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Gabriel Martinez war einer von zwei Patienten in ganz Argentinien, die unter einer äußerst seltenen und ärztlich nicht vollständig diagnostizierbaren Krankheit litten. Als er vier Jahre alt war, bemerkten seine Eltern, dass er sich von den anderen Kindern in seiner Kindergartengruppe absonderte. Zuerst vermuteten die Eltern ein einfaches Außenseitergebaren. “Das war bei mir früher doch ganz genauso”, beruhigte Guillermo, Gabriels Vater, seine Frau. Schnell wurde jedoch klar, dass es sich um etwas anderes handeln musste, da er die Gruppe nur in bestimmten Situationen mied: Während der Fernsehstunde am Nachmittag, beim Computerunterricht oder während die anderen Kinder mit ihren Eltern videotelefonierten. Er schien den Kontakt zu jeglicher Form von digitalen Abbildungen zu meiden, auch daheim bei seinen Eltern war er nie vor dem Fernseher zu finden sondern beschäftigte sich mit mit sich selbst in seinem Zimmer.

Die Stunden, die er auf dem durchgesessenen Sofa in der Arztpraxis zubringen musste, während vor ihm ein Spezialist nach dem anderen vor Ratlosigkeit schwitzte, durchzogen noch Jahre später seine Träume. Die Ärzte führten unzählige Tests mit ihm durch und diagnostizierten schließlich halbherzig einen seltsamen Fall einer bestimmten psychosomatischen Erkrankung. Die Symptome waren ihnen unerklärlich: Wenn Gabriel Bildschirme betrachtete, wurde ihm körperlich schlecht und bei längerer Betrachtung musste er sich sogar übergeben. Jegliche Art von Display löste diese Reaktion bei ihm aus, vom Mobiltelefon über digitale Plakatwände bis hin zu den Leuchtreklamen, die sie an kleine Zeppeline gehängt durch die Stadt fliegen ließen. Mit diesem Umstand hätte man als Kind im 20. Jahrhundert unter Umständen noch ganz gut leben können. Doch mit dem “International-Tree-and-Pl ant-Agreement” von 2069 hatte man jegliche Produktion von analogen Medien eingestellt, um die letzten Baumbestände zu schonen und mit der Neupflanzung zu beginnen. Alle Medien wurden endgültig digitalisiert. Das über Jahrhunderte angesammelte Papier diente zudem als Zwischenlösung in der Brennstoffknappheit von 2076 bis 2079. Die Städte bestanden danach fast vollständig aus digitalen Abbildungen. Touchscreens ersetzten so gut wie alles, vom Kellner bis zur Türklinke. Die Welt war zu einem bunten Display geworden, das Gabriel zu einem Gefangenen in einem glühenden Käfig machte.

So blieb seinen Eltern nichts anderes übrig, als ihm das Lesen auf alt hergebrachte Weise beizubringen: Mit einem Stock ritzten sie die Buchstaben in den sandigen Boden im Hinterhof ihrer Wohnung in Bahía Blanca. Irgendwann bekam Gabriel dann eine besonders verdunkelte Brille, mit der er einigermaßen durch die Straßen der Stadt spazieren konnte, ohne große Probleme zu bekommen.

Als er 15 wurde, nahm ihn sein Vater mit auf eine Reise nach Buenos Aires. Es sei eine Überraschung, sagte er zu Gabriel, ein verspätetes Geburtstagsgeschenk. Der Vater hatte von den Ärzten die Adresse des anderen Patienten in Argentinien bekommen können, der dieselben Symptome aufwies. In Buenos Aires angekommen, stiegen sie aus dem Magnetzug und spazierten durch die Straßen. Gabriel schob seine Brille den Nasenrücken hoch und drückte sie an seine Augenhöhlen, während er die glatte Straße mit seinem Blick fixierte und sein Vater ihn führte. Buenos Aires war zu einem Albtraum aus LEDs und Luminiaden geworden. In einer Seitengasse fanden sie schließlich das Haus, das sie suchten und Gabriel rettete sich in den wohltuenden Schatten. Guillermo klopfte an der schweren Stahltür, weil er keinen Knopf finden konnte. Die Tür öffnete sich einige Augenblicke später. Das fahle Gesicht eines alten Mannes tauchte im Türspalt auf. Er lächelte. “Ah, ich habe schon mit ihnen gerechnet”, sagte der Mann. “Der Zug hatte ein wenig Verspätung”, antwortete Guillermo. “So kommen sie doch rein!” Der alte Mann zog die Tür auf. Innen herrschte ein kühles Halbdunkel, das Gabriels Augen entspannte. Als er sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, sah er die Wohnung des Mannes. Oder sah sie nicht, denn sie war zugestellt mit Regalen voller Bücher. Bücher stapelten sich auf dem Boden, den Fensterbänken, den Stühlen, selbst die Küche war unter einem Berg von Papier begraben. Gabriel wusste nichts damit anzufangen, doch Guillermo konnte seine Verwunderung nicht verbergen. “Wie…wie haben sie…ich meine.” Guillermo brachte keinen Satz heraus. “Naja, irgendwer musste doch ein paar Exemplare vor dem Feuer retten”, sagte der Mann nervös, “das bleibt natürlich unter uns! Wenn sie möchten, können sie mich den argentinischen Guy Montag nennen!” Gabriel hatte den Namen noch nie gehört, Guillermo schien den Mann jedoch zu verstehen und nickte ungläubig. “Sie sind die ersten, die diese Wohnung betreten, seit meine Frau gestorben ist. Und nur, weil ich den Jungen sehen wollte, dem dasselbe Geschenk zu Teil wurde wie mir!” Der Mann mit den schlohweißen Haaren war der erste, der von seiner Krankheit als Geschenk sprach.

Gabriel nahm eines der Bücher in die Hand und fuhr mit seinen Fingern über den Einband. “Na los Junge, schlag es schon auf!” Der alte Mann freute sich sichtlich über diesen seltenen Besuch. Gabriel schlug das Buch auf und begann an einer zufälligen Stelle zu lesen. Die Geschichte hieß “Das Aleph” und war die erste Geschichte, die Gabriel nicht aus den Erzählungen seines Vaters erlebte, sondern selbst für sich las. Jeder Buchstabe, jeder Satz und jede Seite waren wie ein Schritt in eine andere Zeit, eine andere Welt, die er sich nicht zu träumen gewagt hatte. “Und sie sagten sie kommen aus Bahía Blanca?”, fragte der Mann Guillermo. “Ja, dort bin ich geboren, dort ist auch Gabriel geboren.” “Hatten sie einen Großvater, der genauso hieß wie sie?” Guillermo antwortete ohne zu zögern: “Mein Urgroßvater hieß auch Guillermo!” Der Mann lächelte, “interessant, interessant, ich glaube dann hab ich etwas für sie!” Der Mann bahnte sich einen Weg durch die Bücherstapel auf dem Wohnzimmerboden und verschwand durch einen Türrahmen in einem Nebenzimmer. Guillermo zog Gabriel vom Sofa, auf das er sich mit seinem Buch gesetzt hatte und folgte dem Mann in den Nebenraum, der so etwas wie das Arbeitszimmer zu sein schien.

Guillermo legte seine Hände auf Gabriels Schultern und schob ihn vor sich her. “Na komm mein Junge, hilf dem alten Greis doch mal!”, forderte der Mann ihn auf, der in einer Ecke des Raumes eine kleine Trittleiter aufgebaut hatte. Gabriel stieg auf die Leiter und betrachtete bei schwachem Licht die Buchrücken, die sich wie ein unbekanntes Universum vor ihm aufreihten. “Siehst du das Buch, das nicht so dick ist wie die anderen? In der obersten Reihe?”, wies ihn der Alte an. Gabriel zog das Buch aus dem Regal und wog es in seinen Händen. Es war in rotes Leder gebunden und roch nach einer längst vergessenen Welt. Gabriel las den Namen des Autoren und blinzelte verwundert. Das Buch hieß “Gewaltige Hölle” und der Autor trug denselben Namen wie sein Vater. Guillermo stellte sich hinter seinen Sohn und betrachtete mit ihm die tiefschwarzen Buchstaben. “Ich wusste, dass er mal geschrieben hat. Mein Ur-Großvater. Ich glaube mein Vater hat es mir einmal erzählt, doch ich habe nie ein Buch von ihm gesehen! Ich dachte, sie wären alle mit verbrannt worden”, sagte Guillermo, ohne wirklich jemanden anzusprechen. “Ihr dürft es behalten”, sagte der alte Mann, “aber nur, wenn der Junge einmal im Monat zu mir kommt und aus meinen Büchern vorliest! Unsere Krankheit schützt nämlich nicht vor Alterssehschwäche.” Der Junge nickte begeistert und blickte zu seinem Vater. “Einverstanden!”, sagte Guillermo und ging mit dem Mann zurück in das andere Zimmer, wo sie Kaffee tranken und alte Geschichten austauschten. Gabriel blieb in dem Zimmer zurück und blätterte, auf dem Boden hockend, durch das Vermächtnis seines Ur-Ur-Großvaters Guillermo Martinez. Seinem ersten Lieblingsautor.


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Tag der Veröffentlichung: 09.01.2012

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