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Ein neues Leben



Siegertitel im bookrix Schreibwettbewerb "oute dich" 2009



Ich heiße Manuel und bin fünfzig Jahre alt.
Geboren wurde ich als Mädchen. Schon als kleines Kind wollte ich ein Junge sein. Ich spielte nur mit Autos und Schiffen und war glücklich, wenn mir meine Mutter das Tragen einer Hose erlaubte. Zu meiner Jugendzeit war das nicht selbstverständlich. Mädchen hatten lange Zöpfe und trugen Kleidchen und Röcke. Als ich heranwuchs, träumte ich in einem Tagtraum, dass ich nach einem Busunfall im Krankenhaus aufwachen würde. Die Ärzte erzählten mir, sie hätten männliche Organe in meinem Bauch gefunden und müssten mich nun zu einem Jungen "umoperieren".

Niemand erfuhr etwas von meinen Träumen. Ich hatte Angst, man würde mich in eine Anstalt für Geisteskranke stecken. Meine Entwicklung setzte ein. Es war furchtbar. Blut floss jeden Monat aus meinem Körper. Ich hatte so starke Schmerzen dabei, dass Tabletten nicht mehr halfen. Auch eine kleine Brust hatte ich bekommen. Ich ging in eine reine Mädchenklasse zum Gymnasium.
Wäre ich ein normaler Junge gewesen, hätte das beim Duschen nach dem Sport sicher den Himmel auf Erden bedeutet.
Aber ich war ja eine von ihnen und war es doch nicht.
Ich fühlte mich dort vollkommen deplaziert. Nach der Schule lernte ich einen Beruf. Meine Mutter meinte, ich solle heiraten. Wenn ich erst im Kreissaal läge, um mein Baby zur Welt zu bringen, würden sich meine bizarren Wünsche sicher von selbst erledigen.

Mit vierundzwanzig Jahren tat ich ihr den Gefallen und zog zu meinem Mann aufs Land.
Unser Kinderwunsch erfüllte sich nicht. Wir waren beide unfruchtbar. Gottseidank, dachte ich. Einerseits wünschte ich mir nichts sehnlicher als ein Kind und andererseits raubte mir die Angst vor den schrecklichen Schmerzen bei der Geburt den Verstand.
Wir konnten einen kleinen Jungen adoptieren. Ich wurde Mutter und liebte meinen Sohn wie ich ein eigenes Kind nicht mehr hätte lieben können.
Dann erkrankte er und kurze Zeit später auch mein Mann.
Ich war mit all dem überfordert und wurde von meinem Hausarzt zur Diagnostizierung unklarer Rückenbeschwerden ins Krankenhaus eingewiesen. Dort konnte ich mich erstmalig einer Ärztin anvertrauen.

Sie besorgte mir die Anschrift einer auf Transsexualität spezialisierten Psychotherapeutin. Dann wünschte sie mir viel Kraft für meinen wahrscheinlich künftig wohl sehr schweren Weg.

Wie recht sie damit behalten würde, ahnte ich damals nur schemenhaft. Es begann der lange Weg zu mir, gepflastert mit einem Meer aus Tränen, dem Verlust meiner Familie, meines Mannes, meines Sohnes, meiner Eltern, meines Umfeldes und meines Arbeitsplatzes.

Als ich meinem Mann das erste Mal von den Inhalten der Therapiegespräche erzählte, stand er wortlos vom Tisch auf und meinte dann nur, wenn ich künftig als Mann leben wolle, müssten wir uns trennen.
Damals wusste ich noch gar nichts über meine Störung und war nur froh, endlich mit einem Menschen darüber reden zu können.
An eine Trennung oder an irgendwelche Veränderungen in meinem Leben hatte ich noch nicht gedacht.
Ich war Mutter, verheiratet, hatte einen Beruf, lebte in einem schönen eigenen Haus auf dem Land, war Mitglied in der Dorfgemeinschaft und als Ehefrau in die große Familie meines Mannes integriert. Meine Eltern wohnten in der Einliegerwohnung im Obergeschoß und ich war zu diesem Zeitpunkt bereits dreizehn Jahre verheiratet.

Mein Mann begleitete mich zu meiner Therapeutin, änderte seine Haltung aber nicht, im Gegenteil. Der Druck wurde so groß, dass ich einwilligte, mich in eine nahe gelegene psychosomatische Klinik einweisen zu lassen.

Dort durfte ich nicht an den Gruppengesprächen teilnehmen und musste mich isolieren. Der Chefarzt meinte, eine so bizarre Geschichte würden die Mitpatienten nicht verstehen und ich wäre doch Beamtin. Transsexuelle wären in der Regel Menschen aus der Halbwelt und dazu wollte ich doch wirklich nicht gehören wollen. Ich erzählte meine Geschichte während eines abendlichen Beisammenseins und erlebte eine Überraschung.
Die Mitpatienten hatten bereits von der Störung gehört und nahmen mich in die Arme. Ich weinte minutenlang hemmungslos. Dann setzte ich einen Besuch in einer Hamburger Selbsthilfegruppe durch. Es gab natürlich noch kein Internet und die Informationen waren schwer zu bekommen. Aber es klappte. Ich konnte zum ersten Mal im Leben Menschen treffen, die genau so fühlten, wie ich. Danach erzählte ich dem Arzt, was er hören wollte und wurde als geheilt entlassen.
Er riet uns zu einer Familientherapie. Als der Therapeut seine besonderen Kentnisse auf dem Gebiet der Transsexualität hervorhob, machte mein Mann dicht.

Die Familientherapie war beendet, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Ich fuhr wieder zu meiner Therapeutin in die Landeshauptstadt.
Wir bekamen einen Termin bei einem Spezialisten. Der schrieb mir sofort die Einweisung in die Nervenklinik aus. Mein Mann brachte mich gleich dorthin.
Aber es war auf der offenen Station kein Bett frei und als ich die Entscheidung treffen musste, in die geschlossene Psychiatrie zu gehen, meldete sich meine Selbstachtung zurück. Ich erhielt sehr starke Beruhigungstabletten und bekam von der Heimfahrt nichts mehr mit. Mein Mann war zufrieden. Er glaubte, eine Tablette würde mich wieder vernünftig werden lassen.

Zu Hause suchte ich meine Frauenärztin auf und ließ mir mit Hinweis auf die Therapie männliche Hormone verschreiben. Ich fühlte mich danach glücklich wie noch nie in meinem Leben. Aber ich bekam einen kleinen Stimmbruch.
Mein Mann schlief schon lange nicht mehr mit mir und war bereits aus dem gemeinsamen Schlafzimmer ausgezogen. Er stellte mich vor ein Ultimatum. Entweder die Hormone oder die Familie. Ich wusste keinen Ausweg mehr und bereitete meinen Selbstmord vor.
Ich würde mit dem Auto durch die Seitenbegrenzung der Hochbrücke vor der Landeshauptstadt brechen und viele Meter in den Kanal hinunterfallen. Meine Psychologin meinte lakonisch, sie würde ihren suizidgefährdeten Patienten immer sagen, "lassen Sie uns doch erstmal reden, umbringen können Sie sich dann ja immer noch". Ich willigte lachend ein und erzählte unter Tränen von meinem kleinen Sohn, der mich doch noch brauchte. Sie bestätigte mich und meine Selbstmordpläne waren verschoben.

Am Arbeitsplatz hatte ich mich bereits geoutet. Die Kollegen meinten, mit dieser Problematik sollte man besser in der Anonymität einer Großstadt leben. Unser Ort ist zu klein dazu, die Menschen wären hier noch nicht so weit.
Ich zog für vier Wochen in die Ferienwohnung einer Bekannten und begann meinen Alltagstest.
Ich trug nur noch Männerkleidung, ging mit klopfendem Herzen zunächst an der Autobahn, dann in Restaurants auf die Herrentoilette und hatte ständig Angst davor, entdeckt und bestraft zu werden. Meine Eltern erzählten, dass ich bei Hitler wahrscheinlich vergast worden wäre. Sie liebten mich und wollten nur das Beste, aber solche Erklärungen waren natürlich sehr förderlich für mein angeknackstes Selbstvertrauen.

Ich sprach bei meinem Dienstherrn vor und besorgte mir in der Landeshauptstadt eine möblierte Wohnung. Ich wollte mich begutachten lassen und dazu den Alltagstest richtig durchführen.
Das bedeutet, dass man ein Jahr in der gewünschten Geschlechtsrolle ohne operiert zu sein und ohne die rechtlichen Ausweispapiere zu besitzen, leben muss. Als ich dann ein paar Sachen einpackte und auszog, weinten mein Mann und mein dreizehnjähriger Sohn mit mir im Schlafzimmer. Mein Mann sagte, wenn ich jetzt gehe, würde es kein Zurück mehr geben und wir wären ab sofort keine Familie mehr.

Ich war inzwischen von meiner Therapeutin aufgerichtet und psychisch gestärkt worden. Sie würde mich die nächsten fünf Jahre begleiten. Doch das ahnten wir damals noch nicht. Ich drückte meinen Sohn, erklärte ihm, die Mama müsse während der Woche in der Landeshauptstadt arbeiten und natürlich wäre ich am Wochenende wieder da und wir würden auch ständig miteinander telefonieren. Die Wahrheit durfte ich ihm nicht sagen und ich hatte Angst, mein Kind zu verlieren, wenn ich meinen Mann noch mehr verärgerte.

Der Alltagstest verlief ohne Komplikationen. Ich trainierte meine Muskeln im Sportstudio, meldete mich als Mann unter dem neuen Namen dort an (das ist auch erlaubt), ging in den Tanzkursus und übte meinen Beruf nach der Versetzung in männlicher Rolle aus. Freunde fand ich in der neu gegründeten Selbsthilfegruppe und lernte auch auf der Transidentitas Fachtagung in Frankfurt viele liebe Leidensgenossen kennen.
Mein Horizont und meine Toleranz anderen Menschen gegenüber wurden in dieser Zeit in einer Weise erweitert, wie es wohl kaum einem "normalen" Menschen möglich sein wird.

Dann informierte ich mich über Operationsmethoden und traf die wenigen Operateure, die den schwierigen Eingriff von Frau zu Mann wagten.
Meine private Krankenversicherung hatte mich gleich nach Bekanntwerden der Diagnose rausgeschmissen, sodass ich eine Weile ohne Versicherungsschutz zubringen musste.
Mithilfe eines Vorgesetzten und einiger ehemaliger behandelnder Ärzte gelang die Wiederaufnahme. Als das Jahr der Begutachtung endete und zwei unabhängig voneinander tätige Gutachter die Störung und Diagnose meiner Therapeutin bestätigten, erklärte das Amtsgericht meine Vornamensänderung.

Ich durfte meinen Personalausweis ändern lassen und bekam auch endlich eine EC Karte auf meinen Namen. Äußerlich war ich schon lange keine Frau mehr und selbst eine ganz harmlose Führerscheinkontrolle hätte einige unangenehme Befragungen nach sich gezogen. Nachdem eine bekannte Fachanwältin eingeschaltet worden war, gab auch die Krankenversicherung nach und wollte wenigstens einen Teil der Operationskosten übernehmen.

Dann konnte ich in die Schweiz fahren. Der einzige Chirurg, der in der Lage war, die knifflige Operation von Frau zu Mann mit einem Penisaufbau und der dazu notwendigen Harnröhrenverlängerung durchzuführen, hatte seinen Sitz und seine Klinik in Lausanne. Der Eingriff dauerte zehn Stunden und ich brauchte dreizehn Bluttransfusionen. Als ich erwachte, rief mein Mann an. Er wollte doch wenigstens wissen, wie es mir geht.

Ich war aufgrund der ständigen Streitereien zu meinen Eltern ins Dachgeschoß gezogen, denn ich wollte meinem Sohn die ständigen schrecklichen Auseinandersetzungen nicht länger zumuten. Die Worte meines Mannes gingen zeitweilig tief unter die Gürtellinie. Ich flehte ihn an, unsere inzwischen gescheiterte Ehe doch von unserer gemeinsamen Elternschaft zu trennen. Er hatte auch das Jugendamt eingeschaltet und wollte am liebsten, dass ich meinen Sohn und meine Eltern nie wiedersehen würde.
Für ihn und seine Familie war ich gestorben.
In die Erziehung unseres Jungen wurde ich nicht mehr einbezogen, obgleich das Jugendamt ebenfalls eine Familientherapie vorschlug.
Mein Mann lehnte aber immer kategorisch ab. Er wäre nicht verrückt und unser Sohn auch nicht.

Ich durfte mich nicht mehr im Dorf sehen lassen, weil sich mein Mann meiner schämte. Vor allem hätte ich auf dem Sportplatz nichts mehr zu suchen, wenn unser Junge dort Fußball spielt. Ich tat alles, was möglich war, um meinen Sohn aus den Problemen herauszuhalten. Damals wurden wohl auch die Grundlagen für das spätere Chaos in seinem Leben gelegt. Trotzdem konnte ich mich nicht von meinem Mann trennen. Ich liebte ihn auf meine Weise immer noch und irgendwie bezog ich seine Worte, dass ich an seinem Unglück schuld wäre, tatsächlich auf mich.

Andererseits hatte ich die sogenannte "große Lösung", also die komplette Anpassung, gar nicht gewollt. Ich hoffte, meinen Mann dazu bewegen zu können, dass ich Hosen und männliche Kleidung trug, was ich ohnehin schon immer tat. Gesellschaftlich wäre so etwas nicht aufgefallen. Man nennt das mit einem Fachausdruck Cross Dressing. Dann hätten wir uns gemeinsam, wie ich es in einer anderen Familie erlebt hatte, einen männlich klingenden Spitznamen für mich ausgedacht und ich hätte ganz niedrig dosierte männliche Hormone bekommen, wie sie auch den Sportlerinnen früherer Jahre verabreicht worden waren.

Somit hätten sich gar nicht so viele auffallende Veränderungen ergeben und wir wären weiterhin eine normale Familie geblieben. Mein Mann lehnte auch diese Vorschläge strikt ab.
Während der Therapiestunden waren dann auch meine schweren Schuldgefühle meinem Sohn und meinem Mann gegenüber das Hauptthema.

Ich hatte meinem Kind, das erst durch uns als Vierjähriger eine Familie bekommen hatte, diese wieder genommen und sollte für den Rest meines Lebens dafür leiden. Mein Mann erzählte, er könne nicht mehr zur Tür hinaus gehen, ohne diskriminiert und gemobbt zu werden und unserem Sohn erginge es in der Schule noch schlimmer. Meine Eltern bestätigten mir, dass sie sich zeitweilig von den Mitbewohnern im Dorf geschnitten fühlten und bestärkten damit meine Schuldgefühle. Mutter zog bereits einen Umzug in Erwägung. Aber sie wurde krank und starb dann einige Monate später plötzlich an Krebs. Mein Vater wollte die Wohnung und unseren Hund nicht verlassen. Er hatte mit Mutter alles verloren.
Mein Mann sah es als selbstverständlich an, dass Vater weiterhin bei ihm wohnte. Nur ich wäre eine unerwünschte Person in seinem Haus. Ich besuchte Vater, wenn er zur Arbeit war und vermied den Kontakt.

Als ich dann operiert worden war und erwachte, sah ich an mir herunter und wieder hinauf.
Ich war Ich selbst geworden.
Das Operationsergebnis konnte sich sehen lassen. Mein Körper und meine Seele hatten sich endlich vereint. Ich weinte kurz vor Glück. Es war wie bei der Deutschen Einheit : etwas war zusammen gewachsen, was zusammen gehörte. Zwei vorher getrennte Platten, schoben sich ineinander und wurden eins.

Einwenig später weinte ich aus Kummer und Verzweiflung, denn ich hatte nun meine Familie für immer verloren.
Zuhause erwartete mich eine böse Überraschung. Die Krankenversicherung zog die vorher schriftlich gegebene Kostenübernahmezusage zurück.
Ich sollte mit einer Abgeltungsklausel unterschreiben, dass ich künftig keine weiteren Ansprüche mehr an die Versicherung stelle. Das schließt notwendige Korrekturoperationen und auch die Hormonbehandlung, die lebenslang erfolgen muss mit ein. Ich war zu schwach, um einen solchen Kampf auszufechten, hatte aber Glück im Unglück.
Inzwischen war vom BGH ein Grundsatzurteil ergangen und meine frühere Fachanwältin konnte die Verhandlung mit der Versicherung für mich positiv beenden.

Der ständige Stress mit der Familie hatte mich zu allem Überfluss so geschwächt, dass mein Vorgesetzter mir die frühzeitige Pensionierung nahe legte. Auch Mobbing könne er am Arbeitsplatz nicht verhindern. Schweren Herzens willigte ich ein. Ein erheblicher finanzieller Verlust erwartete mich. Ich zog wieder nach Hause. Aber nicht ins Dorf. Das verhinderte mein Mann erfolgreich. Ich fand eine kleine Wohnung in der Kreisstadt und begann, mir dort ein neues Leben aufzubauen. Mein Sohn brach sämtliche Lehren ab, lief von zuhause weg, machte Schulden und wurde zeitweise straffällig. Die Beziehung zu seinem Vater ging in die Brüche.

Ich fühlte mich schuldig, weil er mich weiterhin liebte und genauso zu mir stand, wie ich zu ihm.
"Ich habe dich lieb, mit allen deinen Fehlern, ich habe auch welche!", erzählte ich ihm. "Aber ich muss ja nicht alles gut finden, was du tust".

Mein Mann ist inzwischen lebensgefährlich erkrankt und verärgert, dass sich unser Junge nicht bei ihm meldet.
Auch ich versuche immer wieder zu vermitteln.
Aber mein Mann kann sehr verletzend sein und ich habe durch meine Therapie gelernt, mich zu schützen.
Er spricht mich nicht mit Vornamen an und wird mich, wie er sagt, niemals als Mann anerkennen.

Ich habe als Mann inzwischen viele neue Freunde gewonnen und auch mein Bruder hat schon lange keine kleine Schwester mehr. Leider verstarb mein Vater vor fünf Jahren ganz plötzlich an Krebs und auch unser kleiner Dackel war schon einige Jahre zuvor eingegangen.
Neben meiner Lebensgeschichte habe ich nun auch die Adoption unseres Sohnes beschrieben und die Biographie der Kriegserlebnisse meines Vaters verfasst.
Inzwischen sind zusätzlich viele lustige, aber auch nachdenkliche Kurzgeschichten entstanden.

Es war kein leichter Weg. Im Nachhinein bin ich froh, ihn gegangen zu sein und mein Dank gilt allen, die mich dabei unterstützten.




Marcus, meine Mutter ist transsexuell



Diese Geschichte ist wahr. Die Namen der darin vorkommenden Personen wurden geändert.



Peter Lassen sieht auf die Uhr. Gleich Sieben, die Flut kommt. Hier an der Küste leben die Menschen wie selbstverständlich mit den Gezeiten. Er schließt die Tür zu und geht nachdenklich zur Garage. Marcus‘ Bewährung wurde widerrufen! Warum, wusste Peter auch nicht so genau. Anscheinend konnte sein Sohn wieder einmal die Bewährungsauflage nicht einhalten. Der Fünfzigjährige holt sein Fahrrad. Sein Junge macht ihm Kummer. Marcus ist bereits dreißig Jahre alt und besitzt weder eine Berufsausbildung noch einen Arbeitsplatz. Er reagiert oft sehr aggressiv. Das brachte ihm auch leider bereits einige Strafen ein. Peter hat sein Ziel nach wenigen Minuten erreicht.

Der Weg führte ihn wie immer an den saftigen Kuhweiden entlang. Hier im Koog wachsen keine Bäume mehr. Das Land ist flach und nur wenige an das raue Klima angepasste Pflanzen können hier gedeihen. Er stellt sein Fahrrad an den Zaun und öffnet die kleine Eisentür, die sich sofort wieder selbsttätig schließt, damit die Schafe nicht entweichen können. Dann steigt er die Treppe zum Deich hinauf. Die von einem ortsansässigen Ehepaar gestiftete Bank auf der Deichkrone ist frei und der Blick über die Bucht nach Süderhafen entschädigt ihn kurzzeitig für alle Sorgen. Ein dickes Schaf mit einem grünen Fleck auf dem Hinterteil weidet genüsslich neben ihm. Das Grün stammt von einem Farbbeutel, den der Schafbock unter dem Bauch trägt. Auf dem Hintern eines Schafes zeigt der Fleck an, dass dieses vom Bock bestiegen und besamt worden ist. Peter schmunzelt über den Trick, wie die Schafbauern ihre Tiere markieren. Möwengeschrei vermischt sich mit dem Blöken der Schafe und den Geräuschen der Kühe, die hinter dem Deich auf den Weiden stehen.

Vor ihm naht langsam die Flut und verschlingt das offene Vorland mit den Lahnungen. Links hinter ihm erhellen die Lichter der viel beschriebenen grauen Stadt am Meer den Himmel. Windräder wirbeln durch die Luft. Ihre roten Lichter blinken im Gleichtakt. Peter schaut wieder auf das wellenschlagende blaue Meer vor ihm. Die Hafeneinfahrt der Stadt wird durch ein rotes Leitfeuer angekündigt. Sein Blick wandert langsam über die kleine Bucht. In Schobüll, ein paar hundert Meter weiter, endet der Deich, auf dem er gerade sitzt. Ein kleines Stück der Schleswig-Holsteinischen Nordseeküste bleibt ungeschützt. Hier ragt der Geestrücken bis ans Meer, um dann in die Salzwiesen überzugehen. Peter sieht die Scheinwerfer vieler Autos, die über den Damm nach Nordstrand fahren.
Ich wohne an einem Ort, an dem andere Leute Urlaub machen! Er lächelt über seinen Einfall, doch dann muss er wieder an seinen Sohn denken. Marcus wollte sich stellen und die vier Monate absitzen. Aber daraus wurde nichts. Der junge Mann hat anscheinend Angst, dass seine Freundin ihn verlässt, wenn er im Gefängnis bleiben muss. Und eine Therapie will er nicht machen. Da ist er genauso stur wie sein Vater Thorsten.
***
Peter und Thorsten heirateten 1980. Damals war Peter biologisch noch eine Frau. Er wurde als Mädchen geboren und verbrachte seine ersten Lebensjahre auf Sylt. Bereits im zarten Alter von drei Jahren bat er die Mutter, ihn doch in Zukunft „Peter “ zu nennen. Er wäre eigentlich ein kleiner Junge. Die Mutter lachte und spielte das „Spiel“ mit. Peters Puppen führten ein einsames Leben in der Ecke. Sie wurden so gut wie nie bespielt. Sein ganzer Stolz war der Fuhrpark, welcher aus unzähligen Plastikautos und Schiffen bestand. Im Laufe der Zeit konnte er auch noch eine kleine Eisenbahn, die es damals in den sechziger Jahren noch zum Aufziehen gab, sein eigen nennen.

Der ältere Bruder fuhr bereits zur See, als Peter zusammen mit seinen Eltern um die Südspitze in Hörnum wanderte. Vom Bruder hatte der kleine „Junge“ ein Spielzeuggewehr und ein wunderschönes selbstgebasteltes Segelflugzeug „geerbt“. Er baute sich große Schiffe in den Sand und saß als stolzer Kapitän darinnen. Anfangs war er trotzdem noch sehr unglücklich, denn seine Mutter hatte ihm die Haare wachsen lassen und Peter musste lange Zöpfe tragen. Eine Tante strickte ihm Kleidchen und da half kein Bitten und Flehen. Wie gern hätte er doch wie die anderen Jungen im Dorf Hosen besessen. In der Schule kam er sehr gut mit und im Sportunterricht konnte er stets schneller laufen als die Mädchen. Die Jungen in der Klasse hatten ihn als einen der ihren akzeptiert. Peter tobte wild mit ihnen umher und manch einer seiner Schulkameraden konnte ein „Lied“ von Peters Rauflust singen. Seine Kopfnoten im Zeugnis waren dementsprechend schlecht.

Gleich zu Beginn des zweiten Schuljahres wurde er krank. Seine Beine schmerzten ständig und die Ärzte schickten ihn weit weg von zu Hause nach Hamburg ins Krankenhaus. Nachdem er dort zweimal operiert werden musste, durfte er im Sommer wieder heim. Die Mutter hatte ihm die Erfüllung eines Wunsches versprochen und Peter konnte sein Glück kaum fassen. Natürlich wünschte er sich einen Besuch bei „Tante Margit“. Sie war Mutters beste Freundin und die Dorffriseuse. Peter lief nach dem Friseurbesuch stolz mit seinem Bubikopf auf die Straße. Er war nun endlich ein richtiger Junge geworden. Seine Mama hielt schluchzend die langen abgeschnittenen Zöpfe in der Hand.
Und der kleine „Junge“ konnte dann sogar Hosen durchsetzen. Die Mutter hatte nämlich festgestellt, dass diese wesentlich praktischer für ihn waren als Kleider und Strumpfhosen.

Kurz vor seinem zehnten Geburtstag zog die Familie nach Flensburg. Der Vater wurde beruflich versetzt und auch Peter sollte die Schulart wechseln. Er ging nun aufs Gymnasium, trug weiterhin nur kurze Haare und Hosen und fühlte sich in der reinen Mädchenklasse alles andere als wohl. In den folgenden Jahren träumte er ständig einen Tagtraum. Nach einem Busunfall hätten die Ärzte männliche Organe in seinem Bauch gefunden und müssten ihn nun zu einem Jungen „umoperieren“.
Die Pubertät wurde für den transsexuellen Jungen eine einzige Katastrophe. Sein Körper wehrte sich mit furchtbaren monatlichen Schmerzen gegen die biologische Rolle als Frau. Dazu kamen psychische Probleme, denn Peter hasste seinen weiblichen Körper und bemühte sich verzweifelt, mithilfe der Antibabypille seine Blutungen zu unterdrücken. Auch die Brust hatte sich geringfügig entwickelt und er konnte im Sommer nicht mehr mit freiem Oberkörper ins Schwimmbad gehen. Er versuchte, trotz der inneren Konflikte seine Schulaufgaben ordentlich zu bewältigen, doch irgendwie wirkte sich das Chaos in seiner Seele auch auf seine Schulleistungen aus.
Die Banknachbarin wurde seine beste Freundin. Aber mit ihr reden, konnte er nicht. Er hatte ja inzwischen die biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau realisiert und traurig verstanden, dass an seiner Körperlichkeit nun einmal nichts zu ändern war. Seine Träume konzentrierten sich nur noch auf unerreichbare Wünsche. Er lebte damit in der ständigen Angst, etwas Verbotenes zu tun. Sein schlechtes Gewissen verhinderte auch, dass er sich als Jugendlicher einem Arzt anvertrauen konnte. Er bewahrte sein Geheimnis tief in sich, weil er fürchtete möglicherweise bis an sein Lebensende in die Psychiatrie eingesperrt zu werden. Diese Vorstellung ängstigte ihn noch mehr, als eine mögliche Ablehnung durch andere Menschen wegen seiner obskuren Wünsche.

So vergingen die Jahre. Peter verliebte sich pro forma in einen nicht erreichbaren Jungen aus der Schule und versuchte, ihn in seinen Träumen zu kopieren. Beziehungen zu Jungen brachten ihm nichts und natürlich konnte er auch keine Zärtlichkeiten mit der Freundin austauschen. Er erlebte sich ja nicht als lesbische Frau. Das junge Mädchen wollte natürlich auch nur Beziehungen zu Jungen und hätte so das sicher gar nicht zugelassen. Niemand erfuhr etwas von Peters Gefühlen. Die inneren Spannungen verhinderten dann obendrein auch den angestrebten Schulabschluss. Peter wollte das Abitur machen und Lehrer werden. Doch sein Adoleszenskonflikt war so übermächtig geworden, dass er bald ständig nur unter panikartigen Ängsten litt.

Die anstehenden Abiturprüfungen wurden auf diese Weise zum Albtraum. Von Versagensängsten gepeinigt, verließ er das Gymnasium mit der Versetzung in die Oberprima. In den folgenden Jahren bemühte er sich um seine Berufsausbildung, wurde Beamter wie sein Vater und lebte sehr zurückgezogen. Nur mit der Mutter sprach er einmal als Zwanzigjähriger über seine Wünsche. Sie gab ihm dann den Rat, ans Heiraten zu denken und Kinder zu bekommen. Wenn er erst sein erstes Baby im Arm hielte, würden seine dummen Gedanken ganz von selbst verschwinden.
Peter lernte Thorsten kennen. Bei dem zwölf Jahre älteren Mann fühlte er sich geborgen und ihre Liebe zu Pferden verband die beiden zusätzlich. Peter zog zu Thorsten aufs Land. Sie heirateten inmitten einer großen Familie und auch Peter genoss das Leben in der dörflichen Gemeinschaft. Er versuchte, sich jungenhaft zu kleiden und zu geben, aber andererseits auch wieder sein biologisches Geschlecht zu leben. Es war ein Spagat, der ihm viel Kraft abforderte. Nach zwei Ehejahren beschloss das junge Paar Eltern zu werden. Peter wünschte sich sehnsüchtig ein Kind, allerdings raubte ihm die Angst vor dem Geburtsschmerz gleichzeitig den Verstand. Trotzdem bemühten sich die beiden um Nachwuchs. Als dieser auf sich warten ließ, leiteten sie ärztliche Untersuchungen ein und fanden bald heraus, dass es sowohl bei Thorsten als auch bei Peter Probleme mit der Realisation ihres Kinderwunsches geben würde.
So beschlossen Thorsten und Peter ein Kind zu adoptieren. Nachdem sie die notwendigen Anträge gestellt hatten, hieß es abwarten. Sie gingen weiterhin ihrer Arbeit nach und versorgten am Abend ihr gemeinsames großes Haus. Auch ein eigenes Pferd hatten sie sich angeschafft. Wirtschaftlich ging es ihnen gut und Peter wurde durch das abwechslungsreiche Leben von seinen Problemen abgelenkt. Im Sommer 1983 war es dann endlich soweit. Thorsten und Peter hatten an einem Seminar für angehende Adoptiveltern teilgenommen und eines Tages erreichte Peter am Arbeitsplatz der langersehnte Anruf von der Adoptionsvermittlungsstelle.

Ein kleiner vierjähriger Junge suchte neue Eltern. Peter war überglücklich. Gemeinsam fuhren sie ins Kinderkurheim an die Nordsee und trafen dort zum ersten Mal ihren Sohn Marcus. Schnell wurden alle erforderlichen Vorbereitungen getroffen. Das Kinderzimmer musste hergerichtet werden und Peter ließ sich von seinem Arbeitgeber beurlauben. Ein paar Tage später kamen sie noch einmal in das Kurheim.
Marcus war dort sehr traurig. Es handelte sich ja um ein Heim, in das Kinder aller Altersgruppen aus ganz Deutschland für eine begrenzte Zeit aufgenommen wurden. Wenn die anderen Kinder wieder ihre Koffer packten und nach Hause fahren durften, musste Marcus dort bleiben. Seine Augen strahlten vor Freude, als Peter und Thorsten auch ihn endlich abholten. Schnell waren seine wenigen Habseligkeiten in den mitgebrachten Koffer gesteckt und auch sein Teddy und das schöne Fährschiff, welches er von Peter als Willkommensgeschenk erhalten hatte, wurden rasch in eine Plastiktüte verstaut. Am Strand legte dann die Erzieherin Marcus’ kleine Hand in die Peters. Von einem Gefühl tiefster Liebe überwältigt, liefen Peter Tränen übers Gesicht und er wusste, er würde diese kleine Hand nie wieder los lassen, was immer auch das Leben noch mit ihnen vor haben sollte.

Marcus fasste auch schnell Vertrauen zu Peter, der ihn liebevoll umsorgte. Als erstes wurde er dem Hausarzt vorgestellt. Eine richtige ärztliche Versorgung fehlte dem kleinen Jungen ebenso, wie Liebe und Geborgenheit. Seine sprachlichen Fähigkeiten waren auch unterentwickelt. Er erhielt deshalb sofort logopädischen Unterricht und wurde gegen die wichtigsten Kinderkrankheiten geimpft. Der kleine Bursche war ein lebhaftes Kind, welches neugierig mit großen Augen seine Umgebung erkundete, aber er hatte sich natürlich nicht altersgemäß entwickelt. Seine Feinmotorik war schlecht ausgeprägt, was dazu führte, dass er nicht nur sehr leicht hinfiel und dabei buchstäblich über die eigenen kleinen Beine stolperte, sondern auch mit den Händen sehr hart zupackte, dann aber die Gegenstände plötzlich und unvermittelt wieder losließ. Sehr deutlich wurde das Dilemma, wenn er im Hühnerstall beim Eiersammeln helfen durfte. Peter musste ihm dann sanft die Eier aus der Hand nehmen, wollte er sie für die Küche retten.

Es gab für den Vierjährigen so viel Neues und Unbekanntes zu entdecken. Zu Weihnachten wünschte er sich einen Bauernhof und als er den Weihnachtsmann auf dem Parkplatz des Kaufhauses traf, in dem Thorsten arbeitete, da zupfte er dem Mann im roten Mantel und weißem Rauschebart am Ärmel, sah ihn bittend und flehend an und fragte immer wieder, ob er ihm auch den erhofften Bauernhof bringen würde. Natürlich konnte er am Heiligen Abend einen großen Hof mit Kühen, Schweinen und Pferden sein eigen nennen. Der Weihnachtsmann hatte noch eins draufgelegt und einen schönen Trecker mitgeliefert.
Marcus fühlte sich nun als stolzer Landwirt und spielte stundenlang mit seinem Hof. In der Familie hatten ihn alle auf Anhieb sehr lieb gewonnen. Da zwei Brüder Thorstens ebenfalls „richtige“ Landwirte waren, kam Marcus dort regelmäßig gerne zu Besuch. Er durfte Trecker fahren und beim Füttern helfen. Als Peter und Thorsten dann ihm zu Ehren die ganze Familie zum „Kindskiek“ einluden, war die Freude groß. Ein grüner Kindertraktor zum „selbertreten“ stand fortan vor dem Haus. Marcus ging natürlich keinen Meter mehr zu Fuß, sondern begleitete die Mutter beim Einkaufen auf dem eigenen Trecker.

Mit den Erwachsenen, die auf seine Bedürfnisse eingingen kam er gut zurecht. Die gleichaltrigen Nachbarskinder begrüßten den Neuankömmling zwar sofort vorbehaltlos, doch das gemeinsame Spiel endete dann allerdings nicht selten in Streit und Rauferei. Marcus hatte Schwierigkeiten im sozialen Umgang mit anderen Kindern. Im Kurheim war er stets der Kleinste gewesen. Durch die kurze Verweilzeit der Kinder dort, konnte er keine festen Beziehungen aufbauen. In der leiblichen Familie war er der Gewalt des Großvaters ausgesetzt gewesen und das Jugendamt sah es als dringend notwendig an, ihn aus dieser Familie herauszunehmen. So hatte er das normale Spielen mit Gleichaltrigen nie gelernt.

Auf Anraten des Hausarztes sollte er dann schon im kommenden Frühjahr den Kindergarten besuchen und erst zwei Jahre später als Siebenjähriger eingeschult werden. Nun konnte er sich noch einige Monate an sein neues zu Hause gewöhnen, bevor er im Kindergarten erneut unbekanntes Terrain kennen lernen würde. Peter hatte vor einiger Zeit auf dem Jahrmarkt einen Teddybären gewonnen. Das Kuscheltier war fast so groß wie Marcus selbst und wurde sein ständiger Begleiter. Eines Morgens kamen die beiden ins elterliche Schlafzimmer. Marcus erklärte, der Teddy wolle mal zu den Eltern und im nächsten Moment tobte die ganze Familie im Ehebett. Der Bann war gebrochen. Sie waren nun wirklich eine kleine Familie geworden.
Marcus entwickelte sich langsam zu einem fröhlichen kleinen Lausejungen. Nachts schlief er noch sehr unruhig und schrie oft auf. Er erwachte nie in der Lage, in die er abends ins Bett gelegt wurde. Für das Zubettgehen hatte sich Peter ein Ritual ausgedacht. Nachdem die Zähne geputzt waren, kuschelte sich Marcus mit seinem Teddy unter die Decke und Peter erzählte oder las Gute Nacht Geschichten vor. Ein Buch hatte es ihm besonders angetan. Es handelte von einer Szene aus dem Dschungel. Marcus gab der Hauptfigur kurzerhand seinen eigenen Namen und erlebte fortan selbst die Abenteuer mit Bär, Panther und Tiger.

Die kleine Familie folgte häufig den Einladungen des Jugendamtes zu Veranstaltungen für Adoptiveltern. Auch die Dame von der Adoptionsvermittlungsstelle kam regelmäßig zu Besuch, um sich ein Bild von der Entwicklung ihres Schützlings zu machen. Durch seinen ungestümen Bewegungsdrang erlitt Marcus beim Spielen einen Unfall und brach sich den Arm. Das Krankenhaus, in dem er behandelt werden musste, war nicht auf Kinder eingerichtet. Trotzdem durfte Peter nicht die Nacht bei seinem kleinen Sohn verbringen. Am nächsten Morgen war der inzwischen fünfjährige Junge völlig verängstigt weggelaufen und Peter konnte ihn noch in letzter Sekunde kurz vor dem Betreten der Hauptstraße abfangen. Peter und Thorsten nahmen ihn sofort mit nach Hause. Marcus sah das als den endgültigen Beweis an, dass er nun auch wirklich ‚richtige‘ Eltern hatte. Dann wurde es Frühjahr.

Er kam in den Kindergarten und musste dort sehr mühsam lernen, sich in die Kindergruppen einzufügen. Der Junge suchte ständig die Nähe der Betreuerinnen. Bei ihnen fühlte er sich sicher und verstanden. An den Elternabenden saß Peter oft etwas zerknirscht in der Runde, wenn die anderen Mütter von Marcus‘ Missetaten erzählten. Als Marcus sechs Jahre alt geworden war, tat Thorsten dass in seinen Augen einzig Vernünftige. Er meldete seinen lebhaften Sohn im örtlichen Fußballverein an. Der kleine Junge wurde Torwart aus Leidenschaft und spielte dort bis zur A-Jugend. Als C-Jugendspieler durfte er sogar einmal für die Auswahlmannschaft das Tor hüten
Die Schule bereitete ihm nach anfänglicher Begeisterung ziemliche Kopfschmerzen und Peter, welcher zeitweilig mehr Schularbeiten machte als sein Sohn, schlaflose Nächte.

Marcus litt unter Konzentrationsschwierigkeiten und dachte mit Grausen an jede Mathematikarbeit. Das Lesen und Schreiben hatte er ansonsten sehr gut gelernt und seine Aufsätze im Deutschunterricht konnten sich sehen lassen. Auch die Beziehung zu den Nachbarskindern besserte sich mit zunehmendem Alter.
Aber er blieb ein sehr quirliger Junge, der kaum eine Sekunde richtig still sitzen konnte. Zusammen mit den Eltern unternahm er viele schöne Urlaubsreisen. Meist zog es die drei in die Berge. Im Harz und in Österreich sausten Thorsten, Marcus und Peter die Sommerrodelbahnen hinunter und krönten ihre „Bergsteiger -Karriere“ dann mit dem Besuch der Zugspitze. In Bayern erhielt er ein besonderes Gastgeschenk der Vermieterin. Es handelte sich um eine als kuscheliger Teddybär hergestellte Handpuppe, die nun ebenfalls einen festen Platz in Marcus‘ Bett hatte. Natürlich nahm er zu Hause auch am Kinderfasching des Sportvereins teil. Hinsichtlich der Kostümierung gab es keinerlei Probleme. Er verkleidete sich jedes Jahr erneut als Cowboy. Mehrmals wurde er an den Schulkinderfesten König in seiner Jahrgangsklasse und bescherte Peter damit regelmäßig die Aufgabe, im nächsten Jahr im Vorstand mitzuhelfen.

Zu seinem elften Geburtstag wuchs die kleine Familie dann um ein weiteres Mitglied an. Marcus wurde, nachdem Peter in Gedanken einen Putzplan für die Wohnung entwickelt hatte, endlich stolzer Hundebesitzer. Ein kleiner Dackelwelpe namens Purzel, zog nun auch noch in das Zweifamilienhaus ein, in dessen Dachgeschosswohnung einige Jahre zuvor schon Peters Eltern eine neue Heimat gefunden hatten. Das Hündchen stellte das Leben der Familie erst einmal gründlich auf den Kopf. Marcus und sein vierbeiniger Kumpel wurden die besten Freunde und Peter musste ständig kopfschüttelnd darauf achten, dass der Hund nicht zusammen mit seinem jungen Herrchen die Nacht in dessen Bett verbrachte. Der kleine Kerl machte ansonsten nichts als Unfug. Er nahm die Blumenbank auf dem Flur auseinander und kaum eine Toilettenpapierrolle überlebte die Neugier und Abenteuerlust des putzigen Welpen.

Marcus hatte im Laufe der Jahre drei Operationen überstehen müssen. Im Alter von fünf Jahren wurden ihm Nasenpolypen entfernt. Gleich darauf folgten die Mandeln. Während des Eingriffs wurde ein Gehörschaden am rechten Ohr festgestellt, so dass sich eine sehr schwere Ohroperation anschloss. Natürlich mussten dann auch regelmäßig Nachsorge Termine eingehalten werden. Zeitgleich wurde dann auch noch Thorsten krank.
Ein Bandscheibenvorfall erforderte ebenfalls operative Behandlung. Peter hatte wieder angefangen halbtags zu arbeiten und war mit Haushalt, Beruf und der Sorge um Marcus und Thorsten in den nächsten Jahren sehr gefordert. So stellten sich auch bei ihm rasch Erschöpfungszustände ein. Als seine Mutter kurz vor Weihnachten dann zu allem Überfluss auch noch an Krebs erkrankte, fühlte sich Peter geschwächt und niedergeschlagen. Er litt unter starken Rückenschmerzen und bekam schwere Depressionen. Sein Hausarzt wies ihn zur Diagnostizierung ins Krankenhaus ein.
Peter dachte wieder an seine komischen Gefühle. In der Ostseeklinik konnte er sich endlich einer Oberärztin anvertrauen. Es war das erste Mal, dass er mit einem Arzt über sein Problem gesprochen hatte. Die Ärztin gab ihm die Telefonnummer einer Psychotherapeutin, die sich mit dem Thema Transsexualität auskannte. Sie wünschte ihm viel Kraft, sollte sich die Diagnose bestätigen. Im November 1992 begann Peter eine psychotherapeutische Behandlung. Er war überglücklich endlich ernst genommen zu werden, hatte er doch all die Jahre befürchtet, mit seiner bizarren Geschichte irgendwann einmal in der Psychiatrie zu landen.

Die Therapeutin hörte ihm aufmerksam zu und gab seiner Störung einen Namen. Peter war Frau zu Mann Transsexuell. Es handelt sich dabei um eine besondere Art von Geschlechtsidentitätsstörung. Peters Gefühl, er hätte eigentlich als Junge zur Welt kommen müssen, erwies sich als zutreffend. Sein Körper war zwar weiblich, doch Körper und Seele stimmten nicht überein. Wie die Störung tatsächlich entsteht, ist bis heute ungeklärt. Eventuell sind hormonelle Störungen der Mutter während der Schwangerschaft dafür mitverantwortlich, aber auch psychosoziale Konflikte und das soziale Umfeld sowie das frühkindliche Selbsterleben spielen eine Rolle. Es ist wahrscheinlich eine Mischung aus allem.
Mit einem mulmigen Gefühl im Magen fuhr Peter nach Hause. Für ihn stellte sich erst einmal die Frage, wie er Thorsten die Problematik erklären sollte. Der Partner ist natürlich die wichtigste Person, wenn es darum geht einen Weg zu finden, um mit der Störung zu leben. Peter wollte keine Veränderungen herbeiführen und sein Lebensumfeld behalten. Alles sollte möglichst so bleiben, wie es war. An eine mögliche Trennung von Thorsten zu denken, kam ihm deshalb gar nicht in den Sinn. Was würde dann auch aus Marcus? Sie waren Eltern und würden das auch für den Rest ihres Lebens bleiben, egal was passierte.
Peter dachte daher an Cross Dressing, was er ohnehin schon tat. Damit ist das bewusste Tragen der Kleidung des anderen Geschlechts gemeint. Für eine biologische Frau stellt das heute gesellschaftlich natürlich kein Problem mehr dar und Peter bevorzugte ohnehin schon Hosen, weil er sich in Hemd und Hose einfach wohler fühlte. Vielleicht würden sie zusammen einen jungenhaft klingenden Spitznamen für ihn erfinden, damit er sich etwas männlicher fühlen konnte. Eine gering dosierte Hormonbehandlung mit Testosteron Präparaten und ein Mittel, welches die Regel ausbleiben ließ, kämen medizinisch ebenfalls in Frage. Peter litt jeden Monat unter furchtbaren Schmerzen, denen mit normalen Schmerzmitteln nicht beizukommen war. Er hätte sich auch gerne die weiblichen inneren Organe entfernen lassen. Sie bekamen keine eigenen Kinder und Marcus hatten sie inzwischen rechtmäßig adoptieren können. Peter suchte selbst nach Lösungen für sein Problem und war guter Dinge, zusammen mit Thorsten einen unkomplizierten Weg zu finden, um mit der Störung umgehen zu können.

Trotzdem machte er sich Gedanken darüber, wie Thorsten wohl reagieren würde. Er konnte ihm die Therapieinhalte ja nicht ewig vorenthalten. So sprach er mit seiner Ärztin, die ihm riet, Thorsten in einem ruhigen Gespräch alles zu erzählen und ihm vor allem auch seine eigenen verschiedenen Lösungswege zu unterbreiten. Thorsten solle sich keine Sorgen machen. Auch wenn eine operative und hormonelle Geschlechtsangleichung immer noch die normale Behandlungspraxis bei zumindest genuiner, also echter Transsexualität wie bei Peter darstellte, gäbe es unzählige andere Möglichkeiten den richtigen Weg für sich selbst zu finden. Peters Ideenreichtum kannte keine Grenzen und das Wesentliche hatte er ja schon für sich entdeckt. Dann kam es zur Katastrophe.

Ob Torsten Peters zum Teil holprige und unbeholfene Erläuterungen missverstanden hatte oder nur Angst vor einer Gleichgeschlechtlichen Beziehung bekam, die zu dem damaligen Zeitpunkt gar nicht zur Debatte stand, wurde auch später nie geklärt. Thorsten meinte lediglich, wenn Peter künftig als Mann leben wolle, müssen sie sich trennen und stand nach dem Gespräch wortlos vom Küchentisch auf.
Peter saß verzweifelt und völlig fassungslos daneben und starrte ins Leere. Von Trennung war nie die Rede gewesen. Er wollte doch Kompromisse suchen, Lösungen finden, die es ihm ermöglichen würden, ohne Operationen und geschlechtsspezifische Veränderungen in seinem Körper weiterzuleben. Er fühlte sich so elend, allein gelassen und war nicht mehr fähig auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Vielleicht hätte er Thorsten gar nichts sagen sollen. Er hätte sich ein anderes Outfit zugelegt, zusammen mit seiner Frauenärztin ein Medikament gefunden, welches die Regelblutung unterdrückt und zusätzlich schwach dosierte Testosteron Präparate eingenommen. Die Entfernung der Gebärmutter wäre mit seiner Endometriose begründet worden. Peter litt seit jeher unter dieser Erkrankung, die auch Unfruchtbarkeit zur Folge hat und sehr häufig bei Frauen auftritt.

Vom Tag seines häuslichen Comingouts an war nichts mehr so wie früher. Die Beziehung zu Thorsten wurde im Laufe der nächsten Wochen und Monate immer schlechter. Sie konnten nicht über die Problematik reden. Schwer depressiv erzählte Peter seiner Psychologin von der Absicht, aus dem Leben scheiden zu wollen. Die erfahrene Ärztin hatte die Veränderung ihres Patienten bereits bemerkt und reagierte entsprechend. Sie meinte ganz trocken, sie würde zu ihren suizidgefährdeten Patienten immer sagen: „Lassen Sie uns doch erst einmal reden, umbringen können Sie sich dann ja immer noch!“ Die Worte kamen so flüssig, dass Peter unwillkürlich anfing zu schmunzeln. Natürlich war eine solche Reaktion beabsichtigt gewesen. Als er dann im nächsten Augenblick unter Tränen erklärte, dass er doch für seinen kleinen Sohn leben müsse, bestätigte ihn die Ärztin einfach. So wurden seine Selbstmordpläne vorerst verschoben.

Peter konnte sich kurzzeitig erholen, als ihm seine Frauenärztin die ersten gegengeschlechtlichen Hormone verabreichte. Er blühte völlig auf, war fröhlich und ausgeglichen und konnte vor allem auch seinem Beruf wieder nachgehen. Die schmerzhaften Blutungen blieben ebenfalls aus. Doch gleichzeitig senkte sich als Nebenwirkung des Testosteron Präparats, auch seine Stimme um ein paar Nuancen. Für Thorsten war das Grund genug Peter vor die Wahl zu stellen. Entweder er höre sofort mit der Hormoneinnahme auf oder es müsse unabänderlich zur Trennung kommen.

Der Konflikt zwischen den Ehepartnern spitzte sich derartig zu, dass Peter von seinem Hausarzt in eine nahe gelegene psychosomatische Klinik ein gewiesen werden musste.
Die Hoffnung, von dort Hilfe zu erhalten, erfüllte sich jedoch nicht. Traurig musste er realisieren, dass er sich nicht in die Gruppengespräche einbringen durfte. Der Chefarzt meinte, die anderen Patienten würden seine bizarre Geschichte nicht verstehen und er habe nur noch Einzelgespräche. Im Übrigen wären Transsexuelle doch Menschen aus der Halbwelt und dazu wolle Peter als Beamtin doch sicher nicht gehören wollen.
Peter war verzweifelt. Er hämmerte in der Turnhalle stundenlang Bälle mit einem Tennisschläger an die Wand. Dann hielt er die Isolation nicht mehr aus. Am Abend erzählte er seinen Mitpatienten unter Tränen, was ihn bedrückte. Die Reaktion war überwältigend. Niemand reagierte schockiert. Die meisten hatten schon von Transsexualität gehört und fanden überhaupt nichts dabei. Er wurde erst einmal in die Arme genommen und konnte sich richtig ausheulen.

Während des Klinikaufenthaltes setzte er dann seinen ersten Besuch in einer Hamburger Selbsthilfegruppe durch. Auch hier fühlte er sich gut aufgehoben und verstanden. Er freundete sich mit einem jungen Mann an, der wie er selbst, Patient bei seiner Psychotherapeutin war. Die beiden wurden sehr enge Freunde und haben noch heute Kontakt. Auf der Heimfahrt beschloss Peter den Klinikaufenthalt zu beenden. Er erzählte dem Arzt, was dieser hören wollte und konnte als geheilt entlassen werden. Der Arzt empfahl dem Paar eine Familientherapie. Doch diese Gespräche liefen ins Leere, als der Therapeut seine besondere Erfahrung auf dem Gebiet hervorhob. Thorsten wollte von alldem nichts hören.
Zusammen fuhren sie dann zu einem weiteren Arzt, welcher an der Universitätsklink praktizierte. Und wieder musste Peter enttäuscht feststellen, dass man ihm nicht zuhörte und vor allem auch nicht auf die familiären Probleme einging. Der Arzt, der für seine Fachkompetenz auf dem Gebiet der Transsexualität bekannt war, setzte noch eines drauf und wies ihn erneut in die Psychiatrie ein. Peter gehorchte traurig. In der Nervenklinik angekommen, erklärte man ihm allerdings, dass in der offenen Abteilung zur Zeit kein Bett frei wäre und man ihn nur auf der geschlossenen Station aufnehmen könne. In diesem Moment meldete sich Peters Selbstachtung zurück. Damit wäre genau das passiert, wovor er sein ganzes Leben Angst gehabt hatte.

Er lehnte ab, erhielt aber sehr starke Beruhigungstabletten. Von der Heimfahrt bekam er dann so gut wie nichts mehr mit. Thorsten war zufrieden, dachte er doch, so eine Tablette könnte Peter wieder vernünftig werden lassen. Thorsten gab der Therapeutin die Schuld an Peters Zustand. Eine Woche später begleitete er ihn zur Therapie. Mit dem einstündigen Gespräch dort konnte er überhaupt nichts anfangen. Zu Hause kam es dann zum wiederholten Male zum heftigen Streit. Peter wollte doch nur ernst genommen werden und mit Thorsten reden. Er war völlig verzweifelt. Es ging ihm gar nicht so sehr um Thorstens grundsätzliche ablehnende Meinung, sondern darum, dass sie kein einziges vernünftiges Wort mehr miteinander sprechen konnten.
Zu allem Überfluss hatte auch Marcus gemerkt, dass irgendetwas in der Beziehung der Eltern nicht stimmte. Kinder reagieren sehr sensibel auf familiäre Stimmungen und spüren, wenn Unstimmigkeiten zwischen Vater und Mutter auftreten. Thorsten erlaubte nicht, dass Peter seinem inzwischen dreizehnjährigen Sohn von dem „Blödsinn“ erzählte. Er sollte ihm weiterhin als Mutter gegenübertreten.

So blieb Marcus bei der Bewältigung der schwierigen Familiensituation außen vor und erhielt nur unzureichende Informationen. Peter wollte seinen Sohn in die Gespräche bei dem Familientherapeuten einbeziehen, so dass auch er Bescheid wissen sollte und fortan in alle Entscheidungen der Eltern involviert wäre. Aber Thorsten verweigerte die Zustimmung dazu. Zu dieser Zeit wurden wohl auch die weiteren Grundlagen für das spätere Chaos im Leben des jungen Mannes gelegt.

Peter erfuhr dann auch noch von seinen Eltern, dass er zur NS Zeit wahrscheinlich mit einer solchen Störung in einem KZ umgekommen wäre. Natürlich hatten sie Recht, auch wenn die Erkenntnis sehr weh tat. Aber er konnte seine Gefühle nicht ungeschehen machen. Sie waren nun einmal da und er musste einen Weg finden, mit ihnen umzugehen. Er fühlte sich von den eigenen tiefen Wahrheiten und den Ansprüchen und Wünschen seiner Familie förmlich zerrissen.
Eine Arbeitskollegin vermietete ihm erst einmal für einen Monat ihre kleine Ferienwohnung. Peter versuchte nach dreizehn Jahren zum ersten Mal wieder alleine zu leben. Das wurde dann zum Desaster. Es stellten sich sofort erneut schwere Depressionen ein. Er hatte sich den Arbeitskollegen gegenüber geoutet. Sie reagierten auch nett und freundlich, meinten aber, mit einer derartigen Problematik müsse man in einer Großstadt leben, in deren Anonymität man nicht auffalle. Peter fühlte sich nur in den Therapiesitzungen wohl. Aber die Ärztin arbeitete in der Landeshauptstadt und er war nicht einmal in der Lage, in der etwas größeren Kreisstadt zu wohnen. Wie sollte er da ohne Hilfe und ohne Familie in einer Großstadt zurechtkommen?
Mit Thorsten konnte er überhaupt nicht mehr sprechen und auch seine Eltern zeigten sich sehr besorgt und traurig. Sie wohnten ja im Dachgeschoß ihres Hauses und überlegten bereits auszuziehen. Peter wäre an all dem schuld gewesen und das ließ man ihn auch spüren.

Er fuhr allein in die große Stadt und fand dort eine kleine möblierte Wohnung. Sein Arbeitgeber gab grünes Licht und versetzte ihn. Natürlich wurden die neuen Kollegen eingeweiht. Dann kam der furchtbare Moment, als er das Nötigste von seinen Sachen einpackte. Thorsten und Marcus saßen weinend im Schlafzimmer und Peter weinte mit ihnen. Am nächsten Morgen verließ er das kleine Dorf. Er hatte seinen Jahresurlaub für den Umzug genommen. In den folgenden Wochen begann er, sich mit der neuen Umgebung vertraut zu machen. Anfangs klappte es auch mit dem neuen Arbeitsplatz sehr gut. Peter absolvierte nun seinen Alltagstest. Er sollte ohne bereits operiert zu sein in männlicher Rolle leben, wurde mit „Herr“ angesprochen und musste als Mann zurechtkommen.

Anfangs ging er noch klopfenden Herzens in die Herrentoilette. Dann meldete er sich im Fitnessstudio an und zog sich im Männerumkleideraum um. Irgendwann duschte er auch dort. Stück für Stück wurde er in seiner neuen Rolle selbstsicherer. In der Stadt gab es eine neu gegründete Selbsthilfegruppe für Transsexuelle, welche hauptsächlich aus Studenten bestand. Auch Peter und sein Freund trafen sich dort. Zusammen fuhren sie nach Frankfurt zur Transidentitas. Dabei handelt es sich um eine Fachtagung für transsexuell geprägte Menschen und ihre Angehörigen. Peter war von den vielen Eindrücken überwältigt und lernte dort auch seinen späteren Operateur kennen.
Aber vorher musste er sich zu Hause der Begutachtung zweier unabhängig voneinander untersuchender Ärzte stellen. Erst wenn die Diagnose in zwei Gutachten feststeht, ergeht der offizielle Beschluss des Amtsgerichts zur Vornamensänderung. Hat sich der oder die Betreffende dann auch einem operativen Eingriff unterzogen, kann danach der Personenstand geändert werden.

Einer der Gutachter war schon etwas älter und als Psychiater lange Zeit in der Nervenklinik beschäftigt gewesen. Er verfügte über eine weitreichende Berufserfahrung, besprach mit Peter dessen Lebenslauf und kam sehr schnell zur Diagnose.
Als zweiten Gutachter musste sich Peter mit dem Arzt auseinander setzen, der ihn bei seinem Besuch mit Thorsten gleich in die Psychiatrie einweisen wollte. Obwohl dieser als Koryphäe auf dem Gebiet der Transsexualität galt, kamen die Gespräche nur sehr schleppend in Gang. Peter konnte zu dem Mann kein Vertrauen fassen. Später erfuhr er in seiner Selbsthilfegruppe, dass auch die anderen Freunde ähnliche Probleme hatten. Der Arzt merkte dann auch selbst, dass er und Peter nicht zusammenpassten und bat einen Kollegen um Unterstützung. Die Diagnose wurde nach einem Jahr von beiden Gutachtern bestätigt.

Zwischenzeitlich erhielt Peter die Kündigung seiner privaten Krankenversicherung, die sich vor der Zahlungsverpflichtung für die geschlechtsangleichende Behandlung drücken wollte. Als Beamter wurde Peter in keine gesetzliche Krankenkasse aufgenommen und die Chance mit seiner Problematik eine neue private Versicherung zu finden, ging gegen Null. Er blieb ohne ausreichenden Versicherungsschutz. Nachdem er sich seinem Vorgesetzten anvertrauen konnte und ein Rechtsanwalt eingeschaltet wurde, gelang es mithilfe eines Kollegen nach einigen zähen Verhandlungen die Kündigung wieder rückgängig zu machen. Peters Einkommen hätte niemals ausgereicht, um seine gesamten Krankheitskosten abzudecken.

Thorsten rief ihn häufig an und Peter fühlte schmerzlich, wie sehr er ihn vermisste. Er fuhr an den Wochenenden nach Hause und versuchte, das Familienleben einigermaßen aufrechtzuerhalten. Aber er geriet immer wieder mit Thorsten in Streit. Anfangs schlief er noch im gemeinsamen Schlafzimmer. Thorsten war ins Nachbarzimmer gezogen. Nachdem er von Peters Problematik erfahren hatte, stellte er abrupt alle Zärtlichkeiten ein. Das geschah merkwürdigerweise bereits zu einem Zeitpunkt, als bei Peter noch gar keine sichtbaren Veränderungen erkennbar waren.

Wenn sie doch nur miteinander hätten reden können! Auch für Marcus wäre die wöchentliche Trennung von Peter aus beruflichen Gründen nachvollziehbar gewesen. Am Wochenende wären sie dann immer zusammengekommen. Peter bedrängte Thorsten nicht zu einer Männerbeziehung. Natürlich fühlte sich Thorsten heterosexuell und auch Peter entdeckte langsam seine eigenen Neigungen, die er sich ja zeitlebens selbst verboten hatte.
Das Schlimmste war der ständige Streit wegen Nichtigkeiten. Hätten sie einen Weg gefunden, freundlich und friedlich mit einander umzugehen, wäre es sicher auch für Marcus sehr viel leichter geworden. Die Landeshauptstadt bot genug Abwechslung und sie hätten dort während der Freizeit zusammen mit Marcus viel unternehmen können, ohne aufzufallen. Auch ein späterer Umzug in die Kreisstadt und somit in die Nähe zu Marcus und Thorsten wäre sicher möglich gewesen.

Thorsten aber konnte sich mit der Situation nicht arrangieren. Er sagte, er würde Peter niemals als Mann anerkennen und sprach ihn auch nie mit dem neuen Vornamen an. So war es für Peter auch schwierig eine Regelung mit Marcus zu finden. Solange der Junge noch bei Thorsten lebte, konnte er keine vernünftige, der Realität angepasste Beziehung zu Peter aufbauen. Eigentlich war es für Marcus sogar unmöglich, sich überhaupt mit der Realität auseinanderzusetzen.
Thorsten erklärte, die Nachbarn würden sie mobben und er könne nirgendwo mehr hingehen. Auch Marcus würde in der Schule gehänselt werden. Peters Eltern bestätigten einige Aussagen, obgleich Peter sich eine solche negative Reaktion in seinem Dorf gar nicht vorstellen konnte. Er selbst sprach mit den Nachbarn, als wenn nichts geschehen wäre.
Marcus war noch zu jung um auf eigenen Beinen stehen zu können. Peter hatte sich überlegt, ob es nicht besser wäre, seinen Sohn zu sich zu holen. Es gab auf dem Nachbargrundstück sogar eine Gesamtschule, so dass er schulisch auf jeden Fall besser gestellt gewesen wäre, als auf der Hauptschule zu Hause. Doch Peter fühlte sich in seinem derzeitigen Zustand der Verantwortung für einen pubertierenden Jungen nicht gewachsen und wollte Marcus dessen gewohntem Umfeld nicht entreißen.

So bemühte er sich weiterhin um ein friedliches Miteinander mit Thorsten. Der Spagat hatte seinen Preis und kostete ihn viel Kraft. Für den gemeinsamen Sohn wurde dadurch nichts besser. Irgendwann zog Peter schweren Herzens an den Wochenenden zu seinen Eltern ins Dachgeschoß. Doch auch dort fand er nicht die rechte Ruhe. Starke Schuldgefühle quälten ihn. Seine Eltern wollten das Beste für alle Familienmitglieder, aber sie merkten, dass die Situation auch für sie nicht gut war. Peters Mutter erkrankte zudem an Krebs und so hatten die Eltern genug eigene Probleme zu bewältigen.
Seine Schuldgefühle dem Sohn gegenüber wuchsen ins Unermessliche. Er sollte ihm weiterhin als Mutter gegenübertreten und entwickelte sich gleichzeitig selbst zu einem jungen Mann. Thorsten schürte die Schuldgefühle, indem er auch vor Marcus erklärte, dass sie nun keine Familie mehr wären.

Im Sommer durfte Marcus ihn in seiner kleinen Wohnung besuchen. Peter fühlte sich nicht viel älter als der fünfzehnjährige Sohn. Er erlebte ja im Zeitraffer erneut seine Pubertät. Die beiden unternahmen viel in diesen vier Tagen. Sie besuchten wie Brüder die Disco und am Strand wurde Peter von der Pommesverkäuferin geduzt, die ihn für einen sechzehnjährigen Jungen hielt.
Peter versuchte Marcus auch die Situation zu erklären und seine Psychologin half ihm dabei. Aber sie sah ebenfalls mit geübtem Blick die Probleme in Marcus‘ eigener psychischer Struktur. Peter hoffte, dass sich sein Sohn trotz aller Schwierigkeiten normal entwickeln würde und eines Tages einen Beruf ergreifen könnte. Marcus fuhr wieder nach Hause und beendete im Sommer seine Schule.
Thorsten fand für ihn einen Ausbildungsplatz als Malerlehrling. Nach nur einem Jahr wollte Marcus nicht mehr. Seine Berufsschulnoten waren schlecht und er hatte keine Lust seinen Beruf weiterhin auszuüben. Thorsten und Peter konnten ihn nicht von seinem Vorhaben abhalten. Auch alle Gespräche mit dem Lehrherrn brachten keinen Erfolg. Als Marcus drohte straffällig zu werden, meldete sich Thorsten beim Jugendamt. Er bekam sofort Hilfe. Ein Betreuer nahm sich des Jungen an und versuchte ihn für Lernprojekte zu begeistern.
Der Siebzehnjährige durfte bereits mit dem Führerschein beginnen. Peter sah dem Treiben etwas skeptisch zu. Marcus war in seiner Entwicklung noch nicht soweit um die Verantwortung als Autofahrer übernehmen zu können. Aber seine Einwände wurden von Thorsten nicht akzeptiert. Es wäre Thorsten am liebsten gewesen, Peter wäre ganz aus ihrem Leben verschwunden und hätte seinen Sohn und seine Eltern nie wieder gesehen. So blieb Peter nichts anderes übrig als tatenlos zusehen zu müssen, wie Marcus immer mehr überfordert wurde und an jeder neuen Aufgabe scheiterte. Aber anstatt umzudenken und eine neue Strategie zu entwickeln, hackten sie immer weiter auf dem armen Jungen herum. Natürlich schaffte er auch die nächste Lehre nicht und selbst ein Jahr im Jugendaufbauwerk brachte keine Besserung. Die wichtigen therapeutischen Gespräche mit ihm und den Eltern wurden auch dort nicht geführt.

Nach dem Aufenthalt begann Marcus seine dritte Lehre. Er wohnte wieder bei Thorsten und hatte sogar nach vielen vergeblichen Versuchen endlich seinen Führerschein bestanden. Während einer kurzen Wochenendfreizeit lernte er ein junges Mädchen aus Dänemark kennen. Die beiden wurden für drei Jahre ein Paar und verlobten sich sogar. Marcus blühte auf. Die Freundin gab ihm nicht nur ihre Liebe, sondern trug auch zur Stärkung seines angeknacksten Selbstwertgefühles bei. Peter und Thorsten unterstützten die Beziehung genauso wie die Eltern des Mädchens in Dänemark.
Die Elternpaare lernten sich kennen und Peter wurde von den toleranten und unkomplizierten Dänen vorbehaltlos akzeptiert. Aber auch in dieser Familie kam es zur Katastrophe. Die Eltern des Mädchens ließen sich ebenfalls scheiden. Anfangs gaben sich die beiden jungen Menschen noch gegenseitig Halt, doch bald stellte sich heraus, dass sie den Veränderungen, die sich bei einer Trennung der Eltern zwangsläufig einstellen, nicht gewachsen waren. Auch ihre eigene Beziehung zerbrach schließlich.
Marcus hatte dann zwischenzeitlich Kontakt zu seiner leiblichen Familie aufgenommen. Er sah als Achtzehnjähriger erstmalig im Leben seine Mutter. Und auch hier erlebte er nur Enttäuschungen. Peter wollte ihm so gerne helfen und musste selbst zeitgleich zu Weihnachten eine weitere schwere Krebserkrankung seiner Mutter hinnehmen. Das geschah zu Weihnachten 1997. Einige Monate später starb die Mutter.

Peter konnte sich im Mai 1995 operieren lassen. Eine befreundete Anwältin hatte entsprechende höchstrichterliche Urteile erwirkt. Aber auch jetzt versuchte sich die Versicherung mit einem Trick vor der Zahlungsverpflichtung zu drücken. Durch die vielen Probleme zermürbt, konnte sich Peter über seine Operation nicht so freuen, wie die Freunde aus der Selbsthilfegruppe. Trotzdem erfasste ihn ein unbeschreibliches Glücksgefühl, als er nach dem mehrstündigen Eingriff aufwachte und an sich heruntersah. Wie bei der deutschen Wiedervereinigung hatten sich bei ihm Körper und Seele vereint.
Wieder zu Hause und noch sehr geschwächt, verweigerte die Krankenversicherung, trotz bereits vorher schriftlich erteilter Kostenzusage, die Begleichung ihres Anteils an der Operationsrechnung. Peter sollte erst unterschreiben, dass er in Zukunft keine weiteren Forderungen an die Versicherung mehr stellen würde, die in Zusammenhang mit der geschlechtsangleichenden Behandlung stünden. Das schließe alle eventuell in den Folgejahren notwendigen Korrekturoperationen und die lebenslange Hormonbehandlung mit ein. Peter hielt die Operationsrechnung in den Händen und weinte. Wenn er das gewusst hätte, wäre er nicht zur OP gefahren. Zum Glück konnte dieses Mal seine Anwältin gleich helfen, da inzwischen auch höchstrichterliche Urteile vom BGH ergangen waren.

Dann wurde der Dezember 1997 für ihn erneut zum Schicksalsjahr.
Erst wurde er am Nikolaustag von Thorsten geschieden. Peter wohnte inzwischen in der Kreisstadt. Thorsten hatte ihm sogar bei der Einrichtung einer kleinen Wohnung geholfen. Nach dem Scheidungstermin fuhren sie gemeinsam mit frischen Brötchen dorthin und frühstückten zusammen, als wenn nichts geschehen wäre. Dann musste Peter zu seinem Operateur nach Potsdam reisen, um eine einzige kleine Nachbehandlung durchführen zu lassen. Als er nach dem Eingriff geschwächt wieder nach Hause kam, erzählte ihm sein Vater von der nunmehr tödlichen Krebserkrankung der Mutter. Sie brauchte ihn jetzt und auch Marcus brauchte ihn im Jugendaufbauwerk.
Peters Vater konnte nicht verstehen, dass er nach vierzig Jahren Ehe seine Frau verlieren sollte und Peter musste den verzweifelten alten Mann stützen. Dabei stieß er dann selbst bald an seine physischen und psychischen Grenzen. Zudem gestaltete sich die Beziehung zu Thorsten weiterhin als sehr unstet und Peter nahm die Herabsetzungen klaglos hin, wollte er doch weder seinen Eltern noch Marcus zusätzlichen Kummer bereiten. Marcus verließ dann das Elternhaus und brach erneut seine Lehre ab. Er hatte nun weder eine Berufsausbildung noch einen Arbeitsplatz und schlug sich mit Gelegenheitsjobs sowie Sozialhilfe durch. Im Laufe der nächsten Jahre wurde für ihn der Antrag beim Arbeitsamt zum Alltag. Durch seine Aggressivität stand er mehrfach vor Gericht und konnte nicht immer seine Geldstrafen bezahlen.

Sowohl Thorsten als auch Peter halfen immer wieder aus und „retteten“ ihn vor dem Gefängnis. Als sich die Strafen mehrten und auch keine Geldstrafen mehr verhängt wurden, musste Marcus einige Monate hinter Gitter. Sein Leben verläuft seitdem chaotisch. Natürlich hat er ein gutes Herz und jegliches kriminelle Verhalten liegt ihm fern. Er wird nur sehr leicht wütend und kann dann seine Gefühle nicht kontrollieren. Darunter leiden auch seine eigenen Beziehungen.
Peter wurde im Juni 1997 auf Anraten seines Vorgesetzten, der ihn vor Mobbing nicht schützen könne, vorzeitig pensioniert. Im September 2005 starb plötzlich auch der Vater an Krebs. Nach dem Tod der Mutter verband die beiden ein sehr inniges Verhältnis. Sie wanderten stundenlang mit ihrem kleinen Dackel durch die Feldmark. Das treue Tier war bereits im Herbst 2001 eingegangen.
Peter hatte sich gerade in der Kreisstadt ein neues Leben aufgebaut. In einem nahe gelegenen Reitstall fand er Freunde und Pflegepferde. Gesundheitlich ging es ihm nicht immer gut. Er merkte auch, dass er älter wurde und sich alle möglichen Gebrechen vor allem im Bereich der Gelenke und der Wirbelsäule einstellten. Er versorgte seinen Vater, besuchte Bildungsveranstaltungen und studierte als Gasthörer an der Fachhochschule BWL.
Die unerwartete Erkrankung seines Vaters und sein plötzlicher Tod warfen ihn dann wieder weit zurück. Auch heute sind die Wunden noch nicht verheilt und Peter steht oft fassungslos am Elterngrab. Er fühlt sich in diesen Augenblicken sehr allein. Der Bruder lebt in einem anderen Bundesland und Thorsten, der inzwischen sehr viele, zum Teil lebensgefährliche Operationen überstehen musste, ist nun auch noch sehr schwer erkrankt.

Marcus und dessen chaotische Lebensumstände runden die Sorgen ab. Der junge Mann hat öfters Gefängnisstrafen zu verbüßen und reagiert weder auf die Hilfsangebote von Peter noch auf die der eigenen Freundin. Er wird dann nur aggressiv und sowohl Peter als auch die junge Frau haben es aufgegeben, ihm wohlmeinende Ratschläge zu unterbreiten. Trotzdem liebt Marcus seine Mutter innig. Die Beziehung zwischen Marcus und Thorsten bleibt dagegen sehr angespannt. Erst als Peter eingriff, meldete sich Marcus wieder einmal bei seinem Vater, dessen Krankheit nicht mehr heilbar ist. Peter hofft, dass Marcus ihn nun auch öfters im Krankenhaus besuchen wird.
Er selbst hilft dem Sohn, wo es nur geht, aber er muss ihm auch Signale setzen. Der junge Mann weiß genau, dass er regelmäßig seinen Bewährungshelfer aufsuchen muss. Doch er kümmert sich nicht darum. Peter ist ratlos. Ein erneuter völlig unnötiger Gefängnisaufenthalt scheint vorprogrammiert zu sein. Es sieht so aus, als wenn Marcus ständig nur seinem inneren Kind nachgibt, aber den Elternteil und den Erwachsenen in sich völlig ausblendet. Eine Psychotherapie würde sicher helfen, doch alle Versuche, ihn dazu zu bewegen, sind bislang fehlgeschlagen.

Peter ist bemüht, die trüben Gedanken hinter sich zu lassen und wieder in die Realität zurückzukehren. Eine Möwe fliegt über ihn hinweg. Ihr harter, lauter Schrei zerreißt die Stille. Langsam erhebt er sich von der Holzbank auf der Deichkrone. Hier oben kann er seinen Gedanken in Ruhe freien Lauf lassen. Mit einem letzten Blick schaut er noch einmal auf die friedliche fast spiegelglatte Nordsee hinaus und steigt dann leicht fröstelnd wieder den Deich hinab.
Die Abenddämmerung zieht auf und ein glutroter Sonnenball verschwindet unaufhaltsam hinter dem weiten Horizont. Leichter gespenstisch anmutender Nebel legt sich ganz sacht über das flache ruche Land. Bald ist der Sommer zu Ende. Wenn sich die Zugvögel nach Süden in wärmere Gefilde aufmachen, sind die Einheimischen wieder unter sich. Bei Pharisäer und Tote Tante mit Rum wird man den Herbststürmen trotzen und hier oben auf dem Deich dem Blanken Hans entgegensehen.

Nachtrag: Thorsten starb am Karfreitag 2011 nach langer schwerer Krankheit. Wir sind sehr traurig!

Als Peter, Marcus und dessen Freundin am Grab standen, zogen sich plötzlich alle anderen Familienmitglieder und Mitbewohner zurück. Die drei wurden auch in der nächsten Zeit bemobbt. Statt Hilfe und Verständnis erfährt Marcus, der am allerwenigsten für seine Lebensentwicklung kann, nur Ablehnung und Intoleranz. Diese Geschichte stammt nicht aus dem letzten Jahrhundert oder hängt, wie bei Thorsten, mit den nach dem Krieg übernommenen damaligen Moralvorstellungen zusammen, sondern hat sich in einem kleinen Dorf in Nordfriesland während der Jahre 1992 bis 2011 tatsächlich ereignet.


Auf glattem Eis geborgen




Eine erfundene Kurzgeschichte zum Thema, für die Teilnahme an Wettbewerben

Inhalt:

Die zwölfjährige Svenja spielt hoch talentiert Eishockey und muss ihre Mannschaft auf Verlangen des neuen Trainers verlassen, weil er keine Mädchen im Team will. Doch Svenja ist kein normales Mädchen. Bei ihr stimmen Körper und Seele nicht überein. Sven ist Frau zu Mann transsexuell und kämpft um Sport und gesellschaftliche Anerkennung. Am Ende siegen Menschlichkeit und Vernunft erfolgreich über Intoleranz und Dummheit.


„Sie übernehmen eine gute Mannschaft, Tom!“ Selbstzufrieden führt der scheidende Jugendeishockeytrainer der Wilden Huskies des EHC Waldburg, Wolfgang Nieder, seinen Nachfolger in die renommierte Eishalle des Vereins. „Unsere Kids führen seit vier Jahren ungeschlagen die Tabelle ihres Jahrgangs an und haben in der Region kaum noch einen ernst zunehmenden Gegner. Der Star unserer Supermannschaft ist ein Mädchen. Svenja Schlüter begann ihre Karriere bei uns mit vier Jahren bei den Kleinstschülern. Sie war seitdem nicht mehr aufzuhalten und hat sich kontinuierlich bis in die Knabenmannschaft hochgearbeitet. Sie gilt als Ausnahmetalent. „Ich habe mich wohl verhört? Wollen Sie ernsthaft behaupten, dass ausgerechnet ein Mädchen Ihnen diese grandiosen Erfolge beschert? Davon wusste ich nichts und das geht auch nicht. Spätestens, wenn das Jugendalter erreicht wird, muss sie raus!“, entgegnet Tom Meisner ärgerlich. Ein Mädchen in einer Jungenmannschaft ist für den erzkonservativen Jugendtrainer das Allerletzte.

Meisner trainiert seit Jahren erfolgreich Jugendteams und hat es zu beachtlichen Erfolgen bei seinem letzten Verein in München gebracht.
Sein Vorgänger in Waldburg, Wolfgang Nieder, erhielt plötzlich ein lukratives Angebot als Landestrainer. So wurde der Weg frei für Tom, welcher aus der Gegend stammt und so mit seiner Familie in die Heimat zurückziehen kann. „Grotesk“, denkt er. „Ein Mädchen! Aber nicht mehr lange in meinem Team. Dafür werde ich als erstes sorgen!“ In seiner Mannschaft wird es nur harte Kerle geben, die ihren Weg machen und eines Tages von ihm für die Bundesliga aufgebaut werden können.
Wolfgang Nieder weist seinem Begleiter peinlich berührt über dessen impulsive Bemerkung mit der Hand den Weg in die Umkleidehalle.

„Hallo, Jungs, wie angekündigt, stelle ich euch heute euren neuen Trainer, Tom Meisner vor. Er hat bisher sehr erfolgreich die Buben in München trainiert und wird euch sicher sehr weit nach vorne bringen.“
Svenja war bereits angezogen und kam gleich interessiert aus dem angrenzenden Lehrerumkleideraum heraus. Wenn man es nicht wüsste, käme wohl niemand auf die Idee, dass der Junge mit den blonden kurzgeschnittenen Haaren vom biologischen Grundgeschlecht her weiblich ist. Sie streckt ihrem neuen Trainer fröhlich die Hand entgegen. „Dann sage ich mal als Kapitän der Huskies herzlich willkommen, Trainer. Ich bin Sven Schlüter!“
Tom Meisner ist wie vom Blitz erstarrt. „Dann bist du also Svenja! Du darfst gleich deine Sachen packen. Mädchen können bei mir in einer Jungenmannschaft nicht bleiben.“ Es dauert fast eine Ewigkeit, bis Svenja die Tragweite des Augenblicks begriffen hat. Noch immer hält sie ihre Hand ausgestreckt, doch dann zieht sie sie wie in Trance zurück. Auch die anderen Kinder starren den hageren Mann entsetzt an.
Die zwölfjährige Gymnasiastin ahnt sofort, dass das jetzt nicht der richtige Moment sein kann, um aufzubegehren. Sie muss erst mit ihren Eltern sprechen. Im Augenblick macht es keinen Sinn, diesem Mann die Stirn zu bieten. Sie nimmt stolz ihre Sporttasche auf, wirft Wolfgang Nieder einen traurigen Blick zu und verlässt mit einem lauten: „Na, dann Tschüss, Freunde!“, die Eishalle, die seit nun fast acht Jahren ihre Heimat ist.

Einen Moment später sitzt sie auf ihrem Fahrrad. Svenja fühlt sich von den Eindrücken der vergangenen Minuten völlig erschlagen. Mit letzter Kraft gelingt es ihr, das Rad in die Garage zu stellen. Sie zittert voller Wut und Enttäuschung. So etwas gibt es doch gar nicht! Eishockey ist ihr Leben und die Eishalle in Waldburg ihr zweites zu Hause. Sie stürzt in ihr Zimmer und wirft die Sporttasche auf den Boden. Und das Gemeine ist, Svenja erlebt sich selbst noch nicht einmal als Mädchen. Seit frühester Kindheit wollte sie schon immer viel lieber ein Junge sein. Auch ihre Eltern und selbst die Lehrer in der Schule hatten rasch bemerkt, dass sie anders war, als die anderen Kinder. Vor drei Jahren fuhren die Eltern mit ihr nach Hamburg. Sie wurde dort fachärztlich untersucht und erhielt dann in München Termine bei einer erfahrenen Kinderpsychologin. Mehrere Arztbesuche in anderen Städten schlossen sich an und zwei Gutachter bestätigten die Diagnose ihrer Psychotherapeutin.

Svenja ist Frau zu Mann transsexuell. Dabei handelt es sich um eine besondere Art von Geschlechtsidentitätsstörung, bei der die Betroffenen häufig bereits seit frühester Kindheit in der sicheren inneren Gewissheit leben, nicht dem biologischen, sondern dem Gegengeschlecht anzugehören. Die Ärzte mussten erst einmal Svenjas Eltern beruhigen. Über die Ursachen der Störung sei kaum etwas bekannt und die Eltern hätten auch bei ihrer Erziehung nichts falsch gemacht. Im Gegenteil. Durch das frühe Erkennen der Anzeichen einer transsexuellen Prägung, sei man heute viel eher und schneller in der Lage, den betroffenen Kindern und Jugendlichen zu helfen.
Früher hatten erwachsene Transsexuelle mit entsetzlichen Konsequenzen zu rechnen. Heute hat sich Gottseidank vieles verändert. Neben der Medizin haben sich Recht und Gesetz weiterentwickelt und neue Erkenntnisse aus wissenschaftlichen Studien zeigen, wie wichtig die Früherkennung auf diesem Gebiet ist. Sven wird im April mit der Hormonbehandlung anfangen. Seine weibliche Entwicklung wird medikamentös unterdrückt, so dass danach die gegengeschlechtliche Behandlung mit dem männlichen Hormon Testosteron beginnen kann.
Sein Facharzt bereitet ihn dann auf die geschlechtsangleichende Operation vor, die aus rechtlichen Gründen erst mit Eintritt der Volljährigkeit erfolgen darf. Wenn dem Amtsgericht alle Unterlagen vorliegen, kann er seine Vornamen und den Personenstand im Geburtsregister ändern lassen.
Durch das frühe Eingreifen wird sich bei ihm erst gar keine Brust entwickeln und so besteht die Operation nur aus der Entfernung der inneren Geschlechtsorgane und dem plastischen Aufbau eines männlichen Geschlechtsteils. Dieser Eingriff wird heute schon mit sehr guten Ergebnissen vorgenommen und am Ende der Behandlung kann Sven größtenteils wie ein ganz normaler junger Mann leben. Lediglich auf eigene Kinder wird er verzichten und bis zum Lebensende regelmäßig männliche Hormone einnehmen müssen.

Traurig sieht sich Sven in seinem Zimmer um. Seine Eltern, die Lehrer und auch die Mitschüler erleben ihn als einen Jungen. Alle sprechen ihn mit seinem männlichen Vornamen an. Sein Zimmer ist mit dem Computer, den Postern und all den Technikbüchern auch gar nicht wie ein Mädchenzimmer eingerichtet.
Typische Mädchenkleidung oder Schminke wird man hier keine finden. Sven ist ein Junge und will auch von anderen Menschen so wahrgenommen werden. Er hat sich im Internet viele Erfahrungsberichte Transsexueller durchgelesen, die erst als Erwachsene Hilfe bekommen konnten und unter starken psychischen Folgen zu leiden haben. So gesehen, geht es ihm gut. Seine Behandlung hat bereits eingesetzt und seine Umgebung hilft ihm, weil ihn alle so akzeptieren, wie er ist. Und nun das! Jetzt, wo alles erst richtig schön werden sollte, schmeißt man ihn aus der Mannschaft, für die er alles gegeben hat. Nur mühsam kann er Tränen der Enttäuschung und tiefster Demütigung zurückhalten.
Mit sorgenvollem Blick sah seine ältere Schwester Anja den kleinen Bruder ins Haus rennen. Er machte einen völlig verstörten Eindruck auf sie. Irgendetwas muss ihn furchtbar mitgenommen haben. „Sven, ist etwas? Kann ich dir helfen?“ Sie klopft an die Tür und findet ihre Vermutung bestätigt, als sie den jüngeren Bruder, einem Häufchen Elend gleich und den Tränen nah, auf dem Bett hocken sieht.

„Ich bin draußen. Sie haben mich rausgeschmissen! Hörst du. Da kommt so ein dämlicher Kerl aus München, übernimmt als neuer Trainer die Mannschaft und das erste, was er macht, er jagt mich aus dem Team, weil ich ein Mädchen bin. Anja, das ist doch nicht o.k., oder?“ Dann kann sich Sven nicht mehr halten. Schluchzend bricht der sonst so cool wirkende Junge in den Armen seiner Schwester zusammen.
Auch Anja war zunächst zusammengezuckt. Aber sie verfügt über eine sehr rasche Auffassungsgabe und findet für alle Probleme schnell eine neue Lösung. Ihr Gehirn beginnt gleich fieberhaft an zu arbeiten. „Also, ich bin wie immer ein Genie. Die Lösung ist ganz einfach. Du trittst aus dem Verein aus und suchst dir einen neuen Club. Mit dem Bus bist du in einer Stunde in Elmendingen.
Die Mannschaft ist drittklassig. Sie werden froh sein, dich zu kriegen und ich kenne den Trainer. Er ist der Vater einer Schulfreundin und vor allem ein vernünftiger Mensch und nicht so ein Arsch wie dieser Tom Meisner. In ein paar Monaten hast du die Jungs an die Tabellenspitze gebracht und dann zahlst du es diesem ignoranten Idioten heim. Besieg deine alte Mannschaft. Die Kumpels werden dir das nicht verübeln. Du konntest ja gar nicht anders. Vielleicht wechseln sie auch und dann hat dieser Trottel mal das Nachsehen!“

„Ach, Anja, was würde ich tun, wenn ich dich nicht hätte. Das ist wirklich die beste Lösung. Ich fahre morgen gleich hin. Hast du ein Taschentuch?“
Lächelnd zieht Anja ein Paket Papiertaschentücher aus ihrer Hosentasche. Am Abend wird bei Schlüters Familienrat abgehalten. Vater und Mutter meinen auch, es wäre besser, großes Aufsehen zu vermeiden und geben ihre Zustimmung zum Vereinswechsel.
Erleichtert fährt Sven am nächsten Nachmittag mit dem Bus in die Nachbargemeinde. Der Trainer heißt Frank Berger und kann über die seiner Meinung nach intolerante Haltung des Kollegen nur den Kopf schütteln. Mit wenigen Worten berichtet er seinem Vorsitzenden am Handy von der Situation.
„Also, als Jurist habe ich da keinerlei Bedenken. Mädchen können bis zum vollendeten fünfzehnten und sogar sechzehnten Lebensjahr bei den Jungen spielen. Das ist normal üblich. Und der Junge ist doch transsexuell und die Behandlung eingeleitet. Tom Meisner ist nicht unumstritten und hat da seine eigenen Ansichten. Er wurde nicht umsonst aus München weggelobt“, erzählt der Geschäftsführer des Vereins, der als Anwalt den Club auch in juristischen Fragen berät.
„Was du nicht sagst. Das klingt interessant. Sehen wir uns heute Abend im Vereinsheim auf ein Bier?“ Frank Berger freut sich. Der kleine Sven ist ein Ausnahmetalent und kommt ihm gerade recht.

In den folgenden Monaten kann sich Sven problemlos in die neue Mannschaft integrieren. Sein Spielerpass wurde sofort freigegeben. So durfte er wenige Wochen nach dem Wechsel für den neuen Verein spielen. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. Trainer Berger plante geschickt die neue Spielerzusammensetzung. Schon die nächsten Spiele konnten seine Eisteddys mit hohen Siegen für sich entscheiden.
Das letzte und entscheidende Spiel um die Meisterschaft sollte am 28. März gegen den Erzrivalen stattfinden. Und dieser Tag schenkte Svens Leben die Wende.
Er schoss den Puck aus allen Entfernungen fast olympiareif ins gegnerische Tor und brachte die Zuschauer in der vollbesetzten Halle zum Toben. Viele Väter gaben Tom Meisner bereits hinter vor gehaltener Hand die alleinige Schuld am Abstieg des Waldburger Teams. Jetzt war auch die Meisterschaft weg. Aber sie gönnten es den Nachbarn und vor allem Sven.

„Das lass ich mir nicht gefallen. Das wird ein juristisches Nachspiel haben!“ Tom Meisner ist nach dem Schlusspfiff des Unparteiischen wütend auf Frank Berger zugelaufen. Dann besinnt er sich und macht kehrt. Am Abend legt er beim Verband schriftlich Einspruch gegen Svens Aufstellung ein und stellt den Antrag, Mädchen künftig nur noch in den Klassen der Kleinst- und Kleinschüler zusammen mit den Jungen spielen zu lassen.
In Waldburg reagieren die Bürger sehr ablehnend auf den Trainer. So bleiben die peinlichen Vorfälle auch der Presse nicht verborgen. Der Chefredakteur des „Waldburger Boten“ kümmert sich persönlich um die neue Story. Er sprach zuerst mit den Eltern und natürlich mit Sven. Dann recherchierte der Journalist äußerst sorgfältig auf Websites, bei Ärzten und in transsexuellen Selbsthilfegruppen. Nach einer Woche konnte sich sein Artikel sehen lassen.
Auf einer ganzen Seite beschrieb er das Leben des Jungen und machte dann auch auf die vielfältigen Probleme, die diese Störung für Betroffene und ihre Familien mitbringt, aufmerksam. Hunderte Leserbriefe unterstützten seine Ansicht und nicht eben wenige wollten von Tom Meisner eine öffentliche Entschuldigung hören. Dabei wurden auch Rücktrittsforderungen laut.

Nach drei Monaten zog Meisner die Konsequenzen und suchte sich einen neuen Verein. Die Wilden Huskies und die Eisteddys fusionierten kurze Zeit später. Sven spielte weiter erfolgreich für seinen neuen und nun gleichzeitig auch alten Verein unter Frank Berger. Mit achtzehn Jahren unterzog er sich der geschlechtsangleichenden Operation und wechselte in die erste Herrenmannschaft.
Sein Weg führte ihn bald in die Eishockeynationalmannschaft, mit der er viele Titel und zweimal Olympisches Gold gewinnen konnte.


Impressum

Texte: alle Rechte beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 25.09.2011

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Widmung:
Dieses Buch ist wahr und will über unsinnige Vorurteile aufklären.

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