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Vorgeschichte

Anna und Nadja sind beide zehn Jahre alt. Die beiden Mädchen leben mit ihren Eltern und Geschwistern auf einem Planeten, der den Namen Frost trägt. Er liegt auf der anderen Seite der Milchstraße, aber er gehört noch zu unserer Galaxis. Frost macht seinem Namen alle Ehre. Das besondere an diesem Planeten ist nämlich sein Klima. Es handelt sich um einen Eisplaneten. Einen Sommer, so wie wir ihn von der Erde her kennen, gibt es auf Frost nicht. Der Planet besitzt zwar eine Atmosphäre wie die Erde und man kann dort atmen und leben wie es die Menschen auf der Erde tun. Nur die Sonne ist sehr weit entfernt und ihre Strahlen sind zu schwach, um das viele Eis und den Schnee schmelzen zu lassen. Die Temperatur auf Frost beträgt ständig zwanzig Grad minus. Die Kolonisten bezeichnen ihr neues zu Hause darum auch als Erde im Dauerwinter.

 

Anna und Nadja wurden hier geboren. Ihre Eltern arbeiten für die Raumfahrtbehörde der Erde. Sie haben auf Frost eine Stadt errichtet, um Daten aus dem Weltall und von den vielen Planeten der Nachbargalaxien zu sammeln. Inzwischen wohnen 300000 Menschen dort. Die meisten Erwachsenen sind Wissenschaftler, so wie Nadjas und Annas Eltern, die das eisige Klima nutzen, um Forschungen zu betreiben. Die Bewohner leben in Häusern, die extra für die Kälte gebaut wurden. Jede Familie hat sich ihr eigenes gemütliches Heim geschaffen. Einkaufszentren und Verwaltungsgebäude liegen unter großen Glaskuppeln. Es gibt unzählige Eishallen und Eisstadien. Natürlich besuchen die Kinder auf Frost auch die Schule. Und einmal im Monat kommt ein Raumschiff von der Erde. Es bringt dann Briefe von den Verwandten mit, lädt Lebensmittel und BaumateriaL aus.

 Anna und Nadjas Verwandte leben alle auf der Erde. Die beiden durften ihre Großeltern und Onkels und Tanten im letzten Jahr während der Ferien besuchen. Das war eine sehr aufregende Zeit gewesen. Allein schon die Reise mit dem Weltraumshuttle dauerte drei Tage, obwohl das Raumschiff mit der fünffachen Lichtgeschwindigkeit flog. Es gab unterwegs unzählige Planeten und Sonnen zu beobachten. Auf der Erde angekommen, staunten die Mädchen über den warmen Sommer und die vielen Wälder und Wiesen. Sie sahen zum ersten Mal in freier Natur Blumen blühen und liefen über Gras, welches nicht von einer großen Glaskuppel geschützt wurde, sondern ganz einfach mithilfe von Sonnenwärme, Licht und Regen wuchs. Es war so heiß gewesen, dass sie an den Strand fahren und im Meer schwimmen konnten. So etwas ist auf ihrem Heimatplaneten nicht möglich.

 

Nadja und Anna genossen ihre Ferien. Aber sie bedauerten auch die Kinder auf der Erde, die ihnen erzählten, dass sie nur ein paar Monate im Jahr draußen im Schnee spielen konnten. Eislaufen ist für die meisten Erdenkinder nur in überdachten Eisstadien möglich und selbst zum Skilaufen und Rodeln hat man riesige Hallen gebaut. Auf Frost ist alles anders. Es gibt unzählige Berge, die ständig mit Schnee bedeckt sind. Eis gibt es überall und das ganze Jahr hindurch. Während die Erdenmenschen auf asphaltierten Straßen gehen und Radfahren oder sich mit einem Auto fortbewegen, so laufen die Kinder und Erwachsenen auf dem Planeten Frost Schlittschuh, wenn sie von einem Ort zum anderen wollen. Die Erwachsenen haben natürlich zusätzlich Schneemobile im Gebrauch. Es gibt sogar eine Eisenbahn, die unter einem gläsernen Dach fährt und den ganzen Planeten umrundet. Auf diese Weise können sich die Menschen auf Frost zu jeder Zeit besuchen. Und nun ratet mal, wie die Frostkinder zur Schule kommen? Richtig! Entweder sie werden von den Eltern mit dem Schneemobil gebracht oder sie gleiten auf ihren Schlittschuhen dorthin.

 

Schlittschuhe sind das schnellste Fortbewegungsmittel auf Frost. Die Mütter laufen damit zur Post, zum Einkaufen und in ihre Labore. Auch die Väter nutzen Schlittschuhe, um jeden Tag an ihren Arbeitsplatz zu gelangen. Über einige Seen und zugefrorene Bäche hat man Dächer gebaut. So kommt man auch bei Schneetreiben und Sturm sicher trocken ans Ziel. In jedem Stadtteil befinden sich überdachte Eishallen, in denen die Kinder Eiskunstlaufen oder Eishockey trainieren. Auch die Erwachsenen treffen sich dort, um gemeinsam Sport zu treiben. Wen wundert es, dass es auf Frost viele kleine Jungen und Mädchen gibt, die sehr gut eislaufen können. Wie auf der Erde misst man sich bei Meisterschaften.

 Am Wochenende findet der jährliche Jugendwettbewerb statt. Nadja und Anna sind eigentlich beste Freundinnen. Sie machen ihre Hausaufgaben zusammen und verbringen viel Zeit miteinander. Aber auf dem Eis hört bei ihnen die Freundschaft auf. Die zwei sind im selben Schlittschuhclub und die Topeisprinzessinnen ihres Vereins. Sie laufen gleich gut und in den Wettbewerben werden sie zu Konkurrentinnen.

 Es ist November. Das Jahr auf Frost zählt ebenso zwölf Monate wie auf der Erde und die Menschen haben die Bezeichnungen von Monats- und Wochentagen beibehalten. Die Schule ist aus. Anna und Nadja haben sich ihre Schlittschuhe angezogen und sind auf dem Heimweg. Sie brauchen in der Regel eine gute Viertelstunde dazu. Doch meistens trödeln sie noch herum, spielen unterwegs mit den anderen Kindern oder beobachten die Tiere. Eisbären, Pinguine und Seehunde bevölkern in großer Anzahl den Planeten. Schneehasen und Schneeeulen gehören ebenfalls zu den tierlichen Bewohnern. Aber es gibt eine Besonderheit auf Frost: Die Tiere dort können sprechen. Anna und Nadja kennen alle Mitgeschöpfe, die auf ihrem Heimweg wohnen. Familie Hase treffen sie jeden Tag auf ihrem Schulweg. Dann spielen sie fröhlich mit den schneeweißen Hasenkindern und erzählen ihnen, was sie alles in der Schule gelernt haben.

 

Doch an diesem Tag, Ende November, scheint alles irgendwie anders zu sein. Das Jahr neigt sich dem Ende zu. Wie auf der Erde, feiern die Menschen auf Frost am 24. Dezember Weihnachten. Es gibt Tannenbäume und die Kinder bekommen am Heiligen Abend Geschenke, welche vom Weihnachtsmann höchst persönlich gebracht werden. Sein Schlitten wird dann traditionell von sechs Rentieren gezogen. Nur sehen können ihn die Kinder nicht, denn der Weihnachtsmann auf Frost bleibt stets unsichtbar. Das hat bei den älteren Kindern zu erheblichen Spekulationen geführt.

 Schweigend gleiten Nadja und Anna mit ihren bunten Schulranzen auf dem Rücken durch eine zauberhafte Winterlandschaft. Überall glitzert das Eis im Sonnenlicht. Die Nadelbäume sind von Schneehauben bedeckt und manchmal fällt auch die eine oder andere Schneeflocke vom Himmel. Als die Mädchen heute an der Hasenhöhle vorbeikommen, sind sie sehr kurz angebunden und begrüßen die acht Hasenkinder nur mit einem einfachen „Hallo“.

 Anna hält die Stille nicht mehr aus. „Du, Nadja, können wir mal den Wettkampf übermorgen vergessen? Ich wollte dich etwas fragen!“ Nadja überlegt einen Moment. Dann nickt sie fröhlich mit dem Kopf. „Natürlich, eigentlich sind wir doch doof mit unserem Gezicke vor den Wettbewerben. Hauptsache,  eine von uns beiden aus der Nordstadt gewinnt bei den Mädchen. Ich kann den Doppelaxel so sicher, da hat diese Ludmilla aus der Südstadt gar keine Chance. Und die West- und Oststädter brauchen wir überhaupt nicht zu fürchten. Die können den Axel nicht einmal einfach stehen.“ Anna läuft stürmisch auf die Freundin zu. Sie nimmt sie in die Arme. Dabei rutscht sie aus und die beiden fallen auf das Eis. Sie lachen. Anna ist überglücklich.

 „Du, das finde ich auch. Ich hab mir schon so oft Gedanken darüber gemacht. Wir sind immer beste Freundinnen gewesen und ausgerechnet auf dem Eis sollen wir uns nicht mehr mögen? Nein, Nadja, du hast völlig Recht. Wir wollen unseren Kleinkrieg ein für alle Mal begraben. Wer übermorgen die Kür gewinnt, ist völlig wurscht, solange es eine aus der Nordstadt ist und sie entweder Nadja oder Anna heißt. Abgemacht?“ Nadja lacht über ihre beiden roten Wangen. „Ja, Anna, so machen wir es. Was willst du mich denn fragen?“

 „Ach so, hast du schon deinen Wunschzettel für den Weihnachtsmann geschrieben?“ Nadja schüttelt energisch den Kopf. „Nöh, das mache ich auch nicht. Es gibt nämlich gar keinen Weihnachtsmann!“ Anna schaut erschrocken auf. „Wer sagt das?“ Nadja antwortet: „Mein Bruder Malte!“ Anna blickt die Freundin skeptisch von der Seite an. „Also, ich glaube an den Weihnachtsmann und hab ihm auch schon meinen Wunschzettel geschickt“, erklärt sie. „Und wohin?“, fragt Nadja frustriert. Anna lacht. „Na, an den Nordpol natürlich! Aber ich muss jetzt nach Hause. Es ist schon spät. Tschüss Nadja.“ Die Mädchen verabschieden sich.

 

Nadja läuft allein weiter. Sie hat es nicht mehr weit. Das Haus ihrer Eltern liegt am Rande der Stadt, die auch so heißt. Ganz einfach nur: Stadt. Es gibt vier Stadtviertel, die nach ihrer Himmelsrichtung benannt sind: Die Nordstadt, in der Anna und Nadja leben, Weststadt, Oststadt und Südstadt. Jedes Viertel besitzt seine eigenen Eishallen, Eislaufvereine und Trainer. Die Stadtmeisterschaften, die übermorgen wieder ausgetragen werden, machen seit drei Jahren Nadja und Anna aus der Nordstadt unter sich aus. Nadja ist froh, dass der Streit darüber, wer von ihnen beiden nun die Bessere ist, endlich beigelegt werden konnte. Etwas anderes beschäftigt das kleine Mädchen plötzlich viel mehr. Ihr Bruder Malte geht bereits in die zehnte Klasse. Er spielt super Eishockey und benimmt sich mit seinen sechzehn Jahren schon sehr erwachsen. Nadja hat ihren Bruder lieb und sie glaubt ihm eigentlich alles. Die Sache mit dem Weihnachtsmann geht ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie möchte gerne weiter an ihn glauben. Aber, was ist, wenn Malte Recht hat? Und es gibt ihn gar nicht? Haben ihre Eltern sie etwa all die Jahre belogen? Nadja ist völlig verzweifelt.

 

Plötzlich schrickt sie aus ihren Gedanken auf. Hat hier jemand gesprochen?, denkt sie. Sie meint eine Stimme gehört zu haben. Doch da ist niemand weit und breit, außer einem großen Tannenbaum. Er wurde, wie alle Bäume in der Stadt, von der Bürgermeisterei bunt geschmückt. An seinen Ästen hängen Kugeln und Kerzen. Sie leuchten den ganzen Tag lang. Es ist inzwischen etwas dunkler geworden, denn die Sonne kommt nun in der Winterzeit auf dem Eisplaneten Frost nur noch für kurze Zeit aus den Schneewolken hervor.

 Die brennenden Kerzen auf den Tannenbäumen tauchen den Ort deshalb in anheimelndes Licht und verbreiten eine feierliche Weihnachtsstimmung. Nur Nadja will sich nicht so recht auf den Heiligen Abend freuen. Sie dreht sich nach allen Seiten um. Eine tiefe Männerstimme hatte sie gefragt: „Du Mädchen, kannst du mir mal bitte helfen?“

 „Warst du das, Tannenbaum? Seit wann können Bäume auf Frost sprechen, das können doch nur die Tiere?“ Nadja sieht den Baum erstaunt an. Der Tannenbaum wiegt sanft seine Äste, an denen tausende und abertausende kleine grüne Tannennadeln sitzen.  „Ja, das war ich. Und wir sprechen alle. Genau wie die Tiere. Nur die Erwachsenen hören uns nicht mehr. Doch die Kinder, die noch an den Weihnachtsmann glauben, können jedes Wort verstehen. Schau, mir ist da eine Kerze abgefallen. Magst du sie mir wieder aufstecken?“ Nadja lacht den Baum fröhlich an. „Aber natürlich.“ Sie setzt die Kerze auf den Zweig. „Du Tannenbaum, ihr Bäume seid doch so klug. Ich möchte gerne noch an den Weihnachtsmann glauben, aber Malte sagt, es gibt ihn gar nicht. Wenn er wirklich existiert, dann muss ich ihn einfach kennenlernen! Sag, hat mein Bruder etwa recht?“

 Der Baum schüttelt sich, dass die Kugeln anfangen gegeneinander zu schlagen und der Schnee wie Puderzucker von den Ästen herabrieselt. „Nein, Nadja, er hat nicht Recht. Es gibt den Weihnachtsmann. Aber er lebt am Nordpol und die Reise dorthin ist sehr gefährlich. Viele Kinder haben es schon versucht und sind niemals wieder zurückgekehrt.“

 

Die neugierige Schneeeule Lawinia hat das Gespräch der beiden belauscht. Sie fliegt heran und setzt sich auf einem Tannenast nieder. „Uhuuhuuhu, ja, es ist sehr gefährlich, Uhhuhu!“, ertönen ihre unheimlich klingenden Laute. Das ruft den kleinen Schneehasen Petermann auf den Plan. Er hoppelt heran und springt übers Eis, so hoch er kann. „Lass dir bloß keine Angst machen, Nadja. Ich bin doch auch noch da. Ich helfe dir. Wir finden den Weihnachtsmann. Er lebt im Land der tausend Kinderträume. Es liegt wirklich am Nordpol. Ich hab schon viel darüber gehört.“ Nadja sieht von einem zum anderen. „Gut“, sagt sie. „Dann lasst uns schnell aufbrechen. Meine Mutter kommt erst heute Abend nach Hause. Ich habe also noch ein paar Stunden Zeit.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Auf Frost unterwegs

Nadja und Petermann laufen auf dem zugefrorenen Fluss in Richtung Norden. Der Hase springt dabei so geschickt über das Eis wie die kleine Nadja. Zwischendurch drehen sie wunderschöne Pirouetten und üben sich in schwierigen Schrittfolgen. Auch Petermann beherrscht den zweifachen Axel mühelos. Den Salchow versucht er sogar dreifach, schafft aber die Landung auf rechts rückwärts nicht, verkantet sich und plumpst dabei heftig auf den Po. Traurig bleibt er liegen und hält sich sein weißes Stummelschwänzchen. Nadja hilft ihrem treuen Weggefährten wieder auf die Beine. Sie laufen fröhlich weiter und lachen dabei pausenlos.

Ein lautes Gebrüll lässt die Freunde erschrocken zusammenzucken. Sie sind einer Bärenhöhle zu nah gekommen und der aus dem Schlaf gerissene Bewohner stürmt wütend heraus. Er hört sich sehr gefährlich und böse an. Der Boden bebt unter seinen Füßen. „Was ist hier los? Woher kommt dieser Krach? Wer stört mich in meinem Winterschlaf?“, tobt der Eisbär. Petermann zittert am ganzen Leib. Er weiß, dass er bei dem Bären auf der Speisekarte steht und versteckt sich hinter Nadjas Rücken.

 

Die Schneeeule Lawinia hat es sich nicht nehmen lassen, die beiden in respektvoller Entfernung zu begleiten. Sie ist von Natur aus sehr neugierig und muss immer wissen, was in der Stadt vor sich geht. Nun sitzt sie auf einer Tannenspitze und beobachtet das Geschehen unten auf dem Boden mit einem mulmigen Gefühl im Magen. Hoffentlich ist der Bär nur wütend, denkt sie. Hoffentlich hat er nicht auch noch Hunger! Nadja fasst sich ein Herz und geht mutig auf den Bären zu.

 „Lieber Bär“, sagt sie sanft. „Bitte entschuldige, wir wollten dich bestimmt nicht wecken. Aber wir sind auf dem Weg ins Land der tausend Kinderträume und haben uns verirrt. Kannst du uns vielleicht helfen?“ Der Bär brummelt Unverständliches in sich hinein und beruhigt sich nur langsam. „Hmmm. Der Weg zum Nordpol ist äußerst gefährlich. Überall gibt es tückische Spalten im Eis, die man nicht sieht. Dann kommen plötzlich Schneestürme auf. Es wird bis minus vierzig Grad kalt. Viele Kinder haben es schon versucht und sind nie wieder zurückgekehrt.

Übrigens, ich heiße Robert! Und ich habe heute schon gefrühstückt. Außerdem wäre mir der Hase hinter deinem Rücken die Mühe nicht wert. Das ist nicht einmal eine vernünftige Nachspeise für mich.“ Petermann stößt einen erleichterten Seufzer aus und hoppelt fröhlich aus seinem Versteck hervor. Nadja streichelt dem Bären das Fell. „Lieber Bär, lieber Robert, ohne dich sind wir verloren. Bitte, bitte, hilf uns.“

 Robert ist im Grunde seines Herzens ein sehr weicher und warmherziger Bär. Die kleine Nadja und der Hase tun ihm leid. Aber er trägt ein Geheimnis mit sich herum: Robert ist ein Hasenfuß! Auf Deutsch: Robert ist trotz seiner stattlichen Größe von fast drei Metern, seiner riesigen Zähne und Pranken ein kleiner Feigling. Nur in seiner Schneehöhle fühlt er sich einigermaßen sicher. Er hat Angst. Nein, ganz bis zum Land der tausend Kinderträume kann er die beiden nicht begleiten. Er ringt mit seiner Fassung. Aber vielleicht geht es ja bis zum Rand des großen Gletschers. Er sieht die kleine Nadja an und blickt dann zu dem lustigen Petermann mit seinen enormen Schlappohren. „Also gut", brummt er. "Ich bin eh wach. Aber ich führe euch nur bis an den Rand des Gebirges zum Gletscher. Von da an müsst ihr allein weiter gehen! “

 „Oh danke, liebster Robert“, ruft Nadja aus und drückt den errötenden Eisbären ganz fest an sich. Auch Robert erweist sich als exzellenter Eisläufer. Er gleitet auf seinen Schlittschuhen mühelos über das Eis und versetzt Nadja und Petermann mit seinen außergewöhnlichen Pirouetten in Erstaunen. Die Sprünge: Salchow, Lutz und Rittberger beherrscht er zweifach und den Toeloop kann er sogar mit drei Umdrehungen zeigen. Nur mit dem Axel hat er Probleme und Nadja, die ihn doppelt springt, erntet große Bewunderung von ihm. Sie laufen durch einen tief verschneiten Winterwald, der von Bächen und zugefrorenen Flüssen durchzogen ist. Als ein schwerer Schneesturm aufkommt, machen sie unter einer hohen Tanne mit weit ausladenden Zweigen Rast.

Petermann und Nadja kriechen unter Roberts Fell und wärmen sich an ihm. Der Bär hat sich eingerollt und schützt die beiden vor der Kälte. Nadja weiß viele Geschichten und Märchen zu erzählen und es wird den dreien nicht langweilig, während sie auf das Ende des Sturmes warten. Lawinia ist in eine Baumhöhle ganz oben auf die Tannenspitze geflogen und hält dort ein Nickerchen. Trotzdem blinzelt sie immer wieder durch den Spalt am Eingang nach draußen, damit ihr ja nichts entgeht. Nach zwei Stunden hat sich der Schneesturm verzogen. Die Vier können weiter wandern. Eine weitere Stunde später bleibt Robert vor einer Schneewehe stehen.

„Hier ist Schluss für mich. Ich muss umkehren. Aber es ist nicht mehr weit. Hinter dem Schneeberg beginnt das große Gebirge, welches direkt am Nordpol liegt. Ihr braucht nur geradeaus weiter zu gehen. Doch passt auf, wohin ihr tretet! Es gibt überall gefährliche Spalten im Eis. Irgendwo da oben liegt das Land der tausend Kinderträume und dort wohnt der Weihnachtsmann mit seinen Helfern.“

„Wir danken dir, Robert. Du hast uns sehr geholfen“, ruft ihm Nadja nach, als sich der Bär umdreht. Er schämt sich, weil er ein so großer Angsthase ist, aber das mag er vor den anderen nicht zugeben. Petermann, der Robert schon längst durchschaut hat, grinst und ergänzt: „Ja, und übe deinen Axel. Irgendwann kannst du ihn auch so gut wie ich. Das Rückwärtslanden lernst du sicher ebenfalls noch! Hihi.“ Das war nun doch zu viel für den braven Bären. Er wendet seinen riesigen Kopf, bleckt die Zähne und sieht Petermann betont grimmig an.

„Du, Hase, ich spüre so etwas wie Hunger. Wenn du nicht als Appetitanreger herhalten willst, dann ärgere mich besser heute nicht mehr! Auf Wiedersehen, kleine Nadja und viel Erfolg auf deiner Reise.“ Nadja winkt Robert hinterher.

Dann sieht sie sich die riesige Schneewehe an und schüttelt traurig den Kopf. „Petermann, wie kommen wir da rüber?“ Selbst der pfiffige Schneehase ist ratlos. Hier nutzen ihm auch seine sprunggewaltigen Hinterbeine nichts. Der Schneeberg ist zu hoch. „Was ist denn das?“, ruft Nadja aus und zeigt auf eine Robbe, die hinter einem Fisch herjagt. Der Fisch springt ihr immer wieder davon, schlägt schnelle Haken und taucht plötzlich unter. Die Robbe bleibt verdutzt stehen. Der bunte fliegende Fisch bleibt spurlos verschwunden.

 Erst nach einer Weile sieht sie sich um und entdeckt Nadja und ihre beiden Begleiter. „Huch, wer seid denn ihr? Wo kommt ihr her? Wo wollt ihr hin?“ Nadja freut sich. „Hallo, liebe Robbe. Ich bin Nadja und das sind Petermann und Lawinia. Wir kommen aus der Stadt und suchen den Weihnachtsmann im Land der tausend Kinderträume am Nordpol! Kannst du uns helfen und uns den Weg zeigen?“

 „Malix nochmal!“ „Du meinst „verflixt“ nochmal?“, fragt Nadja. „Nein, Malix nochmal!“, antwortet die kleine Robbe. „Ich heiße Malixa und das Wort, das du meinst, kann ich nicht aussprechen. Aber hört mal: Der Weg ins Land der tausend Kinderträume ist sehr gefährlich. Viele Kinder haben es schon versucht und…“ „…sind nie wieder zurückgekehrt!“, fällt ihr Nadja wütend ins Wort. „Jetzt reicht es aber. Wir haben nicht den weiten Weg gemacht, um uns dumme Sprüche anzuhören. Wir wollen zum Weihnachtsmann. Kannst du uns nun helfen, ja oder nein?“ Die Robbe rollt erstaunt mit ihren großen Kulleraugen. „Das nenne ich Malix nochmal. Aber ich muss meinen Fisch eh fangen. Sonst bekomme ich heute kein Abendbrot mehr. Folgt mir!“

 Geschickt stellt sich Malixa auf ihre Schwanzflosse, die grell aufblinkt. Eine scharfe Schlittschuhkufe kommt zum Vorschein und als sich die Robbe erneut aufrichtet, erscheint eine Zweite. Sie läuft um die Gruppe herum, wechselt mit einem Dreier auf Rückwärts, setzt über und springt in eine Pirouette. Dabei erhöht sich ihre Rotationsgeschwindigkeit derartig, dass Nadja vor Staunen den Mund nicht mehr zu bekommt. „Whow, damit kriegst du bei uns im Wettbewerb garantiert die höchste Bewertung!“, meint sie anerkennend.

 Dann muss sich auch Nadja beeilen, denn Malixa taucht unter der Schneewehe durch. Dahinter beginnt das gefrorene Eismeer, welches an einigen Stellen offen ist, damit die Robben zum Luftschnappen an die Wasseroberfläche kommen können. Nadja schaut genau hin, in welche Richtung sie läuft. Sie trägt ihren warmen Winteranorak und der ist nicht wasserdicht. Es wäre sehr schlimm, wenn sie in eines der offenen Löcher fallen würde. Auch Petermann hüpft sehr vorsichtig von einem Bein aufs andere. Sein Fell verträgt gar kein Wasser. Lawinia behält den Überblick und fliegt vor ihnen her. Sie bemüht sich, rechtzeitig einen Warnruf für die beiden auszusenden. Und wieder kommt nach einer Weile ein furchtbarer Schneesturm auf. Der Wind wird so heftig, dass die Gruppe anhalten muss. Dicke Schneeflocken fallen auf sie nieder. Es ist inzwischen ganz dunkel geworden. Erschöpft sinkt Nadja auf den Boden. Auch die anderen sind müde und einen Augenblick später liegen alle ganz dicht beieinander gekuschelt im tiefsten Schlaf.

 

Der Mond ist auf Frost aufgegangen und schaut überrascht zu den Reisenden herab. Er überlegt nicht lange. Es ist sehr kalt und Nadja, die als Menschenkind nicht dauernd draußen lebt, so wie Petermann, Lawinia und Malixa, muss dringend in ein warmes Haus gebracht werden. Gevatter Mond nimmt sein Mikrophon in die Hand und pustet hinein.

 „Flix 1, bitte einmal in die Zentrale kommen!“, ruft er aus. Im nächsten Moment geht die Tür auf und ein kleines Wesen mit übergroßem Kopf, in einen silbermetallisch glänzenden Raumanzug gehüllt, erscheint eifrig und pflichtbewusst. „Sie haben gerufen, Chef?“ „Ja, Flix, was siehst du da?“ Der Mond zeigt auf die Reisegruppe und auf Nadja.

 Flix ist entsetzt. Ein kleines Mädchen in bitterster Kälte. Das geht gar nicht. Da muss sofort etwas geschehen. Die Flixe sind Helfer in der Not und auf Rettungsmaßnahmen jeglicher Art trainiert. Flix 1 ist in höchste Alarmbereitschaft versetzt.

 Schon wieder ein Kind, das zum Weihnachtsmann möchte!, denkt er. Er weiß gar nicht mehr, wie viele er schon auf dem kalten Frost vor dem sicheren Kältetod gerettet hat. Flix 1 gibt per Gedankenübertragung routinemäßig sofort eine Notmeldung an die Flixzentrale, damit sich die Mitarbeiter dort augenblicklich auf den Weg machen können. Dann benachrichtigt er auf dieselbe Art und Weise den Kontrollrat der Elfenpolizei am frostlichen Nordpol. Der Weihnachtsmann wird umgehend über die Eindringlinge informiert. „Die Rettungsaktion läuft an, Chef. Ich empfehle mich und werde vor Ort koordinieren.“ „Tu das, Flix. Und dann erwarte ich deinen Bericht auf meinem Schreibtisch“, brummt der Mond.

 Er muss jetzt endlich ein ernstes Gespräch mit dem Weihnachtsmann führen. Natürlich existiert der Weihnachtsmann wirklich und auch die riesige Spielzeugfabrik am Nordpol, tief unter dem Planeten, ist real. Warum der Weihnachtsmann sich auf Frost im Gegensatz zum Erdenweihnachtsmann den Kindern nicht zeigen will, ist ihm unverständlich. Gewiss, Santa Frost, wie er von den Menschen auf dem Eisplaneten genannt wird, will keinen Rummel um seine Person und er will vor allem, dass die Kinder voll Vertrauen an ihn glauben. Es ist einfach, an etwas zu glauben, dass man sieht und anfassen kann. Aber es ist eine Herausforderung an den Weihnachtsmann zu glauben, wenn man ihn nicht sehen kann, sondern nur die Ergebnisse seines Besuchs bestaunen darf, in Form der Geschenke, die er jedes Jahr am Heiligen Abend unter den Tannenbaum in die Wohnzimmer der Menschen legt. Doch der Mond weiß aus Erfahrung, dass Theorie und Praxis oft sehr weit auseinanderklaffen.

 Während die jüngeren Kinder noch problemlos an den Weihnachtsmann glauben können, fangen die Älteren schon ab dem zehnten oder elften Lebensjahr an, an seiner Existenz zu zweifeln und die Erwachsenen glauben gar nicht mehr an ihn. Santa ist ein Dickschädel und für Reformen nicht zu haben. Alles soll so bleiben wie es ist. Auch wenn darunter seine Popularität leidet und er nur noch ganz kleine Fans hat. Der Mond seufzt. Jedes Jahr sterben Kinder im Eis, nur weil sie den Weihnachtsmann besuchen wollen und nicht rechtzeitig von den Flixen gerettet werden können. So darf es nicht weiter gehen. Er greift zum Telefon und meldet sich auf Frost im Vorzimmer des Santa an. Glücklicherweise hat ein anderer Besucher abgesagt und morgen früh wäre bereits ein Termin frei, wie ihm die Elfensekretärin mitteilt.

 

Auf Frost wird die Stelle, an der Nadja mit ihren Gefährten schläft, bereits in fahles Licht getaucht. Ein erstes Bataillon von zwanzig funkelnden Flixen ist schon eingetroffen. Die kleinen Helfer tragen Lampen an ihren Uniformen und sie sind außerdem in der Lage durch phosphoreszieren ihres Metallkörpers zusätzliches Licht zu erzeugen. Was nun geschieht ist für die Flixrettungsleute reine Routine. Im Rentierstall am Nordpol werden Tom und Brownie vor den Schlitten gespannt. Warme Decken liegen bereits darin. In kurzer Zeit sind die beiden Rentiere einsatzbereit. Auch für sie gilt: Cool bleiben und die eingeübten mechanischen Abläufe routinemäßig abspulen. Trotzdem können Tom und Brownie ihre Gefühle nicht ganz ausschalten und freuen sich stets, wenn ihnen eine glückliche Rettung gelungen ist. Das passiert nicht immer und sie leiden sehr darunter, wenn sie wieder einmal zu spät am Einsatzort angekommen sind.

 „Ich habe heute ein gutes Gefühl. Aber wir sollten keine Sekunde zögern“, meint Brownie, der im Rang eines Hauptmannes den Schlitten befehligt. „Ja, Sir. Es ist alles zur Abfahrt bereit. Wenn die Peitsche des Kutschers ertönt: Voller Galopp voraus!“ Oberleutnant Tom scharrt unruhig mit den Hufen und spitzt voll konzentriert seine Ohren. Der Elfenkutscher sitzt inzwischen auf dem Kutschbock. Das Signal kommt. Der Schlitten beschleunigt von Null auf 100 Kilometer in der Stunde in zehn Sekunden. Rekordverdächtig. Der Weg wird durch das Licht der begleitenden Flixe erhellt. Nach zwanzig Minuten Frostzeit ist der Einsatzort erreicht.

 

Die Flixe haben alles vorbereitet und die Schlafenden in sanfte Träume gehüllt. Miniflix Naseweis, der das erste Mal in der Einsatztruppe dabei sein darf, weist die Rentiere ein. Der Elfenkutscher und sein Begleiter steigen aus. Sie tragen zuerst die unterkühlte Nadja zum Schlitten und hüllen sie in warme Decken ein. Auch Petermann und Lawinia liegen alsbald neben ihr und werden leicht zugedeckt. Petermanns lange Ohren rutschen wieder nach unten und ziehen ihn zweimal auf den Boden zurück, bevor ihn der Kutscher in den sicheren Schlitten befördern kann. Malixa bekommt einen Platz im Gepäckfach. Die beiden Rentiere rümpfen etwas die Nasen. Die Robbe strahlt einen sehr tranigen Fischgeruch aus. Die Rettung scheint erfolgreich zu werden. Ein paar Minuten später setzt sich der Schlitten wieder in Bewegung. Sie erreichen den Nordpol schnell. Nadja wird ins Elfenhospital gebracht und in ein warmes Bett gelegt. Auch die Tiere erhalten einen Platz im Stall.

 

Der Weihnachtsmann auf Frost lebt und arbeitet in einer unterirdischen Stadt, die aus ganz vielen Spielzeugfabriken besteht. Es gibt auch Wohnhäuser, Kantinen und Geschäfte für die tausenden Mitarbeiterelfen. Ein Krankenhaus und eine Schule für die Elfenkinder, sowie natürlich der Stall und die Zuchtstation für die Rentiere des Santa runden das Bild ab. Der Elfenreporter Neugierig vom Weihnachtskurier ist bereits unterwegs und versucht seine ersten Fotos von den Geretteten zu machen. „Weiß man schon, wer sie sind?“, fragt er Brownie. Doch der Rentierhauptmann hält sich wie immer bedeckt. „Kein Kommentar, warten Sie auf den Bericht der offiziellen Stelle!“, wehrt er den emsigen und neugierigen Journalisten ab. Doch der wäre ein schlechtes Beispiel für seinen Berufsstand, wenn er so schnell klein bei geben würde.

 Naseweis wird sein nächstes Opfer. Der kleine Frechdachs, der eigentlich noch in den Flixkindergarten geht, fällt sofort auf die geschickte Befragungstechnik des gewieften Zeitungsbesitzers herein. Naseweis hat inzwischen erfahren, dass das Mädchen Nadja heißt und plaudert locker aus dem Nähkästchen. Neugierig schießt sogleich ein Foto von dem kleinen Flixjungen, der noch nicht ahnt, welche Strafe ihn zu Hause für seine Indiskretion erwarten wird. Es ist den Flixen nämlich strengstens untersagt, etwas über die Geretteten zu erzählen. Nur Flix 1 gibt Interviews. Das gehört zur Seriosität der Einsatztruppe.

 Mama Naseweis, die heute ausnahmsweise keinen Kitaplatz für ihren Sohn bekommen hatte und ihm deswegen wohl oder übel erlauben musste, mitzukommen, sieht entsetzt, wie sich der Reporter zufrieden entfernt. „Naseweis!“, ruft sie wütend. „Du kommst sofort hierher. Weißt du nicht, dass du keine Interviews geben darfst, du Lausebengel? Wir Flixe sind Geheimnisträger. Niemals dürfen wir Außenstehenden etwas über unsere Arbeit erzählen. Nur Flix 1 ist dazu befugt. Hoffentlich gibt das keinen Ärger. Ach, und das alles, weil die Kita heute überfüllt war.“ Mama Flix macht sich ernsthafte Sorgen über die Folgen des unplanmäßigen Ausflugs ihres jüngsten Nachwuchses. Auch Naseweis erinnert sich dunkel daran, mal etwas von den besonderen Regeln seiner Zunft gehört zu haben. Oh je, denkt er. Ich gehorche jetzt wohl besser, bevor ich noch mehr anstelle. Schuldbewusst bleibt er an der Seite seiner Mutter, die ihm nach einem Stoßgebet in den Himmel wieder einmal nicht böse sein kann.

 

Im Krankenhaus haben sich die Elfenärzte und Krankenschwestern um Nadja gekümmert. Sie ist außer Lebensgefahr und schläft. Als Santa Frost von dem ungebetenen Besuch erfährt, reagiert er, wie immer, erst einmal unwirsch. Santa ist in seinem Verhältnis zu Kindern gespalten. Als Weihnachtsmann liebt er sie natürlich und freut sich an ihren leuchtenden Augen, wenn er durch sein Fernrohr in die Wohnungen schaut und sieht, wie glücklich er die Kleinen am Heiligen Abend mit seinen Geschenken gemacht hat. Die ganz Kleinen sind ja wirklich noch niedlich, denkt er. Sie glauben an mich. Das Problem sind die Älteren. Irgendwann fangen sie zu zweifeln an und dann ist schnell alles vorbei. Sie kaufen ihre Geschenke in den großen Warenhäusern und Wunschzettel von Erwachsenen erhalte ich so gut wie gar keine mehr. Die Menschen wissen gar nicht, wie sehr sie sich dadurch selbst berauben. Aber, vielleicht hat der Mond Recht und ich sollte mich den Kindern  zeigen. Es reicht ja, wenn ich es bei den ganz Kleinen mache. Wenn sie ihre Erinnerung behalten, vergessen sie mich auch nicht mehr. Ich sollte mit dem Mond darüber reden, brummelt er in sich hinein. Dann nimmt er den nächsten Stapel Wunschzettel in die Hand. Sein Elfenmitarbeitersekretär Jagomir klopft an die Tür und bringt ihm eine neue Mappe.

 

„Santa, hier ist die Post von heute. Ich habe sie bereits vorsortiert. Man muss sich wundern, wie sich die Wünsche der Kinder in den letzten Jahren verändert haben. Sehen Sie: Früher wünschten sich die Kinder einen Ball oder eine Puppe. Manchmal auch eine Holzeisenbahn. Und jetzt lesen Sie: Hier wünscht sich der sechsjährige Martin aus der Oststadt ein Handy, aber nur ein neues i-Phone 6, einen PC und jede Menge Weltraumspiele für den Computer. Oder hier: Saskia, acht Jahre aus der Südstadt. Sie wünscht sich wenigstens noch ein paar neue Schlittschuhe, weil ihre alten zu klein geworden sind. Aber sie macht gleich einen Zusatz: Nicht unter 400 Euro. Sie will richtige Turnierschlittschuhe, mit denen sie Sprünge üben kann. Ach, ein neues i-Phone 6 steht auch auf ihrer Wunschliste ganz oben. Wohin soll das bloß noch führen?“

 

„Ich weiß es nicht, Jagomir. Haben wir denn genügend von den neuen Handys vorrätig? Die Schlittschuhe haben wir nicht, das weiß ich. Aber Saskia bekommt einen Gutschein für eine Maßanfertigung. Das haben die Eltern schon abgesprochen. Wir legen ihr eine Barbiepuppe als Eislaufprinzessin und ein paar schöne Bücher dazu.“

„Sehr wohl, Sir. Ich werde gleich die Handyfirma anrufen und noch eine Raumschiffladung der neuesten i-Phone Generation bestellen. Wenn wir einige übrig behalten, dann haben wir auch für die Erwachsenen noch Geschenke. Wie wollen Sie mit dem Besuchermädchen verfahren? Sie heißt Nadja und kommt aus der Nordstadt, nicht wahr?“ „Ich überlege, ob ich mich nicht doch den Kindern zeige, Jagomir. Vielleicht kann ich sie dadurch wieder mehr motivieren an mich zu glauben. Ich werde Nadja im Krankenhaus besuchen, wenn sie wach ist. Normalerweise lösche ich ja die Erinnerung der Kinder, die es bis hierher geschafft haben, bevor ich sie wieder nach Hause schicke. Ob ich es diesmal anders machen soll? Was meinen Sie?“

 

Jagomir arbeitet seit 150 Jahren für Santa Frost. Sie sind auch beide annähernd gleich alt. Er hat seinen Chef noch nie so nachdenklich gesehen. Aber ihm ist die rasante Entwicklung der Technik nicht verborgen geblieben und die veränderte Gesellschaft bei den Erwachsenen hat auch viele Veränderungen bei den Kindern hervorgerufen. „Wir sollten einmal mit dem Mond sprechen. Er ist weltoffen und sehr erfahren. Möglicherweise weiß er einen Rat. Ich wäre für meinen Teil auch dafür, etwas mehr Fortschrittlich zu denken.“ Jagomir verbeugt sich leicht und verlässt das Büro des arg gebeutelten Weihnachtsmannes.

 

 

 

 

 

 

 

 

Im Land der tausend Kinderträume

Nadja gähnt und schlägt die Augen auf. Sie denkt an ihren Traum. Sie war mit Petermann, Lawinia und einer Robbe mit Namen Malixa unterwegs zum Nordpol gewesen. Der Eisbär Robert hatte sie bis zum Rand des Gletschergebirges gebracht. Dann kamen viele kleine helle Glühwürmchen und sie wurde in eine Decke gehüllt. Nadja liegt nun in einem Krankenzimmer. An ihrem Arm ist eine Kanüle befestigt. Ein Kasten steht neben ihrem Bett und gibt laufend komischeTöne von sich.

 Wo bin ich?, überlegt sie. Was ist das für eine merkwürdige Musik? Noch ehe sie weiterdenken kann, öffnet sich die Tür und Elfenoberschwester Cornelia tritt ein. Ein freudiges Lächeln zaubert sich augenblicklich auf deren Gesicht.

 „Hallo, Nadja. Schön, dass du endlich wach bist. Santa Frost hat schon nach dir gefragt. Er will dich alsbald besuchen!“ Cornelia trägt nicht wie auf Frost üblich eine weiße Schwesterntracht, sondern ein knallrotes Kleid. Ihre Haut ist etwas grünlich gefärbt und sehr runzlig. Sie gleicht einem Schimpansen. Nadja hat Filme über die Affen auf der Erde gesehen und die Frau ähnelt diesen Tieren. Sie hat auch merkwürdig spitzzulaufende Ohren, die sehr weit vorne am Kopf sitzen. Nadja wundert sich, aber sie fühlt sich in Cornelias Nähe sicher und geborgen. „Bin ich im Land der tausend Kinderträume?“, fragt sie die Schwester. „Ja, Nadja. Du bist gerade noch rechtzeitig von den Flixen gerettet worden.“ „Flixe? Sie meinen die Glühwürmchen?“, staunt Nadja. Cornelia lacht. „Ich heiße Cornelia. Alle nennen mich nur Conny. Ich sage der Ärztin Bescheid, dass du aufgewacht bist. Dann darfst du bestimmt auch bald aufstehen. Möchtest du etwas trinken? Eine heiße Schokolade, vielleicht?“ Nadja nickt freudig. Sie hat es also geschafft. Nun dauert es nicht mehr lange und sie wird ihm endlich gegenüberstehen, dem Weihnachtsmann. Dann kann sie auch wieder an ihn glauben und ihre kleine Welt kommt in Ordnung.

 

Am Abend sitzt sie zusammen mit Petermann, Lawinia und Malixa in der großen Halle bei Santa Frost. Nadja ist selig. Es gibt den Weihnachtsmann wirklich. „Lieber Santa, ich will jetzt auch immer an dich glauben. Und ich wünschte, auch Malte würde das tun. Ich werde ihm von dir erzählen.“ Der Weihnachtsmann sieht Nadja liebevoll an. „Ich fürchte, dass wird nichts mehr nützen. Er ist schon zu alt geworden. Weißt du, die Erwachsenen verlieren den Glauben an mich schnell.“ Nadja schüttelt den Kopf.

 „Also, ich garantiert nicht, denn ich habe dich gesehen und mit dir gesprochen. Ich habe auch eine Idee, wie wir das mit Malte machen können. Er wünscht sich ein neues Handy, ein…“ Santa fällt ihr seufzend ins Wort: …ein i-Phone 6?“ Nadja staunt. „Woher… ach nee, du bist ja der Weihnachtsmann. Du kannst in die Herzen der Menschen sehen. Natürlich weißt du es. Warum bringst du ihm keines? Er schreibt keinen Wunschzettel mehr und wenn ich ihm von meinem Erlebnis bei dir erzähle und er am Heiligen Abend ein Neues bekommt, dann weiß er vielleicht, dass ich recht hatte und glaubt wieder?“

 

Der Weihnachtsmann freut sich. Das ist eine sehr gute Idee. Er wird bei Nadja nicht, wie bei den anderen Kindern, die Erinnerung an diesen Ausflug löschen, sondern sie soll damit in ihrem Zimmer wieder aufwachen und erzählen, was sie erlebt hat. „Was haltet ihr davon, wenn ihr heute und morgen meine Gäste seid? Dann führen euch die Elfen in der Stadt und in der Fabrik herum und ihr könnt euch alles in Ruhe anschauen. Morgen Abend fahrt ihr mit Tom und Brownie wieder nach Hause“, schlägt er vor. Die Gruppe ist sofort einverstanden.

 

Am anderen Tag sind sie schon früh auf den Beinen. Jagomir hat ein straffes Programm zusammengestellt. Alle hören sich begeistert an, wie in den Fabriken die vielen Spielzeuge hergestellt werden. Alles, was nicht selbst am Nordpol produziert werden kann, wird auf der Erde oder auf anderen Planeten bestellt und mit Raumschiffen eingeführt. Es gibt eigentlich im Land der tausend Kinderträume nichts, was es nicht gibt. Gegen Mittag essen sie in der Kantine. Um vier Uhr treffen sich alle Elfen und die Besucher in der großen Eisbahn.

Die Elfen sind gute Kürläufer und zeigen gern ihr Können. Viele üben in der Eistanzgruppe. Nadja und ihre Freunde dürfen bei der großen Gala mitlaufen und ihre Sprünge und Pirouetten zeigen. Als sie am Abend müde in den Rentierschlitten steigen, hat Nadja mehrere Tüten voller Schokolade und Gummibärchen dabei. Sie will Anna eine Freude machen und auch den anderen Kindern in ihrer Klasse etwas abgeben. Annas Wunschzettel ist beim Weihnachtsmann angekommen und genehmigt worden. Und für den ungläubigen Malte hat Santa bereits ein i-Phone 6 zurückgelegt. Zum Abschied erhalten die Freunde noch ein Glas warme Schokolade.

 

Dann legt der Weihnachtsmann einen Zauber über sie und lässt alle einschlafen. Tom und Brownie hören die Peitsche des Kutschers knallen und setzen sich sanft in Bewegung. Jetzt haben sie es nicht mehr eilig. Sie wollen ihre Fracht nur sicher wieder nach Hause bringen. Unterwegs setzen sie Malixa ab. Die kleine Robbe hat einen großen Fisch bekommen und freut sich schon auf das Abendessen. Lawinia fliegt mit einer Maus in ihre Nisthöhle und Petermann schleppt einen großen Rucksack voller Mohrrüben zu seinen Geschwistern. Dann hält der Kutscher vor Nadjas Elternhaus an.

 

Behutsam trägt er sie ins Kinderzimmer und legt sie auf ihr Bett. Dann spricht er den Aufwachzauber und Nadja reibt sich die Augen. Sie blickt sich um. Ihr Schulranzen steht neben ihrem Schreibtisch. Alles ist, wie immer. Nur, wo kommen die drei Tüten mit den Süßigkeiten her? Nadja schmunzelt. Es klopft an ihrer Tür. Malte tritt ein. Er wundert sich, dass Nadja auf dem Bett liegt und dann hört er eine wundersame Geschichte von seiner kleinen Schwester. Die Schokolade schmeckt ihm. Ihm ist egal, woher Nadja sie hat. Angeblich ist sie vom Weihnachtsmann, aus seiner Fabrik am Nordpol. Malte besinnt sich. Nadja ist noch klein. Soll sie ruhig weiter an Santa Frost glauben, denkt er. Sie wird die Wahrheit über ihn noch früh genug erfahren.

 

PS: Malte glaubt inzwischen auch wieder an den Weihnachtsmann.

Ratet mal, was für ihn am Heiligen Abend unter dem Tannenbaum lag!

 

 

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 12.10.2014

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