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Nur Gott war Zeuge



Mit Spannung wurde der neue Roman erwartet. Die fünfundsiebzigjährige Autorin, Andrea Sardin, war Theologieprofessorin gewesen. Doch nachdem sie in den Ruhestand treten konnte, hatte sie nicht nur damit begonnen theologische Fachbücher zu schreiben, sondern entwickelte auch ein besonderes Talent für Kriminalgeschichten. Nach nur zwei Jahren war die engagierte Feministin zur renommiertesten Krimiautorin Deutschlands aufgestiegen.
Die Fachwelt zeigte sich beeindruckt und pries das neueste Werk der begnadeten Schriftstellerin schon etliche Wochen vor Veröffentlichung als größte Sensation im Krimigenre. Die Werbetrommel konnte für Andrea Sardin nicht besser laufen. Auch der inzwischen pensionierte Kriminalhauptkommissar Friedrich Weilheim gehörte zu ihren glühenden Verehrern. Ihre Geschichten waren stets so gut recherchiert, dass selbst der eingefleischte Kriminologe Friedrich glaubte, reale Fälle aus seinem Berufsalltag zu erleben. Fast schien es, als verschmolzen Mörder und Autorin zu ein und derselben Person. Zum besonderen Stil der Andrea Sardin gehörte es nämlich auch, dass ihre Mörder ausschließlich dem weiblichen Geschlecht angehörten.
Es regnete an diesem Montagmorgen. Friedrich hatte sich seine Regenjacke angezogen und auch den Schirm dabei, als er um 8.10 Uhr seinen Lieblingsbuchladen betrat. Die Besitzerin empfing ihn mit einem warmen Lächeln auf dem Gesicht. Sie griff gezielt unter die Ladentheke und legte ihrem besten Kunden strahlend den neuesten Band der umjubelten Autorin auf den Tresen. Friedrich Weilheim schmunzelte. Er blickte auf den Einband und stutzte dann merkwürdig berührt. Auf dem weißen Cover stach ihm der Titel in roter Schrift ins Auge: Der erschlagene Professor. Daneben waren Blutspritzer abgebildet und … Friedrich starrte auf das Buch: Der Fußabdruck eines Damenschuhs, genauer gesagt waren es Pumps der Größe vierzig. Irritiert griff der Pensionär in seine Hosentasche und zog das Portemonnaie heraus. Einen Augenblick später verließ er mit einer kleinen Plastiktüte in der Hand das Geschäft und machte sich auf den Heimweg.
Sein letzter Fall ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Es handelte sich um den einzigen Mord, den der erfolgreiche Hauptkommissar nicht aufklären konnte. Auch heute, zehn Jahre nach seiner Pensionierung, gehörte die Tat immer noch zu den unerledigten Fällen und der Mörder lebte frei und unbehelligt unter ihnen. Was geschah damals?
Es war ein regnerischer Septembermorgen gewesen, wie heute, als der aufgeregte Anruf eines Gärtners auf dem Polizeirevier einging. Der Mann sollte den Rasen an der Villa des Kölner Sexualmediziners Prof. Dr. Dr. Martin Börner mähen und hatte seinen Auftraggeber vor wenigen Minuten tot in dessen Gartenhaus aufgefunden. Polizei, Spurensicherung, Gerichtsmedizin: Sie alle erschienen kurze Zeit später vor Ort und Friedrich Weilheim nahm natürlich sofort die Ermittlungen auf. Bei der Tatwaffe handelte es sich um einen Spaten aus dem Gartenhaus. Weilheim fand ziemlich Wunderliches heraus. Der verwitwete Professor hatte ein Doppelleben geführt. Nach außen nahm er als aktives und geschätztes Mitglied rege an der Gemeindearbeit der katholischen Kirche teil, ließ nie eine Sonntagsmesse aus und traf den Priester nicht nur regelmäßig zur Beichte, sondern auch, um mit ihm Wohltätigkeitsveranstaltungen zu Gunsten des Kinderheims und der Armenhilfe zu organisieren. Doch der unscheinbare Professor lebte mit einem bizarren Problem: Als Homosexueller hatte er Zugang zur Schwulenszene der Domstadt gehabt. Auch war dort seine besondere Vorliebe für Transsexuelle bekannt. Professor Börner wurde bei Konzerten oder Opernaufführungen sehr häufig in extravaganter Damenbegleitung gesehen. Als Leiter der Sexualmedizin saß er an der Quelle: Zum Gutachter für Geschlechtsangleichungen bestellt, konnte er ständig auf neue Bekanntschaften unter seinen Patientinnen zurück greifen. Natürlich ermittelte die Polizei sorgfältig in diese Richtung, zumal als einziges Indiz der Abdruck eines Damenschuhs, wahrscheinlich eines Pumps der Größe vierzig, sichergestellt wurde. Ansonsten: Keine Fingerabdrücke, keine DNA. Nichts! Der Mörder hatte ganze Arbeit geleistet und den Professor von vorne mit dem Spaten erschlagen, ohne verwertbare Spuren zu hinterlassen. Friedrich Weilheim seufzte laut auf. Er schob seinen Regenschirm zusammen und öffnete die Haustür. Hier drinnen war es warm und trocken. Als erstes kochte er Wasser, um sich dann mit einer Kanne schwarzen Tees nebst Krimi ins Arbeitszimmer zu begeben. Nachdem er es sich in seinen gemütlichen Lesesessel bequem gemacht hatte, nahm er das Buch aus der Plastiktüte. Die nun folgenden Stunden konnten als ungewöhnlich bezeichnet werden. Normalerweise las der eingefleischte Kriminalist nur stets ein Kapitel durch und ließ sich mehrere Tage mit seiner Lektüre Zeit. Doch dieser Roman irritierte ihn. Friedrich verließ den Sessel nur noch, um zur Toilette zu gehen oder einmal, um sich frischen Tee aufzubrühen. Er verschlang die vierhundertfünfzig Seiten an einem Stück. Dabei schüttelte er mehrmals ungläubig den Kopf. Am späten Abend fiel dieser zur Seite und das Buch auf den Boden. Friedrich schlief bis zum nächsten Tag und erwachte erst gegen Mittag. Er dachte kurz nach und wählte unrasiert und ungewaschen eine ihm wohl bekannte Telefonnummer.
„Kriminalpolizei Köln, Kommissar Peter Franzen am Apparat“, tönte eine blecherne Stimme aus dem Hörer. „Ja, Franzen, Weilheim, können Sie mir die Akte Börner herbringen, bitte? Es ist wichtig und ich brauche sie sofort hier.“ Franzen stutzte. Er kannte den Fall und wusste, wie nah er seinem ehemaligen Boss ging. Dessen Stimme klang sachlich wie immer. Franzen überlegte nicht lange. „Ja, geht klar, Chef. Ich bin in gut einer halben Stunde bei Ihnen.“ Was er zu diesem Zeitpunkt nicht ahnte: Er würde die nächsten zwei Nächte nicht zu Hause sein. Denn, Peter Franzen saß bis zur totalen Erschöpfung im Lesesessel des pensionierten Kollegen Weilheim, trank literweise Kaffee, um wach zu bleiben und musste ein Buch lesen. Er, der dicke Bücher nicht nur hasste, wie der Teufel das Weihwasser, und niemals freiwillig einen Krimi in die Hand nehmen würde, wurde von seinem Boss dazu verdonnert, sich mit einer äußerst merkwürdigen Geschichte zu befassen.
In dem Buch ging es nämlich um einen Fall, welcher interessante Ähnlichkeiten mit dem wahren Mord am Kölner Professor aufwies. Ein Sexualmediziner war erschlagen in seinem Gartenhaus aufgefunden worden. Alles stimmte. Beruf, Tatwaffe, der Verdacht der Polizei: Es war Mord. Sogar der bedauernswerte Gärtner als Finder der Leiche fehlte nicht. Franzen konnte in dem Roman vieles aus seiner Akte wieder entdecken, die sich, während er las, in den Händen seines Vorgesetzten befand, der sie erneut durchblätterte, in der festen Überzeugung, irgendetwas übersehen haben zu müssen. Doch dann setzte Franzens Verstand endgültig aus. Die Autorin beschrieb haargenau das bizarre Sexualleben des Getöteten und ließ dann anscheinend ihrer Phantasie freien Lauf. So hätte der Priester der Gemeinde selbst ein dunkles Geheimnis zu bewahren gehabt:
Der fünfundsechzigjährige Gottesmann fühlte sich bereits seit frühester Jugend als Frau und war transsexuell. Mit annähernd sechzig Jahren fasste er sich endlich ein Herz und fuhr in Zivilkleidung in eine andere Stadt, um dort Damengarderobe für sich ein zu kaufen. In der Folge mietete der ehrwürdige Pfarrer unter falschem Namen als Frau verkleidet eine Wohnung. Er führte dort viele Jahre ein Doppelleben. Als Beichtvater des Professors erfuhr er natürlich auch von dessen Veranlagung. Die beiden Menschen tauschten sich aus und der katholische Priester wurde in weiblicher Rolle die Geliebte des Leiters der Sexualmedizin. Franzen zitterte, als er weiter las. Es war nur ein Buch, ein Krimi, eine erfundene Geschichte. Die Autorin hieß Andrea Sardin, und wurde als Theologin und Schriftstellerin im ganzen Land geschätzt. Er stutzte und drehte das Buch um. Andreas Sarde war der Name des Romanpriesters. Der wahre Priester damals hieß natürlich anders. Franzen las weiter und erfuhr, dass der Pfarrer nach dem Tod seines Freundes aus dem Priesteramt ausschied und sich als Theologe in einer anderen Stadt niederließ. Er lebte nach erfolgreicher Geschlechtsangleichung bis zum heutigen Tag als Frau. Franzen schluckte. Über die Tat und den Mörder erfuhr er nichts. Der Fall wurde, wie im wirklichen Leben, als ungeklärt abgelegt und archiviert.
Der hagere Kriminalinspektor legte das Buch auf den kleinen Glastisch neben seinen Sessel und atmete hörbar aus. Weilheim blickte interessiert von seiner eigenen Lektüre auf. „Was sagen Sie dazu, Franzen?“ „Ich weiß nicht recht, Chef. Das ist schon sehr merkwürdig. Manchmal hat man das Gefühl, sie kennt unsere Akten und es deckt sich vieles mit dem, was wir später über den Professor recherchierten. Allerdings ging der Fall ja auch durch die Presse. Sie weiß über den Fundort und die Lage des Spatens Bescheid und beschreibt das Gartenhaus sowie Einzelheiten der Gegenstände dort. Der wahre Priester hieß Markus Weber und war mit dem Professor befreundet. Es ist anzunehmen, dass er sich auch auf dem Grundstück auskannte. Wenn Sie mich fragen, diese Andrea Sardin kann mit Markus Weber identisch sein.“ Franzen verstummte. Ihm wurde plötzlich die Ungeheuerlichkeit seines Gedankenganges bewusst. „Was, Peter? Nun sprechen Sie es doch endlich aus!“ Der Angesprochene blickte seinen ehemaligen Chef überrascht an. Noch nie hatte dieser einen der Kollegen mit dem Vornamen angeredet. Er stotterte. „E eein Priester als Mörder?“ Dann sackte er sprachlos zusammen. Friedrich Weilheim lächelte zufrieden. „Ich werde den Verlag anrufen und einen Termin mit der Autorin machen. Wenn ich mich als ehemaliger Dienststellenleiter melde und vorgebe, sie für eine Lesung vor den Kollegen gewinnen zu wollen, werde ich ihr Vertrauen haben und kann Kontakt zu ihr aufnehmen. Wir dürfen allerdings nicht mit der Tür ins Haus fallen. Es kann auch alles ganz harmlos sein. Und ich möchte mich nicht vor meiner Lieblingsautorin blamieren.“ Peter Franzen nickte zustimmend. Er bewunderte Weilheim, der in seinen Augen der beste Kriminalist in der Kölner Polizei war. Franzen würde ihm nie das Wasser reichen können.
„Haben Sie gut hergefunden, Herr Hauptkommissar?“, fragte die elegant gekleidete ältere Dame, und musterte Friedrich Weilheim mit interessiertem Blick. „Ja, danke, aber im Zeitalter der Navigationsgeräte ist das ja heute auch kein Problem mehr.“ Die Frau wies ihrem Besucher mit der Hand den Weg. „Gehen wir in mein Arbeitszimmer. Wie mir der Verlag mitteilte, möchten Sie mich zu einer Lesung meiner Werke ins Polizeipräsidium einladen?“, bemerkte sie. Friedrich Weilheim sah sich in dem geschmackvoll eingerichteten Zimmer um. Er fühlte sich zwischen den vielen Büchern sofort wohl. Nachdenklich ließ er seinen Blick über die Regale wandern. Im Kamin glühte ein Holzscheit und das leise Knistern des Feuers gab dem Raum eine anheimelnde gemütliche Atmosphäre. Einfach absurd, schoss es ihm durch den Kopf. Es handelte sich vielleicht doch nur um einen normalen Zufall. Und selbst, wenn sich die Autorin Andrea Sardin als identisch mit dem Kölner Pfarrer Markus Weber herausstellte, ja, selbst, wenn sich die transsexuelle Veranlagung und auch die Affäre mit dem getöteten Professor als wahr erwies: Diese freundliche, warmherzige Frau, oder war es ein Mann, egal, diese Person konnte kein Mörder sein. Weilheims Nase und Bauchgefühl lagen immer richtig. Er hatte während seiner Dienstzeit mit seiner Intuition unzählige Verbrecher zur Strecke und zur Verzweiflung gebracht.
Und nun war ausgerechnet er selbst es, der abgeklärte, pragmatisch denkende Kriminalhauptkommissar, welcher sich am Rande der Verzweiflung wähnte. „Gnädige Frau, ich muss mich entschuldigen. All das war nur ein Vorwand. Ich wollte Sie, ja, ich musste Sie einfach persönlich kennen lernen.“ Friedrich fühlte sich tatsächlich fast wie ein kleiner Schuljunge, der beim Lügen ertappt worden war. Andrea Sardin lächelte etwas geschmeichelt. „Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?“ „Gerne“, antwortete der gutaussehende ehemalige Polizist. Sie läutete und gab ihrer herbeigeeilten Haushaltshilfe entsprechende Anweisungen. „Nun, Herr Kommissar, oder sind Sie am Ende gar nicht bei der Polizei?“ „Doch, gnädige Frau, aber ich bin bereits Pensionär. Und ich bin wegen Ihres neuen Romans hier. Es ergaben sich Ähnlichkeiten, über die ich gerne mit Ihnen sprechen wollte.“ Andrea Sardin sah den smarten Senior mit einem Blick an, der neben Überraschung auch eine besondere Melancholie verriet. „Bitte“, bestärkte sie Friedrich. Dieser begann zu erzählen. Wie er den Roman las und welche Parallelen er zu dem wahren Fall in Köln herausgefunden hatte. Als er am Ende seines Berichts angekommen war, schenkte ihm die Hausherrin eine Tasse Tee ein. Sie machte aus ihrer Rührung keinen Hehl. Andrea Sardin sprach ein stummes Gebet und dankte Gott, dass er, der als einziger Zeuge einer unfassbaren Tat geworden war, ihr nun endlich nach so vielen Jahren erlaubte, ihr Gewissen zu erleichtern. Wie sehr hatte sie sich diesen Augenblick herbeigesehnt!
„Das Buch erzählt wirklich von einer wahren Begebenheit, Herr Kommissar. Und doch ist die Realität um vieles grausamer. Es ist die traurige Geschichte einer unglücklichen Liebe, die niemals existieren durfte und zweier Menschen, die nicht sein konnten, wer sie wirklich waren. Martin und ich liebten uns, aber wir durften unsere Zuneigung nicht zeigen. Es waren nicht nur die gesellschaftlichen Vorbehalte gewesen, sondern gerade auch bei mir, die Konflikte, die ich als katholischer Priester mit meinem Gewissen austrug. Ich konnte doch meinem Bischof nicht erklären, dass ich als Frau leben wollte. Das wäre zum einen Hochverrat an der katholischen Lehre gewesen, und zum anderen wäre der Kirche, die schon tief genug in der Kritik stand, ein weiterer Skandal entstanden. Das konnte ich auch dem Heiligen Vater in Rom nicht antun. Gott hatte mich vor die schwerste Probe meines Lebens gestellt. Doch es war nicht genug. Als,“… Andrea nahm ein Taschentuch und tupfte eine Träne aus ihrem Auge. „Als ich den Professor am Abend seines Todes besuchte, fand ich ihn im Gartenhaus. Ich trug, wie immer, wenn ich ihn traf, Frauenkleider. Martin wollte mir helfen, indem er mich dazu ermunterte. Ich war ein angesehener Pfarrer und hatte furchtbare Angst davor, dass meine Problematik in der Gemeinde bekannt würde. Martin ging sanft und einfühlsam auf mich ein. Er sagte immer, ich müsste mein eigenes Ich leben und zu meiner wahren Identität als Frau stehen. Er wollte an dem Abend trotz der späten Stunde noch einen kleinen Baum pflanzen und blickte sich nach dem Spaten um, welcher hinter mir an der Wand hing. „Wenn der Baum groß ist, Andrea, wirst auch du endlich du selbst sein. Ich werde bald dein Gutachten für die Vornamensänderung schreiben und dich zur Operation begleiten“, sagte er lächelnd. „Gibst du mir mal bitte den Spaten, er hängt hinter dir." Ich drehte mich um, nahm das schwere Gartengerät etwas zu locker in meine Hände, wohl darauf bedacht, mir nicht die neuen weißen Lederhandschuhe zu beschmutzen, und wollte ihm den Spaten reichen.
Dabei stolperte ich über die Schubkarre, welche der unglückliche Martin zusammen mit dem Baum vor mich hingestellt hatte. Der Spaten glitt mir aus der Hand und den Rest kennen Sie. Es war ein furchtbarer Unfall gewesen. Ich geriet sofort in Panik, denn ich konnte doch in meinem Aufzug nicht die Polizei anrufen! Mein Geliebter war tot. Und ich war schuld daran. Und dann lief alles gänzlich aus dem Ruder. Völlig kopflos rannte ich zum Auto und fuhr sofort nach Hause. Ich hatte noch nie im Leben eine solche Angst gespürt. Natürlich war mein Verhalten falsch gewesen und ich überlegte, wie ich der Polizei die Wahrheit mitteilen könnte. Der Gedanke, dass vielleicht ein Unschuldiger in Verdacht geriete, war mir unerträglich. Gottseidank wurde nie jemand verhaftet. Aber mein Gewissen lastete dann in der Folgezeit so schwer auf mir, dass ich den Priesterstand aufgab und die Geschlechtsangleichung durchführen ließ. Das tat ich für Martin und mich. Der Weg als Transsexueller ist sehr schwer. Ich überwand meine Ängste und erlebte, genau wie Martin es vorher gesagt hatte, Augenblicke der Glückseligkeit, als ich nach der Operation aufwachte. Mein Körper und meine Seele waren endlich eins geworden. Aber die Umstände, die zu Martins Tod führten, ließen mich nie mehr zur Ruhe kommen. Nun wissen Sie, was damals wirklich geschah. Wenn ich bestraft werden muss, bin ich bereit dazu.“ Andrea weinte und wischte sich erneut die Tränen ab.
Friedrich saß erleichtert in seinem Sessel. Jetzt konnte er seinen Fall abschließen. Das Schicksal der Autorin berührte ihn sehr, obgleich er viele ihrer Gefühle als gesunder Mann nicht nachvollziehen konnte. Aber er verstand die besonderen gesellschaftlichen Probleme, denen sie sich ausgesetzt sah. Aus dem Bericht des Gerichtsmediziners wusste er, dass der Spaten den Professor an der Schläfe getroffen hatte und der Schlag sofort tödlich gewesen war. Da hätte auch ein Notarzt nichts mehr ausrichten können. Er sah die Frau an und sprach den Verdacht aus, der ihm gerade in den Kopf kam. „Haben Sie das Buch geschrieben, um Ihr Gewissen zu erleichtern?“ Andrea nickte traurig.
„Ich glaube Ihnen, dass es sich um einen bedauernswerten Unfall handelte. Aber Sie haben die polizeilichen Ermittlungen behindert, indem Sie nicht zur Aufklärung dieses schrecklichen Geschehens beitrugen. Da gibt es allerdings wohl nichts mehr, dessen man Sie heute noch anklagen könnte. Ich werde meinen Kollegen bitten, den Bericht für die Akte diskret abzufassen.“
Die Frau tat ihm trotz ihres Fehlverhaltens leid. Er hatte ähnliche panische Reaktionen schon oft bei Leuten erlebt, von denen man es am allerwenigsten erwarten sollte. Andrea sah ihn dankbar an. Friedrich lächelte verhalten. „Würden Sie mir einen Gefallen tun und mein Exemplar signieren?“ Er reichte der erleichterten Autorin mit ihrer wirklich ungewöhnlichen Vergangenheit seinen Kugelschreiber. Dann trank er zufrieden den Tee aus und stand auf. Andrea Sardin begleitet ihn nach draußen. „Was werden Sie Ihren Kollegen zu meinem Roman sagen?“, fragte sie. „Ich denke: Dichterische Freiheit?“, antwortete Friedrich etwas verschmitzt.
Sie verzog die Lippen zu einem dankbaren Lächeln und schloss hinter ihm die Tür. Dann goss sie sich einen doppelten Whisky ein und nahm das Telefon in die Hand. „Ja“, meldete sich eine dunkle Stimme. „Chantale, hier ist Andrea. Es ist so gut wie ausgestanden.“
Dann informierte die gefeierte Autorin ihre beste Freundin über alle Einzelheiten des gerade geführten Gesprächs. Die Frau am anderen Ende atmete hörbar auf. „Sie haben es also geschluckt. Und hat er etwas über die Schuhe gesagt? Du hast doch größere Füße als ich, es kann deshalb nicht dein Abdruck gewesen sein?“ Andrea hielt inne. Ein kurzer Blick aus dem Fenster und ihre Wachsamkeit war sofort wieder hergestellt. Auf der Veranda standen noch ihre Gartengummistiefel. Da käme man mit Größe vierzig wohl nicht ganz aus. „Das hat der alte Trottel nicht mehr erwähnt. Ich muss zu gut gewesen sein. Doch Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Du hast völlig recht. Das ist der einzige Knackpunkt. Aber ich wollte aus Altersgründen ohnehin in ein paar Monaten nach Brasilien zu meiner Nichte ziehen. Die haben dort mit Deutschland noch immer kein Auslieferungsabkommen. Sei unbesorgt. Der liebe böse Martin wird dich niemals mehr quälen und auch keine Gutachten mehr hinauszögern. Er war ein Schwein und hat seine gerechte Strafe bekommen. Eine Frau Dr. Petersen schreibt als seine Nachfolgerin seit fünf Jahren unsere Gutachten und die macht das sehr gut. Mit dem Kommissar werde ich schon fertig. Der Fall ist eh bereits abgelegt und er darf als Pensionär eigentlich gar keine Ermittlungen mehr führen. Mein Anwalt wird ihn in Stücke reißen.“ „Danke, Andrea, ich weiß nicht, was ich ohne dich damals getan hätte.“ Andrea lächelte. „Ist schon gut, Herzchen, wir müssen doch zusammenhalten. Und nun denk an etwas Schönes. Vielleicht besuchst du mich mal in Brasilien?“ „Das werde ich bestimmt, tschau Andrea.“ „Tschau, Bella.“
Friedrich saß in seinem Arbeitszimmer und schrieb den Abschlussbericht selbst per Hand für die inzwischen schon sehr abgegriffene Akte. Er fühlte sich rundherum wohl. Zum einen konnte er diesen haarsträubenden Fall endlich zu Ende bringen und, was ihn noch mehr freute, er durfte dabei sogar seine Lieblingsautorin kennen lernen. Er trank sein Glas aus. Friedrich war passionierter Weintrinker. Er liebte Burgunder über alles und diese Flasche hatte er sich für besondere Momente zurück gelegt. Ein gellender entsetzlicher Schrei drang an sein Ohr und ließ ihn aufschrecken. Irgendjemand schien in der Wohnung über ihm plötzlich den Fernseher lauter gestellt zu haben. Ach, diese dämliche Schuhwerbung. Friedrich schüttelte den Kopf. Schuhe? Was war da noch gewesen? Ein kurzer Gedanke blitzte in seinem Kopf auf und war eine Sekunde später schon wieder verschwunden. Er sah ein Bild vor seinem geistigen Auge, das er nie wieder los werden sollte. Doch er wusste das Paar Gummistiefel der Größe dreiundvierzig bis vierundvierzig im Augenblick noch nicht unterzubringen. Egal, dachte er.
Das Wichtigste war, dass der Fall endlich gelöst werden konnte. Dann rief er Franzen an.

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Texte: alle Rechte beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 20.12.2012

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Widmung:
Beitrag zum Wettbewerb: „Verdacht auf Mord” Thema: „Der erschlagene Professor“

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