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Puppenherz

 

 

 

 

 

 

 

Du und ich - wir sind eins. Ich kann dir nicht wehtun, ohne mich zu verletzen.

Mahatma Gandhi

 

 

 

 

Draußen auf den dunklen Straßen Londons spazierte der berühmte Alchemist und Puppenmacher Avery McAllister. Er liebte es, in der Schwärze der Nacht durch die abgelegenen Seitengassen der Großstadt zu flanieren. Wie jeden Tag folgte die Stadt ihrem eigenen Trott. Doch plötzlich erregte eine Unregelmäßigkeit seine Aufmerksamkeit. Neugierig beobachtete er einen regen Menschenstrom an der gegenüberliegenden Häuserecke, der in das kürzlich neu eröffnete Café Tea Cup stürmte.

Er erinnerte sich, noch heute Morgen in der Zeitung etwas davon gelesen zu haben. Ein japanisches Ehepaar hatte das alte Haus gekauft, renoviert und neu eingerichtet. Die gesamte Londoner Bevölkerung, vom ärmsten Arbeiter bis zur Oberschicht, sprach seit Wochen von nichts Anderem mehr. Angeblich werde dort der beste Schwarze Tee der ganzen Welt serviert. Außerdem solle jeder Kunde, der mit Sorgen das Café betrat, nach einer Tasse Tee den Ort mit der Lösung seines Problems wieder verlassen.

Was für ein Schwindel, dachte Avery und schüttelte amüsiert den Kopf. Doch so gewann das Café Kundschaft. Das Tea Cup war in London in aller Munde.

Welch eine Ironie. Noch vor Wochen war er – Avery McAllister – das Gesprächsthema der Gesellschaft gewesen. Er hatte eine Erfindung präsentiert, die ihm Reichtum, Ansehen und ein riesiges Anwesen mit einer noch größeren Dienerschaft eingebracht hatte. Selbstverständlich blieb die Herstellung seiner Schöpfung streng geheim, nur er kannte die notwendigen Chemikalien und Zutaten, um die perfekte Puppe herzustellen. Er war Avery McAllister, der bekannte und geschätzte Puppenmacher, der Puppen erschuf, die von Menschen kaum zu unterscheiden waren.

Trotz seines Erfolges war er in den letzten Wochen auch sehr einsam. Eine Tatsache, die er nur zu gerne ändern würde. Vielleicht sollte er den Zauber des Cafés einmal ausprobieren? Wenige Augenblicke später hielt er auch schon darauf zu. Durch meterhohe Fenster fiel das Licht der glänzenden Kristallleuchter von der hohen Stuckdecke bis nach draußen auf die menschenleere Straße, während drinnen fast jeder Tisch besetzt war.

Avery trat ein, zog seinen Hut vom Kopf, klemmte sich seinen Sparzierstock mit dem Elfenbeinlöwenknauf unter den Arm und sah sich interessiert um. Bedienungen servierten frisch aufgebrühten Tee auf silbernen Tabletts. Die Menschen um ihn herum waren alle in unterhaltsame Gespräche vertieft.

Mit seinem feinen Anzug wirkte er so edel wie die restlichen Gäste, mit denen er allerdings nur geschäftlich zu tun haben wollte. Im hinteren Teil fand er einen freien Platz an einem Tisch, an dem nur ein einzelner Mann saß. Äußerlich sahen sich der Fremde und Avery sehr ähnlich, er war vielleicht gerade einmal zehn Jahre älter. Avery war erst vor Kurzem fünfundzwanzig Jahre alt geworden, doch seine Geburtstage feierte er schon lange nicht mehr. Der Fremde trug einen dunklen Anzug mit Krawatte, hatte schulterlanges schwarzes Haar und nippte an einer Tasse Tee, während sein Blick in einem aufgeschlagenen Buch ruhte. Das war für ihn der richtige Tisch.

Mit einer Verbeugung erkundigte sich Avery höflich, ob der Platz noch frei wäre.

Der Mann sah überrascht auf und sogleich zierte ein Lächeln seine Gesichtszüge. »Natürlich. Nehmen sie Platz. Sind Sie nicht der berühmte Puppenmacher Avery McAllister?«

»Ja, der bin ich. Sie haben von mir gehört?«, antwortete Avery verlegen und folgte der galanten Einladung.

»Wer hat das nicht?« Der Mann lächelte immer noch. »Wahrhaftig, der berühmte Avery McAllister, dessen Puppen wie echte Menschen aussehen und sich auch so bewegen.«

»Mein Ruf eilt mir wohl voraus.« Avery erwiderte das Lächeln. »Und mit wem habe ich das Vergnügen?«

»Oh … verzeihen Sie«, antwortete der Mann. »Mein Name lautet Henry Black. Ich bin ein enger Freund der Familie ihrer Verlobten. Die wunderschöne Gräfin Emilia Glennford ist doch Ihre Verlobte, wenn ich mich nicht irre.«

»Nachrichten verbreiten sich in London wohl sehr schnell.« Avery seufzte. Aber Henry Black lag mit seiner Vermutung richtig. Avery McAllister war seit zwei Monaten mit der Grafentochter verlobt, in die er sich Hals über Kopf verliebt hatte. Genau an jenem Tag, als er vor großem Publikum seine erste menschliche Puppe vorgestellt hatte. Emilia saß damals mit dem Graf und der Gräfin Glennford in der ersten Reihe. Sie hatte ihm im wahrsten Sinne des Wortes das Herz gestohlen. Von da an war er ein gern gesehener Gast der Familie geworden, bis die Glennfords bei der letzten Dinnerparty die Verlobung zwischen ihrer Tochter und dem berühmten Puppenmacher bekannt gegeben hatten. Er liebte Emilia über alles. Ihre Schönheit war atemberaubend. Sie besuchte ihn täglich, doch bei ihm einziehen würde sie erst nach ihrer Hochzeit.

Noch während er darüber nachsinnte, kam eine Bedienung an ihren Tisch und er bestellte eine Tasse des berühmten Schwarzen Tees, die ihm eilig gebracht wurde.

»Verzeihen Sie meine Impertinenz, Mr McAllister«, sprach ihn Henry Black an, klappte das Buch mit dem Titel ‚Tarot und seine Bedeutung’ zu und legte es zur Seite. »Wenn ich Sie so betrachte, dann sehen Sie aus, als begehrten Sie jemanden, der keinerlei Gefühle besitzt.«

»Verraten Ihnen das die Tarotkarten, Mr Black?«, antwortete Avery leicht verärgert. Denn er hatte unabsichtlich einen wunden Punkt getroffen, über den er bisher mit niemand gesprochen hatte. »Bin ich so leicht zu durchschauen?«

»Wenn Sie reden möchten, ich habe ein offenes Ohr für Sie, Mr McAllister.« Henry Black nippte an seinem Tee und ließ die Frage unbeantwortet.

Avery nahm sich ein Beispiel daran und kostete ebenfalls den hochgelobten Tee. Auf Milch und Zucker verzichtete er, denn er wollte den Geschmack nicht verfälschen. Er mundete einfach köstlich. Es war ein Geschmack, der sich nicht in Worte fassen ließ. Aber kaum hatte er den ersten Schluck getrunken, spürte er, wie froh er sich schätzte, diesen Sitzplatz gefunden zu haben. Sein Gesprächspartner hinterließ bei ihm, obwohl er ihn nicht kannte, einen vertrauenerweckenden Eindruck.

»Eigentlich habe ich schon Feierabend, aber bei Ihnen würde ich eine Ausnahme machen. Sie müssen wissen, ich bin Psychiater und höre mir deshalb täglich Probleme anderer Menschen an. Sie können natürlich auf meine berufliche Verschwiegenheit zählen.«

»Das nenne ich wohl glücklichen Zufall.« Avery lächelte galant und trank einen weiteren Schluck.

»Oder nennen Sie es Fügung des Schicksals«, bedeutete Henry kryptisch. »Nur zu, vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein.«

Einige Augenblicke dachte Avery über diesen Vorschlag nach. Wieso sollte er nicht einen Versuch wagen? Der Rat eines Fremden konnte oft mehr Gewicht besitzen als der von Freunden. Schließlich nickte er und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.

»Ich dachte immer, ich könnte sie glücklich machen. Aber meine Prinzessin lacht nicht mehr, weint nicht mehr und ärgert sich auch über nichts mehr. Ich glaube manchmal … Gott hat ihr das Herz gestohlen … weil sie einfach so absolut vollkommen ist. Ihr müsst wissen, es war Liebe auf den ersten Blick. Nun ist sie meine Verlobte. Meine Verlobte, die keine Gefühle mehr verspürt.«

»Hmm ...« Henry Black seufzte und legte die Stirn in Falten. »Sie sprechen von der atemberaubend schönen Emilia«, stellte er fest. »Sie müssen mir verzeihen, aber sie hat nicht nur Ihnen das Herz gestohlen, sondern schon vielen anderen Männern zuvor. Vor Jahren hegte sogar ich leidenschaftliche Gefühle für sie. Doch damals besaß ich weder das Ansehen noch die Mittel, um ihr den Hof zu machen. Sie dagegen nennen beides ihr Eigen und scheinen Ihr Ziel erreicht zu haben. Doch aus Erfahrung weiß ich, Sie haben mir noch lange nicht alles erzählt. Ich höre und sehe, dass hinter Ihren bisherigen Worten viel mehr steckt. Reden Sie! Erzählen Sie mir alles, nur dann kann ich Ihnen helfen.«

Verwirrt nickte Avery. Aber statt sich über das aufdringliche Verhalten, das der Mann an den Tag legte zu ärgern, musterte er Black mit unverhohlener Neugier. Er wusste Dinge und nannte sie beim Namen, die Avery bisher nicht einmal gewagt hatte, laut auszusprechen. Nach einem weiteren Schluck Tee war er bereit, ihm mehr zu erzählen.

»Es geschah kurz nach unserer Verlobung«, begann er. »Von einem Tag auf den anderen veränderte sich Emilia. Sie kommt zwar jeden Tag zu mir und hat inzwischen auch ihr eigenes Zimmer in meinem Haus. Doch dort sitzt sie einfach teilnahmslos in einem Sessel und zeigt keinerlei Emotionen mehr. Natürlich versichert sie mir jedes Mal, dass mit ihr alles in Ordnung sei. Aber ich mache mir Sorgen und gab ihr deshalb das Versprechen, ihr alles zukommen zu lassen, was sie wolle. Hauptsache, ihr würde es damit wieder besser gehen.«

Avery machte eine Pause und sah sein Gegenüber angestrengt überlegen. Er sprach erst weiter, als Henry ihn bat, fortzufahren. »Emilia antwortete mir auf mein Versprechen hin mit den Worten: ‚Bringe mich zum Lachen.’ Sie wollte immerzu lachen. Erst wenn sie wieder lachen könne, wolle sie mich heiraten, vorher nicht. Was sollte ich also tun?« Avery schüttelte verzweifelt den Kopf und trank einen weiteren Schluck des köstlichen Tees, der ihm eine ganz neue Kraft verlieh. »Ich habe mich wirklich sehr bemüht, meine Prinzessin zum Lachen zu bringen. Aber egal, was ich tat und immer noch tue … sie weint nicht … sie lacht nicht … sie ärgert sich nicht. Sie sieht mich immer nur mit ihren schönen, eisigen Augen an. Aber ich will doch wirklich ihr Herz erobern, so wie sie sich in mein Herz gestohlen hat.« Avery stockte und schluckte merklich. »Ich wünsche mir nichts sehnlicher als ihr Herz«, flüsterte er, »und aus diesem Grund habe ich für sie eine ganz besondere Puppe erschaffen. Der Clown ist mein Meisterwerk. In ihm steckt all meine Liebe, die ich für sie empfinde. Es überrascht mich jedes Mal aufs Neue, wenn ich ihn sehe.«

»Warum denn das?« erkundigte sich Henry Black interessiert.

»Er ist so atemberaubend schön«, gestand Avery und sah den Clown vor seinem inneren Auge.

Edward, wie er ihn getauft hatte, war nur wenige Zentimeter größer als er, schlank, dennoch sehr kraftvoll gebaut. Sein blondes Haar reichte ihm bis zum Kinn. Er hatte glänzende, faszinierend wolfsgraue Augen, die die Welt mit einer Unschuld betrachteten, welcher er sich kaum entziehen konnte. Schmale, zarte Lippen zierten sein Gesicht. Er trug die Kleidung, die Avery ihm gegeben hatte. Eine schwarze Lederhose und Stiefel, darüber ein halbgeschlossenes weißes Hemd mit Rüschen, welches die unbehaarte Brust betonte. Lachtränen zierten die linke Wange, und den ganzen Tag lächelte er fröhlich.

»Ich sagte zu ihm: Ich habe dich erschaffen, um meine geliebte Prinzessin zum Lachen zu bringen«, bedeutete Avery, in Gedanken versunken. »Du bist hier, weil du sie erfreuen sollst. Und er lächelte mich freudestrahlend an und antwortete mir in seiner hellen, schönen Stimme: ‚Wie Ihr befehlt, Meister’.«

»Und was haben Sie anschließend getan?«, wollte Henry Black wissen und bestellte für sich und den Puppenmacher ein neues Kännchen des herrlich duftenden und wohlschmeckenden Schwarzen Tees. »Die Leute übertreiben nicht, wenn sie das Angebot hier loben, finden Sie nicht auch?«, frage er beiläufig.

Avery nickte, nippte erneut an der Tasse und fuhr schließlich fort.

»Rasch habe ich den Clown, dem ich den Namen Edward gegeben habe, meiner Prinzessin zum Geschenk gemacht. Doch mir schien von Anfang an, als hätte ich damit nur zeitweilig Erfolg … es war wie eine Art Vorahnung. Edward versuchte es mit Akrobatik, Jonglieren, Kartentricks, und tat alle möglichen verrückten Dinge, nur um sie wenigstens ein einziges Mal zum Lächeln zu bringen. Aber nichts geschah. Bis heute. Und obwohl Edward es nicht vermag, sie zum Lachen zu bringen, versichert sie mir immer wieder, dass sie den Clown behalten will. Natürlich freut mich das, doch andererseits stehe ich jeden Tag in meinem Labor und versuche etwas zu erfinden, was Emilia erfreuen könnte.« Er seufzte. »Vor ein paar Wochen ist allerdings etwas passiert, das mich nachdenklich stimmt. Anfangs fiel es mir nicht auf, doch irgendwann bemerkte ich, wie seltsam Edward manchmal ist.«

»Inwiefern seltsam?« Henry Black runzelte die Stirn. »Wussten Sie, dass Menschen Dingen erst einen Namen geben, wenn ihnen etwas daran liegt? Man nennt das eine stillschweigende Freundschaft.«

»Wenn Sie es so sehen …«, meinte Avery verstehend und kaute nervös auf der Unterlippe herum, »… damit könnten Sie womöglich richtig liegen. Denn was in den letzten Wochen passiert ist, ist für mich wie ein Albtraum. Es schmerzt mich, wenn ich nur daran denke.«

Ein dicker Kloß bildete sich in seinem Hals, und er benötigte einige Augenblicke, um sich wieder zu sammeln. Als er weitersprach, war er in Gedanken und mit dem Herzen bei Edward.

»Wenn Emilia keine Lust auf den Clown hatte … und das kam öfter vor … versteckte sich Edward heimlich in meinem Labor. Er beobachtete mich und brachte in manchen Augenblicken mein Herz heftig zum Klopfen. Ich musste nur in seine wunderschönen Augen schauen und schon raste es wie verrückt. Ich sah ihn wirklich gerne an, und ich fühlte mich wieder glücklich. Manchmal versank ich in seinen Augen und vergaß die Welt um mich herum für einige Minuten. Er lächelt immer so liebevoll. Doch plötzlich bekam ich Angst. Ich weiß nicht einmal wovor. Deswegen spielte ich ihm Desinteresse vor und vertiefte mich völlig in meine Arbeit.«

»Manchmal erkennen die Menschen ihre eigenen Gefühle nicht, Mr McAllister«, warf Henry Black ein und fixierte sein Gegenüber eingehend, als wüsste er mehr, als Avery selbst bereit war auszusprechen. »Vergessen Sie nicht, ich kenne die Glennfords schon länger. Glauben Sie, dass Sie Emilia wirklich kennen?«

»Seltsam«, flüsterte Avery, und er wurde sich plötzlich einer Tatsache sehr deutlich bewusst. »Wissen Sie, ich habe es Ihnen eigentlich schon gesagt. In Wahrheit habe ich mich nur in Emilias Anblick verliebt. Das weiß ich schon länger, doch Sie haben es mir soeben direkt vor Augen geführt.« Verlegen senkte er den Blick und spürte ein seltsames Kribbeln im Bauch, welches er nicht einzuordnen vermochte. Er sah Edward wieder vor sich und bemerkte dabei nicht, dass er laut weitersprach …

 

 

Ich weiß inzwischen, Emilia ist nur äußerlich schön, in ihrem Inneren lebt ein Monster. Alles, was ich ihr bis zu diesem Tag geschenkt hatte - und das war nicht wenig gewesen - langweilte sie. Immer wieder sagte sie mir, meine Geschenke würden ihr keinen Spaß bereiten. Ich wiederum wusste, dass Edward meine Prinzessin unbedingt glücklich machen wollte, bis zu jenem Tag, an dem die grauenhafte Realität ans Licht kam.

Wieder einmal arbeitete ich in meinem Labor, als ich plötzlich Edward mit trauriger Miene in einer Ecke vorfand. Sein stets fröhliches Lächeln war verschwunden. Sofort erkundigte ich mich, was geschehen sei und wieso er nicht bei Emilia weilte.

»Meister …«, sagte er, »spüren Puppen nichts? Haben sie überhaupt keine Gefühle?« Unschuldig wie ein Kind blickte er mich an.

»Wie kommst du denn darauf? Natürlich haben Puppen keine Gefühle.« Ich fand diese Frage äußerst seltsam. »Die Puppen, welche ich erschaffe, können lachen und anderen damit Freunde schenken, aber sie besitzen keine Gefühle. Hörst du, das gilt auch für dich.«

Edwards Blick wurde noch trauriger. »Doch wenn mein Herz klopft … dann glaube ich, jemanden zu mögen. Ist das kein Gefühl?«

Ich war verwirrt.

»Wenn ich den Meister sehe, dann klopft mein Herz ganz schnell, dann habe ich das Gefühl zu fliegen … und … und … und in der Luft riecht es nach Rosen. Es ist immer soooo schön.«

Ein Seufzer drang tief aus meiner Brust. »Aber du darfst nicht fühlen, hast du mich verstanden?« Ich starrte Edward beinah flehentlich in die Augen und spürte ein ungewöhnlich starkes Kribbeln am ganzen Körper. Geflissentlich versuchte ich es zu ignorieren und sprach mit leiser Stimme: »Du bist nur eine Puppe, Edward. Ich habe dich erschaffen. Aber du bist auch gleichzeitig mein absolutes Meisterwerk.« Um meinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, hob ich die Hände und umklammerte Edwards Oberarme. Doch jäh stockte ich, etwas stimmte ganz und gar nicht, und als ich auf meine Hände blickte, waren sie blutverschmiert. Edwards weißes Hemd war blutbefleckt. Erschrocken und ängstlich riss ich ihm das Hemd herunter. Der Rücken und die Arme waren mit frischen, tiefen Striemen übersät und zeugten von Peitschenhieben. Edwards wolfsgraue Augen füllten sich mit echten Tränen. Beschämt ließ er den Kopf hängen.

»Was ist passiert? Wer hat dir das angetan?« Bestürzt wischte ich Edward behutsam die herabkullernden Tränen von der Wange. Dann schob ich einen Finger unter sein Kinn und forderte ihn sanft auf, mich anzusehen.

Zögerlich, mit niedergeschlagenen Wimpern, hob Edward den Kopf und blickte mich ängstlich an. Er schwieg jedoch.

Tröstend nahm Avery ich Edwards Hände in meine und drückte sie. Es schmerzte bis tief in meine Seele, meine liebste Puppe verletzt und weinend zu sehen. Edward schuldete mir jedoch keine Antwort, ich wusste, wer ihm das angetan hatte und war wütend. »Fürchte dich nicht. Solange ich in deiner Nähe bin, musst du nie mehr Angst haben. Ich werde das sofort reparieren.«

Abermals blickten wir uns in die Augen. In jenem Moment waren weitere Worte überflüssig. Ich wusste, was Edward fühlte. Es war eine kaum begreifliche Zuneigung füreinander und ich versank in der Herzenswärme meiner Puppe, die eigentlich nichts fühlen dürfte ...

 

 

»Sie denken einfach zu gradlinig«, riss Henry Black McAllister aus den Gedanken.

Avery schreckte auf und bemerkte erst jetzt, dass er laut nachgedacht hatte. Obwohl es ihm peinlich hätte sein sollen, fühlte er sich erleichtert. Zugleich beschlich ihn eine ungute Vorahnung. Edward hatte er in Emilias Obhut zurückgelassen.

»Verzeihen Sie, Mr McAllister. Sie ziehen Ihre persönlichen Grenzen bis zu einem Punkt, über den Sie keinen weiteren Schritt hinaus machen können ... oder wollen.« Avery sah ihn verständnislos an. »Lassen Sie mich eine kleine Legende erzählen. Sie handelt vom Bildhauer namens Pygmalion. Einst hatte er sich in seine schönste Skulptur verliebt und zu den Göttern gebetet, sie mögen seine Angebetete zum Leben erwecken. Er war hin- und hergerissen zwischen seinem Wunsch und dem Wissen, dass seine Liebste nur aus Stein bestand. Doch schließlich wurde sein erhört, und er lebte schließlich bis zu seinem Tode zufrieden und glücklich mit der Liebe seines Lebens.«

Zwischen den beiden Männern herrschte grüblerisches Schweigen, bis Avery als Erster die passenden Worte fand.

»Warum erzählen Sie mir diese Geschichte? Was hat sie mit mir zu tun?«

»Kennen Sie die Antwort nicht schon längst?« Henry Black lächelte und nahm sein Buch in die Hand. »Sie sollten es am besten wissen, besser als ich. Das Schicksal hat Sie zu mir geführt. Und obwohl sie es nicht ausgesprochen haben, weiß ich, dass noch etwas passiert ist. Es ist wie eine undurchdringbare Dunkelheit, die auf Ihnen liegt. Wie ein Schatten, der sie einhüllt und sie in Selbstzweifel zu stürzen droht.«

»Aber ich wusste doch nicht … ich ahnte doch nicht …«, stotterte Avery plötzlich sehr aufgewühlt los. »Woher hätte ich wissen sollen, dass so etwas Schreckliches passieren würde? Sie hat es getan. Sie kam auf den Gedanken … es ist so schrecklich«, platzte es aus ihm heraus, froh, endlich einem Menschen von Emilias Gräueltat berichten zu können.

»Was hat sie getan?« Der Tonfall seines Zuhörers verriet aufrichtige Anteilnahme.

»Ich musste aus meinem Speziallager neue Chlorsäure holen«, berichtete Avery beschämt. »Als ich auf dem Rückweg zu meinem Labor war … da … lag Edward im Flur mitten auf dem Boden in seinem eigenen Blut. Ihm fehlte das Bein vom linken Knie abwärts, und er sah mich verzweifelt weinend an. Erschrocken eilte ich in mein Labor und stellte die ätzende Säure auf den Schrank, dann kehrte ich zu ihm zurück. Edward zitterte am ganzen Körper. Ich schaffte es kaum ihn zu beruhigen. Ich nahm ihn in den Arm und trug ihn in mein Labor. Auf meine Frage, wer ihm das angetan habe, starrte er mich nur mit leeren Augen an … es war eine sehr tiefe Wunde. Nicht nur physisch. Verstehen Sie?«

Henry Black nickte.

»Trotzdem sagte Edward zu mir: ‚Euch zuliebe werde ich alles für die Prinzessin tun … Für Euch kann ich alles tun.’ Danach konnte ich nicht mehr anders, mir kamen selbst die Tränen. Ich zog ihn fest in meine Arme und schenkte ihm all meine Zuneigung, die ich für ihn empfand. Und er erwiderte sie in einer mir nie zuvor gekannten Intensität.«

Ein weiteres Mal schwiegen beide Männer. Diesmal machte Mr Black den Anfang und brach das Schweigen. »Was ist mit dem abgetrennten Bein geschehen?«

»Ich habe ihn erschaffen«, bedeutete Avery traurig, »und es ist für mich ein Leichtes, ihn zu reparieren. Ich konnte es ihm wieder annähen. Man sieht nichts mehr. Aber ich glaube, sein Schmerz sitzt bis heute sehr tief.«

»Spüren Puppen überhaupt Schmerz?« Dabei umspielte ein zaghaftes Lächeln Henry Blacks Mundwinkel.

»Ich habe mich entsetzlich geirrt.«

»Dass Puppen nichts empfinden können?«

»Ja. Alle haben sich geirrt. Meine Puppen sind keine emotionslose Marionetten, für die sie jeder hält. Selbst ich habe lange Zeit falsch gelegen.« Avery senkte seinen Blick und musterte die Teetasse. »Und mir ist eines klar geworden. Edward ist anders. Edward war schon immer anders als alle anderen Puppen. Von Anfang an.«

»Wirklich?« Henry Black hob skeptisch eine Augenbraue. »Wissen Sie, was Sie sind … ein Lügner, Mr McAllister! Sie belügen sich und andere Menschen.«

»Nein! Nein, ich belüge niemanden! Auch nicht mich selbst«, schnaubte Avery, ließ sich dennoch betrübt gegen die Stuhllehne fallen.

»Manchmal gehen die Gefühle und die Vernunft getrennte Wege.« Henry Black schien offenbar Gefallen an seiner neuen Sichtweise zu finden. Aus seinem Lächeln wurde ein breites, hinterlistiges Grinsen. Er zog einen Stapel Tarotkarten aus seinem Jackett und forderte den Puppenmacher auf, wahllos eine Karte auszuwählen. Zum Schluss hielt er eine Karte in der Hand, drehte sie herum und legte diese mittig auf den Tisch. »Das ist der Teufel«, erklärte er. »Er bedeutet, dass jemand gebunden ist. In diesem Fall könnte es sich bei diesem Jemand direkt um Sie, die Prinzessin oder auch um Edward handeln. Oder aber um Sie alle drei.«

»Und was soll ich Ihrer Meinung nach tun?« Avery war verzweifelt.

»Folgen Sie ihrem Herzen.« Henry Black trank seine Tasse Tee leer, steckte die Karten wieder ein und stand auf. »Ihr Herz hat sich schon richtig entschieden. Nun müssen Sie bereit sein, den nächsten Schritt zu gehen.« Er stand auf und nickte zum Abschied. Dann nahm er sein Buch und ging einfach davon.

 

Drei Tage später stand Avery in seinem Labor. Die Worte von Henry Black ließen ihn nicht mehr los. Folgen Sie Ihrem Herzen, hatte er ihm geraten. Ein guter Rat, doch wie sollte er ihn befolgen?

»Avery!«, rief es plötzlich, und Gräfin Emilia Glennford kam so eisig und wunderschön wie eh und je mit ihrem neuen, blutroten Kleid auf ihn zu, beide Hände in die Hüften gestemmt. »Wo ist der Clown, Avery?« Ihre Stimme war so kalt wie ihre Schönheit. »Wir haben schon lang nicht mehr gespielt. Ich kann ihn nirgendwo finden.«

In diesem Moment kam Edward mit einem fröhlichen Lachen ins Labor, in der Hand hielt er einen angenehm duftenden Strauß Wildblumen. Beim Anblick der Prinzessin blieb er erstarrt stehen. Der Blumenstrauß fiel aus seinen zittrigen Fingern. Ängstlich huschte sein Blick zwischen seinem Meister und Emilia hin und her.

»Wie ich sehe, ist dein abgeschnittenes Bein wieder da wo es hingehört.« Emilia lachte hämisch und trampelte mit den Füßen absichtlich auf den Blumen herum. Schließlich fixierte sie Edward mit einem boshaften Blick. »Los … wir gehen, Clown. Wir müssen unser Spiel zu Ende spielen. Warte nur ab … diesmal schneide ich dir den Kopf ab. Ritsch – Ratsch!«

Edward zuckte zusammen und sah seinen Meister mit angsterfülltem Blick an, wagte es jedoch nicht um Hilfe zu bitten.

Eine Welle des Zorns nahm von Avery Besitz. »Lass Edward in Ruhe! Er wird nie wieder mit dir spielen. Er hat Angst vor dir, siehst du das denn nicht? Edward hat dir nichts getan. Er verdient deine Grausamkeit nicht. Ich werde dir eine neue Puppe machen, also lass ihn in Ruhe.« Dabei nahm er Edward beschützend in den Arm und spürte, wie ganz langsam sein Zittern abflaute.

Emilia lachte markerschütternd. »Niemals!«, spie sie aus und begann ärgerlich im Labor auf- und abzulaufen. »Der Clown war ein Geschenk von dir an mich. Ich kann mit ihm machen, was ich will. Ich will keinen anderen. Das macht sonst keinen Spaß.«

Mit einem Ruck packte sie Edward am Hemdsärmel und zerrte heftig daran, während er sich unter Tränen an Avery festklammerte.

»Stell dich nicht so an, wir gehen jetzt spielen!«, befahl sie schroff und zog stärker am Ärmel.

»Meister!«, rief Edward nun doch verzweifelt. »Avery! Hilf mir! Ich will nicht sterben!«

Avery glaubte sich in einem Albtraum und hielt Edward so fest, wie er nur konnte.

»Der Clown gehört mir!«, keifte Emilia, und in diesem Augenblick gab der Hemdsärmel mit einem lauten Ratsch nach. Emilia verlor das Gleichgewicht. Sie taumelte rückwärts und stieß gegen den Schrank. Sekunden später schrie sie unter furchtbaren Qualen auf. Das Laborglas mit der Chlorsäure war durch den Stoß zu Boden gestürzt und Emilia hatte einige Spritzer abgekommen. Sie schrie und schrie und schrie, während sie mit verätztem Gesicht aus dem Labor stürzte.

Von diesem Tag an wurde die Gräfin Emilia Glennford nie mehr wieder in der Öffentlichkeit gesehen. Aber seitdem hörte jeder, der am Haus der Glennfords vorbeiging, ein lautes Schluchzen, welches allen durch Mark und Bein fuhr.

 

Zwei Wochen später kündigte der Butler in Henry Blacks Salon Besuch an. Sein Herr saß mit einem Buch neben dem brennenden Kamin, auf einem Beistelltisch stand eine Tasse heißen Schwarzen Tees.

»Verzeihen Sie, Sir. Im Flur warten zwei Gentlemen. Sie möchten mit Ihnen sprechen. Einer von ihnen behauptet, der berühmte Alchemist und Puppenmacher zu sein.«

»Ah … Avery McAllister.« Lächelnd legte Henry das Buch beiseite. »Sie sollen eintreten.«

Kurz darauf saßen sich Henry Black und Avery McAllister gegenüber. Averys sorgenvolles Gesicht hatte sich in ein Strahlen verwandelt. Neben ihm hatte Edward Platz genommen, der ebenso fröhlich lächelte. Die beiden wirkten glücklich und zufrieden.

»Darf ich Ihnen meinen Edward vorstellen, Mr Black?«, sagte Avery und nahm dabei Edwards Hand in die seine. »Edward ist, seit Emilia Glennfords spurlosem Verschwinden ein Mensch … ein wahrhaftiger Mensch geworden. In ihm schlägt ein richtiges Herz. Und ich liebe ihn. So sehr, dass ich ihn gar nicht mehr gehen lassen möchte.«

»Guten Abend, Mr Black«, sprach Edward. »Avery hat mir alles über Ihr Gespräch im Café Tea Cup erzählt. Es freut mich, Sie persönlich kennenzulernen.« Seine wolfsgrauen Augen leuchteten vor purem Glück.

»Es ist mir eine Ehre, meine Herren«, gab Henry Black zurück und schüttelte mit einem zufriedenen Grinsen die von Edward dargereichte Hand.

»Wir wollten Sie nicht lange stören«, übernahm wieder Avery. »Wir sind nur kurz vorbeigekommen, um Ihnen von ganzem Herzen zu danken.« Während er sprach, rückte er näher an Edward heran. Die Liebe zwischen ihnen war sehr deutlich zu spüren. »Heute Abend besuchen wir gemeinsam das Theater. Doch wir konnten nicht einfach unseren ersten gemeinsamen Abend in der Gesellschaft begehen, ohne Ihnen zuerst zu zeigen, dass alles, was Sie sagten, mir … oder besser uns … die Augen geöffnet hat.«

»Ich verstehe.« Henry Black nickte zufrieden. »Es freut mich zu hören, dass es Ihnen beiden gut geht und dass Sie, Mr McAllister, meinem Rat gefolgt sind. Ihr Herz hat sich richtig entschieden, und Ihnen wurde das Wunder der Liebe geschenkt. Ich wünsche Ihnen beiden für Ihre Zukunft nur Gutes.«

Avery und Edward bedankten sich herzlich und gaben Henry Black das Versprechen, baldmöglichst auf einen erneuten Besuch vorbeizukommen. Danach verabschiedeten sie sich.

 

»Avery?«, fragte Edward, als sie in der Kutsche saßen und über die Pflasterstraßen ihrem Ziel entgegen fuhren.

»Ja?« Er blickte Edward tief in die Augen, versank förmlich in dem schönsten Grau, welches für ihn auf der Welt existierte.

»Henry Black ist ein sehr netter Mensch«, erklärte Edward und beugte sich langsam zu Avery hinüber. »Ohne ihn gäbe es mich heute nicht, habe ich recht?«

»So oder so«, antwortete er leise und näherte sich dem Gesicht seines Liebsten. »Er hat mir gezeigt, wie ich mein Herz öffnen kann, um dir ein sicheres und liebevolles Zuhause zu schenken.«

»Das hat er geschafft.«

Einen Augenblick später trafen sich ihre Lippen zu einem sinnlichen und süßen Kuss. Die Welt um sie herum verschwamm zu einem Nebelschleier, der nichts und niemanden hindurch ließ. Es gab nur noch sie beide. Ihre Herzen schlugen schneller, und sie wussten, sie liebten sich mit all ihrer Kraft, mit Herz und Verstand.

»Ich liebe dich, Edward«, flüsterte Avery, als sich beide voneinander lösten. Er bettete anschließend seinen Kopf auf Edwards Brust. »Da drinnen pocht es kräftig und friedlich. Ich habe noch nie etwas Schöneres gehört.«

Avery lächelte glücklich und streichelte mit den Fingerspitzen über Edwards warme Haut. »Künftig werde ich alles tun, dass es auch so bleibt«, versprach er ihm und hauchte seinem Liebsten einen Kuss auf das weiche, blonde Haar.

»Ich liebe dich, Avery, mit jeder Faser meines Seins!«

 

 

 

 

The End

 

 

 

 

Diese Kurzgeschichte basiert auf dem Manga „Das Tarot-Café“ von Sang-Sun Park

Impressum

Texte: Madison Clark
Bildmaterialien: https://de.123rf.com/profile_ensup, https://de.123rf.com/profile_julenochek
Cover: Madison Clark
Lektorat: Manuela Fritz
Satz: Madison Clark
Tag der Veröffentlichung: 17.11.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Diese Geschichte ist meinem lieben Freund Daniel Swan gewidmet. Auf ihn kann ich mich immer verlassen und er steht stets mit Rat und Tat an meiner Seite.

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