noch einmal nacheinander in den Arm, dann schlang Hack Paul seinen Schal um den Hals und half ihm in seine Jacke, bevor Paul überhaupt mitbekam, dass er dabei Hilfe benötigte, weil er den verdammten Ärmel sonst erst beim zwanzigsten Versuch erwischt hätte.
Draußen war es immer noch kalt, doch die Kälte fühlte sich wunderbar auf seinem erhitzten Gesicht an. Außerdem kam es ihm vor, als würde mit jedem Atemzug ein Schwall Ernüchterung in seinen Kopf Einzug halten.
»Vorsicht, es ist –«
Die Welt geriet aus den Fugen, als Pauls Fuß unter ihm wegrutschte und er nach hinten kippte. Hack packte ihn mit festem Griff am Arm und schlang den zweiten um ihn, damit er nicht stürzte.
»Scheiße. Glatt.«
»Sag ich doch.«
Hinter ihnen in der Eingangstür unterdrückte Beate ein Lachen. »Entschuldigt, Jungs, aber das sah urkomisch aus. Fahrt bloß vorsichtig! Paul! Schreib mir eine Nachricht, wenn ihr zu Hause seid, ja?«, rief sie durch den Vorgarten, sodass es die Nachbarn mit Sicherheit auch gehört hatten.
»Ja, ja.« Paul sah in Hacks Gesicht hoch und versuchte, seine Beine unter sich zu sortieren. Die kleine Laterne warf verwegene Schatten auf sein kantiges Gesicht und hob die Narbe auf der linken Seite scharf hervor. Paul schluckte, als Erregung durch den Alkoholschleier wogte. Ob jetzt endlich Sex auf dem Plan stand? »Danke.«
Hack brummte und stellte ihn wieder auf die Füße. Vorsichtig tastete sich Paul Schritt für Schritt den Gehweg entlang, während Hack weniger bedacht losmarschierte und vor ihm den Bürgersteig erreicht hatte. »So glatt ist es nun auch wieder nicht.«
»Bin ich grad ausg’rutscht oder du?«
Hack antwortete nicht, sondern schloss den Wagen auf und kramte im Handschuhfach nach einem Eiskratzer. Er schien zu wissen, wo er sich befand. Vielleicht war das doch sein Auto.
Er wies Paul an, sich ins Auto zu setzen, während er dem Eis auf den Scheiben zu Leibe rückte. Drinnen lief die Heizung auf Hochtouren und machte einen Krach, der sogar das Eiskratzen übertönte. Obwohl Paul aus irgendeinem Grund nicht wirklich gefroren hatte, lullte ihn die Wärme ein und entspannte seine Muskeln. Dazu das eintönige Kratzen und Schaben von draußen und plötzlich hatte er Schwierigkeiten, die Augen offen zu halten.
Er fuhr zusammen als eine Autotür knallte. Hack saß neben ihm und musterte ihn. »Hast du geschlafen?«
»Nee.« Oder doch?
Hack fuhr los. Nachdem Paul ihn aus der Wohngegend herausgeleitet hatte, schien er zu wissen, wie er zurück nach München kam. Paul lehnte den Kopf gegen das Seitenfenster und lauschte auf das monotone Brummen des Motors.
Geschafft. Wenn er Glück hatte, könnte er sich bis nächstes Weihnachten abgesehen von der einen oder anderen Stippvisite zu wichtigen Geburtstagen von Walther und seinem Anhang fernhalten. Vielleicht maximal drei Geburtstage. Beates, Walthers und … welcher ihm besser in den Kram passte. Zu den anderen Anlässen würde er sich Ausreden einfallen lassen. Nicht zu viele, dass Beate sauer auf ihn wurde, aber genug, damit er nicht wahnsinnig wurde. Dass er arbeiten musste, zum Beispiel. Oder dass Hacks Oma gestorben war.
Der Gedanke an Hacks Oma – ob er überhaupt noch eine hatte? – ließ ihn an Oma Biggi denken und seine Brust schnürte sich zusammen. Die Bilder vor seinem inneren Auge, wie sie zu dritt an dem abgewohnten Küchentisch saßen, wirkten so lebendig. Der kleine, hüfthohe Weihnachtsbaum in der Ecke, der mit so viel Schmuck aus mehreren Jahrzehnten behangen war, dass die kahlen Stellen nicht weiter auffielen. Die Millionste Wiederholung von Sissi im Fernsehen. Und Oma Biggi war es immer noch nicht leid.
»Das gehört für mich an Weihnachten dazu, Paulchen. Irgendwann wirst du verstehen, was ich meine.«
Ja, wahrscheinlich verstand er jetzt, da sie nicht mehr da war und er sich nicht mehr darüber aufregen konnte, dass sie jede Dialogzeile mitsprechen konnte.
»Paul?«
»Hm?« Er riss die Augen auf und blinzelte. Draußen hinter den Autofenstern zog eine dunkle Landschaft vorbei. Verdammt. Waren sie noch gar nicht in München?
Er drehte den Kopf, der sich unendlich schwer auf seinen Schultern anfühlte, zu Hack und zog in derselben Bewegung die Beine auf den Sitz hoch. Warum waren Autositze so verdammt unbequem? Und wieso konnte er nicht auf die Rückbank krabbeln und sich dort ausstrecken, bis sie da waren?
In dem zwielichtigen Dunkel des Autos sah Hack ihn an, was er eher erahnte, als wirklich sah. Seine Lider klappten andauernd zu. In seinem Magen schwamm alkoholfreie Weihnachtsbowle zwischen Weißwein, Rotwein und Cognac, den Walther so gerne trank, und vermischte sich zu einem gurgelnden Gebräu.
»Erklär mir noch mal, warum du dir das antust.«
Hmm … Bei Hacks Stimme kribbelte es auf Pauls Haut, als würde jemand mit dem Finger an seiner Wirbelsäule entlangfahren. Oder mit der Zunge. Und es war auch nicht irgendjemand, sondern Hack. Er wollte den Hals strecken und seinen Nacken darbieten, damit Hack –
»Und vor allem, warum du dich nicht wehrst. Eigentlich kommst du mir nicht wie jemand vor, der auf sich herumhacken lässt.«
»Wehr’n macht’s nur schlimmer.« Seine Zunge fühlte sich zu groß geraten an und irgendwie, als wäre sie eingeschlafen. Er schluckte ein paar Mal, was einen ekligen Geschmack in seinem Mund zurückließ. »Für alle.«
»Für alle?«
»Mich, meine Mutter. Wilma un’ Bernhard dreh’n auf. ›s dann schlimmer.«
Eine Weile hörte er nur das Brummen des Motors. Als er das nächste Mal die Augen aufschlug, war es heller um sie herum. Sie hatten München erreicht.
»… mit Beate?«
»Hm?«
Wieder sah Hack ihn kurz an. Dieses Mal konnte er es tatsächlich sehen. Hack hatte fantastische Augen. So dunkel und düster und undurchdringlich. Paul erschauerte. Er wusste nie so recht, was er dachte. Nur wenn er erregt war, glomm es in ihnen auf wie das Ende einer Zigarette, an der man zog.
Ein Zigarettenvergleich … Beinahe hätte er gekichert. Nur Oma Biggi hatte Zigaretten noch mehr verabscheut als er. Ihr Mann war an Lungenkrebs gestorben, da war Paul noch keine acht gewesen.
»Warum redest du nicht mit Beate? Über … die beschissenen Beleidigungen. Ich kann kaum glauben, dass sie sie nicht mitbekommt.«
»Vielleicht will sie’s nich’ hör’n.«
»Es ist unmöglich, sie zu überhören.«
»Sie mach’n’s g’schickt.«
»So geschickt nun auch wieder nicht. Komm schon, Paul. Ich bin sicher, sie würde das nicht zulassen, wenn du mit ihr darüber reden würdest und sie wüsste, wie sehr dir das zu schaffen macht, harmonieliebend oder nicht.«
Paul seufzte und versuchte, seine Beine auf dem Sitz in eine bequemere Position zu bekommen, ehe er sie wieder ausstreckte. Mit beiden Händen rieb er über sein Gesicht, aber auch danach hatte er nicht das Gefühl, die Watte in seinem Kopf beseitigt zu haben. Das Gespräch war viel zu anstrengend für seinen momentanen Zustand.
»’s ihr Traum. Schon als klein’s Mädchen. Große Familie. Viele Kinder. ›n nettes Häuschen im Grünen. Hunde. Katzen. ›n beschissener weißer Gartenzaun.« Er rieb sich die Augen. »Wer bin ich, dass ich ihr’s kaputt mach’n will? Walther’s perfekt für sie. Was sie immer wollte. Ham wahrscheinlich echte Gefühle für’nander. Un’ dass du da warst … ›s war ihr perfektes Weihnachtsfest.«
Hack schnaubte und deutete mit dem Daumen über die Schulter, als wäre Walthers Haus noch im Rückspiegel zu sehen. »Wenn das da perfekt war, bin ich lieber unperfekt.«
Wahrscheinlich machte ihn genau das perfekt. Viel perfekter als Martin, der Zeitungen ausfuhr, oder diesen Koch, dessen Namen er schon wieder vergessen hatte, oder all die anderen, die er gefragt hatte.
Paul ließ den Kopf nach vorne kippen, schluckte wieder ein paar Mal und versuchte, besonders deutlich zu sprechen, um die Worte nicht so ineinander zu ziehen. »Bin froh, dass du da warst.«
»Obwohl du damit deine Mutter angelogen hast?«
Irgendwie kam es Paul so vor, als hätte Hack seine Mutter auch angelogen, obwohl ihm gerade nicht mehr einfallen wollte, wieso.
»Sie hat gesagt, ich soll mein’ Freund mitbring’. Hab sie nich’ korrigiert. Weil …« Paul wusste nicht, ob er es erklären konnte. In seinem Kopf hatte alles Sinn ergeben, sonst hätte er sich gar nicht erst auf die Suche nach einer Begleitung zum Essen gemacht. Aber wenn Hack Weihnachten nicht mit seiner Familie verbringen wollte, verstand er es vielleicht nicht.
»Weil es ihr perfektes Weihnachten war, sie deine einzige Verwandte ist und du sie nicht enttäuschen wolltest, schon klar.«
Das traf es tatsächlich sehr genau. »Besser hätt ich’s nich’ ausdrücken könn’.«
Das Brummen wurde wieder lauter. Wilmas und Bernhards Autos machten bestimmt nicht so viel Krach. Paul versuchte angestrengt, die Augen nicht zu schließen, scheiterte jedoch kläglich. Er hatte das Gefühl, als würden sie sich über kleinere Strecken beamen. Jedes Mal, wenn er die Augen aufriss, waren sie plötzlich ganz woanders.
Sex. Denk an Sex. Mit Hack. Gleich. Bleib wach. Bleib. Wach.
Doch die Bilder, die durch seinen Kopf tanzten, bewirkten nur, dass er sich tiefer in den Beifahrersitz sinken ließ. Träge Erregung sirrte durch seinen alkoholisierten Blutkreislauf und machte seine Gedanken, gewürzt mit einem Schuss Realität, erfreulich lebendig.
Ihr Quickie auf dem Straßenfest war nicht mehr als das gewesen: ein Quickie. Trotzdem erinnerte sich Paul mit einer Klarheit an jede Minute, bei der er Hacks raue Hände beinahe wieder auf sich spüren konnte. Die Wand der Küche des Vierecks an seiner Wange. Draußen das Gelächter und Geschnatter der Besucher des Straßenfests. Sein rasender Herzschlag, weil er damit gerechnet hatte, dass jeden Moment die Tür geöffnet werden würde. Hacks heißer Atem an seinem Nacken. Sein Schwanz in seinem Hintern.
Und er war fast sicher, dass er Hacks Hände auf sich spürte, kurz bevor er in etwas Weiches sank, das ihn vom Halbschlaf weiter hinunter in den Tiefschlaf zerrte.
*
Paul wusste, dass er nicht in seinem eigenen Bett lag, noch bevor er die Augen aufschlug. Der Geruch war anders. Und die Geräusche. Eigentlich war alles anders, sogar das Quietschen vom Bett. Hinter seiner Stirn piesackte ihn ein beständiges Pochen und der Geschmack in seinem Mund war seit gestern Abend nicht besser geworden.
Gestern Abend. Moment.
Mit geschlossenen Augen konzentrierte er sich auf die Geräusche. Irgendwo rechts von ihm klapperte etwas. Durch eine der Wände hörte er gedämpft einen Fernseher, der zu laut gestellt war. Dramatische Musik, Stimmen, die einander etwas zubrüllten, Explosionen oder Schüsse. Über ihm bewegten sich Schritte. Es roch nach … Whiskey und auf seltsam beruhigende Art nach Meer und einer frischen Brise.
Hack.
Er öffnete die Augen und blinzelte gegen die Wintersonne an, die nur unzureichend von einem innen angebrachten Rollladen aus dem Zimmer ausgesperrt wurde. Das Bett, in dem er lag, war kein Doppelbett, sondern eins dieser breiteren 1,40 Meter-Einzelbetten. Das Schlafzimmer war selbst dafür kaum groß genug, sodass nur noch ein schmaler Schrank mit zwei Türen zwischen Tür und Fenster Platz fand. Auf einem Haufen daneben türmte sich ein Berg Wäsche auf. Die Wände waren unregelmäßig in einem trostlosen, nichtssagenden Weiß gestrichen. Keine Fotos, keine Bilder, keine Regale. Erstaunlicherweise auch kein Zigarettenrauch.
Hack lag nicht neben ihm oder war sonst irgendwo zu sehen.
Paul fuhr sich über sein Gesicht und setzte sich auf, wobei das Bett erneut leise quietschte. Verdammt. An dieses Quietschen würde er sich bestimmt erinnern, wenn gestern noch was zwischen ihnen gelaufen wäre – ganz zu schweigen davon, dass dann jetzt hoffentlich mehr pochen würde als nur sein verkaterter Schädel. Zur Sicherheit schlug er die Bettdecke zur Seite. Er trug Pants und sein Hemd von gestern.
Er war tatsächlich eingeschlafen. Scheiße.
Abermals fuhr sich Paul übers Gesicht, da sich sein Hirn weiterhin anfühlte, als wäre es in ein Spinnennetz eingewickelt. Wieder klapperte rechts von ihm irgendetwas. Hack rumorte irgendwo herum.
Na toll. Und jetzt?
Es war etwas völlig anderes, wenn er Hack zwar ein wenig verschwitzt, aber größtenteils sauber in seiner Arbeitskleidung gegenüberstand, als wenn er sich ihm zerzaust, verkatert, ungewaschen und in den Klamotten von gestern präsentierte – nachdem sie keinen Sex gehabt hatten.
Wobei ihm nach gestern eigentlich nicht mehr viel peinlich sein konnte. Und immerhin hatte Hack ihn hergebracht, anstatt Paul zu sich nach Hause zu fahren, also …
Paul schwang die Beine aus dem Bett und stand auf. Mit zwei Schritten war er an der Tür. Auch wenn die Wohnung offensichtlich Miniaturmaße hatte, ein Badezimmer gab es bestimmt.
Er öffnete die Tür und stand übergangslos in einem kleinen Wohnzimmer mit Kochnische und winzigem Balkon, auf dem mit Mühe und Not Platz für drei Leute war. Die Balkontür war gekippt, dennoch schlug ihm der Geruch nach Whiskey, Apfelsaft und Zimt mit voller Wucht entgegen. Sein Magen war noch nicht ganz sicher, wie er diese Mischung fand, aber seine Nase bemerkte sofort, dass auch hier der Zigarettenqualm fehlte. Wenn Hack in seiner Wohnung rauchte, dann nur auf dem Balkon.
Hack stand in Jogginghose und Kapuzenpullover an der Küchenzeile, die aus einem winzigen Kühlschrank, einem Herd mit zwei Kochplatten und einem kleinen Backofen darunter, einem Unterschrank mit Schublade, einem schmalen Waschbecken und zwei Oberschränken bestand. Über dem Unterschrank mit Schublade war die einzige Arbeitsfläche zur Hälfte von einem Toaster ausgefüllt. Hack rührte in einem großen Topf, sah jedoch auf, als Paul die Schlafzimmertür öffnete.
»Morgen.«
»Morgen.«
Scheiße, das war schlimmer, als nach einer durchzechten Nacht in der Wohnung irgendeines Vollpfostens aufzuwachen, mit dem man versehentlich Sex gehabt hatte. Nur dass es eher Frohe Weihnachten heißen müsste. Wenigstens waren Hacks Haare feucht. Das hieß, dass es irgendwo eine Dusche geben musste.
»Ähm, Bad?«
Eigentlich war die Frage überflüssig. Außer der Tür, in der er immer noch wie ein kleiner Junge am Rand eines Fünf-Meter-Bretts stand, von dem er sich nicht zu springen traute, gab es nur noch zwei weitere Türen. Eine war anhand des Schlüssels, der im Schloss steckte, und dem vorgeschobenen Riegel zweifelsfrei als Wohnungstür zu identifizieren.
Wie erwartet, nickte Hack zur zweiten Tür am anderen Ende des Wohnzimmers. Der Blick seiner dunklen Augen lag undurchdringlich auf ihm.
Paul setzte an, das Zimmer zu durchqueren, und warf dabei einen Blick aus dem Balkonfenster. Wow. Das war ziemlich hoch. Obwohl der Ausblick zu wünschen übrig ließ. Einige Meter weiter erhob sich ein hässlicher Wohnklotz mit mehreren Etagen, schräg daneben ein zweiter. Die Anzahl der Balkone und Fenster ließ darauf schließen, dass sich dort drin sehr viele Wohnungen auf sehr wenig Raum zwängten. Vermutlich sah das Gebäude, in dem sich Hacks Wohnung befand, nicht viel anders aus.
»Zwölfter Stock«, sagte Hack von der Küchenzeile aus.
Paul drehte den Kopf in seine Richtung. »Wo sind wir?«
»Hadern.«
Okay, das beantwortete die Frage, wie er nach Hause kommen würde. Irgendein öffentliches Verkehrsmittel sollte drin sein, vielleicht sogar eine U-Bahn.
Paul ging einen Schritt auf ihn zu. »Und was machst du da?« Die Hoffnung auf Frühstück hatte er aufgegeben. Dazu sah das in dem Topf zu flüssig aus und roch zu alkoholisch.
»Whiskeypunsch.«
Offensichtlich hatte Hack seine Pläne für Weihnachten nicht aufgegeben, sondern nur um einen Tag verschoben.
Paul schlüpfte ins innenliegende Badezimmer, das nicht viel größer als eine Schuhschachtel war und in dem obendrein noch Wasserschwaden von Hacks Runde unter der Dusche hingen. Ein stotternder Lüfter kämpfte vergeblich gegen den Dunst an. Überrascht bemerkte Paul die eingepackte Zahnbürste und das saubere, zusammengelegte Handtuch auf dem Klodeckel. Er hatte schon bei Männern übernachtet, die weniger zuvorkommend gewesen waren.
Ist ja wie Weihnachten. Ho, ho, ho.
Paul stieg in die winzige Duschkabine und stibitzte etwas von Hacks Duschgel und Shampoo, die zwar beide frisch rochen, aber nicht diesen Meergeruch verströmten, den Paul wahrgenommen hatte. Danach putzte er sich bestimmt zehn Minuten lang die Zähne, bis er das Gefühl hatte, den Alkohol und alle faden Beigeschmäcker von gestern losgeworden zu sein.
Widerwillig stieg er wieder in seine Pants und zog sich das zerknitterte Hemd über, das er allerdings nur nachlässig in der Mitte zuknöpfte. Er musste Hack fragen, wo seine restlichen Sachen waren. Und sein verdammtes Handy. Wie spät war es überhaupt?
Als er das Bad verließ, saß Hack auf einem verblichenen, blauen Zweiersofa vor einem kleinen Flachbildfernseher. In den Händen hielt er einen großen, knallroten Becher mit der Aufschrift I love SF, wobei das love durch ein weißes Herz ersetzt war. Im Fernsehen lief ein Schwarzweiß-Film. Heinz Rühmann in einer Herrenrunde über einem Kessel Feuerzangenbowle.
Nach einem kurzen Blick durchs Zimmer stellte Paul fest, dass das – abgesehen vom Whiskeypunsch – das einzig Weihnachtliche in Hacks Wohnung war. Das Wohnzimmer war genauso spartanisch und ohne Fotos eingerichtet wie das Schlafzimmer und ohne jeglichen Weihnachtsschnickschnack. Nicht mal irgendwo eine Kerze. In Pauls Wohnung stand wenigstens ein Adventskranz, auch wenn er den im Supermarkt gekauft hatte.
Paul trat ans Sofa heran, setzte sich jedoch nicht. »Ist es nicht ein wenig früh für Alkohol?«
Hack zuckte die Schultern und nickte zur Küchenzeile. »Bedien dich, wenn du auch willst.«
Eigentlich stand ihm eher der Sinn nach Rühreiern oder vielleicht einer Scheibe Toast. In seinem Kühlschrank müsste noch was zum Frühstücken sein. Aber dazu müsste er gehen und das wollte er nicht, wenn Hack ihn schon mit nach Hause genommen hatte.
Und erst musste er sowieso noch was anderes erledigen.
Er holte tief Luft. »Danke, dass du gestern mitgekommen bist. Ich weiß nicht, ob ich das schon gesagt hab.« Vermutlich hatte er gestern im betrunkenen Zustand eine ganze Menge gesagt, das er besser für sich behalten hätte.
Hack brummte. Dann lehnte er sich vor, stellte seine Tasse auf dem Couchtisch ab und griff nach einem von zwei Handys, das Pauls verdammt ähnlich sah, um es ihm zu reichen. Verdutzt nahm er es entgegen und drückte automatisch den Home-Button. Viertel vor elf. Ein verpasster Anruf, sechs Whatsapp-Nachrichten.
»Ich bin gestern dran gegangen, als deine Mutter angerufen hat, weil du ihr keine Nachricht geschrieben hast.«
Scheiße. Das hatte er ganz vergessen. »Oh. Danke.« Er drehte das Handy zwischen den Fingern, wobei ihm ein vager Gedanke kam. »Hast du meiner Mutter gestern versprochen, dass wir uns noch mal zu dritt bei ihr in der Wohnung treffen können?«
»Ja.«
»Scheiße. Warum?«
»Weil man das so macht, wenn die Mutter seines Dates einen einlädt.«
»Aber jetzt muss ich ihr erklären, warum du keine Zeit hast oder warum wir uns … keine Ahnung. Getrennt haben.«
Er wollte das Handy in seine Hosentasche stecken, bis ihm aufging, dass er keine Hose anhatte, also legte er es auf den Couchtisch zurück. Als er sich wieder aufrichtete, hing Hacks Blick irgendwo auf Höhe seiner Hüfte und tastete seine Pants und das, was sich darunter befand, ab.
Hitze sammelte sich in seinem Unterleib. Das hast du davon, wenn du dich so sehr betrinkst, dass du zu müde für Sex bist.
Mit unerträglicher Langsamkeit wanderte Hacks Blick über seinen Oberkörper wieder höher, bis er Paul ins Gesicht sah. In seinen Augen flackerte ein Hunger auf, der nichts mit der Leere in Pauls Magen zu tun hatte.
Sekundenlang fühlte sich Paul wie das sprichwörtliche Reh im Scheinwerferlicht. Nur dass er nicht darauf wartete, von einem Auto erfasst, sondern von Hack überrollt zu werden.
Komm schon. Komm schon. Bitte.
Hack wandte den Blick ab. »Es wird mich nicht umbringen, einen Abend mit deiner Mutter zu verbringen.«
Paul blinzelte. Er hatte den Faden verloren. Was? Wo war die Sex-Einladung hin? Langsam glaubte er, Hack wollte wirklich keinen Sex mit ihm. Nur dass er ganz genau sehen konnte, dass das nicht stimmte.
»Solange der verdammte Rest nicht dabei ist.«
»Eigentlich lüge ich meine Mutter nicht an.«
Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Hack ihn wieder an.
»Okay, normalerweise lüge ich meine Mutter nicht an. Das gestern war eine Ausnahme. Weil Weihnachten ist.«
Hack brummte. »Ich mein ja nur.«
Ein komisches Angebot. Selbst wenn sie gegenüber Beate noch mal als Paar auftraten, würde es das nicht besser oder schlimmer machen, als wenn sie es gleich bleiben lassen würden. Oder hatte Hack das als eine Art Langzeitangebot gemeint? »Ich … ich denk mal drüber nach.«
Noch ein Brummen. Nein, ein Knurren. Sein Magen. Verdammt.
Hack stand auf. »Ich habe Toast da. Ist bestimmt nicht so perfekt wie das, was Walther heute Beate zum Frühstück macht oder Wilma und Bernhard, aber es macht satt.«
»Toast ist okay.« Irritiert fuhr sich Paul durch die feuchten Haare. »Oder auch nicht. Vielleicht geh ich einfach und ess zu Hause.«
Hack stand schon an der Küchenzeile und steckte zwei Scheiben Weißbrot in den Toaster. »Du kannst auch bleiben. Auf einen unperfekten ersten Weihnachtstag mit Toast, Whiskeypunsch und der Feuerzangenbowle. Sozusagen Kontrastprogramm zu gestern.«
Paul blinzelte ihn an. »Du willst, dass ich bleibe? Den ganzen Tag?«
»Ich hab gesagt, du kannst bleiben. Wenn du willst.«
Vor seinem inneren Auge tauchte das unerwartet behagliche Bild auf, wie er sich auf diesem winzigen Sofa an Hack kuschelte, der ihn mit seinem Körper wärmte, während der Whiskeypunsch ihm von innen einheizte, und über einen Film lachte, der über siebzig Jahre alt war. Und wenn der Film zu Ende war, würde Hack vielleicht endlich …
Sein Magen zog sich zusammen. Selbst ohne Sex klang das definitiv verlockender als die Aussicht, die Weihnachtsfeiertage allein in seiner Wohnung zu verbringen. Vielleicht dachte Hack das auch.
»Musst du nicht arbeiten?«
»Egon hat über Weihnachten zu. Du?«
Paul schüttelte den Kopf. »Ich hab frei.«
Als die Brotscheiben aus dem Toaster sprangen, wandte sich Hack der Küchenzeile zu. »Dann bleib.«
Das klang nicht wie eine Bitte. Aber es fiel Paul schwer, Nein zu sagen, wenn er so deutlich heraushörte, dass Hack ihn hier behalten wollte. Zumindest glaubte er, das herauszuhören.
Er hätte dich gestern auch betrunken in deiner Wohnung abliefern können. Aber das hat er nicht getan.
Er näherte sich Hack von hinten, während der einen Teller aus einem der Oberschränke zog und die Toastscheiben darauf legte. Noch bevor er Hack berührte, konnte Paul erkennen, dass er bemerkt worden war, denn Hack erstarrte. Dann erschauerte er, als sich Paul auf die Zehenspitzen stellte und einen Kuss in seinen Nacken hauchte. Hmm, wieder diese Meeresbrise. Wo kam die nur her?
»Nur wenn du mir verrätst, wen du verprügelt hast, um verurteilt zu werden.«
Hack grunzte, griff nach dem Teller und drehte sich um. Paul wich nicht zurück, sodass er den Kopf in den Nacken legen musste. In Hacks Augen blitzte es, als er Paul den Teller entgegen schob.
»Dein Toast.«
Automatisch griff Paul nach dem Teller, der das einzige war, was sie voneinander trennte. »Ich glaube nicht, dass du ein rücksichtsloser Schläger bist. Die legen normalerweise nicht Zahnbürste und Handtuch bereit und machen Frühstück.«
»Glaubst du, ich denk mir so was aus, um mich interessanter zu machen?«
»Ich glaube, du hast es mir erzählt, um mir Angst zu machen.«
Hack beugte sich vor, bis Paul schwach den Whiskeypunsch in seinem Atem riechen konnte. »Wenn du Angst hast, solltest du gehen.«
»Ich hab nicht gesagt, dass ich Angst hab.«
Schnaubend richtete sich Hack wieder auf, doch er war nicht schnell genug, bevor Paul das amüsierte Funkeln in seinen Augen gesehen hatte.
»Erzähl mir, was passiert ist. Woher du die hast.«
Paul hob die freie Hand an Hacks Gesicht, ohne ihn zu berühren. Doch als Hack nicht zurückzuckte, zeichnete er mit einem Finger die kratzige Narbe nach. Hack hielt still.
»Eine Flasche.« Der raue Unterton in Hacks Stimme ließ es in Pauls Nacken kribbeln. »Hat geblutet wie Sau.«
»Jemand ist mit einer Flasche auf dich losgegangen?« Paul erschauerte. Er fuhr über das winzige Stück, das die Narbe von Hacks linkem Auge trennte. Höchstens so lang wie ein Daumennagel. »Dann hast du dich verteidigt.«
»Verdammt, Paul.«
Paul erstarrte, weil er im ersten Moment dachte, er hätte ihm wehgetan. Dann erkannte er, dass der Schmerz tiefer lag.
»Der andere hat sich verteidigt. Ich hab angefangen.«
Paul nahm die Hand herunter. Die Puzzleteile, die Hack ihm hinwarf, reichten nicht aus, um ein vollständiges Bild zusammenzusetzen. »Erklär’s mir«, sagte er noch mal. »Weil ich dich nämlich nicht für einen schlechten Kerl halte und es gerne verstehen würde.«
Hacks Augen wurden schmal. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als wollte er ernsthaft darauf antworten, doch in der letzten Sekunde schien er es sich anders zu überlegen. »Gute Kerle werden nicht verurteilt.«
Das klang wieder nach einer abschreckenden Ich verarbeite meine Opfer zu Hackfleisch-Aussage. Bis hierher und nicht weiter. Der Moment der Ehrlichkeit war vorbei.
»Manchmal schon.« Als Hack nur stumm seinen Blick erwiderte, gab Paul seufzend nach. Hack hatte ihm schon mehr verraten, als in den letzten drei Monaten zusammen. »Okay, dann verrat mir, warum du dich Weihnachten allein auf deiner Couch betrinkst.«
»Ich glaube, gestern hast du dich betrunken.«
»Und heute bist du dran. Ist es zwischen dir und deiner Familie so angespannt, dass sie nicht mal an Weihnachten über deine Bewährungsstrafe hinwegsehen können?«
Hacks Kiefer mahlten. »Wenn du mich weiter nervst, will ich doch nicht, dass du bleibst.«
»Aber wenn ich gehe, kannst du mich nicht noch mal vögeln.«
Das Aufflammen der Glut in Hacks Augen war die einzige Warnung, die er erhielt, bevor Hack ihn packte und an sich zog. Der Teller mit dem Toastbrot landete mit einem Klappern und einem ungesunden Knacksen auf dem grauen Linoleum, das die Küchenzeile umgab. Keine Sekunde später trafen Hacks Lippen mit solcher Wucht auf Pauls, dass es wehtat. Ein Kribbeln schoss Pauls Wirbelsäule entlang.
Gott, endlich!
Er öffnete den Mund, um Hacks fordernde Zunge einzulassen, und schmeckte dieselbe Mischung, die auch in der Luft hing: Whiskey, Zimt, Apfelsaft.
Er schlang die Arme um Hacks Nacken, als sich Hacks Hände auf seinen Hintern legten. Im nächsten Augenblick wurde er hochgehoben. Pauls Magen schlug einen erregten Salto, als er sich die Kraft in Hacks starken Armen vorstellte, die ihn genauso leicht heben wie gegen eine Wand oder in eine Matratze drücken konnten. Paul wickelte die nackten Beine um Hacks Taille und wühlte seine Hände in die dichten, dunklen Haare. So fest, bis Hack zischte und in Pauls Lippe biss. Paul stöhnte auf, spannte seine Beine an und drängte sich stärker gegen Hacks Unterleib und die harte Erektion, die er an seinem Hintern spürte.
Er nahm gar nicht wahr, wie sie sich durch das Zimmer bewegten, da er sich ohnehin fühlte, als würde er am Rand einer Klippe taumeln. Erst als sein Rücken gegen einen Türrahmen prallte, öffnete er stöhnend die Augen und löste sich von Hacks Mund. Hack hatte ihn durch das Wohnzimmer getragen. Jetzt stützte er ihn kurz ab, um ihn neu zu packen und auf seiner Hüfte höher zu schieben. Paul ächzte, als sein harter Schwanz über Hacks rieb, der in der Jogginghose genug Platz hatte, um sich steil vorzurecken.
Als Hack mit Zähnen und Lippen seinen Hals attackierte, zog Paul seinen Kopf an den Haaren nach hinten, bis er in die dunklen Augen hinuntersehen konnte, die vor Lust glühten.
»Fick mich, Hack.«
Hack knurrte. Die Lust in seinen Augen explodierte, kurz bevor er ihn herumwirbelte und in das winzige Schlafzimmer torkelte. Das Bett quietschte protestierend, als sie beide darauf zusammenbrachen. Flüchtig kam Paul in den Sinn, dass Hacks Nachbarn eine ziemlich genaue Vorstellung davon bekommen würden, wie Hack den ersten Weihnachtsfeiertag verbrachte, und der Gedanke ließ seinen Schwanz vor Begeisterung zucken. Dann drückte ihn Hacks Gewicht in die Matratze und nahm ihm fast den Atem.
Er zerrte an Hacks viel zu dickem Kapuzenpullover, während Hack ihm die Pants vom Leib riss. Buchstäblich. Hoffentlich hatte er mit Pauls Hose gestern nicht auch kurzen Prozess gemacht.
Paul hatte kaum Gelegenheit, die breite, muskulöse Brust zu erforschen, obwohl sich seine Finger nach Hautkontakt sehnten. Beim ersten Mal war alles so schnell gegangen und auch dieses Mal schien keine Zeit für lange Erkundungstouren zu sein. Das Blut rauschte in seinen Ohren und pochte in seinem Schwanz und er schien keinen klaren Gedanken mehr fassen zu können außer jetzt.
Jetzt, jetzt, jetzt.
»Dreh dich um.« Hacks raue Stimme war wie ein Kratzen auf seiner Haut.
Das Bett quietschte langgezogen, als Paul gehorchte und sich auf den Bauch rollte. Er ließ sich von Hack auf die Knie hochziehen, während eine starke Hand in seinem Nacken seinen Kopf nach unten drückte. Als sich Hacks steifer Schwanz durch die Jogginghose an seinem Hintern rieb, stieß Paul ein Wimmern aus und krallte die Finger ins Laken. Wenn nicht bald jemand seinen Schwanz anfasste, würde er durchdrehen.
»Hack …«
Da Hack keinen Nachtschrank hatte, musste er das Gleitgel und das Kondom woanders her haben. Vielleicht aus einem Geheimvorrat unter dem Bett. Paul war es egal, als sich ein feuchter Finger in seine Öffnung schob und kurz darauf ein zweiter. Er kam ihnen entgegen und wiegte sich im Rhythmus ihrer Stöße, die so gut, aber viel zu wenig waren. Als Hack seine Prostata reizte, ruckte sein Kopf gegen den Druck von Hacks Hand in seinem Nacken an und eine Hand schoss zwischen seine Beine, um seinen Schwanz zu drücken. Über sein Stöhnen hätte er beinahe nicht gehört, wie die Kondomverpackung aufriss.
Als Hack in ihn eindrang, nahm er seine Hand aus Pauls Nacken, um seine Hüften mit beiden Händen zu packen. Dennoch schaffte es Paul nicht, sich weiter aufzurichten. Hack hämmerte mit einer Kraft in ihn, die ihn auf der Matratze Stück für Stück weiter nach oben trieb. Das zornige Quietschen des Betts untermalte jede Bewegung und vermischte sich mit Pauls und Hacks Stöhnen.
Irgendwann hatte Pauls Hand um seinen Schwanz angefangen, sich zu bewegen. Er versuchte, sich Hacks Stößen anzupassen, doch dazu war er schon viel zu fahrig. Hitze sammelte sich in seinem Unterleib und schien ihn von innen heraus zu verbrennen. Er würde nicht mehr lange durchhalten können. Gleichzeitig fühlte sich Hacks Keuchen, das über seinen verschwitzten Rücken strich, zu erregend an, um es allzu bald aufzugeben. Und sein Schwanz …
»Oh Gott …!« Allein der Gedanke brachte ihn bis an den Rand. Die Vorstellung, wie Hacks Schwanz, immer und immer wieder in ihm verschwand und ein Feuerwerk in ihm auslöste. »Kann nicht mehr …«
Mit einer Hand strich Hack über Pauls Rücken nach oben zu seiner Schulter. Er packte zu und riss Paul nach oben. Der plötzlich veränderte Winkel und die Welt, die sich in seinen Augenwinkeln drehte, ließ Paul aufschreien. Mit beiden Händen stützte er sich an der Wand über dem Bett ab, während sein Schwanz von Hack in das Kopfkissen getrieben wurde.
Seufzend wollte Paul mit einer Hand nach hinten zu Hack greifen, vielleicht in seinen Nacken, doch in seinem Kopf drehte sich alles und bevor er das Gleichgewicht verlor, legte er die Hand lieber zurück an die Wand. Stattdessen stöhnte er, während sein Schwanz pulsierte und das Kissen einsaute: »Mehr, Hack, mehr. Nicht aufhören.«
Und Hack gab ihm mehr. Er ließ Pauls Hüfte los und legte eine Hand mit festem Griff um Pauls Schwanz, um ihn im Rhythmus seiner erbarmungslosen Stöße und dem quietschenden Bett zu pumpen.
»Ja … ja …« Ein Blitz zuckte Pauls Wirbelsäule hoch, eine Sekunde bevor er Hacks heiße Lippen auf seiner Schulter spürte und ihm sein dunkles, atemloses Stöhnen eine Gänsehaut bescherte.
Als es vorbei war, kribbelte Pauls ganzer Körper und sein Hintern pochte. Sein Kopf fühlte sich herrlich leer an, als wäre ein Druck daraus befreit worden, von dem er gar nicht gewusst hatte, dass er in seinem Schädel gesteckt hatte. Tatsächlich waren seine Kopfschmerzen verschwunden.
Hacks schweres Gewicht drückte ihn gegen das Kopfteil des Bettes und hielt ihn aufrecht. Wenn er die Augen schloss, konnte er sich einbilden, dass er Hacks Herz an seinem Rücken hämmern spürte, in einer Linie zu seinem.
»Dein Bett ist furchtbar.«
Hack lachte leise an seiner Schulter. Sein Atem kitzelte Pauls verschwitzten Hals. »Erzähl mir was Neues.« Er platzierte einen Kuss in Pauls Nacken, bevor er sich aus ihm zurückzog.
Kühle Luft strich über seinen Rücken und ließ ihn frösteln. Eigentlich war er viel zu ausgelaugt, um sich zu bewegen, doch die Feuchtigkeit an seinem Schritt fühlte sich eklig an. Unter Quietschen rutschte er von dem eingesauten Kissen weg. Erst jetzt fiel ihm auf, das Hack nur eins hatte. In der Nacht hatte Paul darauf geschlafen. Und Hack?
Nachdem sich Hack um das Kondom gekümmert hatte, reichte Paul ihm das Kissen, das Hack mit einem Brummen entgegennahm, kurz musterte und dann in die vage Richtung seines Wäschebergs warf. Anschließend zog er Jogginghose und Pants wieder hoch, die er in der Eile nur bis knapp über den Hintern heruntergezogen hatte. Auf den Pullover verzichtete er, was Paul einen herrlichen Ausblick auf seine muskulöse Brust bot.
Er ertappte sich dabei, wie er die Haut nach weiteren Narben absuchte. Seit er Hack kannte, hatte er noch nie einen so ungehinderten Blick auf ihn gehabt. Er konnte jedoch nichts so Auffälliges wie die Narbe im Gesicht entdecken. Sicher, hier und da eine kleinere Macke, aber wer hatte die nicht?
»Du nennst mich immer noch Hack.«
Paul stutzte und hob seinen Blick. Das war ihm gar nicht bewusst gewesen. »Stört es dich?«
»Stört es dich?«
»Wegen der dazugehörigen Schauergeschichte?« Inzwischen musste Hack mitbekommen haben, dass so etwas sein Blut aus ganz anderen Gründen in Wallung brachte. »Nein.«
»Warum nicht?« Hack trat näher und setzte sich unter einem mitleiderregenden Quietschen aufs Bett. Wie er auch nur eine Nacht in diesem Ding schlafen konnte, war Paul ein Rätsel.
Paul zuckte die Schultern. »Ich hab schon immer zu der Sorte Mensch gehört, die sich erst selbst an der heißen Herdplatte die Finger verbrennen muss, bevor sie sie nicht mehr anfasst.«
»Das ist keine Antwort. Und ich bin keine verdammte Herdplatte.«
Er war auf jeden Fall nicht Pauls erste Herdplatte. Was Paul offensichtlich zu einem unbelehrbaren Trottel machte.
»Du gibst mir auch keine Antworten. Was okay ist«, fügte er hinzu, als Hack protestieren wollte. »Du musst mir nichts erzählen, wenn du nicht willst. Ich halte dich trotzdem für einen guten Kerl.«
»Scheiße.« Hack raufte sich die Haare. »Wann geht es in deinen Schädel rein, dass ich das nicht bin?«
Paul rutschte näher an ihn heran. Nach kurzem Zögern schwang er ein Bein über Hacks, während er das andere hinter ihm ausstreckte und ihn wie in einer Schere zwischen seinen Beinen einklemmte.
»In meinen Schädel geht sowieso nichts rein. In meinen Arsch allerdings …« Er verkniff sich den Rest, als Hack ihn erneut mit diesem Blick bedachte, der ihn wortlos zu rügen schien. Obwohl er sich darunter ein klein wenig lächerlich fühlte, weckte er in ihm den Wunsch, noch viel mehr Lächerlichkeiten von sich zu geben.
Für den Moment beschloss er, es nicht weiterzutreiben. »Wenn dich Hack an unangenehme Dinge erinnert, nenn ich dich nicht mehr so.«
»Du kannst mich nennen, wie du willst.«
Die Absolutheit, mit der er das sagte, und der Hauch Zärtlichkeit, der in seiner Stimme mitschwang, machten Paul sprachlos. Es fühlte sich an, als wäre sein Herz einige Etagen höher gewandert und würde jetzt direkt in seiner Kehle schlagen. Unmöglich, da ein Wort dran vorbeizupressen.
Stattdessen schob er sich um Hack herum, bis er rittlings auf seinem Schoß saß. Wie magnetisch wurden Hacks Hände von seinen Hüften angezogen. Der Blick seiner Augen lag fest auf seinen. Wenn Paul nicht bald einen Ton sagte, würde er darunter verbrennen.
Er zwang sich, an dem Hämmern in seinem Hals vorbeizusprechen. »Gefährliches Angebot. Was, wenn ich dich Hackbällchen nennen will?«
Wieder dieser Blick. Willst du mich verarschen?
»Gibt’s zu dem Whiskeypunsch noch mal ein paar Scheiben Toast?«
»Heißt das, du bleibst hier?«
»Wenn das Angebot noch steht?«
In Hacks Augen nistete sich ein durchtriebenes Funkeln ein. Er zog Pauls Hintern dichter an seinen Schritt heran, bis Paul überrascht die leichte Härte in der Jogginghose spürte. Nicht so hart, dass sie gleich wieder loslegen könnten, aber hart genug, um Pauls Interesse zu wecken.
»Das Angebot, Hack«, grinste er.
»Das steht auch noch.«
»Dann bleib ich. Und …« Sein Herz setzte einen Schlag aus. »Was machst du eigentlich Silvester?«
Texte: Nora Wolff
Bildmaterialien: picjumbo.com
Tag der Veröffentlichung: 05.05.2016
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