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Das erste Mal im Leben

Der ersten Liebe Hochgenuss, ist ohne Zweifel wohl der Kuss! Ob man ihn nimmt, ob man ihn gibt: Er ist ganz allgemein beliebt…



In der Schule ging der Zettel mit dem lustigen Gedicht vor ein paar Tagen herum. Corinna hat ihn auch gelesen, als sie die Zeilen während der langweiligen Geschichtsstunde von Kiara zugesteckt bekam. Kiara hat gut lachen. Sie ist vierzehn Jahre alt, genau wie Corinna. Und doch trennen sie Welten. Nicht nur, dass Kiaras Vater als erfolgreicher Anwalt eine eigene Kanzlei besitzt und ihre Mutter als Augenärzten auch noch zum Familieneinkommen beiträgt. Kiara lebt in einem großen Haus mit Swimmingpool und bekam bereits zu ihrem zwölften Geburtstag ein eigenes Pferd geschenkt. Als wenn das nicht schon genug wäre, nein, sie ist darüber hinaus auch noch das hübscheste Mädchen in der Klasse. Sogar die Jungen aus der Oberstufe himmeln sie an.

Und Corinna? Sie hat Übergewicht, wenn auch nicht ganz so viel wie ihre beste Freundin Denise, aber beim Sport ist sie trotzdem immer eine der Letzten, die gewählt werden, wenn es darum geht, eine Mannschaft für das Volleyballspiel zusammenzustellen! Corinna trägt eine Brille mit sehr dicken Gläsern und seit einem Jahr obendrein eine hässliche Zahnspange.
Ihre Mutter ist alleinerziehend, wie man heute sagt. Der Vater verließ sie kurz nach ihrer Geburt. Die Mutter meinte, er hätte wohl Angst vor der Verantwortung gehabt. Sie muss hart arbeiten und steht jeden Tag von halb acht Uhr an bis nach sieben Uhr abends im Supermarkt. Dort trifft sie auch Kiaras Mutter, die oft zum Einkaufen kommt.
Die beiden Mütter unterhalten sich miteinander, als wenn es gar keine Unterschiede zwischen ihnen gäbe. Und dann kam der Montag, den Corinna sicher nie mehr in ihrem Leben vergessen wird.
Es ging bei dem Gespräch wohl um Kiaras Geburtstagsfest, zu dem die ganze Klasse eingeladen war. Auch Corinna hatte eine Einladung erhalten. Und als ihre Mutter am Abend von der Arbeit nach Hause kam, musste sie sie natürlich gleich auf das bevorstehende Fest ansprechen. Corinna fühlte sich danach furchtbar elend. Ihr war übel, hatte sie doch so sehr gehofft, alles geheim halten zu können. Aber das war nun leider nicht mehr möglich.

„Was soll ich denn da? Ich habe ja nicht einmal etwas zum Anziehen und wir brauchen das Geld doch viel dringender für die Fahrt an die Nordsee“, erklärte sie vehement in der sicheren Gewissheit, dass ihre Mutter ihr wie immer zustimmen würde. Corinnas Mutter leidet an Asthma und der Arzt hatte ihr geraten, den nächsten Urlaub mal am Meer zu verbringen. Eine solche Reise würde viel Geld kosten und Corinna kannte es gar nicht anders, als dass sie jeden Cent einzeln umdrehen mussten.
„Papperlapapp! Natürlich gehst du auf das Fest. Ich habe noch Stoff liegen und werde dir etwas Hübsches nähen“, antwortete die Mutter und Corinnas kleines Herz blieb stehen. „Aber Mama, dass ist doch nicht nötig und überhaupt, ich brauche ja auch noch ein Geschenk!“, rief sie verzweifelt aus.

Sie wollte nicht dorthin, in jenes große protzige Haus, welches ihr nur wieder ihre eigene Armut vor Augen halten würde. Sie war das Mauerblümchen in der Klasse. Hässlich und Unansehnlich! Mit ihr wird sich niemals ein Junge unterhalten, geschweige denn es wagen, sie zu…
Corinna schalt sich selbst, dieses Wort überhaupt in Gedanken formen zu wollen und doch nagte da etwas an ihr, das ihre Träume immer wieder in die eine Richtung lenken wollte und sie musste die geballte Kraft ihres Verstandes aufbringen, um den Kopf wieder frei zu bekommen. Nein! Sie wollte das nicht. Alles sollte so bleiben wie es war.
Die Mitschüler kamen doch nur zu ihr, wenn sie Hilfe bei den Matheaufgaben brauchten oder in irgendeinem anderen Fach bei ihr abschreiben wollten. Corinna hatte als eine von ganz Wenigen auf der Hauptschule die Eignung für das Gymnasium bekommen. Und ihre einzigen Verbündeten dort waren die Lehrer. Ja, die mochten die kleine Streberin, weil sie fast nur Einser schrieb und stets die richtigen Antworten auf ihre Fragen parat hatte.
Doch die Frage nach dem ersten K..., pfui, da war es schon wieder, dieses unanständige Wort, welches nun aber endlich ein für alle Mal aus ihrem Kopf verschwinden sollte, diese Frage konnte und wollte sie nicht beantworten.

Es half kein Bitten und kein Flehen. Pünktlich um sieben Uhr steht sie heute in einem hübschen gelben selbstgeschneiderten Kleid, welches ihrer Mutter, die sogar mal Schneiderin gelernt hat, gar nicht so schlecht gelungen ist, vor der Tür der Villa, die sie doch zutiefst verachtete und eigentlich niemals betreten wollte. „Hallo, Corinna, nett, dass du da bist. Komm herein und gehe ins Wohnzimmer zu den anderen“, wird sie nun von Kiaras Mutter freundlich begrüßt. Es ist laut im Haus. Musik tönt aus vielen unsichtbaren Lautsprechern, als sie der Einladung zitternd und mit einem Kloss im Hals Folge leistet. Es ist geschehen, sie kann nicht mehr zurück. Sie sieht zur Treppe und ihre Augen bleiben starr auf einen Punkt gerichtet, verweilend, direkt in die Augen einer anderen Person blickend, welche dort auf der obersten Stufe des Aufgangs steht und Corinnas eigenen Gesichtsausdruck formvollendet widerspiegelt. „Ich bin Fabian, Kiaras Cousin, und wie heißt du?“ Corinna kann nur kaum hörbar ihren Namen stammeln und spürt plötzlich den kräftigen Arm eines jungen Mannes auf ihrer Schulter, der sie sogleich vorsichtig an die Hand nimmt. „Kiara hat so viel Besuch, sie wird gar nicht merken, dass du nicht da bist. Komm, ich will dir etwas zeigen!“
Wie im Traum lässt sie sich führen und kniet einen Augenblick später vor einem Hundekoerbchen, in dem sich acht niedliche Dackelwelpen tummeln. Corinna glaubt zu schweben und doch erscheint ihr alles vollkommen real zu sein. Ein gutaussehender Junge, um die Sechzehn, legt ihr einen putzigen Welpen in den Arm und blickt sie verliebt dabei an.

Ein Märchen wurde wahr. Sie blieben den ganzen Abend zusammen. Und als es um halb elf Uhr Zeit für die Heimfahrt wurde, da fuhr er bei Kiaras Vater im Auto mit und begleitete sie nach Hause. Er wohnte in einer anderen Stadt, doch sie hatte seine Handy Nummer und sie tauschten ihre E-Mail Adressen aus. Im Sommer wollte er wiederkommen.
In ihren Mails sprachen sie davon, wie es wohl sein wird, wenn sich ihre Lippen das erste Mal berühren und zu einem Kuss verschmelzen dürfen. Corinna blühte auf. Ihre furchtbare Zahnspange war eines Tages plötzlich verschwunden. Auch das Brillengestell wurde in eine modischere Variante eingetauscht. Sie hatte begonnen, zu schwimmen und inzwischen schon viele Kilos abgenommen. Aus dem hässlichen kleinen Entlein wurde langsam aber sicher ein wunderschöner stolzer Schwan. Und dann traf sie ihn nach einem Jahr Mailkontakt wieder.

Er sah ihr erneut strahlend in die Augen und dieses Mal erwiderte das junge Mädchen den zärtlichen Blick des Mannes und Corinna fühlte, wie die Welt um sie herum versank. Es war just in dem Augenblick, als er sie in die Arme nahm und das erste Mal im Leben innig küsste.
Viele Jahre sind seitdem vergangen. Fabian und seine Corinna sind schon lange ein Ehepaar und haben selbst eine kleine Tochter. Corinna sitzt auf der Terrasse ihres großen Hauses und sieht gedankenverloren auf das blaue Wasser im Swimmingpool. Laut dringt die Stimme ihres Töchterchens an ihr Ohr: „Mama, wie war das bei dir und Papa, wann habt ihr euch eigentlich das erste Mal geküsst?“

Noch ehe sie antworten kann, hört sie die Mutter:
„Corinna, was ist denn, Kind. Du träumst ja schon wieder! Du musst los. Es ist bereits kurz vor sieben Uhr. Oder willst du zu spät zu Kiaras Party kommen?“

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Texte: alle Rechte beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 13.07.2011

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Widmung:
Kurzgeschichte zum bx-Wettbewerb "Kiss me" 10.Platz

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