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1.

"Oh Gott, wo bin ich denn hier gelandet?", war das erste, was mir durch den Kopf schoss, als ich mitten in der Nacht das Flugzeug verließ. Man konnte keinen Mond sehen, es war diesig und kalt. ich stand auf einer etwa parkplatzgroßen, asphaltierten Fläche, die sich wohl Flugplatz nannte. Ein paar Meter weiter war ein Gebäude, ebenfalls winzig für ein Flughafengebäude.

Das Gepäckband drinnen war, kaum anders zu erwarten, auch von liliputanischen Ausmaßen, meinen Koffer hatte ich zwischen den sieben anderen schnell gefunden. Gedankenverloren blieb ich stehen und beobachtete, wie sechs Touristen sechs Koffer vom Band hoben und den Flughafen verließen. Der siebte Koffer hingegen drehte immer weiter seine Runden. Nachdem ich mir sicher war, dass keiner mehr kam, nahm ich in einem unbeobachteten Moment den siebten Koffer vom Band und ging nach daußen, raus aus dem Flughafen. Grade kam ein Bus an, er fuhr nach Sromness, meinem Ziel. Dort lebte mein Halbbruder Dan, den ich besuchen wollte. Eine halbe Stunde würde meine Busfahrt dauern. Ich setzte mich ans Fenster und betrachtete die Landschaft. Viel konnte ich nicht erkennen. Weiden. Zäune aus Steinen. Schafe. Hügel.

Dann tauchten hinter einem Hügel die Dächer von Stromness auf. Endlich. An der Bushaltestelle wartete schon Dan auf mich, ich freute mich, ihn nach so langer Zeit wiederzusehen. "Na endlich, ich dachte schon dein Bus kommt gar nicht mehr! Ich habe dich vermisst, Schwesterherz!", begrüßte mich Dan. Stürmisch umarmte ich ihn. "Ich hab dich auch vermisst, Dan!" Er schaute belustigt meine zwei Koffer an und fragte: "Wofür brauchst du zwei Koffer?" Was solte ich ihm jetzt sagen? Am besten einfach die Wahrheit. "Naja, der eine Koffer gehört gar nicht mir... Er war noch auf dem Geäckband, aber niemand anderes war noch da. Also habe ich ihn mitgenommen." Mein Halbbruder sah mich vorwurfsvoll an und schüttelte den Kopf. Mehr dazu sagte er aber nicht.

Wir gingen eine Straße entlang, sie war schmal und holperig. Ein paar Minuten später bog Dan nach links ab. " Wir sind da, hier ist meine Wohnung." Dan und ich standen vor einem großen Haus mit Zugangsweg zum Hafenbecken und Bootssteg. Er schloss die Tür auf und schleppte die beiden Koffer eine Treppe hoch bis in den zweiten Stock. Oben angekommen schloss er die einzige Wohnungstür auf und wir betraten einen kleinen Flur. Es gab zwei Türen, die eine führte in ein Schlafzimmer, und die andere in eine Wohnküche mit Blick auf den Hafen von Stromness. Dort stand ein Schlafsofa, schon ausgeklappt, bereit. Dan stellte die beiden Koffer ab und sagte: "Du bist sicher müde, hier kannst du schlafen. Ich gehe jetzt auch ins Bett." Schnell kramte ich aus meinem Koffer meinen Kulturbeutel und ein Schlafshirt raus und ging ins Bad. Danach fiel ich nur noch in mein provisorisches Bett, rief Dan ein "Gute Nacht" zu und schlief ein. An den fremden Koffer verschwendete ich keinen Gedanken mehr, obwohl ich es später noch bereuen würde, ihn mitgenommen zu haben.

 Ich wachte davon auf, dass mir jemand die Decke wegzog. "Hey!", rief ich und lachte. Dan zeigte auf die Uhr: "Es ist schon nach acht." Grummelnd stand ich auf und ging ins Bad.

Unter der Dusche wurde ich wach, trotz des geringen britischen Wasserdrucks. Als ich fertig war und das Bad verließ, fiel mein Blick auf den fremden Koffer. Neugierig kniete ich mich vor ihn und öffnete die Schnallen. Hob den Deckel an. Und schrie.

Blutdurchtränkte Lagen Zeitungspapier, ein paar herrausragende Haarbüschel. Braune Locken.

Dan kam hereingestürmt und fasste mir von hinnten an die Schultern, zog mich weg. Weg von dem Koffer. Weg von den braunen Locken, weg von dem Blut. 

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Tag der Veröffentlichung: 21.01.2014

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