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Der kleine Baumsamen freute sich entsetzlich darüber, dass er bald eingepflanzt werden würde. Denn er spürte genau, dass die Packung, in der er sich befand, sich heftig bewegte. Er hörte auch Stimmen, die darüber diskutierten, eine Linde zu pflanzen. Also würde er wahrscheinlich eine Linde werden. Das war immer gut zu wissen. Immerhin hatte er außer der Innenseite der kleinen Packung nicht viel von der Welt gesehen.
„Aber wenn ich’s dir doch sage, eine Linde würde perfekt in unseren Garten passen“, beharrte die eine Stimme. „Die werden doch so unendlich groß, oder?“, konterte die andere.
„Ein großer Baum ist auch gut für die Umwelt. Wir werden viel mehr frische Luft in unserem zu Hause haben“, hakte die eine Stimme nach. „Na schön, Schatz. Also eine Linde“, gab die andere nach.
Der kleine Lindensamen war entzückt und wäre am liebsten aus seiner Verpackung gesprungen. Endlich würde sein großer Traum in Erfüllung gehen. Er war als Baum, genauer gesagt als Linde vorgesehen und er fieberte dem Tag entgegen, an dem er aus dem Boden schießen würde.
Er wurde von der einen Seite des Päckchens zur anderen geschleudert. Und wenn er noch länger so umeinander gekugelt wäre, wäre dem kleinen Samen glatt schlecht geworden.
Er war also verdammt froh, als sich das Schaukeln einstellte und er sich auf einer Stelle ausruhen konnte. Allerdings hielt die Ruhe nicht lange an und kurze Zeit später wurde er mitsamt dem Päckchen wieder weggetragen.
Auf einmal wurde es ein wenig kühler und er hörte Vogelgezwitscher. Er war nämlich im Baumarkt in der Nähe der Haustierabteilung gelegen und hatte bereits von Vögeln gehört.
Plötzlich wurde der dünne Karton aufgerissen und der junge Samen erblickte das Licht der Welt. Er hätte sie sich nicht so bunt, strahlend und hell erwartet. Aber da lag sie nun vor ihm und er fühlte sich auf einmal so klein und hilflos. Er war von vielen hohen Pflanzen und Bäumen umgeben. Ob er auch einmal irgendwann seine Umgebung überblicken können würde? Er hoffte es sehr und wünschte sich so schnell wie möglich, wachsen zu können. Er sah in das Gesicht einer jungen Frau und mochte sie gleich auf den ersten Blick. Vorsichtig legte sie den kleinen Samen auf sein Päckchen. Sie fing an mit einer kleinen Schaufel ein Loch zu graben und der Samen sah ihr dabei gelassen zu. Als sie fertig war nahm sie ihn und bettete ihn sanft in sein neues Zuhause ein. Die Erde um ihn herum war feucht und kalt. Aber irgendwie war es auch ein gutes Gefühl und zum ersten Mal in seinem jungen Leben, fühlte er sich geborgen und glücklich. Auch als sich die Erde über ihn schloss.
Die Zeit die er allein und abgeschirmt von jeglichen Lebewesen war, nutzte der kleine Samen gut. Er saugte jeden Tropfen Wasser auf, den er irgendwie erreichen konnte. Er war stark und er spürte, dass er mit jedem Tag kräftiger wurde. Er liebte sein Leben und er ahnte, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis er die Erdoberfläche durchbrechen würde.
Eines Morgens, als er aufwachte, traute er seinen Augen nicht. Er konnte über einige Erdkrümel hinweg blicken und erspähte die großen Bäume, die er bei seiner Ankunft bewundert hatte. Er hätte am liebsten einen Freudentanz aufgeführt oder sonst etwas in der Art. Und fast war er schon wieder traurig, dass Bäume sich nicht bewegen können.
Er verwarf den Gedanken wieder und platzte fast vor Stolz, als ihn die Frau, die ihn eingepflanzt hatte, entdeckte. „Schau mal. Was hab‘ ich gesagt. Die Linde wächst. Und du wolltest nicht glauben, dass es funktioniert“, rief sie begeistert.
Zum ersten Mal sah der Samen, der jetzt eigentlich eine junge Sommerlinde war, den jungen Mann, dessen Stimme damals mit der jungen Frau diskutiert hat.
„Tatsächlich. Ist ja unglaublich“, pflichtet er ihr bei. „Das hätte ich nie gedacht. Da merkt man ja richtig, dass es Frühling wird.“ Die junge Frau stand auf und lehnte sich gegen seine Schulter. „Wusstest du, dass Sommerlinden tausend Jahre alt werden?“, fragte sie. „Ich weiß nicht ob der Kleine wirklich tausend Jahre alt wird“, meinte er schmunzelnd. „Stell dir mal vor. Unsere Ururenkelkinder werden vielleicht unter ihm spielen.“ – „Lustiger Gedanke.“
Langsam entfernten sie sich wieder und gingen zurück zum Haus.
Die junge Linde war überrascht. Sie hätte nie gedacht, dass sie wirklich tausend Jahre alt werden könnte, so wie man es von anderen berühmten Baumarten hin und wieder hört. Was da wohl sein wird? In tausend Jahren. Sie war neugierig und machte es sich zum Ziel, so stark und so schnell wie möglich zu wachsen, damit sie wirklich ihr vorgesetztes Alter erreichen könnte.
Während sie sich anstrengte in die Höhe zu schießen, unterhielt sie sich manchmal mit den Bäumen, die sie umringten. Da war zum Beispiel der Aprikosenbaum, der zurzeit in voller Blüte stand. Oder der Ahorn, der ziemlich verliebt in die Tanne war, die gegenüber ihm stand. Es war immer sehr unterhaltsam und sie freundete sich schnell mit den anderen Bäumen an. Besonders gut verstand sie sich aber mit einer Gruppe Fichten. Die lustigen Nadelbäume kannten viele Witze und waren immer sehr aufgeweckt.
Die junge Linde konnte stundenlang mit einer der Fichten reden und es wurde ihnen nie langweilig.
Mehrere Jahre später war die Sommerlinde schon fast fünf Meter hoch und konnte sich stolz umblicken. Das junge Ehepaar, das sie damals eingepflanzt hatte, hatte schon zwei Kinder die fröhlich um sie herumspielten. Die Linde war sehr glücklich und fühlte sich rundum wohl. Sie freute sich über die Komplimente, die sie von vielen Menschen erhielt. Und sie sah zu, dass sie immer mehr an Größe und Breite gewann.
Allerdings hatte sich einiges geändert seit der kleine Samen in den Garten kam. Der Ahorn und die Tanne waren inzwischen ein Paar. Zwar konnten sie nicht wirklich viel miteinander anfangen, aber sie waren sich einig den Partner fürs Leben gefunden zu haben. Auch, wenn das bei Bäumen eher ungewöhnlich war.
Eine der Fichten war abgeholzt worden um als Feuerholz genutzt zu werden. Die Sommerlinde war untröstlich und sprach tagelang kein Wort. Der Aprikosenbaum tat sein Bestes um sie aufzuheitern, aber vergeblich. Auch die übrigen Fichten trauerten um den verlorenen Freund und konnten nur wenig dazu beitragen, um der Linde zu helfen.
Abgesehen von diesem traurigen Vorfall, beobachtete die Linde ihre Umwelt mit großem Interesse. Ihre Lieblingsjahreszeit war immer noch der Frühling. Auch wenn sie selber erst im Juni blühte, so liebte sie den Frühling dennoch. Sie konnte es kaum erwarten bis die letzten Schneereste dahin schmolzen und die Erde mit einem frischen Grün überdeckt war.
Der Aprikosenbaum war dann über und über mit Blüten überhäuft und viele Blumen erwachten aus ihrem Winterschlaf.
Es war auch im Frühling des darauffolgenden Jahres, als die Sommerlinde bemerkte dass sie bereits mehrere Nachkommen um sich herum versammelt hatten. Sie war ungemein stolz auf die vielen kleinen Sprösslinge, die sich im Garten ansammelten.
Ihre Besitzer waren eher weniger begeistert. Vor allem der Mann war etwas beunruhigt. „Was machen wir denn hier mit einem kleinen Lindenwald?“ Nur die Frau wirkte gelassener: „Ach, komm. Die paar Bäume mehr oder weniger. Einige von ihnen werden es vielleicht nicht einmal schaffen.“ – „Trotzdem, wir müssen sie irgendwie loswerden.“
Die große Linde war entsetzt. Ihre Kinder will er „loswerden“? Sofort musste sie an die Fichte denken. Werden ihre Kleinen vielleicht auch so wie sie auf dem Scheiterhaufen enden? „Nur über meinen toten Baumstamm!“, dachte sie wütend.
Schon am nächsten Morgen sah sie, wie der Mann mit einer Schubkarre durch den Garten stapfte. Um die Linde wurde es seltsam still. Der Aprikosenbaum ließ vor Schreck einige Blüten fallen und der Tanne fielen die Nadeln aus, als sie das Vorhaben des Mannes erkannten.
Am liebsten hätte die Sommerlinde dem Mann mit ihren Ästen übers Ohr gehauen. Aber leider zwang sie die Natur still zu sein. Bäume können sich nicht rühren. Nur durch den Wind hatten sie die Möglichkeit, sich etwas zu bewegen.
Gott sei Dank war die Sommerlinde mit dem Wind sehr gut befreundet und unterhielt sich auch stets gerne mit ihm. Also war er ihr selbstverständlich behilflich, als der Mann sich über einen der Sprösslinge beugte um sie auszureißen. Mit einem kräftigen Windstoß schaffte es die Linde, mit einem ihrer Äste dem Mann einen harten Stoß in den Hintern zu verpassen. Auch beim zweiten und dritten Versuch geschah das Gleiche. Der Mann war sichtlich verdutzt und verstand die Welt nicht mehr.
Plötzlich kam seine Frau über den Rasen spaziert. „Was machst du denn da?“, fragte sie verwirrt. „Naja, eigentlich wollte ich diesen kleinen Linden ein Ende bereiten. Aber ich glaub es ist zu windig dafür.“ – „Es geht überhaupt kein Wind, außerdem hab ich dir doch gesagt, du sollst die armen kleinen Dinger in Ruhe lassen!“ – „Aber was machen wir, wenn sie alle so groß werden.“ Und er deutete auf die große Sommerlinde. „Es wird schon nicht so weit kommen und selbst wenn, das überlegen wir uns dann wenn es so weit ist.“ Sie führte ihren Mann mit seinem Schubkarren zurück zum Haus.
Um die Sommerlinde herum war deutliches Aufatmen zu vernehmen. Die Tanne stieß einen zufriedenen Seufzer aus und die Erleichterung der Fichten war deutlich zu spüren.
„Ich denke jetzt kannst du und deine Kinder tausend Jahre alt werden“, meinte der Aprikosenbaum lächelnd. Auch die Linde musste grinsen.
Tausend Jahre später: die Sommerlinde hatte eine gewaltige Größe angenommen. Über vierzig Meter war sie hoch und ihre Blätter waren gesünder denn je. Um sie herum sind im Laufe der Jahre viele, viele kleine Linden hinzugekommen. Und der Mann, der sie damals mit seiner Frau eingepflanzt hat, hatte doch Recht behalten. Ein großer Lindenwald war entstanden und der Garten war nicht mehr zu erkennen. Der Aprikosenbaum, die Fichten, den Ahorn und seine Tanne gab es schon lange nicht mehr. Sie alle starben eines natürlichen Todes und hatten ein glückliches Leben.
Die mittlerweile steinalte Sommerlinde durfte doch noch sehen, wie es tausend Jahre nach ihrem Einpflanzen, auf der Welt aussah. Das Haus des Ehepaares war schon längst weg, aber die Linde hatte noch Generationen der Familie begleitet.
In den letzten Jahrhunderten war die Sommerlinde sehr weise geworden und galt in dem Wald als Oberhaupt. Dennoch war ihre liebste Zeit noch immer der Frühling, wo der Waldboden mit Blumen und Knospen übersät war. Jedes Jahr freute sie sich wieder auf heißersehnten Frühling und verbrachte viel Zeit damit ihren Urururururenkelkindern über die Vorteile des Frühlings zu erzählen. Sie war überglücklich mit sich und ihren Nachkommen, die sie vor dem Mann damals gerettet hat. Die Sommerlinde hoffte jedoch vielleicht noch weitere tausend Jahre erleben zu dürfen, in denen sie das Wachsen ihrer Kinder und Kindeskindermiterleben könnte.

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Tag der Veröffentlichung: 01.05.2010

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