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KAPITEL EINS

 

Aus der Saat des Guten entspringt stets ein Funke Dunkelheit, denn sie sind auf ewig miteinander verbunden

 

 

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ELIJAH

 

 

»Nein!«

Das Wort drang aus meiner Kehle und ich riss die Lider auf. Adrenalin strömte durch meinen Körper. Schweißperlen rannen mir die Schläfen hinab. Irritiert starrte ich an die weiße Zimmerdecke.

Schwer atmend schloss ich die Augen und versuchte zu verstehen, dass es wieder nur ein Albtraum gewesen war. Einer von vielen, die mich seit über drei Jahren jede Nacht quälten. Der Gedanke jagte mir einen eiskalten Schauder über den Rücken. Würde es jemals enden? Zitternd lag ich im Bett und die grauenhaften Bilder und infernalisch verzerrten Stimmen verebbten nur langsam. Schon bald würden sie mich wieder malträtieren. Hinabreißen in die höllischen Tiefen der Träume – in eine Welt, die mir inzwischen so vertraut wie die Wirklichkeit war – in der ich lediglich hilflos zusah.

Aber warum wurde ich damit gefoltert? Diese Frage stellte ich mir bei jedem Aufwachen und doch fand ich keine Antwort darauf. So unbeantwortet, wie die unleugbare Beklemmung, nie mehr daraus zu erwachen. Die Angstträume kamen mir surreal vor, denn es waren Träume. Eine simple chemische und physikalische Reaktion des Körpers, Geschehnisse im Unterbewusstsein zu verarbeiten. Lediglich bizarre Halluzinationen mentaler Aktivitäten im Schlafzustand. Und doch sagte ein kleiner Funke in mir, es musste mehr dahinter stecken. Mehr als das Offensichtliche.

Die Ärzte besaßen keine plausiblen Erklärungen dafür, wieso und weshalb ich immer wieder von diesen Schreckensbildern heimgesucht wurde. Inzwischen hatten sie resigniert und das tat ich auch. Hatte ich denn überhaupt eine Wahl?

Niemand konnte mir helfen. Kein Einziger war im Stande, diese ständig wachsende Furcht vor dem Unbekannten zu vertreiben. Ebenso wie kein Arzt in der Lage war, mir mein Gedächtnis zurückzubringen.

Seit dem schrecklichen Unfall lebte ich ein Leben, das nicht mir gehörte. Ich war ein Fremder im eigenen Körper. Zumindest fühlte es sich so an. Angeblich eine Abwehrreaktion auf das, was vor fast vier Jahren geschah. Nach dem Frontalcrash mit einem Lastwagen lag ich ein Jahr lang im Koma. Ein schweres körperliches Trauma mit irreparabler Amnesie und dem Verlust beider Beine, so die Diagnose. Wöchentliche Sitzungen bei meiner Psychotherapeutin und selbst die monatelange Reha hatte nichts an dem intensiven Gefühl geändert. Ich war gefangen in dem Wrack, das andere Körper nannten. Gefoltert von Geschehnissen, die mich jede Nacht erneut heimsuchten.

Hilflos lachend öffnete ich die Augen. Mit einiger Kraftanstrengung stemmte ich mich in eine sitzende Position und sah auf den Wecker neben mir.

»Verdammte Scheiße! Schon wieder verschlafen.«

Ich würde zum siebten Mal in Folge zu spät in Professor O'Neills Kurs für englische Geschichte kommen. Er hatte mich gewarnt, dass er ein weiteres Zuspätkommen nicht dulden und es der Universitätsdirektion mitteilen würde. Nach kurzer Überlegung beschloss ich, alle Vorlesungen für den Tag zu schwänzen. Sollten sie mich doch verwarnen und rauswerfen. Das Studium, das mir meine Eltern finanzierten, war ohnehin nur ein weiterer kläglicher Versuch, sich zu entschuldigen, dafür, dass sie ihren Sohn nach dem Unfall nicht mehr kannten. Ebenso erbärmlich wie die fünfhunderttausend Pfund Schmerzensgeld der Logistikfirma und die spendierte Penthousewohnung in der Nähe der City University of London. Der betrunkenen Fahrer hatten lediglich fünf Jahre auf Bewährung und dauerhaften Führerscheinentzug bekommen. Aber nichts und niemand brachte mir meine Beine zurück.

Hundemüde und frustriert hievte ich mich nach oben. Es war jedes Mal aufs neue kräftezehrend aufzustehen, aber im Bett liegen bleiben, war keine Option. Meine vier Wände engten mich ein. Sie schienen mich jeden Tag zu verhöhnen mir zuzuraunen, dass ich als Krüppel hilflos war. Doch genau das Gegenteil war der Fall. Ich wollte hinaus ins Freie. Meinem selbst auferlegten Gefängnis entfliehen.

Routiniert griff ich nach der Flasche mit der Creme und rieb mir die Beinstümpfe ein, die in letzter Zeit immer öfter schmerzten. Anschließend nahm ich die speziell angefertigten Strümpfe, um am Ende die beiden Beinprothesen anziehen zu können. Inzwischen hatte ich gelernt, sie nicht mehr abstoßend zu finden. Denn sie ermöglichten mir, die Freiheit zu genießen. Durch monatelanges Training in der Rehaklinik waren die Bewegungen inzwischen zu meiner zweiten Natur geworden.

Als ich meine Wohnung verließ, war eine Stunde vergangen. Der Weg führte mich direkt zu meinem Lieblingscafé. Gerade als ich die Straße überquert hatte und mich nur wenige Meter von einem ordentlichen Kaffee trennten, spürte ich mein Smartphone in der Gesäßtasche vibrieren. Lustlos und dennoch neugierig zog ich es hervor und las den Namen meiner Schwester auf dem Display.

»Na klasse«, flüsterte ich und überlegte kurz, den Anruf nicht anzunehmen. Das wiederum hätte zur Folge gehabt, dass sie mich so lange nerven würde, bis ich endlich reagierte. Also nahm ich das Gespräch seufzend an. Den Grund kannte ich bereits, bevor sie ein Wort sagte.

»Was ist nur los mit dir, Elijah?«, hörte ich Erins vorwurfsvolle Stimme.

»Eigentlich wollte ich das schöne Wetter genießen und einen Cappuccino trinken gehen«, erwiderte ich missmutig.

»Das Sekretariat der Uni hat mich angerufen. Sie machen sich Sorgen um dich?«

»Echt jetzt? Ich habe keine Bock.«

»Das ist deine Standardausrede. So geht das nicht weiter. Du kannst nicht einfach in den Tag hineinleben und tun und machen, was du willst. Mum weiß es noch nicht und wenn Dad ...«

»Bla ... bla ... bla«, formte ich lautlos mit den Lippen und hörte ihr nur noch mit einem Ohr zu.

Immer wieder die gleiche Leier. Vorwürfe, Pflichten und Ansprüche, denen ich gerecht werden sollte. Das war alles, was ich von meiner Familie erwarten durfte. Mitgefühl gab es in ihrer Welt nicht. Was zählten schon verlorene Erinnerungen an eine Zeit, die für mich niemals existent gewesen war. Hoffnungslos versunken im Strudel des Nichtwissens. Ebenso die knallharte Realität, dass sie genau diesen Fakt konsequent ignorierten.

Unbewusst wandte ich mich um und starrte den jungen Mann im nächstgelegenen Schaufenster an.

Ein Unbekannter, der mich ständig im Spiegel ansah und sich fragte, wer er wirklich war.

»Procede ex carcerem tuum! Erlöse dich aus deinem Gefängnis! Pugna!« Die Worte ertönten wie aus heiterem Himmel wispernd in meinem Kopf.

»Was?« Verdutzt blickte ich hinter mich. Wer hatte das gesagt?

Um mich herum eilten die Passanten wie aufgeschreckte Hühner an mir vorbei, die ich irritiert beäugte. Jeder Einzelne schien viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt zu sein. Niemand beachtete mich. Dann fiel mir Erin wieder ein, die wie ein Wasserfall sprach und nicht einmal bemerkte, dass ich kein Wort von dem, was sie sagte, verstanden hatte.

»Memento! Erinnere dich! Pugna!«

»Was hast du gesagt?«, fragte ich meine Schwester.

»Hörst du mir überhaupt zu? Du sollst endlich erwachsen werden. In vier Tagen wirst du vierundzwanzig und trotzdem übernimmst du keine Verantwortung für dein Leben.«

Schlagartig überkam mich das unverkennbare Empfinden beobachtet zu werden. Neugierig wanderte mein Blick umher, als ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Mann in mittlerem Alter und Anzug entdeckte. Er starrte mit einem süffisanten Grinsen zu mir herüber.

Verwirrter als zuvor musterte ich ihn. Selbst aus der Entfernung spürte ich den unangenehmen durchdringenden Blick, den er mir zuwarf. Er brachte mein Herz zum Rasen und ein eiskalter Schauder jagte mir über den Rücken. Im nächsten Augenblick versperrte mir ein vorbeifahrender Bus die Sicht und als er sie wieder freigab, war er verschwunden.

»... am Wochenende kommen wir zu Besuch«, sprach Erin und katapultierte mich in die Gegenwart zurück.

»Sorry«, schnauzte ich gereizt, »aber ich muss auflegen. Ich melde mich später.« Ohne eine Antwort abzuwarten, beendete ich das Gespräch und steckte das Smartphone zurück in die Gesäßtasche.

»Kämpfe dagegen an! Semper pugna!«, hallte es zugleich in meinem Kopf und die Worte versetzten mir einen Schrecken.

Konfus drehte ich mich um, als mich zugleich etwas Hartes von vorne an der Schulter traf. Dadurch aus dem Gleichgewicht gebracht, taumelte ich rückwärts und wurde von zwei starken Armen aufgefangen. Einen langen Moment blickte ich in herrliche tiefblaue Augen, die mich völlig vereinnahmten. Augen, die mich verschmitzt studierten und ein inneres Feuer versprühten, das mir einen Sekundenbruchteil die Luft zum Atmen nahm. Mein Magen verkrampfte sich. Ich wurde von einem merkwürdigen Angstgefühl erfasst, dass jedoch genauso schnell verflog wie der Schock. Als ich ein verdächtiges Knacken an der rechten Beinprothese wahrnahm, kehrte schlagartig meine schlechte Laune zurück. Wutschnaubend giftete ich den Fremden an.

»Trottel! Kannst du nicht aufpassen, wo du hinläufst?«

»Hoppla! Du musst mir nicht gleich in die Arme fallen. Aber es freut mich auch, dich kennen zu lernen.«

Kaum waren die Worte verklungen, stierte ich den Mann, der meinen Beinahesturz verursacht, aber auch verhindert hatte, um so konsternierter an. Doch meine Verärgerung gewann rasch die Oberhand.

»Deinen blöden Spruch kannst du dir sonst wo hinstecken«, sagte ich grimmig und löste mich unsanft aus seinem Griff. Ohne weiter auf ihn zu achten, zog ich das Hosenbein nach oben und überprüfte die mechanische Konstruktion der Prothese. Vorsichtig bewegte ich sie und versuchte aufzutreten. Offensichtlich schien sie nicht ernsthaft beschädigt worden zu sein.

Der Typ musterte mich frech von oben bis unten und grinste.

»Idiot! Und glotz nicht so dämlich.« Ich war nicht zu Scherzen aufgelegt.

»Danke. Mein Name ist Roman. Und du bist?« Der Fremde zwinkerte mir zu.

»Ähm ... Elijah«, kam es aus meinem Mund, obwohl ich es nicht wollte. Erneut nahm mich der seltsame Blick aus den leuchtenden Augen gefangen, begleitet von einem leichten Zittern, das mir durch Mark und Bein fuhr. Dieser merkwürdige Typ hatte etwas an sich, das mir nicht behagte, aber auch meine Neugier schürte. Doch schließlich war es seine Unverfrorenheit, die meine Empörung weiter nährte.

»Falls die Prothese was abbekommen hat, zahlst du!«

»Ich kann dir auch zwei gesunde Beine schenken, wenn dir das lieber ist.«

Nach dieser Äußerung wurde ich von einer Woge rasenden Zorns erfasst. So eine Dreistigkeit war mir bisher nie untergekommen. Und zu allem Überfluss schien sich mein Gegenüber köstlich zu amüsieren.

»Arschloch! Verpiss dich einfach! Oder du erlebst gleich, wie ein Krüppel dich vermöbelt.«

»Hm. Würde ich an deiner Stelle lassen. Hinter dir stehen die Bullen.«

Erfreut über die glückliche Fügung des Schicksals sah ich kurz über die Schulter. Dort standen aber keine uniformierten Polizisten. »Falls du das witzig findest, ist das ...«, schmetterte ich ihm entgegen, endete jedoch abrupt. Der Fremde war verschwunden. Lediglich vorbeieilende Fußgänger warfen mir skeptische Blicke zu.

»Verdammt!«

»Erlöse dich aus deinem Gefängnis! Pugna!«, hallte es gleichzeitig in meinem Kopf.

»Was ist das für eine verfluchte Scheiße?«

Die Leute um mich herum ignorierend, konnte ich mich kaum in Zaun halten. Unbewusst ballte ich die Hände zu Fäusten. Vermutlich drehte ich bald durch. Der Tag hatte beschissen angefangen und er würde sicherlich auch so enden, falls ich nicht bald eine Ablenkung fand. Ich griff in meine Hosentasche und zog meinen Geldbeutel heraus, um nachzusehen, wie viel Geld ich noch einstecken hatte. Denn trotz meiner miesen Stimmung hatte ich Hunger. Mehr als fünf Pfund gab sie nicht her.

Der nächste Geldautomat lag die Straße herunter. Das bedeutete einen halben Kilometer Fußmarsch und das wahrscheinlich mit einer lädierten Prothese. Aber ob dem so war, konnte ich nur herausfinden, wenn ich sie beim Laufen belastete. Also setzte ich mich in Bewegung. Auf den ersten zehn Metern kam ich nur wacklig voran, dann fing ich mich und mir fiel ein großer Stein vom Herzen, als sie kein verräterisches Geräusch von sich gab.

Ich beschloss den komischen Vogel aus meinem Bewusstsein zu verbannen. Stattdessen entsann ich mich an das Telefonat mit meiner Schwester zurück. In vier Tagen kämen sie und meine Eltern zu Besuch. Dieser Gedanke alleine vermieste mir zusätzlich den ohnehin schon beschissenen Tag. Mein eigentlicher Plan sah vor, am Samstagabend mit meinen Kumpels von der Uni in einer einschlägigen Stripptisbar einen draufzumachen. Das konnte ich jetzt wohl vergessen. Keine knackigen Ärsche von heißen Blondinen und Riesenmöpse von Brünetten. Dafür wahrscheinlich ein stinklangweiliges Essen in einem schicken Restaurant.

Frustriert erreichte ich nach zehn Minuten den Geldautomaten. Gerade als ich meine Karte aus der Geldbörse herauskramen wollte, kreuzte eine junge Frau meinen Weg. Sofort fesselte mich ihr Auftreten. Langes dunkles Haar umschmeichelte ihr bildhübsches Gesicht, das von einer Traumfigur unterstrichen wurde. Helle Augen warfen mir einen atemberaubenden Blick zu und ihre Mundwinkel formten ein fröhliches Lächeln. Instinktiv erwiderte ich es. Der Tag schien doch nicht so schlecht zu sein.

Dieses Hochgefühl dauerte jedoch nur wenige Sekunden an. Bereits im nächsten Moment verwandelten sich ihre sanften Züge in eine arrogante Maske. Hochnäsig stolzierte sie weiter und ich beobachtete sie, wie sie in den Bus stieg, der gerade angehalten hatte.

»Blöde Kuh!«, schnaubte ich frustriert und wandte mich dem Bankautomaten zu.

Ich hob sicherheitshalber gleich mehrere hundert Pfund ab. Vielleicht gönnte ich mir einen Abstecher in die nächste Bar, um den Tag vorzeitig zu beenden. Es konnte nur noch besser werden, denn am Tiefpunkt befand ich mich bereits.

Wahrscheinlich blieb ich wohl für immer Single, drängte sich mir der schmerzvolle Gedanke auf. Welche Frau wollte schon einen Krüppel als Freund haben? Bisher keine, die ich kennengelernt hatte. Sogar meine weiblichen Kommilitonen verdeutlichten mir jedes Mal aufs Neue, dass ich, außer Freundschaft nichts erwarten durfte.

Ich war und blieb ein menschliches Wrack. Warum hatte der Lastwagen nicht seine Arbeit vollendet? Dann wäre ich jetzt zwei Meter unter der Erde begraben und die Erde würde sich ohne mich weiterdrehen im unendlichen Kosmos. Höchstwahrscheinlich genügte es dem Schicksal nicht, dass ich bereits meine einstigen Freunde verloren hatte, die im Nachhinein keine gewesen waren. Denn kaum lag ich Koma, hatten sie sich von mir abgewandt. Der einzige Mensch, mit dem ich reden konnte, war meine Psychologin Cathrine.

Impressum

Texte: Madison Clark
Bildmaterialien: https://de.fotolia.com, https://www.shutterstock.com, https://de.123rf.com
Cover: Madison Clark
Satz: Madison Clark
Tag der Veröffentlichung: 20.04.2015

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