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Leseprobe

Das Wochenende verflog in den Neunkirchner Stuben. Ein Länderspiel der deutschen Nationalmannschaft lockte fast jeden Mann im Dorf in Andreas’ Kneipe, um in guter Gesellschaft die Fußballer anzufeuern. Gefolgt von einer Versammlung des Tierschutzvereins, den Hubert und Matthias ins Leben gerufen hatten, daher musste Laura auch am Sonntag Getränke servieren.

Doch nun war Montag. Eigentlich ein Tag, an dem jeder arbeitete, allerdings Ruhetag in Andreas’ Kneipe.

Nachdem sie ihr Gepäck schon lange ausgepackt hatte, fehlte ihr eine Beschäftigung. Sie hatte aus München ihren Reiserucksack, einen kleinen Koffer mit Kleidung und ihre Videoausrüstung mitgebracht. Alles andere Wertvolle hatte Laura längst verkauft, um die letzte Miete und das Zugticket nach Neunkirchen zu begleichen. Den Rest, zwei Schränke sowie Bett, waren in einem Lagerraum eingemottet, den sie für drei Monate im Voraus bezahlt hatte.

Mittlerweile war bereits die erste Woche in Neunkirchen vorbei und sie hatte noch immer keine Idee, wie sie aus ihrer Notlage herauskommen sollte. Außer warten. Warten, dass ihre Bewerbungen positiv ausfielen.

Sie könnte sich bei der Seelsorgehotline anmelden und sich die nächsten drei Stunden in Bereitschaft schalten lassen. Zwar rettete sie dieser Minijob vor der endgültigen Pleite, aber Überstunden wurden nicht bezahlt. Wenn sie ihr Wochenpensum überschritt, bekam sie höchstens ein Dankeschön von den Anrufern.

Andererseits hatte sie seit einer Ewigkeit ihren Blog nicht mehr betreut. Parallel zum Studium hatte sie sich damit regelmäßig den Kopf frei geschrieben – als Psychologin hatte sie irgendwann begonnen, an jeder Ecke Symptome, Auffälligkeiten und Trigger zu sehen. Erstaunlicherweise häuften sich mit der Zeit die Fragen in ihrem Postfach von jungen Männern und Frauen, die Ratschläge für ihre Beziehung und ihr Sexleben wollten. Seit ihrem dritten Studienjahr stellte sie die Fragen anonym vor, antwortete so gut es ging und kategorisierte diese nach Themengebieten.

In mühseliger Kleinstarbeit hatte sie sich das FAQ einer Sexualtherapeutin aufgebaut, ihre Hits sprachen für sich. Doch so sehr sie ihren Blog schätzte, er kostete Zeit und brachte kein Geld ein. Zumindest solange sie sich nicht dazu durchringen konnte, ihn durch Werbeanzeigen für Kondome, Toys und Dessous zu finanzieren.

Ihre Leser zauberten ihr allerdings ein Lächeln auf die Lippen, kaum dass sie im Schneidersitz auf ihrem Bett hockte und der Laptop hochgefahren war. Neben den üblichen Fragen waren zahlreiche E-Mails und Kommentare eingegangen, warum sie so lange nichts online gestellt hatte.

Auch ihre Studienkollegin und beste Freundin hatte ihr eine E-Mail geschickt:

 

Süße, melde dich, wenn du dich in der Pampa eingewöhnt hast. Hamburg ist übrigens immer noch eine tolle Stadt, ich höre mich gern mal nach Stellen um. Wenn du also bei mir wohnen möchtest, schmeiß ich meinen nervenden, ständig alles liegenlassenden Mitbewohner sofort raus! Drück dich, Zeina.

 

Zwar schmunzelte Laura über den Vorschlag, aber Zeinas Mitbewohner, der gleichzeitig ihr fester Lebenspartner war, würde nicht so schnell das Feld räumen.

Von der Schönheit Hamburgs hatte Laura sich selbst überzeugen können, als sie Zeina besuchte. Jedoch konnte sie sich nicht vorstellen, länger als einen Urlaub in Norddeutschland zu verbringen. Laura würde es nie offen zugeben, dass sie sich am besten in den Bergen erholte. Eine Woche Skiurlaub entspannte sie mehr als jeder Strand.

Nachdem sie die E-Mails beantwortet, den Blog aufgeräumt und die kommenden Beiträge fertiggestellt waren, schlug die Kirchturmuhr gerade Mittag. Kurzentschlossen kramte Laura ihre Laufsachen hervor. Sie würde die Chance nutzen, dass sie sich frei im Dorf bewegen konnte. Solange sie Treffpunkte wie den Supermarkt mied, um in kein Gespräch verwickelt zu werden.

Laura schlich so leise wie möglich durch den Flur an den leeren Gästezimmern vorbei. Nicht, dass Andreas ihr plötzlich eine Aufgabe erteilte, sie wollte ihm einfach aus dem Weg gehen. Er würde sie nur wieder fragen, wie es mit der Suche nach einem freien Praxisplatz verlief. Außerdem versuchte sie, Stress abzubauen, anstatt neuen zu riskieren.

»Viel Spaß«, erklang jedoch Andreas‘ vertraute Stimme hinter ihr, bevor sie den Hinterausgang erreichte. »Grüß Max von mir.«

Wie machte er das nur? Weder Laura noch die Gäste konnten sich davonschleichen. Nur seine Ehefrau war ihm entkommen, obwohl diese immer behauptet hatte, dass er insgeheim Kameras und Bewegungsmelder installiert haben musste.

»Ich treffe nicht Max«, stellte Laura klar und tat so, als vollführte sie Dehnübungen. »Ich brauche nur etwas frische Luft.«

»Trotzdem viel Spaß«, sagte er mit einer Selbstsicherheit, als wüsste er genau, welche Strecke sie nehmen wollte.

Ohne ein weiteres Wort oder ein Winken drehte Laura sich um und trat hinaus in den kühlen Februartag. Der Nachtfrost hatte die Sträucher und Rasenflächen mit einer glänzenden Kristallschicht überzogen. Am Himmel war keine Wolke zu sehen, so glitzerte und blinkte es überall in der Mittagssonne. Normalerweise hörte sie Musik beim Laufen, um den Alltagstrubel auszublenden. In Neunkirchen brauchte sie dies nicht, hier herrschte eine tiefe Stille, als wäre sie der einzige Mensch weit und breit. Und das, obwohl sie in Richtung Hauptstraße abbog.

Bevor sie beim Zentrum mit einer Handvoll Geschäfte ankam, bog sie zur Gesamtschule ab. Sie lief einfach auf der Straße, wenn überhaupt fuhr nur der Bus, der die umliegenden Dörfer miteinander verband. Doch Laura kam nicht umhin, nun die kleinen Veränderungen zu bemerken. Die Schlaglochwüste von früher hatte sich in glatten Asphalt verwandelt. Die Häuser, die sie als fad und eintönig in Erinnerung hatte, waren bunt gestrichen und die vielen leeren Blumenkästen warteten nur auf den Frühling. Sie joggte das Motiv einer Postkarte entlang, traditionelle Holzverzierungen trafen auf schmiedeeiserne Tore und gepflegte Auffahrten.

Während der letzten Jahre hatte sie keinen Grund gesehen, nach Neunkirchen zurückzukehren und viel lieber ihre Eltern nach München eingeladen. Glaubte sie als Teenager, aus einem unerträglichen Käfig entkommen zu sein, so wirkte das Dorf mittlerweile gemütlich. Nicht zu vergleichen mit München, aber wer auf Ruhe und Idylle stand, würde hier sicherlich glücklich werden.

Ihre alte Schule würdigte Laura keines Blickes. Sie bog am Ende der Straße in einen Feldweg, der sich hinter den Häusern und Gärten vorbei schlängelte. Auf keinen Fall wollte sie durch Zufall einem ihrer früheren Lehrer begegnen. Sie würden ihr nicht glauben, dass sie einen guten Abschluss in der Tasche hatte und trotzdem nichts im Leben erreichte. Sondern sie nur mitleidig ansehen und vermutlich München verteufeln.

Schneller als gedacht legte sie den Pfad zwischen den brachliegenden Feldern zurück und begann bereits die nächste Etappe, die sie durch ein Wäldchen am Ortsrand führte. Als Kind hatte sie immer gestöhnt, wenn sie mit dem Fahrrad von einem Ende zum anderen fuhr, um eine Freundin zu besuchen. Vielleicht lag es an den nun viel längeren Beinen, aber die Strecke flog geradezu an ihr vorbei.

»Und für sowas müsstest du im Fitnessstudio jede Menge Geld hinlegen«, scherzte sie. In der Mittagssonne schmolz der Frost von den kahlen Ästen und Zweigen, sodass für Laura ein wahres Tropfkonzert aufgeführt wurde. Überall sickerte und rieselte es in den mit Laub bedeckten Waldboden. Sie atmete tief ein und genoss die feuchte, erdige Luft.

Obwohl sie Wolfgang versprochen hatte vorbeizuschauen, lief Laura an den Hecken vorbei. Schon von Weitem hatte sie das mit dunklen Schindeln gedeckte Bauernhaus entdeckt, aber sie hielt den Blick stur nach vorn gerichtet. Schlimm genug, dass ihre Erinnerungen sofort hochkamen. Wie viel Spaß hatten die Scheunenpartys auf Wolfgangs Hof gemacht!

In Gedanken versunken übersah Laura die Wurzel, die aus dem gefrorenen Boden herausragte, verfing sich beim Laufen und stürzte. »Scheiße!«, fluchte sie aus Reflex und rollte sich auf die Seite. Durch die nächtlichen Minusgrade war der Weg härter als Beton und die Spurrillen schärfer als Glas. Lauras Hose wies jetzt einen beachtlichen Riss am Knie auf.

»Hey, alles in Ordnung?«, rief eine Männerstimme und knirschende Schritte kamen schnell näher. Dass die Landbevölkerung niemals wegsehen konnte. Ein Städter hätte sie einfach ignoriert oder mit einem dummen Spruch bedacht.

»Nein, schon gut. Nichts passiert.«

»Du blutest.« Laura sah kurz auf zu dem Fremden, der ihr auf dem Waldweg entgegen gekommen war. Dann tastete sie die Schramme an ihrem Knie ab.

»Ach, verdammt. Warum hat denn niemand diese blöde Stolperfalle abgeschnitten.« Zurzeit misslang ihr wirklich alles. Selbst eine Stunde Joggen entwickelte sich zur kleinen Katastrophe.

»Eigentlich weicht jeder der Wurzel instinktiv aus, die wächst schon seit Jahren in die Höhe.«

»Schön, ich nicht«, meinte sie patziger als beabsichtigt.

»Kannst du aufstehen?« Seine Stimme klang ehrlich besorgt.

Ehe sie reagierte, zog der Fremde sie auf die Füße und umschlang sie mit einem Arm. Eine Hand legte sich auf ihre Hüfte, damit er sie beim Laufen stützte.

Laura biss sich auf die Lippen, bevor sie etwas Falsches sagte. Der Mann war gut einen Kopf größer als sie und schien aus diesem sexy Pin-up-Kalender herausgesprungen zu sein, den die süddeutsche Landwirtschafts-Innung herausgab. Feste Arbeitsschuhe und eine mit Stroh und Staub verdreckte Winterjacke deuteten zumindest darauf, dass er auf einem der Höfe arbeitete. Vom leichten Wind waren seine dunkelbraunen Haare zerzaust und Laura unterdrückte den Drang, hinein zu fassen. Der Dreitagebart verlieh ihm eine attraktive Lässigkeit und das markante Kinn sowie der sehnige Hals ließen auf einen Sportler schließen oder jemanden, der regelmäßig körperliche Arbeit verrichtete.

»Wirklich alles in Ordnung?«, fragte der Fremde und riss sie aus ihren Gedanken.

Der warme Ausdruck der honigbraunen Augen nahm sie buchstäblich gefangen. Sie war nur eine dumme Joggerin, die nicht auf ihre Füße achtete, doch aus seinem Blick sprach eine tiefe Zuneigung. Als kannten sie sich von früher.

»Hey, hast du meine Frage gehört?«

»Was? Ja.«

»Du hast dir nicht den Kopf gestoßen, oder? Du starrst ein wenig abwesend in die Ferne.«

Eigentlich hatte sie den Kerl abgecheckt und in die Kategorie ‚Leckerbissen vom Lande‘ gesteckt. Er musste zugezogen sein, sonst wüsste Laura, wer sich hier als ihr Retter aufschwang. In Neunkirchen kannte jeder jeden. Damals wie heute.

Dennoch schickte sie in Gedanken einen Arschtritt ans Schicksal. Natürlich traf sie einen sexy Fremden, wenn sie verschwitzt und verdreckt war und ihr verletztes Knie blutete. Ihr war es wirklich nicht vergönnt, Männer auf normalem Wege kennenzulernen.

Der Fremde führte sie zurück zu Wolfgangs Hof, was sie zunächst unkommentiert ließ. Im Wald gab es nur eine einzige Bank am Badesee, welcher noch locker zwei Kilometer entfernt war. Wolfgang würde der kleinen Laura sicherlich ein Pflaster auf ihr aufgeschlagenes Knie kleben. Das hatte er schon früher machen müssen.

Tatsächlich wurde sie auf eine Bank verfrachtet, die an der Vorderfront des Bauernhauses stand. Schräg wurde es erst, als der Fremde Laura eine Decke um die Schultern legte.

»Ich weiß nicht, ob Wolfgang das gutheißt, wenn du aus der Scheune die Sachen entwendest«, merkte sie vorsichtig an, als er ihr ein Spray zum Desinfizieren der Wunde und ein viel zu großes Pflaster reichte.

»Ach, das passt schon.«

Da brach er in fröhliches Gelächter aus, was Laura mit einem Stirnrunzeln kommentierte.

Sie brauchte einen Moment, bis sie auf die Lösung kam. »Max?«

»Wer sonst?«

Gequält stützte sie das Gesicht auf den Handflächen auf. Sie hatte Max in Gedanken als Leckerbissen bezeichnet, ausgerechnet Max. Wieso musste er sich in den letzten zehn Jahren komplett verändert haben?

»Hast du mich nicht wiedererkannt?«

Laura schüttelte den Kopf und traute sich nicht, ihm in die Augen zu sehen.

»Dafür wusste ich gleich, wer du bist.«

Ohne zu zögern, zog Max sie in eine freundschaftliche Umarmung. »Ich wollte dich ja in den Stuben besuchen, allerdings war hier einfach zu viel zu tun. Umso schöner, dass du vorbeikommst.«

»Besuch würde ich das jetzt nicht nennen.«

»Dass du bei unserem Wiedersehen vor mir auf die Knie gegangen bist, könnte man leicht falsch verstehen«, scherzte er gelassen.

Lauras Mund verzog sich zu einem Grinsen. In ihrem Kopfkino stieg kurz ein Bild auf, was eine Frau kniend mit einem Mann anstellte …

»Wie geht es dir?«, fragte sie unverbindlich und begann, ihr Knie zu verarzten. Eigentlich wollte sie sich nicht ihrer Vergangenheit stellen, aber Max war schon früher ein lieber, netter Kerl gewesen. Sie würde ihn wegen ihrer eigenen Probleme nicht forsch abweisen.

»Kann nicht klagen, der Hof gehört mittlerweile mir. Doch fühlt es sich weiterhin so an, als wäre ich der Angestellte meines Vaters.« Erneut glitt ihm ein Lachen über seine Lippen und seine Augen leuchteten beinahe vor Fröhlichkeit. Von dem zurückhaltenden, meist schweigsamen Jungen war nicht viel übrig geblieben.

Dazu löste seine gute Laune auch ihre Anspannung. Laura lehnte sich auf der Bank zurück und musterte ihn genauer.

»Ich hätte niemals gedacht, dass du so groß wirst«, gestand sie ehrlich. Max war in ihre Klassenstufe gegangen. Er war eher der ruhige Typ gewesen, welcher sich der Gruppe einfach anschloss. Sie hatte ihn immer einen Kopf kleiner als die anderen Jungen in Erinnerung.

»Wir haben uns alle verändert«, stimmte er mit ein. »Du solltest mal Florian sehen, den würdest du nicht mal wiederkennen, wenn er dir seinen Ausweis zeigt.«

Laura konnte sich nicht daran erinnern, dass sie je so zwanglos miteinander geplaudert hatten. Unbefangenen Smalltalk ohne Herzklopfen und schwitzende Hände meisterte man wohl erst als Erwachsener.

»Und du bist in Neunkirchen geblieben? All die Jahre?«

Max grinste verschmitzt. »Mein Vater erzählte schon, dass du Psychologie studiert hast. Aber dass ich mich gleich bei unserem Wiedersehen auf die Couch setzen werde, um mich von dir analysieren zu lassen, hätt’ ich nicht gedacht.«

»Die Bank ist nicht bequem genug für eine Sitzung«, wich sie aus. Natürlich interessierte sich Max für ihr Studium. Die ersten Fragen drehten sich meist um Job, Beziehung, Wohnort.

»Also möchtest du mich eine ganze Menge fragen?«

Da war Laura sich nicht mehr sicher. Selbst wenn sie nur kurz in Neunkirchen blieb, wollte sie durchaus wissen, wie es Max ergangen war.

»Hast du dir all die Worte in der Schulzeit aufgespart, damit du jetzt dumme Sprüche raushauen kannst?«, ärgerte Laura ihn. »Oder liegt das an der gemeinsamen Zeit mit Matthias?«

»Klar, wir haben getauscht. Ich bekam die Worte und er eine Portion Vernunft.«

Ein paar Meter entfernt fingen plötzlich die Hennen in Wolfgangs Hühnerstall wild an zu gackern. Ein seltsam vertrautes Geräusch, musste sie sich eingestehen, und Laura ließ den Blick schweifen. Hier und da waren ein paar Ausbesserungen vorgenommen worden und der Traktor, der auf dem Innenhof parkte, war definitiv neu.

Laura ahnte bereits, was Max als Nächstes ansprechen würde.

»Warum bist eigentlich damals mitten im Schuljahr abgehauen?«

Menschen waren so durchschaubar. Dank ihres Studiums geradezu gläsern. Manchmal verfluchte sie sich, dass Psychologen jede Geste, jeden Gesichtsausdruck deuteten.

»Es gab einen guten Grund«, wehrte sie ab.

»Das habe ich immer gehofft«, meinte Max jedoch ernst.

»In dem Fall sollte dir vielleicht klar sein, dass ich einen genauso guten Grund habe, warum ich nicht darüber spreche.« Gegen die Gerüchte könnte Laura sich eh nie wehren.

Kaum hatte sie Max diese Abfuhr erteilt, verschwand die losgelöste Stimmung zwischen ihnen. Die Bank in ihrem Rücken fühlte sich nur noch kalt an und auch das Ziehen in ihrem Knie kehrte zurück. Bei den Dorfbewohnern war ihr Ruf hinüber, die Wahrheit würde alles nur verschlimmern. Letzten Endes würde dies auf Andreas und die Stuben zurückfallen.

»Tut mir leid.« Max sah in die Ferne, als wollte er ihr ausweichen. »Von heute auf morgen warst du weg und keiner wusste, warum oder wohin es dich verschlagen hat. Niemand aus unserer Gruppe konnte sich von dir verabschieden.«

Laura ließ die Schultern hängen und lauschte in die Stille des Landlebens hinein. Sie konnte Max nicht anvertrauen, dass sie am liebsten nie nach Neunkirchen zurückgekehrt wäre. Dass sie die flachen Häuser, die zwei Dutzend Straßen und die gleichbleibenden Marotten der Bewohner auf lange Zeit nicht ertragen wollte.

Der Wind frischte auf und rauschte durch die kahlen Äste der Weide auf dem Hof.

»Du musst dich nicht entschuldigen«, lenkte sie ein. »Ist einfach ein blödes Thema.«

Laura legte die Decke halbwegs ordentlich auf die Bank. Da sie nicht gewillt war, Max‘ Fragen zu beantworten, war das Wiedersehen für sie vorzeitig beendet. Außerdem kroch die Kälte ihr in die Knochen, die restliche Joggingrunde ums Dorf würde sie aufwärmen.

Anstatt zurückzubleiben, erhob sich Max ebenfalls und folgte ihr bis zum kleinen Hoftor, das zum Waldweg führte. Die Auffahrt auf der gegenüberliegenden Seite war breit genug für zwei Traktoren. Im Vergleich dazu wirkte das Tor wie eine Hintertür. Wieso fühlte es nur so an, als würde sie wieder davonschleichen?

»Ach, ich dachte immer, du würdest etwas mit Tieren machen oder vielleicht Ärztin werden«, meinte Max unvermittelt und rückte näher heran, um sie vorm Wind abzuschirmen. Es war so ungewohnt, den Kopf zu heben, um ihm in die Augen zu schauen.

»Medizin habe ich versucht, aber am ersten Unitag zeigte ein Prof zur Abschreckung Fotos von Operationen, widerlichen Ekzemen und Krankheitssymptomen. Nachdem ich aus dem Hörsaal gestürmt bin, um mich zu übergeben, schien mir das keine gute Idee mehr.«

»So siebt man erfolgreich Studenten aus.«

Eine weitere Gelegenheit, bei der sie gescheitert war. Psychologie hätte sie auch fast geschmissen, da sie nicht mit so viel Mathematik gerechnet hatte. Sie wollte Menschen helfen, nicht Statistiken über Psychosen führen.

»Und mit Tieren konnte ich nie gut.« Laura trat auf der Stelle, um warm zu bleiben und zog sich die Mütze zurecht. Wie immer quollen ihre roten Locken unter dem Stoff hervor.

»Stimmt. Ich erinnere mich sehr gut an die Ente des Teufels.« Max schenkte ihr ein kleines Lächeln, als hätte er die Abfuhr von gerade eben schon verkraftet.

»Ich schwöre, die war besessen.« Laura verschränkte die Arme.

»Du hast sie nicht gefangen, daher haben wir keinen Beweis«, amüsierte sich Max. »Nach deiner Begegnung mit der Ente der dritten Art ist nie wieder etwas vergleichbar Bösartiges passiert, da hast du dich wohl getäuscht.« Er fasste sich ans Kinn und tat so, als dachte er angestrengt nach.

Das konnte sie nicht auf sich sitzen lassen. »Ihre Augen haben im Dunkeln geleuchtet. Rot.«

»Als Psychologin solltest du die Existenz des Teufels eher verleumden, meinst du nicht?«

»Tja, du täuschst dich. Ein Psychologiestudium schließt den Glauben ans Übersinnliche nicht aus«, konterte Laura, um ihn zurück zu ärgern.

»Wie? Du kannst dich von deinen Gehirngespinsten nicht selbst therapieren?«

Sie seufzte, unbewusst waren sie doch an die Wurzel all ihrer Probleme angelangt. »Ich bin nicht so ein Psychologe.«

»Echt nicht?« Jetzt wirkte er ehrlich überrascht. »Also gehörst du zu den Leuten, die in irgendwelchen Firmen, die Mitarbeiter zu Vertrauensübungen zwingen, sodass die Produktivität steigt? Du solltest nur von rein männlichen Belegschaften gebucht werden, Laura. Wenn du da in einem kurzen schwarzen Kostüm auftauchst, fressen dir die Männer aus der Hand.«

Laura schoss die Röte in die Wangen. Max ließ nichts anbrennen.

Ohne Vorwarnung stellte er sich vor sie und fiel nach hinten. Sofort streckte Laura die Arme aus, damit sie sich gegen seine Schultern stemmte. So wie es in diesen Übungen verlangt wurde. Die Wunde am Knie meldete sich mit einem unangenehmen Ziehen, weiter zu joggen war vielleicht keine so gute Idee.

»Ich hatte für einen Moment befürchtet, dass du mich fallen lässt«, meinte Max leise und richtete sich wieder auf.

Laura ignorierte die Spitze in seiner Antwort. »Reiner Reflex.«

Max rückte noch ein wenig dichter heran. Er flirtete offensichtlich mit ihr, auf eine kindische, leicht überdrehte Art, dennoch lächelte sie.

»Hmmm.« Er zog das Wort länger als nötig. »Also wenn du eingestellt werden willst, musst du das anders anstellen. Ich hätte ernsthaft überlegt, dir ein Angebot zu machen.«

»Ich glaube nicht, dass du das brauchst«, wehrte Laura ab. »Wolfgang erzählt mir bei jeder Gelegenheit, was für ein toller Sohn du bist.«

Doch Max runzelte die Stirn, als wäre dieses Lob etwas Neues für ihn. »Oh, okay, du bist als Firmenpsychologin eingestellt. Ich fühle mich gleich besser und habe endlich die kryptischen Aussagen meines Vaters verstanden.«

Laura ging nicht weiter auf das Angebot ein. Eine Zusage wäre nur das Eingeständnis, dass sie zurzeit arbeitslos war. Eine Absage eine Lüge. Natürlich war es nur ein Scherz gewesen, aber die Geste tröstete sie. Vielleicht würde nicht nur Max ihre Qualitäten erkennen.

»Was willst du denn hier?«, fragte auf einmal eine schrille Frauenstimme.

Sofort verschränkte Laura die Arme und unterdrückte ein Zittern. Der Albtraum von Neunkirchen tauchte aus dem Nichts auf.

»Guten Tag, Desiree«, grüßte Max.

Desiree war die Vorsitzende des Neunkirchner Frauenbunds, der sich um die Einhaltung der Traditionen und die Tourismusförderung kümmerte. Was so viel bedeutete wie: Die Touristen würden aufgrund der vielen, alten Traditionen kommen. Während Desiree zu besonderen Anlässen stets in Trachtenkleidern unterwegs war, trug sie zum Drangsalieren der Dorfbewohner immer Hosenanzüge. Jedoch nicht die taillierten neuen Schnitte, sondern Modelle, die aus den Neunzigern stammten. Gerade und weit geschnitten, als müsste sie jedes bisschen Weiblichkeit verstecken.

Laura wollte so schnell wie möglich verschwinden. Denn wer in Desirees Fänge geriet, kam so schnell nicht mehr frei. Kein Spielraum, keine Chance davonzukommen, dafür jede Menge Vorwürfe, Predigten und Anschuldigungen.

Doch Desiree stellte sich ihr genau in den Weg. Anklagend wies sie mit dem Finger auf sie. »Was hast du hier zu suchen?«

»Sie ist zu Besuch«, warf Max ein.

»Ach, nach zehn Jahren?« Desiree verengte die Augen zu Schlitzen. Ihre blonden Haare hatte sie zu einem strengen Zopf nach hinten gekämmt. »So etwas wie dich brauchen wir nicht.«

Niemand sprach es laut aus, aber wenn Desiree ihren Zorn walten ließ, besaß sie mehr Macht als der Bürgermeister. Einfach, weil sie allen Bewohnern so lange mit ihren Vorschriften und Vorstellungen eines guten Lebensstils auf die Nerven ging, bis die meisten kuschten. Wobei ein paar Frauen Desiree aus Überzeugung folgten.

Laura jedenfalls war Desiree ein Dorn im Auge. Wenn sie es recht bedachte, galt dies für ihre gesamte Familie.

»Ich hatte nicht vor, dir in die Quere zu kommen«, meinte Laura leise. Beinahe wäre sie einen Schritt zurückgewichen, allerdings stand dort Max. »Du wirst gar nicht bemerken, dass ich in Neunkirchen bin.«

Desiree rümpfte die Nase. »Oh und wie ich ein Auge auf dich haben werde. Dein Rumgehure hat den Ruf unseres schönen Dorfs schon einmal fast zerstört.«

Laura schwieg lieber. Die Wahrheit konnte Desiree unter keinen Umständen wissen. Und dass sie mit einem Oberstufenschüler fummelnd beim Dorffest erwischt worden war, konnte Desiree ihr nicht ewig vorwerfen.

»Desiree, ich glaube nicht …«, wollte Max Laura verteidigen, doch die Vorsitzende unterbrach ihn sogleich.

»Wahrscheinlich bist du nur zurückgekommen, um deinen Vater auch noch mit unehelichen Enkelkindern zu bestrafen? Willst du sie hier lassen, während du deine Freude in der Großstadt hast?«

Eine Sache hatte Laura zumindest in München gelernt: Die beste Verteidigung gegen eine Beleidigung war oft ein dummer Spruch.

»Nein«, meinte sie zuckersüß, »du verstehst das falsch. Aram, Yuki und Pablo sind bei ihren Vätern, solange ich mir hier eine Auszeit gönne. Die Drei sind da sehr flexibel. Ich war nach unserem jüdischen Weihnachtsfest einfach total ausgelaugt.« Sie blickte kurz Richtung Max, der sich eine Hand vor dem Mund hielt. Ob er grinste oder schockiert war, konnte sie schlecht einschätzen. »Wir sehen uns und grüß Wolfgang von mir.«

»Na, die Grüße kann er sich sparen«, sprühte Desiree ihr Gift weiter. »Jüdisch! Meine Tochter würde sich so etwas niemals erlauben.«

Ohne groß auf den Weg zu achten, rannte Laura los, schaffte es sogar, nicht über diese verdammte Wurzel zu stolpern. Wie von selbst fand sie den Weg zum kleinen Waldsee, der früher bereits ihr Rückzugsort gewesen war. Abseits des Badestreifens gab es eine nicht einsehbare Stelle und dort ließ Laura sich auf den kalten Boden fallen.

Ja, sie war in vielerlei Hinsicht gescheitert und vermutlich nicht die beste Tochter. Wobei ihre Eltern genauso fehlerbelastet waren wie sie. Der Zusammenprall mit Desiree gab ihr trotzdem zu denken. Sie gehörte nicht nach Neunkirchen, so viel stand fest. Aber in der Stadt bekam sie keine Existenz aufgebaut. Nur mit den Arbeitsstunden bei der Seelsorge-Hotline würde sie sich nie eine eigene Praxis leisten können.

Was sollte sie nur verändern, damit endlich mal etwas klappte?

 

 

 

 

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ISBN: 978-3943496931

 

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Tag der Veröffentlichung: 04.04.2016

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