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Manuel Magiera

Tätowierte Kinderhaut

„Noch einen Kaffee, Schatz?“ Elfie sieht den Lebensgefährten besorgt an, als sie ihre Hand zur Kaffeekanne führen will. Irgendetwas bedrückt Jochen. Er sitzt traurig in sich gekehrt am Frühstückstisch und wirkt so bekümmert auf sie. Seine Augen erscheinen ihr trüb und blicken heute Morgen auf eine sehr merkwürdige Weise durch sie durch. Mit seinen Gedanken muss er augenblicklich ziemlich weit fort sein. So kennt sie ihren stets fröhlich und jungenhaft auftretenden Partner gar nicht. Sonst lacht er bereits am Morgen, weckt sie mit lustigen Worten. Aber Jochen mag nur ungern über seine Probleme reden. Sie hatte es recht bald bemerkt, nachdem sie sich vor annähernd zwei Jahren zufällig über den Weg gelaufen waren. Elfie weiß tatsächlich nicht sehr viel über ihn, doch das Wenige, das er ihr in den wundervollen gemeinsamen Nächten in ihrer kleinen Bonner Wohnung, wenn sie sich in seine kräftigen Arme schmiegen durfte, erzählt hatte, reichte der zweiundfünfzigjährigen Frau.

Er ist Jahrgang 1938, in Berlin geboren wie sie und als Halbjude war er 1943 in Ausschwitz bereits dem Tode geweiht gewesen. Dann kamen die Alliierten, er wurde siebenjährig gerettet und zu Onkel und Tante nach Ost-Berlin zurückgebracht. Dort wuchs er auf, machte in der DDR sein Abitur und studierte Elektrotechnik. Als seine Zieheltern kurz hintereinander starben, nutzte er die Gelegenheit und nahm das Angebot eines Freundes zur Flucht an. Im Westen baute er sich ein neues Leben auf und jetzt war auch Elfie Teil dieses Lebens geworden.
An seine Vergangenheit erinnert nur noch die Ziffernfolge auf seiner Haut. Z-3421.

Nie wird sie diese Nummer und die Tätowierung auf seinem Unterarm vergessen. Man hatte sie ihm in Ausschwitz kurz nach der Ankunft zugefügt. Seine Mutter starb in der Gaskammer. Er wurde zusammen mit anderen Kindern in eine kleine Baracke gepfercht, bekam Tabletten zu schlucken, erhielt Spritzen und musste leichte Stromschläge über sich ergehen lassen. Sie weinte hemmungslos voller Mitgefühl, als er ihr erzählte, auf welche Weise unschuldige Kinder im Konzentrationslager drangsaliert und zu unmenschlichen Versuchen missbraucht wurden. Er war der Mann ihres Lebens, nachdem… Elfie heißt eigentlich Elfriede und wurde 1927 in Berlin geboren. Als der Krieg 1939 begann war sie noch ein kleines Mädchen gewesen. Ihr siebzehnjähriger Freund Heinz meldete sich im Winter 1944 freiwillig an die Front. Sie wurde ebenfalls Siebzehn und wollte auf ihn warten, heiraten und seine Kinder bekommen. Dann erhielt sie ein Schreiben der Wehrmacht. Ihr Heinz war auf den Seelower Höhen, unweit von Berlin von einer russischen Granate zerfetzt worden. Sie schickten ihr seine persönlichen Sachen und auch den letzten, noch nicht an sie abgesandten Brief. Heinz schrieb, wie sehr er sich fürchtete und wie er sie liebte und in den grauenvollen Nächten im Sperrfeuer allein nur durch den Gedanken an sie und ihre gemeinsame Zukunft um sein Leben kämpfen konnte. Danach blieb Elfie allein. Sie beendete ihre Ausbildung als Sekretärin und schaffte es nach etlichen Jahren sogar bis ins Bundeskanzleramt. Der Sechzehnstundentag unter ihrem Chef Kanzler Helmut Schmidt macht ihr nichts mehr aus. Die Arbeit ist interessant und dass sie häufig auch am Wochenende arbeiten muss, wird durch die vielen Dienstreisen, auf denen sie den Bundeskanzler begleiten darf vollends wieder wettgemacht.
Sie ist auch dabei gewesen, als er im London International Institute for Strategic Studies im Jahre 1977 seine ergreifende Rede hielt und von der Nato Gegenmaßnahmen für die von den Russen stationierten und auf Westeuropa gerichteten atomaren Mittelstreckenraketen vom Typ SS-20 forderte. Das strategische Gleichgewicht sei nun nicht mehr gewährleistet und auch der Westen müsse aufrüsten und atomare Sprengköpfe in Europa bereit halten.
Elfie war mit sich und mit ihrem Arbeitsplatz zufrieden. Sie glaubte, aus ihrem Leben das Beste gemacht zu haben. Sie hatte sich ganz in ihre Aufgaben gestürzt und war Heinz treu geblieben. Einen anderen Mann wollte sie nicht. Es wäre ihr Heinz gegenüber wie Verrat vorgekommen.

Ein paar Monate später ging sie wie immer in der Mittagspause in den angrenzenden Park. Dort am See stand er und fütterte die Enten mit Brotkrumen, die er aus einem Plastikbeutel nahm. Ein gutaussehender Mann, so um die Vierzig, schlank, muskulös, durchtrainiert. Sie konnte sich nicht satt an ihm sehen. Dann drehte er sich um und rutschte aus. Mitten in den See. Sein schicker dunkelblauer Anzug war plötzlich über und über mit Grünpflanzen und Matsch bedeckt. Er sah sie erst hilflos an, begann zu lachen und blickte ihr direkt in die Augen. Sie sprang sofort auf um ihm zu helfen und spürte zum ersten Mal in ihrem Leben wieder eine unerklärliche Sehnsucht nach Nähe und …Liebe.
Natürlich nahm sie ihn gleich mit zu sich in ihre Wohnung, die nur zehn Minuten entfernt vom Kanzleramt lag. Warum sollte sie Angst vor ihm haben? Er trug die Kleidung eines Diplomaten und hatte vielleicht auch gerade Mittagspause, als das Unglück geschah. Er wusch sich bei ihr und dann rief er einen Freund an, der ihm frische Kleidung aus seiner Wohnung brachte. Sein Name war Jochen Krüger. Er arbeitete für den BND und durfte ihr nichts von seiner Dienststelle erzählen. Aber das hielt sie für selbstverständlich. Elfie gehörte ja als eine der engsten Sekretärinnen des Kanzlers ebenfalls zu den Geheimnisträgern. Es war Liebe auf den ersten Blick. Er fragte sie nie nach ihrer Arbeit und auch sie sprach ihn nicht auf seinen Job an. Die wenigen Stunden und Nächte gehörten nur ihnen beiden allein und Elfie genoss das Leben an Jochens Seite. Sie blühte förmlich auf und musste doch immer öfters Akten mit nach Hause nehmen, weil sie für zusätzliche Überstunden im Büro kaum noch Zeit hatte. Er schüttelte missbilligend den Kopf, half ihr aber so fleißig beim Diktat, dass sie dachte, er wäre der Kanzlersekretär und nicht sie und danach lagen sie wieder engumschlungen im Bett. Sie dachte auch ans Heiraten, wagte jedoch noch nicht, ihn darauf anzusprechen.

Elfie spürt eine ihr unerklärliche Veränderung in Jochens Wesen. Er sieht seit einiger Zeit immer öfter blass und abwesend aus. Vielleicht ist es die Witterung, denkt sie. Es ist Februar und das nasskalte Wetter setzt auch ihr zu. Sie hatten in den letzten Wochen vor Weihnachten obendrein sehr wenig voneinander gehabt. Elfie musste viel arbeiten. Der sogenannte Nato-Doppelbeschluss, an dem der Bundeskanzler maßgeblich beteiligt war, ist nun endlich unter Dach und Fach. Aber es gab unzählige Demonstrationen und auch in den eigenen Reihen regte sich Widerstand. Sogar die Koalition drohte zu zerbrechen. Als Kanzleramtssekretärin stand sie an vorderster Front und erlebte die Spannungen, unter denen ihr Chef zu leiden hatte, hautnah mit. Jochen war dabei wohl etwas zu kurz gekommen. Am 12.12. des letzten Jahres wurde der Beschluss nun endlich gefasst und es wird langsam wieder ruhiger an ihrem Arbeitsplatz.

„Schatz? Jochen, kann ich dir helfen? Liebling, sag doch etwas!“ Elfies Stimme klingt schriller als sonst. Irritiert schaut er auf und langsam beginnen seine Wangen wieder Farbe anzunehmen. „Was meinst du? Kaffee, nein danke, es ist alles in Ordnung. Ich habe nur einen schweren Fall zu lösen.“ Elfie atmet erleichtert auf. Er wirft ihr einen liebevollen Blick zu und doch liegt dieses Mal ein geheimnisvoller leichter Hauch von Melancholie darin. „Warte bitte nicht auf mich. Es wird wahrscheinlich sehr spät.“
Er nimmt sie in den Arm und küsst sie zärtlich und sehr fest auf den Mund. Sie erschrickt, wie bei Heinz, jagt es ihr durch den Kopf. Dann ist er zur Türe hinausgegangen und Elfie räumt den Tisch ab.

Als er am Abend nicht nach Hause kam, dachte sie sich noch nichts dabei. Am Morgen war sein Bett unberührt geblieben. Sie rief besorgt bei seinen Kollegen an. Niemand wusste etwas. Auf der Arbeit telefonierte sie mit dem BND. Auch in seiner Abteilung konnte ihr keiner sagen, wo er war. Am späten Abend ging sie voller Angst zur Polizei. Dort beruhigte man sie. Aber Elfie sollte ihnen ein Foto abgeben und der freundliche Polizist würde in den Krankenhäusern der Umgebung nachfragen.

Einen Tag später wurde sie gegen Mittag zum Bundeskanzler gerufen. Herr Schmidt hatte Besuch. Zwei Kriminalbeamte wollten mit ihr sprechen. Sie brachten Elfie nach Hause, zeigten ihr einen Hausdurchsuchungsbeschluss und packten seine Sachen ein. Sie fanden auch einige Akten, an denen sie gerade arbeitete. Sie wurde zum Verhör mitgenommen. Was dann geschah, kann ein Außenstehender nur noch als Albtraum bezeichnen.

                                                                        *
Fast ein halbes Jahr ist inzwischen vergangen. Jochen hat sich nicht mehr bei ihr gemeldet. Kripobeamte und der Staatsanwalt waren die einzigen Besucher. Auch einen Rechtsanwalt hatte man ihr geschickt. Elfie verstand nicht, was man von ihr wollte. Jochen war verschwunden. Vielleicht ist ihm etwas Schlimmes passiert und die Polizei hat nichts Besseres zu tun, als sie über ihre Arbeit zu befragen. Man teilte ihr mit, dass sie vorerst vom Dienst suspendiert sei. Elfie verstand die Welt nicht mehr.
Sie trägt heute wieder das graue Kostüm und die weiße Bluse mit den goldenen Knöpfen dazu, welches sie am Tag ihrer Verhaftung angezogen hatte. Sie durfte sich Kleidung und einige persönliche Gegenstände einpacken.

Elfie blickt gedankenverloren aus dem Fenster. Nach einer Weile sähe man die Gitter davor nicht mehr, hatte ihr eine Mitgefangene erklärt, als sie ihr das Essen brachte. Sonst durfte sie keine Kontakte zu den anderen Insassinnen des Frauengefängnisses haben. Der Hof liegt trist und leer. Ein wenig Rasenfläche ist alles, was den Häftlingen innerhalb der hohen Mauern mit dem Stacheldraht auf der Krone beim Hofgang bleibt. In den gegenüberliegenden Zellen sind manchmal Personen zu sehen. Mit einigen hat sich Elfie mittels Zeichensprache sogar verständigen können. Jana muss zehn Jahre wegen Totschlags an ihrem Mann absitzen, der sie in betrunkenem Zustand ständig verprügelte. Und Anna erschlug im Streit ihren Zuhälter. Elfie sitzt jetzt seit sechs Monaten in Untersuchungshaft.
Auf dem Flur kommen Schritte näher. Ihre Tür wird aufgeschlossen.
„Sind Sie bereit?“ Die blonde Vollzugsbeamtin in der blauen Uniform lässt ihren Blick routinemäßig über Elfie und durch ihre kleine Zelle wandern. „Ja“, antwortet die fast dreiundfünfzigjährige Frau kaum hörbar und wendet sich langsam dem Ausgang zu. Ihr Haar hat in den letzten Monaten einen starken Grauschimmer angenommen. Elfie ist sich immer noch keiner Schuld bewusst. Ihre Hände sind nun mit zwei Stahlringen gefesselt, als sie von der Beamtin ins Auto gesetzt wird.

Dann erlebt sie sich im Gerichtssaal auf der Anklagebank. Sie muss sich wieder erinnern. Wie sie ihn kennengelernt hat, will der Richter in der Verhandlung wissen. Elfie erzählt. Von ihrer Jugend, ihrem Heinz, den Seelower Höhen und von Jochen. Vom KZ und seiner Tätowierung, den Qualen, die er als Kind hat erleben müssen.
Ob sie denn wirklich so naiv geglaubt habe, dass er sie tatsächlich liebte, wo er doch um so viel jünger als sie gewesen sei, wird sie vom Staatsanwalt gefragt. Sie sieht in den Zuschauerraum. Einige der jüngeren Zuhörer verziehen etwas die Mundwinkel. Sie lachen mich aus, denkt sie. Nein, sie war sich sicher gewesen, dass er es ernst gemeint hätte, erklärt sie mit fester Stimme. Und überhaupt, warum man ihn beschuldigte. Sie beide hätten doch nichts Unrechtes getan.
Ob sie wisse, was ein Romeo sei, setzt der Staatsanwalt nach. Elfie verneint. Es sind Männer, die von der DDR Regierung ausgebildet werden und sich gezielt an Alleinstehende Sekretärinnen in Bundesbehörden heranmachen sollen. Elfie empört sich. Aber doch nicht ihr Jochen! Der Richter erklärt es ihr. Die Beweislage sei eindeutig. Inzwischen hat auch der BND festgestellt, dass Jochen Krüger ein Ostagent war. Was sie von seiner Familie wisse, wird sie gefragt. Elfie antwortet wahrheitsgemäß. Sie erfährt, dass der Mann, den sie über alles liebte, ein Geflecht aus Lügen aufbaute, auf sie angesetzt worden war und jeder Schritt, der ihn an sie heranführen würde, akribisch von seinen Vorgesetzten, man nennt sie Führungsoffiziere, geplant wurde. Seine Zieheltern wären nicht tot, sondern würden an hoher Stelle im Ministerium für Staatssicherheit arbeiten. Elfie sitzt starr auf der Anklagebank. Das kann doch alles nicht wahr sein. Sie sieht den Richter flehend an. Bitte, sagen Sie mir, dass das ein Irrtum ist. Der Richter hat Mitleid mit der Frau, die nicht einmal leichtfertig auf diese perfide Masche hereingefallen ist. Aber er muss Recht sprechen. Das ist seine Aufgabe und die Frau hat bewusst oder nicht, Staatsgeheimnisse verraten. Es sind Dokumente darunter, die im Nato-Doppelbeschluss auf höchster Ebene verhandelt worden waren und niemals in die falschen Hände geraten hätten dürfen. Krüger, natürlich ist dies nicht sein richtiger Name, wurde rechtzeitig vor seiner Enttarnung gewarnt und nach Ostberlin zurückbeordert. Man wird ihn nie zur Rechenschaft ziehen können.
Ob sie weiß, dass sie keine Akten mit nach Hause nehmen darf und welche Brisanz das Material hatte, welches sie bearbeiten musste? Elfie beginnt langsam zu verstehen. Sie hat einen Fehler gemacht. Es war nicht ihre Sehnsucht nach Wärme, Zärtlichkeit und Liebe, die in seinen Armen gestillt wurde. Sie selbst hatte Schuld auf sich geladen, als sie die Akten mit nach Hause nahm und ihm so zugänglich machte. Eine letzte Frage hätte sie noch:
Was ist mit der Tätowierung auf seinem Arm? Die Nummer auf seiner Haut? Ist auch die tragische Geschichte seiner Kindheit nur eine Lüge?
Nein, antwortet der Richter. Die Tätowierung ist echt. Jochen war wirklich in Ausschwitz knapp dem Tode entronnen. Lächelnd lehnt sich Elfie zurück. Sie hat einen Fehler gemacht. Und sie ist ein zweites Mal das Opfer eines Unrechtsstaates geworden. Heinz starb im Kugelhagel der Roten Armee. Sie hatte an ihrer großen Jugendliebe festgehalten und war so eine leichte Beute für den DDR Staat geworden. Und Jochen oder wie immer er auch heißt, wurde nicht nur seiner Kindheit beraubt. Kann man sich so verstellen? Kann man zwei Jahre lang einer Frau Liebe vorheucheln, mit ihr schlafen, ohne Gefühle? Elfie ist sich sicher, ein Quäntchen Liebe muss dabei gewesen sein. Er hat ihr die schönsten Jahre ihres Lebens geschenkt und nun alles wieder verloren. Heinz und Jochen haben viel mehr durchmachen müssen, als das, was sie jetzt erwarten würde. Sie wird nicht bestraft, weil sie auf einen gemeinen Trick hereingefallen war, sondern weil sie Akten mit nach Hause genommen hatte, die nur im Kanzleramt im Safe aufbewahrt werden dürfen.

Elfie lächelt und steht gefasst zur Urteilsverkündung auf. Sie sieht selbstbewusst in den Zuschauerraum.
Die Angeklagte Elfriede Schrader ist schuldig des Landesverrats in mindestens sechs Fällen, davon in einem besonders schweren Fall. Sie wird deshalb zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt.
Hach, mein Leben war doch schon ein einziges selbst gewähltes Gefängnis, bis ich Jochen kennenlernte, denkt sie. Ich werde es überleben. Und ich sollte ihm verzeihen. Wir sind doch beide Opfer einer mörderischen Politik und menschenverachtender Systeme geworden. Ob wir einander je wiedersehen? Ich wünsche dir alles Gute Jochen.

Am 8. Dezember 1987 unterzeichnen US Präsident Ronald Reagan und Michail Gorbatschow den INF Vertrag, der den Abbau aller Mittelstreckenraketen in Europa vorsieht. In den Folgejahren sagen sich die ehemaligen Ostblockstaaten von Moskau los. Die UDSSR bricht auseinander und am 09. November 1989 öffnet sich endlich wieder die trennende Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland.

Die Botschaft verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der DDR. So recht wollten sie es nicht glauben. Die Grenze zur BRD sollte auf sein. Man könne ungehindert von Ost nach Westberlin reisen und zurück. Auch in der Strafanstalt Bautzen grassierte das Gerücht. David Tessmann ist neugierig geworden. Er sitzt seit vier Jahren ein. Früher hat er für die Staatssicherheit gearbeitet, aber dann wurde ihm ausgerechnet sein letzter Auftrag zum Verhängnis. Er sollte im Westen unter einem Decknamen in höchsten politischen Kreisen spionieren. Alles war genauestens geplant. Eine Kanzleramtssekretärin wurde ausgeguckt und der Köder für die Alleinstehende Fünfzigjährige ausgelegt. David war dieser Köder und er dachte sich nichts dabei, als er den Auftrag ausführte. Doch die Sache hatte einen Schönheitsfehler. Er verliebte sich in die Frau, die doch nur ein Auftrag für ihn darstellen sollte. Schon bald sendete er nur fehlerhafte Informationen nach Ostberlin und als dann der Rückruf kam, musste er sie schweren Herzens verlassen. Nicht einmal die Wahrheit konnte er ihr erzählen. Zu Hause bemerkte niemand etwas. Er war fest entschlossen und arbeitete fast ein Jahr lang an einem ausgeklügelten Fluchtplan. Alles hatte Hand und Fuß. Und dann war es seine eigene Tante, die ihn anzeigte. Die Schwester seines Vaters, bei der er aufwuchs, nachdem der Vater im Krieg gefallen und die Mutter in Ausschwitz umgekommen war. Ihn hatte man mit einer Nummer auf dem Unterarm in letzter Minute vor der Vergasung gerettet. Die Frau, die er als seine Mutter betrachtete verriet ihn an die Stasi. Er wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt. Sie sah ihn nicht mehr an und besuchte ihn auch nicht. Davids Gedanken sind bei seiner Elfie. Und nun soll angeblich die Grenze auf sein. Als er Anfang Dezember in seinen persönlichen Sachen vor dem Gefängnistor steht, rinnen ihm Tränen übers Gesicht. Sie haben alle politischen Häftlinge freigelassen. David will nur noch eines: Wissen, wie es ihr geht. Er hat sie ja seit damals, als er Hals über Kopf aus Westdeutschland fliehen musste, weder gesprochen, noch sonst etwas über sie erfahren. Als er endlich den Hörer nimmt und ihre Nummer wählt, kommen ihm Zweifel. Wird sie ihn anhören?

Er bekommt tatsächlich ein Freizeichen. Doch am anderen Ende meldet sich eine fremde Frauenstimme. Wo Frau Schrader wäre, fragt er. Das wisse sie nicht, er solle es mal beim Meldeamt versuchen.
Ihre Freundin Martha, schießt es ihm durch den Kopf. Mit zitternder Hand blättert er die Seiten in seinem alten Notizbuch um. Da ist die Telefonnummer.
„Martha, hier ist Dav, Jochen. Kannst du mir sagen, wo ich Elfie finde?“ Es ist still am anderen Ende. „Weißt du es nicht? Sie hat wegen dir drei ganze Jahre im Knast gesessen und ihren Job ist sie auch los. Aber sie hat mir gesagt, dass sie dir verzeiht. Verstehen kann ich sie nicht. Hast du einen Stift? Hier ist ihre Nummer. Sie lebt in Hamburg.“
Er wählt noch einmal. „Schrader.“ Er wagt erst nichts zu sagen, aber dann stammelt er: „Elfie, ich bin es, Jochen. Bitte, liebe Elfie, vergib mir. Ich habe dich so geliebt, aber sie waren stärker.“ Eine warme vertraute Frauenstimme antwortet ihm aus der Leitung. „Wo bist du?“ „Noch in Berlin, aber ich nehme den nächsten Zug nach Hamburg.“

Ein paar Stunden später liegen sich zwei Menschen auf dem Bahnhof in Altona weinend in den Armen. „Ich habe immer an dich geglaubt und gewusst, dass du mich genauso liebst wie ich dich. Die Politik vermag viel. Sie kann trennen und wieder zusammenführen. Aber eines kann sie nicht: Uns unsere Liebe nehmen!“ Elfie sieht ihrem Jochen in die verheulten Augen. „Wie heißt du denn nun wirklich?“
„David, David Tessmann. Und ich hoffe, du auch bald, wenn wir endlich verheiratet sind.“

 

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Texte: alle Rechte beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 18.08.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Teilnahme am Wettbewerb auf neobooks "Tätowierungen"

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