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Eriks größtes Abenteuer

Eriks größtes Abenteuer

Erik ist ein Seehund und lebt mit seiner Mama Ragnhild auf einer Sandbank vor der Nordseeküste. Alles könnte so schön sein, wenn…, ja, wenn Erik nicht ausgerechnet das kleinste neugeborene Jungtier unter den Robben wäre. Sein Papa Thorwald ist der Leitbulle der Kolonie. Alle Weibchen gehören zu ihm und somit bekommt er natürlich auch viele Söhne und Töchter. Er hatte Erik gleich nach der Geburt besucht, weil er sehen wollte, ob dieser vielleicht eines Tages ein würdiger Nachfolger werden könnte. Das ist nur den größten und stärksten Männchen vorbehalten. Als Thorwald das schwächliche Seehundbaby erblickte, wendete er sich sofort ab und nahm kaum noch Notiz von ihm. Ragnhild brach es fast das Herz. Erik war ihr erstes Baby und seit Thorwalds Besuch versuchte sie alles, um ihren kleinen Sohn zu beschützen. Sie bringt ihn täglich zur Seehundschule und aus Angst, dass ihm etwas passieren könnte, erlaubt sie ihm nicht, mit seinen vielen Brüdern im Wasser zu spielen.

Erik ist verzweifelt. Die anderen Jungen nennen ihn bereits Muttersöhnchen und hänseln ihn, wo sie nur können. Als die Lehrerin eines Tages erkrankt und die Schule eine Stunde früher als sonst endet, ist Ragnhild noch nicht eingetroffen, um ihn abzuholen. Erik fasst einen folgenschweren Entschluss. Er will allen zeigen, dass er genauso stark und mutig ist, wie sein Vater. Im letzten Sturm war ein Schiff der Menschen einige Kilometer vor der Küste gesunken und auseinandergebrochen. Die Stelle, an der das Wrack liegt, ist von gefährlichen Strömungen und Untiefen umgeben. Thorwald hat deshalb allen Seehunden strengstens verboten, dort zu spielen.

Erik denkt sich einen Plan aus. Er will zum Schiff schwimmen und etwas davon mitbringen, damit die anderen sehen, dass er auch wirklich dort gewesen ist. Dann, so glaubt er, werden sie ihn endlich mögen. Er wartet, bis alle Seehundkinder die Schule verlassen haben. Dann macht er sich auf den Weg ins offene Meer. Er kommt gut voran. Die See ist ruhig und die Sonne scheint. Als er nach einer Weile das Wrack erblickt, stößt er einen Jubelschrei aus. Er hat es geschafft. Immer wieder schwimmt er um das Schiff herum und taucht bis auf den Grund hinab, um nach einem Beweis für seinen Wagemut zu suchen. Schließlich findet er ein Stück Ankerkette, das er sich um den Bauch bindet. Zufrieden macht er sich auf den Heimweg. Aber inzwischen ist das Wetter umgeschlagen. Das passiert oft an der Küste. Ein Sturm ist aufgezogen und vor dem kleinen Seehund bauen sich plötzlich meterhohe Wellen auf. Erik kämpft nach kurzer Zeit um sein Leben. Er wird wie ein Spielzeug von einer Welle zur nächsten geworfen. Als er endlich Land erkennt, ist guter Rat teuer. Der Strand kommt ihm fremd vor. Hier ist er noch nie gewesen. Aber es hilft nichts. Erik ist so erschöpft, dass er sich von der nächsten großen Welle auf den Sand spülen lässt. Er versucht noch einmal seine Mama zu rufen. Doch sein klägliches Weinen verhallt im Wind.

Ein paar Stunden vergehen. Eine Urlauberfamilie macht einen Spaziergang am Strand. Ein kleines Mädchen läuft auf Erik zu. „Papa, hier liegt ein Seehundbaby“, ruft es. Der Vater reagiert schnell. „Fass es nicht an, Tina. Bleib zurück. Es darf keinen Menschengeruch tragen, sonst nimmt es die Mutter nicht mehr an. Sie ist möglicherweise ganz in der Nähe!“, warnt er die Tochter. Das Mädchen gehorcht. „Aber, Papa, vielleicht wurde es von seiner Mama im Sturm getrennt? Dann findet sie es nicht mehr!“, meint sie besorgt. Ihre Mutter lächelt dem Vater verständnisvoll zu und zieht ihr Handy aus der Jackentasche. Sie führt ein kurzes Telefonat. „Mama hat gerade mit der Seehundaufzuchtstation gesprochen. Sie befindet sich hier ganz in der Nähe. Die Leute kümmern sich um das Kleine“, berichtet der Vater. „Es ist so niedlich, am liebsten möchte ich es mit nach Hause nehmen. Es kann in der Badewanne wohnen“, erklärt die neunjährige Tina spontan. Ihre Mutter lacht. „Wir können morgen in die Aufzuchtstation fahren und sie besichtigen. Dann besuchst du deinen kleinen Freund dort“, antwortet sie liebevoll. Die Familie erwartet in einiger Entfernung die Ankunft des Autos der Seehundstation.

Nach einer halben Stunde kommen zwei Frauen. Sie schauen mit Ferngläsern zu Erik und beschließen, bis zum Abend zu warten. Als Erik um sieben Uhr immer noch am Strand liegt, holen sie eine kleine Wanne aus dem Auto und legen ihn hinein. In der Aufzuchtstation wird er ärztlich untersucht, geimpft und bekommt zu essen. Ein kleines Wasserbecken wird für ihn hergerichtet. Erik erholt sich dank der Hilfe rasch. Auch Tina kommt ihn jeden Tag besuchen und spielt mit ihm. Aber Erik bleibt ein trauriger Seehund, der sehr viel weint. Er vermisst seine Mama und er hat ein ganz schlechtes Gewissen. Sie wird mich bestimmt suchen, denkt er. Das hab ich nun davon, weil ich so ungehorsam war! Traurig schaut er zwischen einer Düne hindurch auf den Strand hinunter und ruft immer wieder nach Ragnhild.

Die hatte sich sofort nach dem Sturm auf die Suche nach ihrem Sohn gemacht. Aber sie konnte ihn nirgends finden. An allen bekannten Stränden ist sie nun schon gewesen. Doch von Erik fehlt jede Spur. Vielleicht war ich doch zu streng, denkt sie. Lieber Meeresgott, gib mir bitte meinen kleinen Erik wieder. Sie schwimmt auf den Strand der Seehundstation zu. Vor zwei Jahren war sie selbst hier gestrandet und hatte damals Hilfe von den Menschen erfahren. Sie ruft noch einmal ihr Junges und diesmal hat sie Glück. Erik spielte gerade mit zwei anderen Heulern, wie man die Seehundbabys nennt, als er den Ruf der Mutter hört. Mit kräftiger Stimme antwortet er. Auch Ragnhild ruft ihn noch einmal. Die Mitarbeiter der Seehundstation sehen durch ihre Ferngläser zum Strand und erkennen das Weibchen an seiner Markierung. Die erfahrenen Tierschützer ziehen die richtigen Schlüsse und bringen Mutter und Kind wieder zusammen. Erik und Ragnhild umarmen sich überglücklich. Erik verspricht seiner Mutter, nie wieder wegzuschwimmen. Ragnhild wischt sich eine kleine Freudenträne aus den Augen.

„Ich glaube, mein Schatz, du bist durch dein Abenteuer so erwachsen geworden, dass du in Zukunft ganz gut auf dich selbst aufpassen kannst. Ab morgen gehst du allein zur Schule und am Nachmittag spielst du mit deinen Brüdern und lernst, dich in die Gruppe einzufügen“, meint sie lächelnd.

Die beiden blieben noch eine Woche in der Seehundstation, bis die Menschen sie wieder auf ihre Sandbank brachten.

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Tag der Veröffentlichung: 02.12.2014

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