Cover

Das Amulett 1. Kapitel


Ein herrlicher Frühlingsmorgen kündigte sich an. Die ersten warmen Sonnenstrahlen bahnten sich vorwitzig ihren Weg durch unsere schweren dunkelgrünen Samtvorhänge. Leise drang der jeden Morgen wiederkehrende Straßenlärm in das halb geöffnete Schlafzimmerfenster zu meinem Mann und mir hinein. Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen versuchte ich weiter zu schlummern. So wie ich, erwachte nun auch die ganze Stadt aus ihrer Nachtruhe. In wenigen Stunden würde ein geschäftiges Treiben entstanden sein, welches es wohl in jeder Hauptstadt auf der Erde gab. Doch Jerusalem war etwas Besonderes. Hier wurde ich geboren. Hier wuchs ich auf. Für mich würde es auf der ganzen Welt keinen schöneren Platz geben.
Einen Augenblick später erreichte ein ziemlich vertrautes Geräusch meine Ohren. Es führte mich unsanft aus meinen Träumen in den beginnenden jungen Tag hinein. Ich öffnete langsam die Augen. Mein Mann David lag laut schnarchend an meiner Seite. Belustigt fiel mein Blick auf sein fein geschnittenes Gesicht und ich ertappte mich dabei, wie ich seine Atemzüge bis zum nächsten Aussetzer mitzählte. Es wurde gestern Abend wieder sehr spät. Mein Kopf schmerzte, als wäre eine Dampfwalze über ihn hinweg gefahren und ich hatte das Gefühl, er würde jeden Moment zerspringen. Die Nacht war kurz gewesen. Um Mitternacht stießen wir mit unseren Gästen auf meinen vierzigsten Geburtstag an. Und heute, am 04. April 2041, sollte der letzte Teil der uralten Offenbarung wahr werden.
David wird mittags in die Knesset einziehen und zum neuen Ministerpräsidenten des Staates Israel vereidigt. Inzwischen sehen auch die bibeltreuen und orthodoxen Juden den Messias oder Maschiach, wie er von ihnen genannt wird, in ihm. David erfüllt alle Bedingungen, die nach der religiösen Lehre dazugehören. Er ist nicht nur Jude und gehört dem Stamme Juda an, sondern er konnte, wie auch ich, seine Vorfahren bis zum König David und dessen Sohn Salomo zurückverfolgen. Die weiteren Voraussetzungen, das jüdische Volk in Jerusalem zu versammeln, den Tempel des Salomo wieder aufzubauen und Frieden auf der Welt zu schließen, waren ihm bereits vor dreißig Jahren gelungen. Meine Zwillingsschwester Mara, sowie David und Monir, unser palästinensischer Freund, der nun seit bereits einem Jahr Ministerpräsident von Palästina ist, und ich, bereiteten damals als zehnjährige Kinder den Weg, für die im Jahre 2012 gegründeten zwei getrennten Staaten Israel und Palästina mit Jerusalem als deren gemeinsame Hauptstadt. Im Laufe der folgenden Monate wurden dann beide Staaten von nahezu allen Ländern der Erde anerkannt und traten natürlich auch der UNO bei. Seitdem herrschte Frieden in Nahost und dieser Friede wirkte sich nicht nur auf die arabische, jüdische und christliche Welt aus, sondern verband in kürzester Zeit sämtliche Völker. Damit wurde auch der Grundstein für die Umsetzung einer einzigartigen Vision gelegt, denn die in den letzten Jahren reformierten Vereinten Nationen machten die Wahl der allerersten Weltregierung möglich, welche ebenfalls noch in diesem Jahr stattfinden wird.
Als Ministerpräsident Sebanja und der Palästinenserführer Rabbas während unserer Rettung aus dem Labyrinth unter dem Felsendom einander die Hand gaben und einem zehnjährigen Jungen die Erfüllung der Prophezeiung des Salomo versprachen, waren alle Fernseh- und Radiosender der Welt dabei. Eine Welle der Begeisterung umspannte die ganze Erde, denn vier Kindern war in den unterirdischen Gewölben des Tempelbergs etwas gelungen, was den Erwachsenen und allen Politikern auf der Welt bislang unerreichbar erschien: Den dauerhaften Frieden in Nahost zu schließen. Und der kleine dunkelhaarige Junge, der damals in die laufende Kamera sprach, war mein Mann, David Yehuda.
Rebekka! Etwas entsetzt über meine Vergesslichkeit schrak ich aus den alten Erinnerungen auf und öffnete mit einem Ruck meine Nachttischschublade. Geradezu wehmütig mit Liebe und Dankbarkeit im Herzen, nahmen meine Hände das alte Medaillon heraus. Heute feierte auch meine Tochter Geburtstag. Sie wurde zehn Jahre alt und nach unserer Familientradition musste sie es an diesem Tag von mir bekommen, so wie ich es einst an meinem zehnten Geburtstag aus der Hand meiner Großmutter erhielt. Während ich langsam aufstand und meinen Morgenmantel überzog, blickten meine Augen zu meinem schlafenden Mann hinüber. Seine ebenmäßigen Züge und die kleine Stupsnase entsprachen eigentlich nicht den herkömmlichen jüdischen Karikaturen. Nur seine dunklen, leicht naturgelockten Haare mochten vielleicht zu einem typischen Juden passen. Frische kühle Morgenluft umwehte mich, als ich das Fenster weit öffnete und dadurch meine müden, brennenden Augen wieder zum Leben erwecken konnte. Jerusalem! Meine Stadt! Welch ein herrlicher Anblick. Wir werden unser Haus schon um unserer Tochter willen behalten und nicht in den Amtssitz des israelischen Ministerpräsidenten übersiedeln. Warum auch? David konnte jeden Morgen von einem Dienstwagen abgeholt werden und ich sah nicht ein, weshalb ich in sieben Jahren, wenn seine Amtszeit enden wird, wieder meine Sachen packen sollte. Es waren nur zwei Kilometer Luftlinie und die Knesset für David somit gut erreichbar. Ein Haus wie das unsrige gab es auch in ganz Jerusalem nicht ein zweites Mal. Der Ausblick war wirklich kolossal. Ich sah über die vielen kleinen Gebäude der Altstadt und musste dabei unwillkürlich etwas lächeln. Auf den Dächern kündeten Satellitenschüsseln und etliche Sonnenkollektoren von den Errungenschaften der modernen Zeit und bildeten auf diese Weise einen eigentlich unschönen Kontrast zur gelungenen Mischung aus Alter und Neuer Welt. Die Stadt fand ihre erste Erwähnung bereits 1800 Jahre vor Christi Geburt. Und das glaubte man ihr, wenn man über die Altstadt blickte, auch aufs Wort.
Gegenüber hatten sich bereits einige orthodoxe Juden an der Klagemauer versammelt und gleich dahinter rief der Muezzin zum Gebet in die Al-aqsa Moschee. Hell leuchtete die goldene Kuppel des Felsendomes auf und glänzte in den ersten morgendlichen Sonnenstrahlen. Östlich des Tempelberges und südöstlich von der Altstadt lag der Ölberg. Nach jüdischem Glauben würde über ihn der Messias nach Jerusalem einziehen. Christus kam dort entlang und wurde im Garten Getsemani, der sich darunter befand, von Pontius Pilatus‘ Schergen gefangen genommen. Vom Ölberg aus stieg er dann zu Gott in den Himmel auf. Auch der Islam glaubte, dass das Kidrontal der Ort des Jüngsten Gerichts war. Das Meiste davon hatte sich bereits erfüllt. Auf dem dort gelegenen stark beschädigten jüdischen Friedhof, dessen Gräber aus biblischer Zeit stammten, befand sich auch unser Grab. Es war der Treffpunkt für die Bande und von ihm aus begannen wir damals unsere waghalsige Expedition, die uns beinahe allen das Leben gekostet hätte. Doch das durfte nach der göttlichen Prophezeiung nicht geschehen, denn wären wir nicht gewesen, hätten wohl weitaus mehr Menschen ihr Leben lassen müssen. Vielleicht wäre dann sogar, wie von den Terroristen geplant, die ganze Erde untergegangen. Meine Hände fanden zum Morgengebet zusammen.
Und Du hast alles gewusst, Herr. Danke, Gott, dass es nicht dazu kommen musste. Mit Deiner Hilfe konnten wir unsere Aufgabe erfüllen. Und seit fast dreißig Jahren dürfen wir nun diesen wunderbaren Frieden genießen. Doch nicht alle Menschen auf der Erde waren in der Lage, Dir als den einen und einzigen Gott zu huldigen, insofern erscheint die letzte Bedingung, die der Messias erfüllen soll, wohl gar nicht richtig erfüllbar. Man musste schließlich ebenfalls an die Buddhisten und anderen Fernöstliche Glaubensrichtungen mit Achtung und Respekt denken. Aber wir konnten trotzdem zufrieden sein. Jerusalem war endlich die Hauptstadt der zwei Staaten Israel und Palästina, und auf der gegenüber liegenden Seite des Tempelbergs befand sich der Regierungssitz der palästinensischen Regierung, die von unserem Freund und meinem Schwager Monir Rabbas geführt wurde. Es war sein Großvater gewesen, der vor dreißig Jahren tief unter der Stadt über dem Allerheiligsten den von allen so heiß ersehnten Frieden mit Israel schloss.
Meine Zwillingsschwester Mara und Monir heirateten genau wie David und ich vor zwanzig Jahren. Gott schenkte ihnen zwei Kinder, den nun zwölfjährigen Achmed und die neunjährige Sarah. Nach alter Familientradition würde Sarah im nächsten Jahr an ihrem zehnten Geburtstag den anderen Teil des 3000-jährigen Amuletts aus der Hand ihrer Mutter entgegennehmen, so wie ich es gleich mit meiner einzigen Tochter Rebekka vollziehen wollte. Das Originalmedaillon lag inzwischen im Israelmuseum und zog mit dem Schatz des Tempelbergs jedes Jahr Millionen Besucher nach Jerusalem. Meine Tochter konnte nur noch eine detailgetreue Kopie des herrlichen Kunstwerks, welches ein Schmied vor 3000 Jahren im Auftrag des legendären Königs Salomo herstellte, bekommen. Ursprünglich war es ein einziges Stück gewesen. Erst mein Vater ließ es auf Wunsch meiner Großmutter vor dreißig Jahren in zwei Hälften teilen, so dass Mara und ich jede einen Teil an unserem zehnten Geburtstag erhalten durften.
Meine Hand fuhr in die Tasche des Morgenmantels und erfühlte die kalte, unebene Oberfläche des kostbaren Gegenstandes.
*
„Mama, guten Morgen, weißt du welcher Tag heute ist?“ Die Schlafzimmertür wurde unsanft aufgestoßen und ein kleines barfüßiges Mädchen stürmte wild im Pyjama auf seine Mutter zu. Salome Yehuda drehte sich erschrocken von ihrem Platz am Fenster um und legte energisch den Zeigefinger auf den Mund, während sie mit dem Kopf zum Ehebett auf ihren dort schlafenden Mann wies. „Pscht! Du weckst ja den Papa auf. Er hat einen sehr anstrengenden Tag vor sich und gestern Abend wurde es auch sehr spät“, raunte die blonde vierzigjährige Frau dem quirligen Kind, welches nun seine beiden Arme fest um die Hüften der Mutter schlang, zu. Auch Salome umarmte ihre Tochter zärtlich und schob sie sanft ins angrenzende Kinderzimmer hinüber. Leise verschloss sie die Tür hinter sich. „Mama, ich bin heute zehn Jahre alt geworden!“ Rebekka blickte ihre Mutter stolz an. „Herzlichen Glückwunsch, meine Süße!“ Salome schmunzelte. „Mama, bitte, nun tu doch nicht so, als wenn du es nicht wüsstest! Bitte, bitte. Gib es mir und dann möchte ich die ganze Geschichte hören, so wie du sie von Uroma gehört hast und sie sie wieder von ihrer Mama und alle Frauen in unserer Familie vor mir.“ „Erst einmal schlüpfst du unter die Bettdecke zurück und dann lässt du mir ein wenig Platz zum Sitzen. Und überhaupt, was ist das für eine Begrüßung?“ Das kleine dunkelblonde Mädchen hielt inne und kuschelte sich wohlig seufzend ins Bett. Ihre Hand klopfte auf die Bettkante. Sie streckte die Arme nach der Mutter aus und empfing selig lächelnd liebevolle Küsse auf ihre inzwischen vor Aufregung glühenden Bäckchen. Sie hatte die dunklen Augen und die kleine Stupsnase ihres Vaters geerbt und ein lustiges Grübchen betonte die frappierende Ähnlichkeit mit ihm. Aber die blonden gewellten Haare und ihre anmutige zarte Gestalt schlossen auf das Aussehen der hübschen Mutter in ihrem Alter und ließen bereits jetzt ziemlich sicher erahnen, dass sich das Mädchen einmal zu einer grazilen Schönheit entwickeln würde. „Weißt du Mama, ich muss doch Sarah nachher alles haarklein erzählen. Sie will ganz genau wissen, wie es ist, wenn man zehn Jahre alt wird.“ „Und wie ist es?“ Salome konnte ein leichtes spöttisches Lächeln nicht unterdrücken, wurde dann aber sehr ernst. „Rebekka, auch wenn du heute von mir nur eine Kopie des Amuletts bekommen kannst, so ist es doch kein Spielzeug. Ich werde die Familientradition so fortführen, wie sie seit drei Jahrtausenden in unserer Familie vollzogen wird. Du musst mir aber versprechen, nicht nur eines Tages selbst deiner eigenen Tochter die heilige Geschichte der Kette zu erzählen und ihr den besonderen ideellen Wert zu erklären, sondern auch immer gut darauf aufzupassen und du darfst sie niemals missbrauchen, um damit anzugeben! Willst du das tun?“ Salome sah ihre Tochter aufmerksam an. Auch sie hatte anfangs nicht an die phantastisch anmutende Legende ihrer Großmutter geglaubt, doch die weltverändernden Ereignisse vor dreißig Jahren belehrten sie schnell eines Besseren. Rebekka schlug beschämt die Augen nieder. Ihre Mutter hatte natürlich Recht. Sie war schon ein Jahr älter als die Cousine und spielte sich gerne etwas auf. Auch war sie es selbst gewesen, die vor Sarah damit angegeben hatte, nun bald die nächste Trägerin des Amuletts zu sein.
Die Familienlegende besagte, dass es einst im Auftrag des großen Königs Salomo geschmiedet wurde und das war vor annähernd dreitausend Jahren. Und kein geringerer als Gott selbst, wies damals den weisen König an, dies zu tun. Ihre Mutter, Tante Mara, ihr Papa und Onkel Monir waren dazu auserwählt, Israel und Palästina zu gründen und die Zerstörung der Erde zu verhindern. Sie schluckte und setzte dann ihre feierlichste Miene auf. „Ja, Mama, ich verspreche dir, dass ich immer auf die Kette aufpassen und mich als Trägerin würdig erweisen werde, bis ich sie weitergeben kann.“
„Huch, wo hast du das denn wieder gelesen? ‚Würdig erweisen‘, ist eigentlich kein Ausdruck für eine Zehnjährige. Aber wie dem auch sei, ich glaube dir, mein Schatz.“ Zärtlich strich Salome ihrer Tochter über das seidige Haar. Wie bei David, dachte sie liebevoll lächelnd. Sie griff in ihren Morgenmantel und zog ein goldenes Medaillon, welches an einer kräftigen ebenfalls goldenen Kette hing, daraus hervor. Dankbar und demütig führte sie das Kleinod kurz an ihre Lippen und legte es anschließend feierlich in die kleinen Hände des Mädchens. Ein letztes Mal fühlte sie darüber. Dann drückte ihre Hand Rebekkas. „Alles Gute zum zehnten Geburtstag, mein Kind. Möge Gott mit dir sein und dich auf allen deinen Wegen beschützen!“
Während sie ihre Tochter liebevoll anblickte, legte sich ihre Stirn in sorgenvolle Falten, denn in den eben noch so unschuldig leuchtenden Kinderaugen zeigte sich nun auf einmal ein seltsamer Ausdruck von Furcht und Angst. Etwas ganz Besonderes nahm in diesem bedeutungsvollen Augenblick seinen unaufhaltsamen Lauf und sollte die junge Seele des Mädchens für immer verändern. Es war dieselbe Angst, die Rebekka in ihrem Innersten verspürte. Zweifel nagten plötzlich an ihr. Was würde sein, wenn sie wirklich noch nicht würdig genug wäre? War es vielleicht doch noch zu früh, die Verantwortung für das Amulett zu übernehmen?
Ihre Mutter ahnte aus eigener Erfahrung nur zu gut, was für Entwicklungen in ihrem Kind vor sich gingen und welche Fragen es in diesen Sekunden quälten. Sie beugte sich rasch über den kleinen Körper und ihre Arme umschlangen ihn fest. Salome wollte ihre ganze Kraft auf Rebekka übertragen.
Das Mädchen öffnete seine Hände und blickte schüchtern auf die leuchtende Scheibe aus purem Gold. Im Hintergrund war der siebenarmige Leuchter zu sehen, welcher vom Davidsstern vollständig umschlossen wurde. In der Mitte verband ein Fisch das Hexagramm mit dem oberen Rand und unten war es ein Kreuz, welches direkt aus dem Stern herauszuwachsen schien. In das Hexagramm hatte man hebräische Zeichen eingraviert. Salome setzte sich auf. Dann begann sie leise zu erzählen.
„Tante Mara und ich bekamen die beiden Teile des Medaillons auf den Tag genau vor dreißig Jahren von deiner Urgroßmutter. Deine Oma, also unsere Mama, war 2003 durch einen palästinensischen Selbstmordattentäter getötet worden, als sie von ihrer Arbeitsstelle mit dem Bus nach Hause fahren wollte. Urgroßmutter zog dann auf Wunsch deines Großvaters zu uns, denn Tante Mara und ich waren noch sehr klein gewesen, als es passierte. Wir lebten nicht weit von hier am Rand des christlichen Viertels von Jerusalem und zwar direkt auf der Mitte, wo sich alle vier Viertel, Christliches, Armenisches, Jüdisches und Muslimisches, trafen. In unserer Nachbarschaft wohnten sehr viele palästinensische Familien, die uns ihr tiefstes Mitgefühl zum Tode unserer Mutter ausdrückten und mit uns trauerten. Es gab weder gegenseitigen Hass noch Ablehnung aufgrund der Religionszugehörigkeit. Mara und ich besuchten eine normale israelische Schule. Unser Vater arbeitete als Diplomat für die Regierung und obwohl wir seit jeher katholisch waren, gab es nie irgendwelche Probleme. Mara und ich verkrafteten dank Uromas Betreuung und der liebevollen Zuwendung aller anderen Freunde, Nachbarn und Familienmitglieder den Verlust unserer Mutter, soweit es bei einem derartigen Schicksalsschlag eben ging. Unsere Spielgefährten kamen von überall her. Etliche jüdische Jungen und Mädchen und palästinensische Kinder gaben sich bei uns die Türklinke in die Hand. Wir lebten eigentlich multikulturell und hatten auch keine Schwierigkeiten damit. Natürlich passte unsere Oma sehr auf, dass wir uns allen Kindern gegenüber gleich verhielten und jeder war in unserem Haus willkommen.
Onkel Monir und dein Papa waren Nachbarn und natürlich ganz dicke Freunde. Das änderte auch nichts an der Tatsache, dass Papa einer uralten jüdischen Familie entstammte und Onkel Monir den großen Propheten Mohammed als einen seiner Ahnen vorweisen konnte. Mara und ich gründeten mit den beiden eine Bande. Wir nannten uns „die Hüter des Schatzes“, nichtahnend, wie nah wir damit der Wahrheit und unserer Bestimmung gekommen waren. Unsere Gegner hießen „die Wilden Sarazenen“, welche auch aus vier Kindern bestanden, die aber allesamt Palästinenser und natürlich Muslime waren. Wenn wir nicht am Nachmittag in der Bande beieinander saßen, kamen die anderen auch ganz normal zu uns zu Besuch und wurden von Oma bewirtet.
Dann benahmen wir uns vor den Erwachsenen so ordentlich, als wenn wir nie ein Wässerchen trüben konnten und die dicksten Freunde wären. Auch unsere Eltern kannten sich natürlich und hatten gute Kontakte zueinander. Unser Hauptquartier lag in einem aufgegebenen, leeren Grab auf dem ehemaligen Jüdischen Friedhof unterhalb des Ölbergs im Kidrontal. Den Nachbarskindern aus der gegnerischen Gruppe erzählte dein Papa Horrorgeschichten. Es würde dort spuken und Vampire sowie die Geister von gehängten Verbrechern und ermordeten Juden kämen nachts aus ihren Gräbern und trieben ihr Unwesen. Das hinterließ auf die anderen Kinder einen sehr abschreckenden Eindruck und wir waren auf diese Weise in unserem Versteck vor ungebetenen Besuchern ziemlich sicher. Jerusalem war eine uralte Stadt und es gab fast überall vergessene Gräber und Höhleneingänge, die in unterirdische Labyrinthe führten. Der Friedhof befand sich unterhalb des ehemaligen Tempelberges, auf dem die Muslime ihre Al-Aqsa Moschee und den Felsendom gebaut hatten. Einige Büsche und Bäume standen neben dem Zugang und verdeckten ihn fast völlig. Eigentlich war es wegen Einsturzgefahr gar nicht erlaubt, sich überhaupt an der Stelle aufzuhalten. Aber es kamen nie Soldaten oder Polizisten dorthin. Der Platz war eine Art Niemandsland, denn die Seite des Tempelbergs, auf der der Felsendom und die Moschee errichtet worden waren, gehörte ja den Palästinensern. Nur Monir hatte dort oben Zugang. Er ging immer mit seinem Vater in die Moschee, um dort zu beten. Auf diese Weise kannten wir uns natürlich auch auf der anderen Seite, die Papa als Juden und uns als christliche Mädchen nicht zugänglich war, bestens aus.
Am Nachmittag des 4. April 2011 liefen Mara und ich schnell von der Schule nach Hause. Wir hatten Geburtstag und waren nach dem Kaffee mit den Jungen im Versteck verabredet. Großmutter empfing uns mit sehr feierlicher Miene. Morgens schon hatte sie uns gratuliert und dann durften wir neue bunte Federtaschen in die Schule mitnehmen. Als Zwillinge bestanden wir natürlich auch darauf, stets gleich gekleidet zu sein und so bekamen wir jeder einen schönen Pullover und todschicke rote Anoraks. Für Sonntag hatten wir ein großes Fest geplant, zu dem wir alle unsere Freunde einladen durften. Wegen der Schule, der Geburtstag fiel ja auf einen Montag, wollten wir deshalb mit Oma nur einen Kakao trinken und ein Stück Kuchen essen. Papa sollte am Abend von der Arbeit kommen und uns noch zu Mc Donalds einladen. Als wir dann am Nachmittag mit unserer Oma am Tisch saßen, legte sie plötzlich jedem Mädchen die Hälfte eines schweren Medaillons in die Hände. Sie tat es genauso, wie ich vorhin mit dir. Erst küsste sie es und dann erhielten wir mit denselben Worten jeder einen Teil. Verwundert starrten wir auf das sehr alte Amulett, fügten es auf dem Tisch wieder zu einem Ganzen zusammen und sahen Oma erstaunt an. So feierlich hatten wir sie noch nie erlebt und unser überraschter Gesichtsausdruck muss wohl dem deinen eben völlig gleich gewesen sein. Dann begann Oma eine unglaubliche Geschichte zu erzählen. Es ist dieselbe, die du jetzt auch von mir hören wirst.“
Rebekkas Blick klebte an den Lippen der Mutter und sie sog jedes Wort tief in ihr kleines Herz auf. Sie hatte sich innerlich beruhigt und ließ sich die schwere Kette, von der eine magische Kraft auszugehen schien, von Salome um den Hals legen. Dann fuhr ihre Mutter fort.
„Meine Großmutter erzählte von einer Legende, die auf die Kreuzigung unseres Herrn Jesus zurückgeht. Du weißt, dass während und nach der Kreuzigung auf dem Tempelberg neben Maria, Jesu Mutter, auch einer seiner Jünger, nämlich Johannes, bei ihm wachte. Kurz bevor Jesus starb, sprach er die bekannten Worte zu seiner Mutter: ‚Siehe dein Sohn‘ und zu Johannes: ‚Siehe deine Mutter‘. Das tat er aber nicht einfach nur so. Es hatte einen besonderen Grund. Bei Maria und Johannes standen noch zwei weitere Frauen: Maria Magdalena, die eine Anhängerin Jesu war und Salome von Galiläa, die Frau des Zebedäus und Mutter von Jacobus dem Älteren und eben diesem Johannes, der als Lieblingsjünger Jesu bezeichnet wurde. Man sagt, dass Johannes auch der Verfasser des Johannesevangeliums und der Offenbarung gewesen war. Sein Bruder Jacobus und sein Vater Zebedäus lebten als Fischer am See Genesaret. Nun, Salome von Galilea hatte eine besondere Bedeutung in Jesu und Johannes Leben. Sie war natürlich wirklich die Mutter des Johannes, doch unsere Familienlegende besagt, dass in Wahrheit gar nicht Zebedäus sein Vater gewesen sein konnte, sondern Joseph, Marias Mann, der irdische und soziale Vater Jesu. Salome und Joseph hatten schlichtweg das miteinander gehabt, was wir heute als eine Affäre bezeichnen würden. Natürlich wusste Maria bald Bescheid und reagierte ihrem Mann, Salome und dem armen Johannes gegenüber entsprechend abweisend.“
Rebekkas Augen wurden immer größer. Das war natürlich eine Neuigkeit von der nichts in der Bibel stand!
„Aber, Mama, dann war Johannes ja Jesus kleiner Bruder. Da ist es doch kein Wunder, dass er ihn so gern mochte. Hatte Jesus denn noch mehr Geschwister?“, rief sie laut aus. „Das weiß keiner so genau. Normalerweise hatten die Menschen damals viele Kinder, aber Maria war ja nun etwas ganz Besonderes gewesen. Sie galt als Mutter Gottes und nach der Prophezeiung, die ich dir nachher erzählen werde, konnte Jesus zumindest bei seinem Tod keine noch lebende Schwester gehabt haben, denn er war durch Joseph in den Besitz des Medaillons gekommen. Am Abend, bevor er von Judas im Garten Getsemani an die Römer verraten wurde, gab er es dann an seinen Halbbruder Johannes weiter. Dieser sollte es nach der Bestimmung des uralten Medaillons an seine älteste Tochter oder seinen Sohn, wenn er keine Tochter bekäme, übergeben. Und im Gegensatz zu den meisten anderen Aposteln war Johannes erst im hohen Alter als Bischof zur Zeit des Kaisers Trajan um 117 n. Chr. Geburt in Kleinasien gestorben. Damit konnte er natürlich auch Nachkommen gehabt haben. Ein wichtiges Indiz, dass er Jesus vielleicht sehr viel näher stand, als vielfach angenommen wird, ist der Galaterbrief 50 des Paulus. Dieser spricht darin über das hohe Ansehen des Johannes als: Eine der drei Säulen der jungen Kirche. Es ist schon mehr als rätselhaft, wenn ein unbedeutender Jugendlicher mit gestandenen Männern wie Petrus und Paulus auf eine Stufe gestellt wird. Jesus wollte Maria möglicherweise umstimmen und besänftigen, damit sie Joseph und Salome den Fehltritt vergeben konnte, als er sterbend seine berühmten Worte sprach. Jedenfalls kam Johannes durch Jesu Hand in den Besitz des Medaillons und hörte aus seinem Mund auch die Geschichte dazu. Jesus hatte es von Joseph bekommen, der aus dem Hause Davids war und somit in direkter Linie von David und seinem weisen Sohn Salomo, abstammte. Das Symbol des Johannes ist der Adler.
Was siehst du dort halblinks fast in der Mitte unter den althebräischen Schriftzeichen im Hintergrund?“ Interessiert hielt Rebekka das Amulett ins Licht Sie erkannte sofort die Hälfte eines Adlers.
„Dann hat also Jesus das Medaillon, das im Israelmuseum zusammen mit den anderen Schätzen aus dem ersten Tempel aufbewahrt wird, berührt. Und deshalb hat es Oma geküsst und auch du hast … Das hier ist aber eine Kopie. Mama, ich möchte einmal das Original küssen. Dann bekomme ich vielleicht auch ein so großes Herz, wie es Jesus hatte.“ Salome konnte vor Rührung eine Träne nicht verhindern. Sie hauchte ihrer Tochter sanft einen Kuss auf die Stirn. „Das hast du bereits, mein Liebling. Vergiss nicht, du bist der Legende nach mit ihm verwandt. Ich werde dafür sorgen, wenn die Zeit gekommen ist.“
Rebekkas Augen begannen zu strahlen. „Was hat Maria denn auf Jesu Wort hin gemacht? Hat sie Joseph und Salome verziehen? Hey, sie heißt ja genau wie du, Mama, ist das so gewollt?“ Salome lachte laut auf.
„Ja, mein Schatz, ich trage tatsächlich ihren Namen und Papa beobachtet mich deshalb sehr argwöhnisch, damit ich mir nicht auch noch einen Liebhaber zulege. Aber ich denke, soweit geht die Gemeinsamkeit mit ihr dann doch nicht. Sie floh zusammen mit Maria Magdalena und Maria Kleophas nebst der schwarzen Sklavin Sarah über das Mittelmeer. In Südfrankreich gibt es einen kleinen Ort mit Namen ‚Saintes-Maries de la Mer‘, in dem noch heute Prozessionen und Wallfahrten zum Gedenken stattfinden. Salome soll sogar bis nach Mittelitalien gekommen sein und wurde Patronin des Ortes Veroli. In der Katholischen Kirche wird sie als Heilige verehrt und gefeiert. Diese Frauen sind ja Zeuginnen des leeren Grabes und damit der Auferstehung Christi gewesen. Eine solche Ehre gewährt Gott sicher nur wenigen, besonders auserwählten Menschen.“
Mutter und Tochter waren so intensiv in ihr anregendes Gespräch vertieft, dass sie den aufmerksam zuhörenden Mann in der Tür zunächst gar nicht bemerkten. David Yehuda lehnte am Türpfosten und schmunzelte belustigt. „So, so, du meinst also, ich kann ganz beruhigt jeden Morgen zur Arbeit gehen und muss weder unseren Postboten noch die Handwerker fürchten“, lachte er und steuerte mit weit geöffneten Armen auf Rebekka zu. „Papa, wir wollten dich nicht wecken und Mama hat mir das Medaillon gegeben und mir die wunderschöne Geschichte dazu erzählt!“, rief sie aus und schmiegte sich fröhlich in die starken Arme des Vaters. „Shalom, mein Kind. Erst einmal herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, kleine Prinzessin. Alles Gute für die Zukunft, auf das sich alle deine Wünsche erfüllen mögen und du jeden Tag so viel Massel hast, dass es dir nie im Leben ausgeht.“ „Danke Papa, schau mal, ich habe das Medaillon bekommen.“ Stolz hielt sie es vor Davids Augen. „Ja, du weißt natürlich, dass es nicht mehr das Original ist, welches deine Mutter und Tante Mara noch besaßen. Es ist einfach zu wertvoll. Und ich glaube auch, dass Maria ihrem Joseph verziehen hat. Oder, was meinst du, mein Engel?“ Salome schmunzelte und erwiderte den zärtlichen Kuss ihres Mannes, der sich zu ihr hinüber gebeugt hatte. „Das denke ich auch. Es gibt im Übrigen nichts Erotischeres, als einen unrasierten Mann im Seidenpyjama“, entgegnete sie lachend. „Weißt du was, Tochter, den Rest der Geschichte erzählt dir jetzt dein Vater. Dann kann ich mich waschen und anziehen und danach dafür sorgen, dass du noch ein Geburtstagsfrühstück bekommst. Und ich auch“ , fügte sie leise hinzu.
„Mama, oh wie dumm von mir. Du hast ja auch heute Geburtstag! Es tut mir so leid. Ich habe doch wirklich nur an das Medaillon und an mich gedacht. Kannst du mir noch einmal verzeihen?“ Rebekka war verschmitzt lächelnd aus dem Bett gesprungen und drückte ihre Mutter. „Herzlichen Glückwunsch und alles Gute für dich, Mama!“ Dann zog sie ein kleines Päckchen hinter dem Rücken hervor. „Ich habe auch etwas für dich. Ich habe es ausgesucht und Papa hat es bezahlt. So etwas nennt man bei uns Teamarbeit.“ Salome sah erstaunt auf ihre Tochter und dann zu David. „Nun mach schon auf, wir sind gespannt, ob es dir gefällt“, drängelte ihr Mann. Mit zittriger Hand öffnete sie die kleine Schatulle. Sie ahnte, was sich darin befand. „Liebling, das hat ein Vermögen gekostet“, hauchte sie und fiel ihm um den Hals. „Weißt du, woher diese Ohrringe stammen, Rebekka?“ Das Mädchen nickte. „Ja, ich habe sie im Museum gesehen. Der Juwelier hat sie direkt nach den Originalen dort angefertigt. Sie gehörten Bathseba, der Mutter Salomos. Sie war Davids zweite Frau, die er erst heiraten konnte, nachdem er ihren Mann im Krieg hatte töten lassen. Gott nahm ihnen deshalb den ersten Sohn. Salomo wurde als Zweitgeborener später König in Israel. Papa hat gewaltig gestöhnt, als er sie bezahlen musste. Aber sie sind wunderschön!“
„Ich glaube, ich erzähle dir nun doch noch die ganze Geschichte. Liebling hilfst du mir mal, die Ohrringe festzustecken?“ „Ich helfe dir eigentlich viel lieber, sie wieder auszuziehen, nun ja, wenn du meinst.“ Mit geschickten Fingern legte David seiner Frau die teuersten Schmuckstücke an, die er bisher erstanden hatte. Der alteingesessene Juwelier nahm bereits für die Anfertigung der Zeichnung ein kleines Vermögen. Die Edelsteine fielen danach gar nicht mehr so sehr ins Gewicht. Er wandte sich seiner Tochter zu, die sich ins Bett kuschelte. „Geh nur, Sali, ich unterweise unser Töchterchen höchstpersönlich in die restlichen offenen Familiengeheimnisse.
Also, das Amulett, welches Jesus seinem Bruder Johannes gab, war schon zu seiner Zeit über 900 Jahre alt gewesen. Es wurde vom König Salomo einem Schmied in Auftrag gegeben, genauso, wie ein Steinmetz ihm eine Bildplatte fertigen sollte. Gott selbst hatte dem Salomo im Traum die Maße und das genaue Aussehen der Teile beschrieben und ihm den Text der Inschrift für die Steinplatte diktiert. Sie war nicht besonders groß und enthielt Bilder der bereits beiden bekannten, aber auch von zwei weiteren, noch nicht geborenen Propheten. Da waren zum einen Abraham und seine Söhne, Isaak und Ismael. Darunter stand der Name der drei in Althebräisch. Als nächster kam Moses, welcher die Tafeln mit den zehn Geboten in der Hand hielt. Und dann, und damit wurde es eine tatsächlich von Gott gesandte Offenbarung: Das dritte Bild zeigte die Geburt Jesu, sein Wirken, und seinen Todeskampf am Kreuz. Darunter stand: Jesus, Sohn Gottes, der kommen wird aus Nazareth. Genau daneben befand sich die Abbildung deines Medaillons, auf dem ja auch die Namen aller Propheten und das Zeichen des Johannes eingraviert sind. Auf dem letzten Bild saß ein alter Mann vor einem Buch. Er schrieb arabische Schriftzeichen, während ein strahlender Engel dabei über seine Schultern blickte. Das war natürlich Mohammed, der letzte Prophet Gottes, der den Worten des Erzengels Gabriel lauschte und dabei den Koran verfasste. Auch sein Name stand auf der Platte, die deine Tante Mara damals aus dem Sand in unserer Höhle grub. Natürlich wurde sie von den besten Wissenschaftlern auf der Welt untersucht. Die Radiokarbonmethode datierte den Stein um 950 vor Christi Geburt und da hatten weder Jesus noch Mohammed schon gelebt. Es war der Beweis für die Existenz einer wirklichen Prophezeiung. Die Schätze, die wir in den Seitenräumen des kleinen verborgenen Tempels fanden und natürlich auch die Tafeln mit den zehn Geboten, waren damit echt.
So, jetzt muss ich aber gehen. Um halb elf Uhr beginnt die erste offizielle Pressekonferenz und danach fahren wir zur Vereidigung. Bekki, du solltest dich auch langsam anziehen. Du wirst im zweiten Wagen, direkt hinter Mama und mir sitzen. Gib mir noch einen Kuss und wünsch deinem Papa Glück!“ „Ich hab dich lieb, Aba. Bis nachher.“ Rebekka seufzte. Es war gar nicht so leicht berühmte Eltern zu haben. Die Geschehnisse vor dreißig Jahren unter dem Tempelberg waren in die Geschichte eingegangen. Jedes Schulkind erfuhr sie spätestens beim Eintritt in die Grundschule. Aber Rebekka saß nun einmal direkt an der Quelle und es war natürlich viel spannender, sie aus erster Hand zu hören. Als der beste Erzähler hatte sich allerdings Onkel Monir erwiesen. „Ich werde ihn heute Abend fragen, ob er uns alles noch einmal vollständig erzählt“, sagte sie zu sich und hinkte auf beiden Beinen abwechselnd in ihr eigenes kleines rosagekacheltes Bad.

Im Tempelberg 2. Kapitel


Palästinenserchef Monir Rabbas konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie oft er schon die aufregendste Geschichte seines Lebens zum Besten geben musste. Um ihn herum scharrten sich etliche Kinder, die heute Abend zum Amtsantritt des neuen israelischen Ministerpräsidenten David Yehuda hier im größten Hotel Jerusalems dabei sein durften. Er dachte kurz nach und begann zu erzählen:
„In der Nacht zum 04. April 2011 hatte es fürchterlich geregnet. Alle meinten damals, es wäre kein normaler Regen gewesen, obgleich heftige Niederschläge für diese Jahreszeit durchaus auch in stärkerem Maße üblich waren. Jedoch, dieser Guss in den frühen Morgenstunden glich eigentlich schon der der Sintflut. Als wir um halb acht Uhr zur Schule liefen, schien aber bereits wieder die Sonne. Für uns begann damit ein ganz normaler Tag. Am Nachmittag wollten wir uns in unserem Versteck treffen. Mara und Salome hatten Geburtstag und sie versprachen, Süßigkeiten und Cola mitzubringen. Ich war schnell mit den Hausarbeiten fertig und kam als erster gegen halb drei Uhr ins Kidrontal. Überall war es schlammig und schmutzig. Der Friedhof sah schlimm aus. Auch Büsche lagen vereinzelt herum und als ich vor dem Grabeingang stand, musste ich erst einmal einiges an Ästen und Buschwerk forträumen. Wie durch ein Wunder fand ich kaum Pfützen im Inneren vor. Das Gebüsch musste einiges vom Regen abgehalten haben. Trotzdem lagen unsere Holzsitze und viele Spielsachen in der Höhle verstreut. Ich beschloss, mich hinter einen kleinen Baum zu setzen und auf die anderen zu warten. Von weitem sah ich David und die Mädchen herankommen. Sie hatten einen Korb dabei und ich freute mich bereits auf unser Picknick. Es gab eine herzliche Begrüßung. Mara und Salome glichen einander wie ein Ei dem anderen. Sie waren beide schlank und hatten hellblonde Haare und blaue Augen. Nur in ihrem Wesen unterschieden sie sich doch sehr. „Wie sieht es denn hier aus?“, rief Mara entsetzt. „Also, so können wir in der Höhle keinen Kuchen essen. Das muss erst einmal alles aufgeräumt werden!“ Sie war schon damals eine kleine Hausfrau gewesen und entsprach damit meinem als muslimischen Jungen anerzogenem Frauenbild mehr, als ihre Schwester Salome, die wesentlich selbstbewusster auftrat und auch schon mal ziemlich bissige Bemerkungen machen konnte. Salome passte mit ihrer Art tatsächlich eher zu David. Auf Maras Geheiß begannen wir das Geröll nach draußen zu befördern und unsere Sitze aus Holz und zusammengestellten Steinen wieder aufzubauen.
Der Sand zu unseren Füßen war noch etwas feucht. Mara nahm sich einen kleinen Besen und fegte die Steine ab. Plötzlich stutze sie. Sie hatte etwas Glattes, Poliertes freigelegt. Eifrig begann sie weiter zu putzen und vor unseren erstaunten Augen tauchte eine Steinplatte auf. Sie war von heller Sandsteinfarbe und ungefähr einen Meter lang und einen Meter breit. Vorsichtig halfen wir Mara, sie aus dem Sand zu heben und legten sie in eine Grabnische. Mit einem kleinen Handbesen begann auch Salome die Platte zu säubern. Neugierig sahen wir darauf. Wir erblickten vier rechteckige eingemeißelte Kästen, in die Bilder eingraviert waren. Darunter standen hebräische Schriftzeichen, die ich aber nicht genau entziffern konnte und auch die Inschrift war in einer mir unbekannten Schrift gehalten. Der ganz linke Kasten enthielt das Bild eines alten Mannes und zwei kleiner Jungen.
„Abraham und seine Söhne Isaak und Ismael“, las David vor. „Es ist Althebräisch. Ich lerne es seit einem Jahr bei Rabbi Samuel. Daneben steht: Moses. Schaut, er hat die Schrifttafeln mit den zehn Geboten in der Hand.“ „Das ist Jesus, wie er im Stall geboren wird und daneben geht er übers Wasser. Ist das schön!“, rief Mara verzückt aus. Salome berührte ihre Schwester am Arm und zeigte auf das eingravierte Medaillon. Auch Mara schaute ungläubig darauf. Dann fasste sie unter ihren Pullover und zog ein halbes goldenes Amulett hervor. Sie hielt es gegen das Bild auf der Platte. „Komm Salome, nimm auch deines in die Hand. Sieh, sie passen genau.“
„Jesus, Sohn Gottes, der da kommen wird aus Nazareth“, übersetzte David staunend. Ich sah auf das letzte Bild. Es zeigte einen Mann vor einem Buch und ein schöner Engel sah ihm über die Schultern. „Was steht da, David? Das darf nicht sein. Es gibt keine Bilder vom Propheten, aber das da sind arabische Zeichen“, stammelte ich. David nickte mit dem Kopf. „Es heißt, Machamadim und das bedeutet: Muhammed. Wie alt mag diese Platte wohl sein? Hier ist noch eine Inschrift:
Seht die Propheten des Herrn. Dies sind ihre Namen. So Höret dazu die Worte des Allmächtigen Gottes:
Wenn die Scheibe zweigeteilt liegt bei den Schwestern und die Söhne der Propheten im Heiligtum erneuern meinen Bund, die beiden Könige besiegeln die zwei Reiche, so wird Friede sein auf Erden zwischen den Völkern und bewahrt von den vier Nachkommen welche leben werden, zur Rettung der Welt
So sprach zu mir der Herr, unser Gott
Sein gehorsamer Diener
Salomo


Wenn das wirklich zu Salomos Zeiten angefertigt wurde, dann ist das Teil ja fast 3000 Jahre alt. Es sind althebräische Schriftzeichen, die heute kaum noch jemand verwendet“, erklärte David.
„Seht mal her. Mara und ich bekamen vorhin von unserer Oma dieses Medaillon. Sie hat es in zwei Teile halbieren lassen und es passt genau auf die Abbildung. Oma hat uns dazu unsere Familiengeschichte erzählt. Wir stammen von Johannes ab, der die Offenbarung geschrieben hat und er erhielt es von Jesus, kurz vor dessen Kreuzigung“, antwortete Salome. Mara ergänzte ihre Schwester. „Ja, Oma sagte, Jesus hätte es wiederum von Joseph bekommen und der kam aus dem Hause Davids. Jesus gab seinem kleinen Bruder den Auftrag, es immer an die erstgeborene Tochter an deren zehnten Geburtstag weiter zu vererben. Wir haben es heute erhalten und nun finden wir diese Steinplatte, von der Oma uns auch erzählt hat. Salomo ließ sie anfertigen. Sie enthält eine Prophezeiung.“
Stockend erzählte Mara die Geschichte der Großmutter. Ihr war etwas merkwürdig zu Mute. Das hier konnte kein Zufall sein. Sie kamen nun schon so lange in dieses alte Grab und hatten noch nie mehr gefunden, als alte Münzen und ein paar Steingefäße. Irgendetwas Sonderbares geschah mit ihnen. Und dann diese Inschrift! Ihre Schwester sprach es aus. „Wenn die Scheibe zweigeteilt und liegt bei den Schwestern, das sind wir, Mara! Die Söhne der Propheten erneuern meinen Bund. David stammt aus dem Hause Davids und von dort soll nach jüdischem Glauben auch der Messias wiederkommen. Abraham war der Stammvater. Sein Sohn Isaak hatte mit Jacob und Esau zwei Söhne und von Jacob stammen die zwölf Stämme Israels ab. Auch der von Juda und David heißt Yehuda mit Nachnamen. Das bedeutet, David kann einer der Söhne der Propheten sein. Monir, du stammst von Mohammed ab. Abraham hatte neben Isaak ja auch noch einen zweiten Sohn, der Ismael hieß. Seine Mutter war Hagar, eine Magd Abrahams. Die Muslime sagen, Hagar ist auf Gottes Wunsch hin zusammen mit Ismael bis nach Mekka gezogen und dort wurde später der Prophet Mohammed geboren.“
„Die beiden Könige besiegeln die zwei Reiche und Friede wird sein unter den Völkern, bewahrt von den vier Nachkommen, die leben werden zur Rettung der Welt.“ Auch David fühlte sich von dem geheimnisvollen Text merkwürdig berührt. Salome hatte Recht, was ihre eigene Abstammung betraf. Aber irgendwie passte das alles nicht richtig zusammen. Sie waren gerade mal zehn Jahre alt und noch Kinder. Wie sollten sie da die Welt retten können? Er sah seinen besten Freund etwas skeptisch von der Seite an. „Und was denkst du darüber, mein Sohn des großen Propheten?“
Monir, der kleine Enkel des Palästinenserführers Mahmud Rabbas, schüttelte den Kopf. Es gefiel ihm, von David um seine Meinung gefragt worden zu sein. „Also, ich habe erst einmal Hunger. Ich kenne auch keinen Helden, der ohne vorher etwas gegessen zu haben, in eine Schlacht gezogen ist. Wir sollten also mal schauen, was die Mädchen in ihrem Korb mitgebracht haben!“ Mara lächelte und begann sofort alles auszupacken. Einen Augenblick später lagen viele Leckereien auf dem großen flachen Stein, der ihnen als Tisch diente. „Weise gesprochen, Mohammed!“, rief Salome. Es war das erste Mal, dass sie Monir vor den anderen lobte. Sie mochte den kleinen Palästinenser zwar sehr gern, aber wenn sie sich entscheiden müsste, würde ihre Wahl auf David fallen. Sie musste etwas schmunzeln. Mara war schon ein klein wenig in Monir verliebt und die beiden Schwestern würden sich bestimmt nicht ins Gehege kommen. Sie ergriff eine Flasche Cola und drehte den Deckel auf.
Monir und David stürzten sich besessen auf den mitgebrachten Schokoladenkuchen. Auch Kartoffelchips und Gummibärchen fanden schnell den Weg in die Kindermägen. Sie begannen wieder ausgelassen in ihrer Höhle herum zu albern und zu toben. Monir sprang auf und warf gleich drei Gummibärchen auf einmal in die Luft, um es David gleich zu tun, welcher die Seinen geschickt mit dem Mund wieder auffangen konnte, ohne die Hände zur Hilfe nehmen zu müssen. Übermütig hüpfte er dabei wie ein Känguru auf beiden Beinen durch den niedrigen Raum. In der rechten Ecke geschah das Unglück. Monir strauchelte. Während er unsanft auf dem Hosenboden landete, schlug er gleichzeitig mit dem Rücken gegen die Mauer, die sich hinter ihm befand. In diesem Augenblick gab der Stein nach. Salome stieß als erste einen lauten Schrei aus. Mara sprang auf und versuchte Monirs Hand zu greifen. Aber der Junge verlor den Halt und stürzte. Die Mauer brach krachend in sich zusammen. David kletterte über den Steintisch. Er sah das Loch in der Mauer und konnte nur noch Monirs Namen rufen, als dieser in die Tiefe fiel. Entsetzt starrten alle drei Freunde auf die Einsturzstelle. Als sie in die Grube blickten, konnten sie in der Dunkelheit einige in den Stein geschlagene Stufen erkennen, welche in einen finsteren Gang führten. „Monir, was ist? Bist du verletzt? Bitte, sag doch was!“, rief Mara voller Angst aus.
Überrascht sah sich Monir um. Er war etwa zwei Meter tief gefallen und hielt sich mit der rechten Hand schmerzerfüllt sein Hinterteil. „Es ist o.k. Mein Arsch tut mir weh, aber es scheint noch alles dran zu sein. Eh, Leute, dass müsst ihr gesehen haben. Hier sind Stufen und ein Gang, der weiter nach unten führt.“ „Monir Rabbas, du kommst sofort wieder herauf. Dass ist gefährlich da unten!“ Mara musste ohne Nachzudenken ein Machtwort sprechen. „Ja, ausnahmsweise hat sie mal Recht, wir werfen dir ein Seil hinunter. Binde es dir um den Bauch, dann ziehen wir dich wieder hoch!“ Salome sah David an und zeigte auf das Springseil, welches sie letzte Woche zufällig in der Höhle vergessen hatte. Mit vereinten Kräften gelang es den Kindern ihren Freund aus seiner misslichen Lage zu befreien. Nachdem sie sich vom ersten Schrecken erholt hatten, beschlossen sie, am Samstag wieder zu kommen, um den geheimnisvollen Gang näher zu untersuchen. Dazu würden sie Rucksäcke, stabile Seile, Taschenlampen, Kerzen, Streichhölzer und einige Strickleitern benötigen.
„Wir verschließen alles wieder sorgfältig und legen die Steine aufeinander. Dann hängen wir das Poster davor. Komm, Monir, hilf mir mal“, sagte David, während er Stein für Stein übereinander stapelte.
Sehr nachdenklich blickte Salome auf die Steintafel. Sie spürte so etwas wie eine Vorahnung in sich. Gleichzeitig wurde sie von merkwürdigen Gefühlen überschwemmt, die sie völlig verwirrten. Derartige Empfindungen hatte das junge Mädchen noch nie zuvor in ihrem Innersten wahrgenommen. Etwas Geheimnisvolles, Unwirkliches geschah mit ihnen und doch waren sie nicht allein. Salome erkannte eine starke Kraft, die sie umgab und die ihr jegliche Angst vor der Zukunft zu nehmen schien. Das Medaillon strahlte Ruhe aus und sie musste spontan weinen. Zutiefst gerührt und von Liebe überwältigt führte sie es an die Lippen. Es hatte Jesus gehört. Jesus, der für sie und alle Menschen auf der Welt am Kreuz einen grausamen Tod gestorben war. Wenn er so furchtbare Schmerzen aushalten konnte, dann müsste sie doch heute erst recht die ihr und den anderen zugedachten Aufgaben erfüllen können. Leise, im Stillen Gebet, sprach sie das Vaterunser.
Als die Jungen das Höhlengrab wieder aufgeräumt hatten, verabschiedeten sich die Kinder voneinander. Schweigend trugen die beiden Mädchen einen kleinen Weidenkorb nach Hause. Dabei berührten sich ihre Hände und Mara sah ihre Schwester fragend an. „Du hast vorhin zu Ihm gebetet, nicht wahr? Ich sah es an deinem Gesicht. Irgendetwas geschieht mit uns. Diese vier Nachkommen, das sind wir. Etwas Geheimnisvolles ist da unten im Berg. Mir ist so komisch und ich habe Angst.“ „Komm.“ Salome nahm ihr den Korb aus der Hand und stellte ihn auf dem Sandboden ab. „ER wird immer und überall bei uns sein. Aber wir müssen tun, für was wir bestimmt sind. Ich glaube, das Fortbestehen der ganzen Menschheit hängt von uns ab.“ Sie nahm die verstörte Schwester in ihre Arme und fühlte, wie beide Amulette wieder zum einzigen großen Ganzen verschmolzen. Eine wundersame Macht hüllte die Mädchen ein und stellte sie unter ihren Schutz.

**
Am Samstagmorgen um zehn Uhr trafen sich alle vier Kinder im Kidrontal. Salome und Mara hatten Kerzen, Streichhölzer, Mineralwasser und ein paar Stücke Kuchen in ihre bunten Rucksäcke gelegt. In den Händen hielten sie Taschenlampen. Monir zeigte David feste Kletterseile mit Karabinerhaken daran und einiges an Werkzeug, welches er für alle Fälle eingesteckt hatte. Er konnte in der elterlichen Garage auch noch zwei Strickleitern finden, die seinem älteren Bruder gehörten. Beide Jungen besaßen natürlich auch eigene Taschenlampen. Dann begannen sie, den verschlossenen Eingang zum unterirdischen Gang wieder freizulegen. Monir warf die erste Strickleiter in die finstere Grube hinab und die Vier kletterten wortlos nacheinander in das Gewölbe. Während sie den Stufen folgten, wurde es stockdunkel.
Monir ging vorsichtig voran und ließ den Weg mit dem starken Strahl seiner Taschenlampe ausleuchten. Immer tiefer führten in Stein geschlagene Treppen in ein Labyrinth unheimlich anmutender schmaler Stollen. Nach einigen Minuten standen sie auf einem engen Gang, der gerade mal so breit war, einen normalschlanken Erwachsenen hindurch zu lassen. Sie tasteten sich schweigend Schritt für Schritt weiter. Der Weg erschien ihnen endlos zu sein, bis sie plötzlich eine Gabelung erreichten. Der eigene Gang führte geradeaus weiter und wurde langsam abschüssiger. Rechts neben ihnen zeigte ein weiterer Weg ein Stück nach oben. „Wohin?“, fragte Monir. Salome wusste nicht warum, aber sie hörte ihre Stimme wie von selbst ohne zu zögern antworten: „Hier entlang“. Sie wies nach rechts in die Abzweigung. Und wieder mussten Stufen bewältigt werden, diesmal ging es allerdings geradewegs nach oben. Erleichtert folgten die Kinder der Treppe. Da versperrte ihnen eine Holztür den Weg. David und Salome schauten sie sich an. Monir berührte mutig den alten schmiedeeisernen Griff. Sie befanden sich in einem sehr kleinen Raum, an dessen hinteren Ende eine weitere Tür sichtbar wurde. Jetzt war es David, der diese öffnete und dahinter erneut eine Treppe erkannte, welche wiederum steil in die Höhe führte.
Vor den Kindern tat sich ein etwas größerer Kellerraum auf, der mit Schaufeln, Besen und Eimern angefüllt war. An der rechten Seite stand ein alter Holztisch, auf dem eine leere Wasserflasche lag. Zu allen Seiten befanden sich Grabnischen und kleine Steinsarkophage. „Hier sind Grabräuber am Werk“, bemerkte Mara leise zitternd. „Lasst uns lieber schnell wieder gehen. Vielleicht kommen sie zurück.“ „Ja!“ Gerade, als sich auch David umdrehen wollte, hörten sie verdächtige Geräusche. „Da hinein“, zischte Salome und schob die Freunde in eine bereits leergeräumte Nische. Kaum hatten sich die Kinder versteckt, betraten vier arabisch sprechende junge Männer den Raum und begaben sich zu dem alten Tisch. Sie waren sehr westlich mit verschieden farbigen T-Shirts und Jeans bekleidet. Einer von ihnen trug eine Aktentasche unter dem Arm. Er öffnete sie und zog umständlich mehrere abgestempelte Papiere heraus.
„Mustafa, sieh, hier sind die Frachtscheine. Die Bombe steht in dem Container mit der Aufschrift Landmaschinen. Das Schiff läuft in vier Tagen aus. Es wird die Straße von Gibraltar passieren und in einer Woche in Miami sein. Dort wird die Ladung gelöscht und die Bombe soll in einem Lagerhaus abgestellt werden. Das ist Kelims Aufgabe.“ Er wandte sich dem bärtigen Mann zu seiner Linken zu. „Du wirst am Hafen auf unsere Freunde warten. Es steht alles in diesem kleinen Taschenkoran. Du kennst die Geheimschrift, die du zum Entziffern der Botschaft brauchst. Du nimmst Kontakt zu den Freunden auf. Einer der angeworbenen Wissenschaftler wird die Bombe zünden. Es ist völlig egal, wo das passiert. Die Detonation einer Atombombe von dieser Größe wird die Stadt und alles umliegende Land, wahrscheinlich sogar ganz Florida, zerstören. Ihr beide werdet dann im Heiligen Dschihad für die große Sache sterben und zu Allah in sein Reich einkehren. Dort wartet die versprochene Belohnung auf euch. Allah wird euch als Märtyrer und Kämpfer für den Islam willkommen heißen.
Du, Machmud, fliegst von Kairo direkt nach Washington. Du triffst im Hotel zwei junge Männer unserer amerikanischen Zelle. Hier ist dein Koran. Alles steht da drinnen, was du ihnen sagen musst. Übersetze es für dich und vernichte die Botschaft, wenn du sie auswendig gelernt hast.
Unsere Freunde werden geschickt die Nordkoreanische Regierung für den Terroranschlag verantwortlich machen. Auch wir werden von hier und anderen Stationen auf der Welt, diese Idee per Internet nach Amerika senden und dem CIA zuspielen. Die Amerikaner sollen Vergeltung üben wollen und Nordkorea angreifen, bevor noch mehr Bomben auf amerikanischem Boden detonieren können. Sie brauchen dazu aber die Zustimmung des Weltsicherheitsrates und die Russen und Chinesen werden ein Veto einlegen. Ihr eigenes Territorium liegt zu nahe am Kriegsschauplatz und ein atomarer Gegenschlag hätte schwere Schäden und viele Tote in der Region zur Folge.
Wenn Amerika trotzdem gegen Nordkorea mobil macht, weil der CIA erfährt, dass noch eine weitere Bombe im Lande ist, die nach Washington direkt ins Herz der Regierung gebracht werden soll, wird es auf der Nordhalbkugel einen großen Krieg auslösen. Dadurch erhalten die arabischen Staaten Gelegenheit, gemeinsam Israel anzugreifen und endgültig dem Erdboden gleich zu machen. Kein Jude darf uns entkommen. Alle müssen sterben. Für Allah!“ Die Männer nahmen die kleinen Bücher an sich und steckten sie in ihre Hosentaschen. „Für Allah und den Dschihad“, riefen alle vier fanatisch aus. Dann verschloss der junge Araber seine Aktentasche und folgte den anderen Männern rasch nach draußen.
Zitternd kauerten die vier Freunde in ihrem Versteck. „Wir müssen hier sofort raus und zur Polizei gehen“, keuchte Salome. „So etwas Furchtbares habe ich noch nie gehört. Monir, das sind doch deine Landsleute. Wie kannst du das zulassen? Da sterben Millionen unschuldige Menschen!“ Mara sah ihre Schwester entrüstet an. „Das ist wohl nicht dein Ernst. Dafür kann doch Monir nichts, nur weil er zufällig Moslem ist! Das sind Terroristen und wir müssen wirklich sofort zur Polizei. Hoffentlich glauben sie uns. Aber so etwas sagst du bitte nie wieder, Salome, sonst werde ich sehr böse mit dir.“ Monir hatte erst sichtlich geschockt zu Salome geschaut und blickte dann dankbar auf Mara. „Wir haben jetzt keine Zeit für Diskussionen! Kommt, weg hier“, rief David leise aus und verließ fluchtartig den Raum. Die anderen Kinder folgten ihm rasch. Fast panisch rannten sie bis zur Weggabelung zurück und brauchten diesmal dafür nur wenige Minuten. Als sich Mara einen Moment prustend verschnaufen musste, spürte sie, wie der Boden unter ihren Füßen zu zittern begann. Ein dumpfes, bedrohlich klingendes Grollen kam aus dem Nachbargang. Dann vernahmen sie dasselbe Geräusch aus der anderen Richtung, in der ihr Ausgang lag. „Kommt!“, schrie David entsetzt. „Hier entlang, wir können jetzt nicht mehr zurück!“ Er lief ein kleines Stück den Weg entlang, den sie vorhin verlassen hatten und fand erleichtert eine Ecke, in die er sich kauern konnte. Die anderen hockten sich verängstigt neben ihn. Die Erde begann erneut zu beben und der Stollen, der zu dem Keller mit den Terroristen führte, wurde von Steinen und Felsbrocken verschüttet. Hinter ihnen stürzte krachend die Decke ein. Kleine Felsen rollten in eine Staubwolke gehüllt auf den Unterschlupf der Kinder zu und blieben vor ihren Füßen liegen. Niemand wagte ein Wort zu sprechen. David sah traurig auf. „Das wars dann wohl. Vielleicht erfüllt sich jetzt die Prophezeiung. Wir müssen diesen Gang weitergehen, egal wohin er führt. Ob wir dort die Polizei erreichen werden, wage ich allerdings zu bezweifeln.“ Salome klopfte den Staub aus ihrer Kleidung. „Dann lasst uns schnell machen. Wir haben nur vier Tage Zeit um die Bombe zu finden.“
„Es ist schon drei Uhr nachmittags. Wir wollten um sechs Uhr zu Hause sein. Das haben wir Oma versprochen. Wir müssen doch noch beim Kuchen backen für unser Fest morgen helfen“, meinte Mara und schluckte. Große Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben. Ihre Augen verrieten tiefe Furcht. Was war, wenn sie keinen Ausgang mehr finden können? Würden sie dann hier unten im Berg sterben müssen? Alle Kinder standen auf. Sie dachten dasselbe. Nur Salome und David ahnten, dass ihr vorbestimmter Weg jetzt erst begonnen hatte. Salome spürte das Medaillon an ihrem Hals. Es fühlte sich lange nicht mehr so schwer an, wie vor einer Stunde und eine große Last schien von ihm abzufallen. Salome wurde mit jeder Sekunde selbstsicherer und ihr Herz formte voller Liebe und Vertrauen einen Namen: Jesus.
Wieder ging Monir mit seiner großen Taschenlampe voran. Mara fühlte sich von dem dunkelhaarigen Jungen fast magisch angezogen und folgte ihm. Er strahlte Ruhe und Sicherheit für das ängstliche Mädchen aus. Sie und ihre Schwester Salome glichen als eineiige Zwillinge einander nur äußerlich. Von ihrem Naturell waren sie grundverschieden. Mara kam mehr der verstorbenen Mutter nach, die als Ärztin im größten Krankenhaus in Jerusalem arbeitete. Sie war ein überaus sanftmütiges Mädchen, stets hilfsbereit und die Ruhigere der beiden Schwestern. Zwar zeigte sie ähnlich gute Schulleistungen wie Salome, musste jedoch Vieles mit einem höheren Aufwand an Fleiß ausgleichen, was der Schwester zuzufallen schien. Salome besaß die typisch kämpferische Natur ihres Sternzeichens, des Widders. Ihre Angst hielt sich in Grenzen und mutig führte sie aus, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte.
Schweigend bewältigten die Kinder die unbekannte Strecke auf dem schmalen, leicht abschüssigen Gang, der ihnen zeitweilig nur ein Hintereinandergehen ermöglichte. Keine Geräusche, außer ihrer eigenen waren zu hören. Eine gespenstische Totenstille hatte sich über die vier Freunde ausgebreitet. Ohne das fahle Licht ihrer Taschenlampen, das hin und wieder furchterregende Schatten an die Mauern warf, stünden sie in tiefster Dunkelheit. Als sie erneut einige Stufen hinabstiegen, wurde der Weg plötzlich breiter, um dann abrupt in einen etwas größeren, sehr hohen viereckigen Raum überzugehen. An den Wänden erschienen bunte Bilder, Szenen einer Schlacht und Abbildungen von Menschen. Ängstlich schauten sich die Kinder um. Sie betraten eine riesige Halle. „Whow, es scheint, wir sind unserem Ziel ein gewaltiges Stück näher gekommen!“, rief David erleichtert aus. „Das muss ein Palast gewesen sein oder ein Tempel.“ Salome nahm eine Kerze aus ihrem Rucksack und stellte sie brennend vor sich auf den Boden. Auf der Wand zeigten sich biblische Geschichten vom Sündenfall und dem Mord an Abel durch seinen Bruder Kain. Auch die Sintflut mit Noahs Arche füllte eine ganze Seite aus.
An der Decke tummelten sich verschiedenartige kleinere Engel, die von zwei sehr großen Engeln umkreist wurden. Einer davon hielt ein Schwert in der Hand. Seine Augen funkelten in grellen Farben und ließen seine wilde Entschlossenheit erahnen, alles was sich ihm in den Weg stellte, mit der Kraft seines Schwertes niederzuschlagen. Ein weiterer Engel von dunkelroter Farbe und grässlichem Aussehen lag zu seinen Füßen. Salome wandte sich betroffen ab. „Wo sind wir hier? Hast du eine Ahnung, David?“, fragte Monir, der seinen Blick ebenfalls leicht fröstelnd von dem gewaltigen Deckengemälde wieder nach unten richtete. „Es kann ein Palast gewesen sein. Aber ich tippe eher auf einen Tempel. Vielleicht ist es sogar der erste oder zweite Tempel. König Salomo ließ den ersten Tempel hier auf dem Tempelberg in Jerusalem um 950 vor Christus erbauen. Im Laufe der Jahrhunderte wurde er zerstört und dann noch einmal wieder aufgebaut. Aber 70 nach Christus haben ihn dann die Römer endgültig dem Erdboden gleich gemacht. Es darf ja wegen des Felsendomes und der Moschee hier nicht gegraben werden. Wahrscheinlich hat seit damals niemand mehr diese Räume betreten. Lasst uns die Kerze mitnehmen und weitergehen“, erwiderte David sachlich, während ihm leichte Schauer den Rücken hinunter liefen. Im nächsten Raum erwartete sie erneut eine Halle ungeheuerlichen Ausmaßes. Salome und Mara zündeten weitere Kerzen an, die sie auf den Boden stellten. Der Steinfußboden vor ihnen bestand aus unzähligen Mosaiken. Immer wieder tauchten Bilder menschlicher und tierischer Darstellungen von unglaublicher Schönheit auf. Unzählige Steinblöcke und umgestürzte Säulen lagen umher. Langsam leuchteten die Kerzen und Taschenlampen die monströse Halle mit ihren Nischen und Altären, zu denen Steinstufen hinaufführten, aus. Mehrere umgefallene und in einzelne Teile zerbrochene Stelen mit unbekannten Schriftzeichen versperrten ihnen den Weg. David stand vor dem Rest einer abgebrochenen Säule und hielt eine Kerze auf die Inschrift. Er versuchte sie zu entziffern. „Salome, hilf mir mal. In meinem Rucksack liegt ein Buch über Semitische Sprachen. Aber es ist wahrscheinlich doch Althebräisch“, murmelte der intelligente Junge in sich selbst hinein. Salome eilte zu ihm und reichte dem Freund die Sprachlehre, welche sie rasch aus dem am Boden abgelegten dunkelbraunen Kinderrucksack gezogen hatte. Geschickt schlug David die gesuchte Seite auf, während Salome seine Kerze fest hielt. „Ich hab es. Es ist der Rest der Säule Boas, die zusammen mit der Säule Jachin einst im ersten Tempel stand. Aber die anderen Säulen sind nicht so alt und die Inschriften sind in anderer Sprache gehalten.“ Salome spürte eine unwiderstehliche Macht, die von dem kleinen hohlen Säulenrest ausging, der nur noch circa 1,30 m an Höhe maß und einen Durchmesser von vielleicht 2 m hatte. „Was hat es damit auf sich?“, fragte sie David neugierig.
„Salomo ließ zwei bronzene Säulen fertigen und am Eingang zum Tempel aufstellen. Jachin stand rechts und Boas links. Während Jachin: ‚Ich (Gott) werde aufstehen‘ bedeutet, heißt Boas: ‚ In ihm(Gott)ist Stärke. ‘ Sie war mal 18 Ellen hoch, das entspricht in etwa 8 m. Schau, sie ist innen hohl. Die Babylonier haben den ersten Tempel um 580 vor Christus zerstört, doch die beiden Säulen sind wie durch ein Wunder erhalten geblieben.“ Ein leises verzweifeltes Schluchzen drang an Davids Ohr. Salome blickte sich um. Mara kauerte weinend am Boden. Tränen liefen dem kleinen Mädchen übers Gesicht. Salome stürzte zu ihrer Schwester, warf sich neben sie und schlang die Arme um ihre Brust. „Mara, nicht weinen. Bitte nicht weinen. Es wird bestimmt alles wieder gut“, versuchte sie zu trösten. Doch Mara schüttelte nur heftig zitternd den Kopf. „Das glaubst du doch wohl selbst nicht! Nichts wird gut. Wir sind hier tief im Tempelberg. Niemand wird uns je wieder finden. Wir kommen niemals mehr nach Hause!“, schrie sie und stieß die entsetzte Salome zurück. Einen solchen Gefühlsausbruch hatte die sonst so sanfte und liebe Mara noch nie gezeigt.
Salome begann ebenfalls zu zittern. Sie fühlte sich für die Sicherheit der Schwester verantwortlich. Ihre Kehle schnürte sich zusammen. Das Herz schlug aufgeregt. Es gelang ihr, für einen kurzen Moment in sich zu spüren. Die Säule, flüsterte eine Stimme tief in ihrem Inneren. Geh zur Säule. Alle Antworten auf deine Fragen findest du bei Boas. Salome atmete tief durch.
„Steh auf, Mara. Kommt alle her!“, befahl sie selbstsicher. Die beiden Jungen blickten sich überrascht an, taten aber, was von ihnen verlangt wurde. „Fasst euch alle an die Hände. Monir, du nimmst Mara an deine rechte Hand. Die linke gibst du gleich David, wenn wir uns um Boas stellen. Komm Mara, gib mir deine rechte Hand. Und du David nimmst meine Rechte. Jetzt gehen wir zu Boas.“ Zielsicher positionierten sich die Kinder um den hohlen Säulenrest. Sie beugten sich so weit vor, dass sich alle vier an den Händen halten konnten und bildeten auf diese Weise einen undurchdringlichen Kreis. Salome sprach laut und fest: „Herr Jesus, wir wissen, dass du uns hierher geführt hast. Wir haben Angst, denn wir sind ja noch Kinder. Du willst, dass wir etwas für dich tun. Das spüre ich genau. Aber dafür brauchen wir Kraft. Boas, deine Säule, bedeutet Kraft und Stärke. Schenke uns diese Kraft, lieber Gott, damit wir unsere Aufgaben erfüllen können. Amen!
„Nun lasst los und kniet nieder. Denkt an die Prophezeiung. Wir sind die Nachfahren der Propheten Gottes. Jeder von uns muss jetzt auf seine Weise und in seinem Glauben ein Gebet zum Herrn sprechen“, erklärte Salome ruhig. Dankbar und zärtlich schaute Mara ihre Schwester an. Ihr Blick offenbarte tiefe Bewunderung und schwesterliche Liebe. Sie fiel gehorsam auf die Knie und bekreuzigte sich. Dann zog sie das Amulett unter dem Pullover hervor und küsste es. Ihre Hände legten sich wie von selbst aneinander, während sie leise für sich betete. David hatte Salome zunächst etwas skeptisch zugehört. Dann nickte er schweigend mit dem Kopf und verneigte sich vor Boas. Er sah zu Salome. „Normalerweise knien Juden nicht. Vor niemand und selbst unserem Gott dienen wir so nicht. Lediglich am Jom Kippur knien wir bei einem Teil der Festtagsliturgie nieder, wenn wir meinen, in die Allgegenwart Gottes schauen zu dürfen. Wir hoffen so, dass dieser Augenblick des Tages, uns aus unserer irdischen Fehlbarkeit und Hinfälligkeit emporheben könnte. Vielleicht hast du recht und dies jetzt ist ein solcher Augenblick.“
Monir blickte sich achselzuckend um. „Was ist, Monir?“, fragte Salome freundlich. „Komm, knie nieder und bete zu Allah, wie du es als Moslem gelernt hast.“ Auch sie sank langsam auf den Boden und bekreuzigte sich als Katholikin. Wie Mara holte sie ihr Medaillon hervor, um es in Demut mit den Lippen zu berühren. Monir schüttelte den Kopf. Dann zog er sich seinen Pullover aus, legte ihn etwas zusammen und beugte sich zur Erde. „Ich brauche Wasser, um mich vor dem Gebet zu reinigen!“, erklärte er. Sanft lächelnd stand Mara auf und kehrte einen Moment später mit einer halbleeren Flasche Selters zurück, die sie aus ihrem Rucksack geholt hatte. „Hier, aber nimm nicht alles, wir brauchen es noch zum Trinken“, sagte sie und schaute den Freund zärtlich an, während sie ihm die Plastikflasche reichte. Dankbar lächelte Monir zurück und goss etwas Wasser über seine Hände, die er dann über sein Gesicht rieb. Er legte die Flasche hinter sich und sah sich erneut hilflos um. „Was ist jetzt noch, Junge?“ Salome hatte ihre Hände zum Gebet gefaltet und hörte Mara bereits leise die Heilige Jungfrau anrufen. Sie war verärgert.
„Und in welcher Richtung liegt jetzt Mekka? Hä? Du Neunmalkluge! Ich muss mich gen Mekka verneigen, schon vergessen? Anders wird mir Allah nie helfen! Dumme Ziege!“, rief der zehnjährige Mohammedaner wütend aus. „Dann teil doch die Säule in vier Hälften und bete viermal in alle Richtungen. Eine ist garantiert die Richtige und Allah wird deinen Fleiß schon würdigen. Wie doof muss man eigentlich sein!“, zischte Salome böse zurück. „Ruhe. Bei eurer Zankerei kann sich ja keiner konzentrieren!“, meldete sich nun auch David mit ärgerlichem Tonfall zu Wort. Als alle endlich im stillen Gebet versunken waren, begann er ganz leise seinen hebräischen Text:
„Schm’o Jisrael „Elohejnu, „Echad!
Baruk schem Kawod, Malkhutho le‘ Olam va‘ Ed.“


Monir verneigte sich vor der Säule Boas.
„Allahu akbar“


Er legte die Hände an die Ohren und faltete sie dann vor dem Bauchnabel.
„Subhanekel-lahumme ve bi-hamdike
Ve tebarekesmüke veteala ceddüke
Ve la i lahe gyruk“


Dann kniete er auf seinen Pullover nieder und beugte seine Arme weit nach vorne. Ganz sacht strichen seine Hände dabei über die Säule Boas. Einen Augenblick später rumpelte und grollte es erneut. Erschrocken schauten sich die Kinder an, während Monirs Hände immer noch die Säule berührten. Das schreckliche Geräusch kam von links vorne. Als die Kinder in die Richtung blickten, sahen sie, wie sich wie von Geisterhand eine unsichtbare Tür in der Wand vor ihnen öffnete. Überrascht und mit triumphierendem Blick richtete sich Monir auf, verneigte sich zur Tür und huldigte vor den verdutzten Freunden Allah. „Was hast du zu Allah gesagt?“, fragte Mara, deren Augen den Jungen anhimmelten.
„Gott ist am größten, es gibt nichts Größeres-außer Gott. Preis sei Dir, o Allah und Lob sei Dir und gesegnet ist Dein Name und hoch erhaben ist Deine Herrschaft und es gibt keinen Gott außer Dir“, antwortete der kleine Moslem voller Stolz und warf der ebenfalls erstaunten Salome einen spöttischen Blick zu. Sie sah verstohlen auf ihr Amulett und lächelte Monir danach freundschaftlich an. „Na, dann herzlichen Glückwunsch. Damit hast du die erste Schlacht gewonnen.“ Auch David blickte verzückt und überrascht erst zu seinem Freund und dann zur Tür. „Eine Schlacht ja, aber noch lange nicht den ganzen Krieg“, meinte er in sich gekehrt. „Was hast du gebetet?“, fragte ihn Salome interessiert. David antwortete ernst: „Es ist ein sehr altes Gebet. Es heißt: Höre Israel: Der Ewige-unser G’tt, der Ewige-einer Gelobt der Name der Ehre, seine Herrschaft für immer und ewig.“
„Ich glaube, wir dürfen unsere Gebete jetzt beenden“, erklärte Mara nun doch erleichtert und bekreuzigte sich, während sie aufstand. Sie packte ihre Sachen in den Rucksack und löschte dann einige der mitgebrachten Kerzen. Auch die anderen hoben ihre Taschen auf und wandten sich der geheimnisvollen Tür zu.
Salome nahm noch rasch einen Schluck Wasser, reichte die Plastikflasche an David weiter. Dieser fragte Monir und gab sie an Mara, nachdem alle getrunken haben, zurück. Ohne Umschweife landete das Erzeugnis des einundzwanzigsten Jahrhunderts auf dem Steinfußboden und wurde neben Boas abgestellt. Die Kinder hoben ihre Taschenlampen auf und betraten mutig den unbekannten Gang.

Die Schatzkammern 3. Kapitel


Hinter der Tür führten unzählige in den Fels geschlagene Treppen nach unten. David zögerte. „Müssten wir nicht eigentlich nach oben steigen? Dort geht es doch immer tiefer in den Berg hinein?“, meinte der Junge mit skeptischem Blick und einem leichten unwohlen Zittern in der Stimme. Die Vier verweilten einen Augenblick unentschlossen. Doch dann war es Salome, die das Zeichen zum Aufbruch in das dunkle Labyrinth vor ihnen gab.
„ER hat die Tür nicht umsonst geöffnet. Wir müssen diesen Weg gehen. Und wir haben nicht mehr viel Zeit!“ Sie nahm eine Kerze und ihre Taschenlampe in die Hand und betrat als erste voller Vertrauen die Stufen. „Es sind jetzt schon zweihundertdreiunddreißig Treppen“, zählte Monir nach einer Weile laut, während sie immer tiefer hinabstiegen. Dann erreichten sie den Boden und erblickten einen engen langen Gang vor sich. Zehn Meter weiter gabelte sich der Weg. Wieder führte eine sehr enge Treppe noch weiter nach unten. „Wir müssen dort entlang.“ Diesmal war es David, der beherrscht und zielgenau die Richtung vorgab. Monir zählte erneut mit. Bei einhundert war Schluss. Sie standen vor einer mit althebräischen Schriftzeichen beschriebenen Wand, welche ihnen den Weg versperrte. „Das wars dann wohl“, meinte Monir enttäuscht. David begann das Mauerwerk mit den Händen ab zu tasten. Plötzlich bewegte sich ein Stein und der Junge trat erschrocken einen Meter zurück. Mit lautem Rumpeln und Quietschen fügten sich weitere Steine ineinander und drehten sich. Sand und Staub wirbelten auf. Die vier Kinder blickten ängstlich zur Mauer vor ihnen. Dann endlich schob sich ein Fels nach außen, der das Abbild eines Medaillons zeigte. Mara und Salome schauten sich an und nahmen jede ihr Amulett ab. Sie hielten es genau passend in die Vertiefung der Mauer. Abermals begann ein geheimer Mechanismus zu wirken und einen Augenblick später öffnete sich wie durch ein Wunder das Gestein.
„Na, denn. Sesam öffne dich“, lachte David. Die beiden Jungen wiesen einander den Weg. David machte dann doch den Anfang und schob mutig die Felsentür auf. Sie betraten eine kleine Halle, die sehr schlicht gehalten war und nur wenige Wandmalereien zeigte. Auch der Fußboden war nicht verziert. Es schien, als wäre der Raum nur notdürftig zum Schutz für etwas angelegt worden. Als David sich weiter in den Saal hinein begab, erstarrte er plötzlich. An der langen Wand vor ihm stand ein vergoldeter Tisch und genau gegenüber erblickten die Augen des kleinen jüdischen Jungen einen Siebenarmigen Leuchter aus purem Gold im Schein der Taschenlampen glänzen. An der rechten Seite versperrte ihnen ein Vorhang die Sicht in die dahinter liegende Nische. Links neben dem Leuchter befand sich eine Tür. Mehrere goldene Gegenstände standen in dem Raum. Auch ein kupferfarbenes Becken war in einer der Ecken zu sehen. David hatte zum ersten Mal in seinem Leben Angst. Er spürte, dass er sich im Heiligsten befinden musste und wünschte sich in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als dass Rabbi Samuel bei ihm wäre oder wenigstens sein Vater, damit er nicht aus Unwissenheit etwas falsch machte. Erschrocken und doch tief berührt, fühlte er Salomes Hand auf der Seinen. „Eiskalt“, flüsterte sie, als sie den Jungen anfasste. „ER ist bei uns, David, du kannst nichts verkehrt machen. ER hat uns hierher geführt, damit wir unsere Mission erfüllen und ER wird uns auch helfen. Lass uns nachschauen, was hinter dem Vorhang ist.“ Nur widerwillig ließ sich David mitnehmen. Behutsam zog Salome den schweren Vorhang aus unzähligen Fellen ein wenig zur Seite. Zum Vorschein kam ein Steinsockel. Darauf stand ein wunderschöner mit Ornamenten und Schriftzeichen verzierter goldener Kasten, an dessen Enden auf jeder Seite zwei lange goldene Stangen herausragten. Und über dem Kasten breiteten zwei goldene Cherubim schützend ihre großen Flügel aus. „Ist das schön“, rief Mara mit offenem Mund aus. „An den Stangen kann man den Kasten bestimmt transportieren. Ob da etwas drinnen ist?“, fragte sie ihre Schwester. „Salome, ich kann nicht weitergehen! Ich bin kein Priester. Ich darf dort nicht hinein, verstehst du. Es ist das Allerheiligste, dass fühle ich. Ich darf es eigentlich nicht einmal ansehen.“ David stand wie erstarrt und schlug seinen Blick nach unten. „Seht mal, davor liegt unsere Steinplatte mit genau derselben Inschrift, wie oben in unserem Grab“, sagte Monir. Auch der kleine Moslem fühlte sich merkwürdig berührt, wenn gleich er nicht ganz so stark verunsichert erschien, wie sein Freund David. Salome griff in die Hosentasche und zog ihr Handy heraus. „Mara, komm und nimm einige Kerzen aus meinem Rucksack, damit es heller wird. Ich will den Kasten und die Inschriften fotografieren“, erklärte sie, während sie sich dem Heiligtum näherte. Mara reagierte sofort und gab auch Monir und David Kerzen zum Anzünden. Schnell wurde der Raum in anheimelndes warmes Licht getaucht und die Kinder spürten die Gegenwart einer starken Macht, die ihnen Sicherheit und Geborgenheit vermittelte. Salome und Mara bekreuzigten sich und nach einer demutsvollen Verneigung vor dem Schrein traten sie näher heran. Salome begann das Kleinod von allen Seiten zu fotografieren.
„David, Monir, kommt her. Ihr braucht keine Angst zu haben. Es sind doch nur die zehn Gebote!“, rief Salome aus. „Oder habt ihr beiden etwa ein schlechtes Gewissen?“ Die Jungen blickten sich an. „Ich bestimmt nicht“, antwortete Monir Rabbas. „Aber ich bin ja auch kein Jude“, fügte er mit einem leichten spöttischen Blick auf den zitternden David hinzu. Vorsichtig trat er an den Kasten heran. „Ich habe noch nie etwas so Schönes und Wunderbares gesehen“, sagte er und strich behutsam mit den Fingern über die Goldverzierungen. Ein wohliger Schauer erfasste den Jungen, der in diesem Moment in geheimnisvoller Weise die Allmacht und Gegenwart Gottes verspürte.
„Warum ich?“, dachte er. „Es gibt doch viel würdigere Muslime als mich. Ich bin nur ein kleiner Junge, der mehr als einmal die Koranstunden geschwänzt hat, um mit den anderen zu spielen. Ich habe auch lange noch nicht alle meine Gebete auswendig gelernt. Vater würde sehr schimpfen, wenn er es wüsste. Vergib mir Allah, ich werde von heute an immer fleißig lernen.“ Mara war neugierig zur verborgenen Tür gegangen. Mit klopfendem Herzen versuchte sie, sie zu öffnen und stellte ihre dicke rote Kerze auf den Fußboden. Dann legte sie ihre Taschenlampe daneben und drückte mit beiden Armen gegen die Mauer. „Kann mir mal einer helfen?“, rief sie den anderen zu. Monir eilte sofort zu seiner kleinen Freundin. Aber auch er konnte die Tür nicht öffnen. Erst David gelang es mit geschickten Handgriffen, einen geheimnisvollen Mechanismus in Bewegung zu setzen. Als sich die Tür aufschob, glaubten die Kinder ihren Augen nicht zu trauen. In dem Raum glänzte und funkelte es, als würden Sonne, Mond und alle Sterne auf einmal am Himmel aufleuchten. Unzählige Gegenstände aus purem Gold und tausende Edelsteine lagen verstreut auf dem Boden umher. Der Raum war so übersät von glänzenden Kostbarkeiten, dass die erst Kinder einige Sekunden vor Verzücken und Erstaunen verharren mussten. Mara betrat die kleine Halle und sah zu ihrer Linken eine weitere Tür. Zielstrebig lief sie darauf zu. Wieder öffnete David sekundenschnell den Raum. Knarrend schob sich auch diese Tür auf und zum Vorschein kam ein noch größerer Saal, angefüllt mit noch mehr Gold, Silber und Edelsteinen in Kästen, Körben oder einfach nur auf dem Fußboden abgelegt. „Wem mag das alles wohl einmal gehört haben?“, fragte Mara. Salome fasste auf ihr Amulett. „Ich glaube, es ist der Schatz des weisen Königs Salomo. Man hat bei der Zerstörung des Tempels durch die Römer wahrscheinlich alles hier unten versteckt und niemand ist bisher hier hinein gekommen.“
„Hinein nicht und auch nicht wieder hinaus“, meinte David nachdenklich. „Erschreckt nicht, aber dort in der Ecke liegt ein Skelett.“ Mara stieß einen Schrei aus, als sie in die Richtung sah, in welche David wies. Ein grinsender Totenschädel lag neben anderen Knochen auf dem Boden. Sie bekreuzigte sich schnell und Salome sprach die Worte des Requiems, als auch sie sich bekreuzigt hatte. „Herr gib ihm die ewige Ruhe und das ewige Licht leuchte ihm. Lass ihn ruhen in Frieden. Amen.“ „Wahrscheinlich ein Wächter oder mehr ein Priester, wir werden es nie erfahren“, glaubte David und fügte leise hinzu: „Vielleicht hätte er uns den Weg nach draußen sagen können!“ Monir, der inzwischen etliche Ketten und Goldgegenstände in die Hand genommen und sich eine schwere mit Edelsteinen bestückte Königskette um den Hals gelegt hatte, nickte mit dem Kopf. „Lasst uns dies alles wieder verschließen und dann steigen wir die Stufen nach oben. Dort führte noch ein anderer Gang weiter. Wir müssen erst mal einen Ausgang finden. Salome, kannst du etwas mehr fotografieren? Das darf niemand außer meinem Großvater und vielleicht noch Davids Großonkel wissen. Der Schatz gehört unseren Völkern und die zehn Gebote neben den Juden wohl auch zusätzlich allen Christen auf der Welt. „Ja“, pflichtete ihm Mara enthusiastisch bei. „Die Sachen gehören ins Museum und die jüdischen Heiligtümer in den neuen Tempel.“
Schweigend schloss David die beiden Räume. Dann verneigte er sich vor dem Allerheiligsten und sammelte mit den anderen die mitgebrachten Kerzen ein. Einige Augenblicke später waren die Kinder wieder auf dem Weg nach oben. Diesmal fühlten sie sich leicht und beschwingt und sie stiegen fröhlich die Stufen hinauf. Monir hatte recht behalten. Sie fanden den abzweigenden Gang, von dem er sprach und folgten ihm. Der Weg wurde wieder sehr lang. Dann endlich standen sie vor einer zugemauerten Wand. Erschöpft und enttäuscht fielen sie auf den Boden. „So ein Mist“, rief David aus. „Das waren Leute aus unserer Zeit“, meinte Monir. „Schaut mal, das sind rote Ziegel und Mörtel. So etwas kannte man bei Salomo noch nicht. Wir sind bestimmt irgendwo in einem der bereits untersuchten Gänge.“ Mara packte ihren Rucksack aus. Sie verteilte eine Seltersflasche und Schokoriegel. Dann legte sie sich auf ihren Anorak. Sie schaute auf die Uhr. „Es ist halb zehn. Oma wird nach uns suchen lassen. Bestimmt werden sie uns morgen finden“, meinte sie und war wenige Minuten später tief eingeschlafen. „Wer soll uns hier vermuten? Die wissen doch nicht einmal von unserem Grab?“, fragte Monir ängstlich und resignierend. „Hat dein Jesus jetzt auch eine Lösung für unser Problem parat?“ Er sah provozierend zu Salome. „Mara hat Recht. Lasst uns etwas schlafen. Heute Nacht findet uns niemand mehr. Aber Oma wird sicher die Polizei anrufen, wenn wir nicht nach Hause kommen“, antwortete das blonde Mädchen und legte sich neben seine Schwester. Auch David und Monir rückten zu den beiden und versuchten, sich gegenseitig in dem feuchten kühlen Gang zu wärmen.
**
Sarah Steinbach wanderte sorgenvoll unruhig und erregt im Wohnzimmer auf und ab. Die Fünfundsiebzigjährige schaute immer wieder angsterfüllt auf ihre alte Mahagonistanduhr. Es war bereits nach 21 Uhr. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Die Mädchen waren bisher immer pünktlich nach Hause gekommen. Irgendetwas Schreckliches musste passiert sein. Da war sie sich sicher. George Cunningham trat auf seine Schwiegermutter zu und legte beruhigend seine kräftigen Arme um sie. „Ich rufe jetzt Achmed an und dann Ben. Vielleicht wissen sie etwas.“ Einen Augenblick später klingelte selbst das Telefon im Hause des britisch stämmigen Diplomaten, der seit vielen Jahren im Dienst der Israelischen Regierung stand. George stürzte sich auf den Apparat. Am anderen Ende der Leitung meldete sich sein Freund Achmed Rabbas. Erschüttert erfuhren die beiden Männer, dass nicht nur Salome und ihre Schwester noch nicht nach Hause gekommen waren. Auch der kleine Monir Rabbas, einer der Enkelsöhne des Palästinenserführers, wurde seit heute Morgen nicht mehr gesehen. Die Brüder hatten inzwischen festgestellt, dass er Seile und Taschenlampen in seinem Rucksack eingesteckt haben musste. George und sein Freund verabredeten sich sofort in der Wohnung der Rabbas- Familie. „Ich rufe jetzt Ben Yehuda an. Wenn David auch nicht zu Hause ist, müssen sie alle noch zusammen sein. Wir kommen dann sofort zu euch. Kannst du die anderen Jungen aus eurem Viertel befragen, Achmed, vielleicht haben sie etwas gehört?“ Mit zittriger Hand betätigte der vierzigjährige Mann das Telefon. „David! Gottseidank, wo bist du, Junge?“, rief eine verzweifelt klingende weibliche Stimme in den Hörer, noch bevor Cunningham etwas sagen kann. „Ruth? Hier ist George Cunningham. Ruth, unsere Mädchen sind nicht nach Hause gekommen. Sind sie bei euch?“ Ein starkes Schluchzen drang aus der Muschel. „George? Hier ist Ben. Wir warten auf David. Er ist noch nie so spät heim gekommen. Da ist irgendetwas passiert. Wir müssen wohl die Polizei benachrichtigen“, erklärte der sonst so sehr gefasste Inhaber einer der größten israelischen Banken und konnte seine Angst kaum noch verbergen. Ein paar Minuten später trafen die drei Familien im Haus Achmed Rabbas eine Straße weiter zusammen. Achmed hatte Besuch. Der Vater eines der vier anderen Bandenmitglieder saß mit seinem Sohn im Wohnzimmer.
„Ali, du bist ein guter Junge. Wenn du weißt, wo sich Monir und die drei anderen Kinder aufhalten, dann sag es uns bitte. Ihre Mütter weinen schon. Du bekommst auch keine Strafe, wenn ihr etwas Verbotenes getan haben solltet“, drang der Vater auf den elfjährigen Jungen ein. Ali druckste etwas, aber dann nickte er mit dem Kopf. „Ok. Sie haben wie wir ein Hauptquartier. Es ist ein altes verlassenes Grab im Kidrontal. Ich führe euch hin.“ Mit Taschenlampen ausgerüstet, verließen die Väter zusammen mit Ali das Haus.
Auch Sarah Steinbach hatte sich nicht überreden lassen, zu Hause zu warten. Sie begleitete die Männer. Irgendetwas tief in ihr, ließ die alte Frau eine Vorahnung spüren. Es war nur ein vages Gefühl. Doch je näher sie der Grabanlage kam, umso intensiver wurde die Gewissheit. Hier geschah augenblicklich etwas, das geschehen musste. Die weise Frau kannte ihre uralten Familienlegenden und sie zweifelte nicht an deren Wahrheitsgehalt. Sie stammte in direkter Linie von Johannes ab, der ein Halbbruder ihres Herrn Jesus war. Das Medaillon vererbte sich von Generation zu Generation auf die erstgeborene Tochter. Sie blickte zum Himmel hinauf und während sie den Männern folgte, formten ihre Lippen das Gebet an die Heilige Maria. Wenn jemand jetzt wusste, was geschehen war und wie es ihren Enkelinnen und den beiden Jungen ging, dann war es die Gottesmutter. Sarah legte das Schicksal der Kinder in die Hände Mariens und bat um Schutz und Hilfe. Ali führte die überraschten Männer direkt vor den Grabeingang und zögerte. „Da, da drinnen spukt es, hat uns David erzählt“, meinte er ängstlich. Achmed Rabbas strich dem Jungen über das Haar. Dann kletterten die Männer in die Grabhöhle und halfen auch Sarah beim Einstieg. Sie sahen sich im Schein der Taschenlampen aufmerksam um und erblickten gleich den Treppenniedergang, der in die unterirdischen Labyrinthe führte. Die Kinder hatten sich hier aufgehalten, soviel war sicher. Und sie mussten noch dort sein. Darin waren sich die Väter nach kurzen Blickkontakten einig. Sarah Steinbach setzte sich nieder und fühlte sich tief berührt. Systematisch wanderten ihre Augen im Grab umher. Und dann fand die alte Frau, wonach sie suchte. Langsam stand sie auf und bekreuzigte sich in Demut vor der Steinplatte, deren Beitrag und Anteil an den augenblicklich ablaufenden Ereignissen sie genau zu kennen glaubte. Es war die Prophezeiung des Königs Salomo, die sich in diesen Stunden erfüllen würde. Ehrfurchtsvoll verbeugte sie sich vor dem heiligen Gegenstand und besah sich nacheinander die eingravierten Bilder. Es war also wahr. Die Familienlegende hatte an diesem Ort auf dem Tempelberg ihren Ursprung genommen.
„Hier ist der Anfang und das Ende. Herr, vergib einer alten dummen Frau, die nichts mehr hat, außer diesen zwei kleinen Mädchen, die du dir als Dienerinnen auserkoren hast. Ich weiß, sie sind in deiner Obhut geborgen, aber bitte, bring sie mir wohlbehalten zurück. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen!“
„Mutter, was ist los?“ George Cunningham wandte sich besorgt seiner Schwiegermutter zu und blickte fassungslos auf die Steinplatte. „Die Prophezeiung? Ist es das? Mutter, sag mir, sind unsere Mädchen in Gefahr?“ Sarah ließ sich aufhelfen und drückte ihren Schwiegersohn. „Nein, ich glaube nicht. Mein Gefühl sagt mir, dass es ihnen gut geht. Aber wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Achmed, ihr müsst die Polizei anrufen und Monirs Großvater. Dann steigt ihr in den Tunnel. Wahrscheinlich wurden alle Ausgänge verschüttet und die Palästinensische Seite wird uns ohne Fürsprache deines Vaters nicht dort hineinlassen. Ich denke, der Menschheit wird jetzt eines ihrer größten und schönsten Geheimnisse zurückgegeben. Ben, diese Steinplatte ist Teil einer uralten Legende, der eine Prophezeiung zugrunde liegt. Sie müsste gleich unversehrt ins Israelmuseum gebracht und dort von führenden Wissenschaftlern sofort auf ihr Alter untersucht werden. Gott ist mit uns. Es ist alles Sein Wille.“
Achmed Rabbas kehrte nach seinem Telefonat in die Höhle zurück. „Die Polizei kommt sofort und mein Vater wird auch in wenigen Minuten hier sein. Er hat bereits mit dem Führer der Waqf gesprochen“, erklärte der Mann sorgenvoll. „Hoffentlich lassen sie uns in den Berg hinein“, erwiderte George Cunningham. Die Lichter mehrerer Militärjeeps kamen näher. Die Autos hielten unterhalb der Grabstellen. Zwei Israelische Polizisten stiegen zu ihnen hinauf. Höflich und mit Hochachtung begrüßten sie Ben Yehuda. Auch Achmed Rabbas, George Cunningham und Sarah gaben den Polizeikräften die Hand. Mit wenigen Worten wurden die Männer über die Lage unterrichtet. „Wir brauchen Fachleute, die sich dort unten bereits etwas auskennen, Seile und technisches Gerät, sowie alle verfügbaren Karten der unterirdischen Gewölbe “, meinte der jüngere der Polzisten. „Auf jeden Fall müssen die Waqf informiert werden und ich hoffe, wir erhalten die Genehmigung, den Stollen erkunden zu dürfen.“ Benjamin Rosenbaum arbeitete seit drei Jahren bei der israelischen Polizei. Er war seit langem mit der Familie Yehuda befreundet und kannte auch den kleinen David seit dessen Geburt. Der Sohn des Leiters des berühmten Israelmuseums machte sich ernsthaft Sorgen. Noch nie hatte die Waqf einer Begehung der Gewölbe im Tempelberg zugestimmt.
Eine schwarze Limousine fuhr die gewundene Straße entlang und hielt am Kidrontal an. Palästinenserführer Mahmud Rabbas eilte mit großen Schritten den Hügel hinauf. Entsetzt schaute er auf die eingestürzte Mauer und die Stufen mit der Trittleiter, die in die Tiefe führten. Die Kinder waren dort hinunter geklettert. So viel stand auch für ihn fest. Wahrscheinlich hatten sie sich in den weitverzweigten, teilweise auch den Fachleuten unbekannten Labyrinthen verlaufen oder waren, was noch viel schlimmer wäre, verschüttet worden. Heute Nachmittag hatten die Seismologen in Jerusalem ein kleines Erdbeben registriert, welches zwar mit 3,2 auf der nach oben offenen Richter Skala noch keine nennenswerten Zerstörungen anrichten konnte, doch innerhalb des Berges mit Sicherheit zum Einsturz schwacher Gebäudereste geführt haben mochte.
Rabbas telefonierte mit den Waqf, die als Stiftung über den Tempelberg, zu dem nur Muslime Zugang hatten, wachten. Das Gespräch wurde sehr hektisch. Auch Ben Yehuda und George Cunningham sprachen arabisch und hörten den aufgeregten Worten des Palästinenser Führers zu. „Sie haben mich nicht verstanden“, rief dieser wütend in sein Mobiltelefon hinein. „Es sind vier zehnjährige Kinder im Tempelberg und möglicherweise ist ihnen der Rückweg versperrt. Eines dieser Kinder ist mein eigener Enkelsohn. Wir gehen dort hinunter, ob es Ihnen nun gerade passt, oder nicht!“ Ein zweites Telefonat erreichte den Israelischen Ministerpräsidenten über eine geheime Leitung. Auch dieser hörte entsetzt und beunruhigt zu und versprach, sofort den zuständigen Behörden alle notwendigen Anweisungen zu geben. David Yehuda war sein Großneffe. Ben bedankte sich daraufhin herzlich bei seinem Onkel. Die Sucharbeiten wurden der Polizei, dem Militär und dem Technischen Dienst übertragen. Auch Spezialisten aus dem Israelmuseum sollten hinzugezogen werden. Zusammen mit der Feuerwehr und der Baubehörde wurde ein Plan zur Begehung der unterirdischen Gewölbe aufgestellt.
Wenn alle notwendigen Maßnahmen getätigt und die Vorbereitungen abgeschlossen wären, könnte man morgen früh in den Stollen hinabsteigen. Daniel Rosenbaum traf eine halbe Stunde später ein. Der Leiter des Israelmuseums wurde von Sarah Steinbach begrüßt, die ihn zur Steinplatte mit den Bildnissen der Prophezeiung führte. Überwältigt erkannte der erfahrene Museumsdirektor sofort das Außergewöhnliche an der Tafel. Sein Assistent legte das kostbare Kleinod vorsichtig in den mitgebrachten Holzkasten. Dann wurde die Platte unter Polizeischutz zur genaueren Untersuchung ins Museum gebracht. Auf ausdrücklichen Wunsch ihres Sohnes willigte die alte Sarah danach ein, in ihr Haus zurückzukehren.
**
Am nächsten Morgen versammelten sich unzählige Helfer vor dem engen Grab. Mit Seilen, spezieller Kleidung und einem mobilen Kabeltelefon ausgerüstet, kletterten die ersten Retter bereits um sieben Uhr in den Schacht. Nach etwa zehn Minuten Marsch fanden sie die Abzweigung ins muslimische Viertel und den verschütteten Gang. Ein Mitarbeiter des Museums zeichnete die Stelle auf seiner Karte ein. Doch als die Männer damit beginnen wollten, das Geröll beiseite zu schieben, rollten Steine auf sie zu. Erschrocken wichen sie zurück. Der ganze Gang musste erst bautechnisch gesichert werden. Vorher war eine weitere Begehung lebensgefährlich. In den folgenden Stunden arbeitete der herbeigerufene Bautrupp fieberhaft. Gegen halb elf Uhr wurden die herab gefallenen Steine abtransportiert. Eine Schneise gab dem Rettungstrupp nun den Weg frei. Die Männer brauchten fast zwei Stunden, bevor sie den zweiten Tempel erreichten. Tief beeindruckt betrachteten sie die Hallen und die Säulenreste. Einen Weg hinaus fanden sie nicht und von den vermissten Kindern fehlte auch weiterhin jede Spur. Enttäuscht und resignierend gaben sie die Nachricht über das Kabeltelefon zu den Wartenden in der Grabhöhle durch. Als einer der fünf Männer neugierig die Säule Boas absuchte, fand er zufällig die leere Wasserflasche.
„Herr Steinbrecht, sie waren wirklich hier. Sehen Sie.“ Der junge Feuerwehrmann hielt stolz die Plastikflasche aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert in die Höhe. „Ist gut, Jeremy, packen Sie sie ein. Sie muss untersucht werden und wenn wir die DNA der Kinder daran finden, wissen wir Bescheid. Aber wo können sie sein? Wir müssen noch einmal alles genauestens absuchen“, erklärte der Leiter der Jerusalemer Feuerwehr traurig.
**
Salome erwachte in schwarzer Dunkelheit. Sie zitterte und setzte sich erschrocken auf. Leise Atemzüge neben ihr ließen sie die Nähe der Schwester und der Jungen erahnen. Sie tastete nach ihrem Rucksack und erfühlte eine frische Kerze. Auch ein Feuerzeug konnte sie finden. Einen Moment später hüllte der schwache Schein der Kerze den verschlossenen Gang in fahles Licht ein. Salome suchte nach weiteren Kerzen, um mehr Helligkeit zu erzeugen. Sie stutzte. Es schien, als wenn sie von ferne einige Klagelaute vernahm. Sie lauschte angestrengt. Ganz klar und deutlich drang ein merkwürdiger immer gleichbleibender Singsang an ihr Ohr.
„Mara, David, Monir, wacht auf! Da sind Geräusche. Irgendjemand ist da draußen!“ Sie knuffte die Jungen. Monir blinzelte verstohlen in die dicke Kerze. Auch Mara rieb sich verschlafen die Augen und setzte sich auf. David beugte sich plötzlich vor und konzentrierte sich auf die Stimmen, die ihm wie Musik in den Ohren klangen. „Das sind jüdische Gebete. Es sind dieselben, die wir an der Klagemauer aufsagen“, rief er überglücklich. „Salome, hast du Handyempfang? Wir können nicht weit von der Klagemauer entfernt sein. Vielleicht ist sie es auch und hinter dieser Wand befindet sich der Platz vor der Klagemauer. Daher die Geräusche. Sie beten. Salome, was ist?“ Salome versuchte vergeblich ein Netz in ihr Handy zu bekommen. Sie schüttelte traurig den Kopf. „Komm, Salome, steig auf meine Schultern und nimm den Stein da vorne. Dann schlägst du damit ganz fest gegen die Decke“, forderte sie David auf. „Hilfe!“ Mara und auch Monir begannen laut mit den beiden anderen zu schreien. Salome hielt einen Augenblick inne. Dann schlug sie erneut gegen die Decke.
*
An der Klagemauer hatten sich an diesem Morgen bereits einige orthodoxe Juden zum Gebet eingefunden. Ein junger Student wiegte seinen Körper rhythmisch im Singsang, als er plötzlich von unten, tief aus der Mauer, Stimmen und Klopfzeichen zu hören glaubte. Er lauschte angestrengt und schüttelte ungläubig den Kopf. „Saul, komm her“, rief er seinem Freund leise zu, der einige Meter neben ihm betete. „Da ist jemand hinter der Mauer!“ Mit fragendem Blick und etwas ungläubig trat der angesprochene junge Mann hinzu. Beide horchten konzentriert. „Du hast Recht! Das sind Kinderstimmen. Hey, kommt alle mal her!“ Am Eingang zur Klagemauer hatten Bauarbeiter einen Haufen Steine abgelegt. Sofort eilte ein alter Rabbiner dorthin, griff sich einen mittelgroßen Felsstein und begann, damit auf den Boden zu schlagen. Die Männer horchten erneut. Und sie erhielten Antwort. Der junge Saul blickte sich aufgeregt um und nahm in einiger Entfernung einen Polizeijeep wahr, in dem zwei junge Polizisten saßen. Aufgeregt winkte er die beiden zu sich. Als der jüngere der Polizisten mit seiner Dienststelle telefonierte, erfuhr er, was geschehen war. Überglücklich übermittelte der dunkelhaarige schlanke Mann die eben gemachte Entdeckung seinem Vorgesetzten. Die vier eingeschlossenen Kinder waren allem Anschein nach endlich gefunden. Erleichtert berichtete einen Augenblick später auch der Leiter der Feuerwehr im Kidrontal seinen Kollegen vom glücklichen Ausgang der Suchaktion.
Unten im dunklen Gang nahm Salome ihre Schwester in die Arme. Die beiden ahnten nicht, wie lange es noch dauern würde, bis ihre Augen wieder Tageslicht sehen durften.
*
Vor der Klagemauer begannen die inzwischen dort eingetroffenen Feuerwehrleute heftig miteinander zu diskutieren. Der Vorschlag eines Rabbis, von innen durch die zahlreichen Gänge zu den Kindern zu stoßen, wurde sofort verworfen. Alle Wege, die an diese Stelle führten, wurden aus Sicherheitsgründen schon im letzten Jahr zugeschüttet. Man fürchtete bereits damals den Einsturz des gesamten westlichen Mauerrests. Die einzige Möglichkeit, den Vieren zu helfen, bestände darin, von außen ein Loch in den Boden zu schlagen. Doch dieser abenteuerliche Vorschlag eines Feuerwehrmannes rief augenblicklichen Protest bei den umher stehenden orthodoxen Juden hervor. Und auch aus den eigenen Reihen kam Kritik. Es müssten dazu erst Stützpfeiler und Baugerüste an der Klagemauer angebracht werden, damit sie nicht in sich zusammenfiele. Als wenig später die Limousinen der beiden Regierungschefs vorfuhren, war die Entscheidung schnell getroffen. Bausachverständige, Architekten und Archäologen sollten einen möglichst raschen unkomplizierten Weg finden, um die Kinder aus ihrer misslichen Lage befreien zu können. Zunächst würde eine Probebohrung stattfinden, damit mit den Eingeschlossenen gesprochen werden konnte. Auch ein Notarzt und mehrere Sanitäter sollten ständig vor Ort bleiben, bis die Ausreißer wohlbehalten gerettet wären.
**
David hatte sich seine Angst nicht anmerken lassen. Als er die Geräusche von Presslufthammer und Stemmeisen hörte, atmete er erleichtert auf. Es würde nur noch eine Frage der Zeit sein, bis man sie herausholte. Gleichzeitig dachte er an den Schatz, den sie entdeckt hatten. „Was wird aus den Edelsteinen des Salomo und der Bundeslade? Die Entdeckung ist eine Sensation?", fragte er in die Runde. „Das gehört alles dem Israelisch-Palästinensischem Volk und muss in ein Museum gebracht werden“, antwortete Mara wie selbstverständlich. Ihre Schwester verhielt sich plötzlich merkwürdig ruhig. „Wenn es uns nicht gelingt, die Terroristen in Alexandria aufzuhalten, wird es bald gar keinen Schatz und auch keine Erde mehr geben!“, gab Salome zu bedenken. Monir nickte zustimmend mit dem Kopf. „Wenn wir Kontakt mit den Helfern draußen haben, müssen wir als erstes über eine sichere Leitung mit meinem Großvater und Davids Großonkel sprechen. Hoffentlich glauben sie uns. Wenn nicht, ist das sonst das Ende der Welt.“
Ruhig und gefasst erwarteten die vier Kinder ihre Rettung. Eine halbe Stunde später drangen frische Luft und ein vorwitziger Sonnenstrahl in den dunklen Gang. Durch ein kleines Loch in der Decke wurde ein Kabel zu ihnen herabgelassen. Dann hörte David die vertraute Stimme seines Vaters.
„David, Kinder, geht es euch gut? Wir holen euch raus, aber es wird noch etwas dauern.“ „Das ist schon o.k. Papa, es geht uns allen gut. Aber wir haben eine Entdeckung gemacht und müssen unbedingt mit Onkel Benjamin und Monirs Großvater sprechen.“
„Aber David, sie wissen doch Bescheid und haben durch ihren politischen Einfluss eure Rettung erst ermöglicht. Beide sind nun wieder in ihren Amtssitzen und haben anderes zu tun, als sich mit kleinen Kindern zu unterhalten. Du weißt, wie sehr ich dich schätze, doch das geht jetzt wirklich zu weit!“ Salome hatte entsetzt zugehört. „Herr Yehuda, auch wenn wir noch Kinder sind, ist es doch wichtig. Bitte glauben Sie mir. Ich habe noch nie gelogen. Die Zukunft der Menschheit hängt von diesem Gespräch ab. Wir müssen mit beiden zusammen sprechen, ohne Zeugen. Nur Herr Rabbas und Herr Sebanja allein dürfen es wissen. Bitte, ich flehe Sie an!“ Salomes Augen füllten sich mit Tränen. Wenn es ihnen nicht gelingen sollte, die beiden mächtigsten Männer ihres Landes zu erreichen und von der herannahenden Katastrophe zu überzeugen, würden sie bald alle tot sein. Nur Rabbas und Sebanja konnten durch rasches gemeinsames Handeln ein Armageddon verhindern. Gespannt wartete sie auf Antwort. Ben Yehuda wandte sich an Achmed Rabbas und deutete auch George Cunningham an, näher zu treten. „Sie sagen, sie haben etwas entdeckt und nur mein Onkel und dein Vater, Achmed, dürfen vorerst davon erfahren. Aber wir können sie doch nicht wieder hierher bestellen. Andererseits hat mich David noch nie belogen und er übertreibt auch nicht. Und dass Salome ihre Ehrlichkeit noch so explizit herausstellt, wundert mich doch sehr. Vielleicht ist tatsächlich etwas daran?“ George Cunningham trat überrascht an das Loch, welches nach unten zu seinen Töchtern führte. „Mara, kommst du mal bitte zu mir. Ich will gar nicht wissen, um was es geht, wenn ich es noch nicht wissen darf. Aber ich frage dich jetzt und ich weiß, du wirst mir immer die Wahrheit sagen: Ist das, was ihr zu erzählen habt, wirklich so wichtig?“
Mit großen Augen sah Salome ihre Schwester an. Der Vater glaubte Mara also mehr als ihr, der klügeren in der Schule, der Aktiveren? Einen Moment lang spürte das kleine Mädchen im Innersten eine leichte Eifersucht auf die jüngere Schwester, doch im nächsten Augenblick drangen Liebe und Wärme, die aus dem Medaillon heraus zu strömen schienen, welches sie um den Hals trug, wieder tief in ihr Herz hinein. Auch Mara blickte etwas erschrocken zu Salome hinüber. Sie fühlte, was in ihrem Zwilling vor sich ging und überlegte sich ihre Antwort gut. „Ja, Papa, es ist sehr wichtig und du brauchst keine Unterschiede zu machen. Was Salome sagt ist wahr, wie immer. Bitte holt die beiden hierher, uns bleibt nicht viel Zeit. Wie geht es Oma? Sie wird böse auf uns sein, weil wir nicht rechtzeitig zu Hause waren. Es tut uns alles sehr leid.“ Ein liebevoller Blick erreichte Salome, die sofort zurück lächelte. George Cunningham nickte seinem Freund Ben zu. „Ruft sie an. Irgendetwas ist da unten mit den Kindern geschehen. Meine Schwiegermutter machte auch schon so merkwürdige Andeutungen.“ Auf privaten Leitungen telefonierten Achmed Rabbas und Ben Yehuda kurze Zeit später mit ihrem Vater und Großonkel, die beide ihr Kommen auch innerhalb der nächsten Stunde zusagten. Ohne viel Aufsehen zu erregen räumten die Männer daraufhin den Platz vor der Klagemauer.

Aufregende Stunden 4. Kapitel


Unzählige Reporter hatten sich während der letzten Stunde auf dem Platz eingefunden. Jeder von ihnen versuchte neugierig mit nahezu allen Mitteln Informationen zu erhalten. Die herbeigerufene israelische Armee hatte die nicht autorisierten Personen hinter die Absperrungen verwiesen und nahm umfangreiche Sicherheitsvorkehrungen in Angriff. Es war dann auch schon sehr ruhig als die Limousine des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Sebanja vorfuhr. Augenblicklich blitzten erneut Kameras auf und die Polizisten hatten wieder alle Hände voll zu tun, um die vielen Journalisten zurückzuhalten. Sebanja nickte einmal kurz in die Menge und begab sich dann zu der Stelle, an der bereits die Väter der Kinder standen und über ein kleines in die Mauer eingelassenes Telefonkabel mit ihren Sprösslingen sprachen. Die Begrüßung fiel sehr herzlich aus. Der Ministerpräsident zeigte offen seine Erleichterung und setzte die Kopfhörer auf, welche ihm ein Mitarbeiter der Jerusalemer Feuerwehr freudig überreichte. Dann nahm er das dargebotene Mikrophon in die Hand. „David, hier ist Onkel Benjamin. Wie geht es euch, Kinder?“ David schluckte. „Es geht uns gut, Onkel. Ist Monirs Großvater auch schon da? Wir dürfen nicht abgehört werden, das musst du mir versprechen. Es ist sehr wichtig.“ Benjamin Sebanja lächelte leicht erheitert und beunruhigt zugleich. Er kannte David und wusste, dass der Junge nicht lügt und ein seltsam beängstigendes Gefühl legte sich auf seine Brust. „Gehen Sie bitte alle hinter die Absperrung und lassen Sie nur Herrn Rabbas zu mir kommen, wenn er eintrifft“, wies er die umstehenden Personen an. Mahmud Rabbas stieg wenig später aus seinem Fahrzeug und wurde zu seinem israelischen Amtskollegen geführt. Auch der ihn begleitende Polizeibeamte entfernte sich sofort wieder. Die beiden Männer begrüßten sich nur kurz. Monirs Großvater nahm ebenfalls sein Mikrophon in die Hand und setzte den Kopfhörer auf. Was dann geschah, sollte einige Tage später nicht nur die ganze Menschheit vor dem sicheren Untergang bewahren, sondern die Welt verändern.
Nacheinander erzählten die Kinder zunächst stockend, dann aber flüssig und detailliert, was sich im Keller bei den Terroristen zugetragen hatte. Das Mienenspiel der beiden Staatsmänner reichte in den folgenden Minuten von Ungläubigkeit bis zu tiefstem Entsetzen. Als ein Vertrauter des israelischen Ministerpräsidenten auf ihn zu eilen wollte, wurde er von diesem barsch zurück gewiesen. Rabbas und Sebanja sahen einander an. Es klang alles plausibel und doch konnten sie fast nicht glauben, was sie gerade erfahren hatten. Ganz gegen sämtliche Protokolle versprachen sie den eingeschlossenen Kindern, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um die Terroristen zu fassen und vor allem die Bombe im Hafen von Alexandria zu bergen und unschädlich zu machen. Dann nahmen sie die Kopfhörer ab und traten zu einem vier Augen Gespräch zusammen.
„Ich schäme mich sehr für meine fehlgeleiteten Glaubensbrüder, Benjamin. Ich hoffe, du glaubst mir das. Wie gehen wir jetzt vor? Auf jeden Fall muss der amerikanische Präsident persönlich und in geheimer Botschaft von uns informiert werden. Auch Ägypten muss Bescheid wissen. Wir können nicht ohne Einwilligung der Regierung im Hafen von Alexandria nach der Bombe suchen.“ „Wir fahren jetzt gemeinsam in meinen Amtssitz und telefonieren zunächst über meine Geheimleitung mit den Amerikanern. Jeder weitere Schritt muss dann sorgfältig durchdacht und mit allen Beteiligten koordiniert werden. Der Mossad soll das Haus finden und sofort unter unauffällige Beobachtung stellen. Die Terroristen können sich weiterhin sicher fühlen. Erst wenn wir das Schiff und die Bombe haben, schlagen wir zu. Die Amerikaner müssten dann selbst abchecken, ob man die Aktion den Ägyptern ganz oder teilweise überlassen kann oder ob sie selbst eingreifen wollen“, antwortete Benjamin Sebanja, dem die Anspannung und Last der Verantwortung nun ins Gesicht geschrieben stand, mit leicht zitternder Stimme. Dann verließen zwei überaus blass gewordene Regierungschefs mit ihrem Gefolge den Platz vor der Klagemauer.
„Ob sie uns geglaubt haben?“, fragte Mara. Ihre Schwester legte liebevoll den Arm um sie. „Ich denke schon, sie klangen nicht gerade belustigt. Und wenn der Anschlag vereitelt ist und die Terroristen hinter Schloss und Riegel sitzen, dann dürfen sie noch einmal herkommen und zur Belohnung auch unsere Schätze sehen. Was glaubst du David, wie wird dein Volk reagieren, wenn es die Bundeslade mit den zehn Geboten wieder in seinen Händen hat?“ David lachte.
„Sie werden ganz schnell einen Tempel dafür bauen und eine Priesterschaft rekrutieren, damit niemand mehr an das Allerheiligste herankommt. Es ist für uns so heilig und wichtig, dass es ein normaler Jude nicht einmal ansehen darf. Aber in der Prophezeiung steht, dass die zwei Könige ihren Bund dort besiegeln werden. Damit sind dann wohl Onkel Benjamin und Monirs Großvater gemeint.“ Monir saß sehr ruhig und in sich gekehrt daneben. „Was hast du?“ Mara sah den Freund fragend an. „Ich kann einfach noch nicht verstehen, warum ausgerechnet wir das alles erlebt haben. Wer sind wir, dass Allah uns auserwählt hat? Ich habe einfach Angst, etwas machen zu müssen, von dem ich glaube, dass es noch zu schwer für mich ist. Ich bin nur ein kleiner Junge, der die Koranstunden schwänzt und stattdessen lieber Fußball spielt.“ „Du hast Recht. So etwas Ähnliches ging mir auch gerade durch den Kopf. Und mir ist nicht wohl dabei. Wir haben etwas entdeckt, wonach die Menschheit seit drei tausend Jahren gesucht hat. Sali, frag doch mal deinen Jesus, warum gerade ich dabei sein sollte“, entgegnete David. Salome schüttelte mitleidig den Kopf. „Und ihr beiden wollt gläubige Juden und Muslime sein! Der ungläubige Thomas passt viel besser zu euch. Gott hat das so bestimmt und basta. Wir haben als Menschen weder den Auftrag noch das Recht, seine Ordnung zu hinterfragen. Ich jedenfalls glaube an Jesus und an seine Kraft. Er wird schon wissen, warum er uns hierher geschickt hat und uns auch wieder herausholen, wenn er es will.“
„Und wenn er nicht will, enden wir dann so wie das Skelett in der Schatzkammer?“, fragte Mara ängstlich. „Dann hätte er uns doch nicht hierher geführt, du Drolli. Wir sollen die Menschheit retten und das haben wir auch getan. Den Rest müssen jetzt die Erwachsenen machen. Dann sollen wir dafür sorgen, dass die beiden Könige Frieden schließen und das können sie doch nur unten über der Bundeslade. Den Schatz gibt es dann für das Museum gratis obendrauf. Hoffentlich verkaufen sie ihn nicht in alle Erdteile. Man kann ihn ja hier in Jerusalem ausstellen und die Touristen anreisen lassen um ihn zu bestaunen“, versuchte Salome ihre Schwester zu beruhigen. „Ich kriege langsam wieder Hunger und trinken könnte ich eigentlich auch etwas. Außerdem geht die Kerze dort gleich aus.“ Monir zeigte mit der Hand auf den Kerzenrest vor ihm. Salome griff in ihren Rucksack. „Oh Schitt, ich habe keine frischen Kerzen mehr. Hast du noch welche Mara?“ Mara schüttelte traurig den Kopf, nachdem sie ihren Rucksack durchwühlt hatte. „Einen Schokoriegel kann ich dir noch anbieten, Monir.“ David nahm das Mikrophonkabel in die Hand und hatte einen Moment später Verbindung zu zwei verständnisvollen Feuerwehrleuten. Man versprach, umgehend die Bohrung eines breiteren Schachts zu prüfen, um den Kindern Licht und einige Nahrungsmittel zukommen zu lassen.
In den folgenden Stunden arbeiteten Bauingenieure und Statiker fieberhaft an einem Plan, wie man die Kinder befreien konnte, ohne dass die Bausubstanz zu sehr dabei zerstört würde. Am Abend war man endlich soweit. Der Platz vor der Klagemauer wurde nun durch starke Strahler beleuchtet, damit die Arbeiten auch über Nacht nicht unterbrochen werden mussten. Unbemerkt konnte einer der Bauarbeiter zwielichtige Freunde informieren. Gegen zehn Uhr machten sich zwei dunkel gekleidete Männer am unbewachten vergitterten Eingang auf der Rückseite der Ruine zu schaffen und drangen leise in das Gewölbe ein. Irgendetwas Außergewöhnliches musste sich dort unten im Tempelberg befinden. Ohne Grund trafen sich nicht die beiden Regierungschefs und bisher war auch keinerlei Information über die Inhalte der Gespräche mit den Kindern an die Presse gegangen. Sie mussten etwas gefunden haben, was viele Jerusalemer bereits seit Jahren hinter vor gehaltener Hand vermuteten: Im Berg lag ein riesiger Goldschatz! Levi und Jonas Blume suchten schon lange danach und diesmal wollten sie sich die Beute nicht entgehen lassen. Die beiden jungen Männer waren in Jerusalem geboren und kannten die unterirdischen Gänge wie ihre Westentaschen. Natürlich wurde der Stollen, in dem sich die Kinder befanden im letzten Jahr zugeschüttet. Aber man hatte damals nicht alle Eingänge versperrt. Levi wusste Bescheid. Es gab noch einen sehr engen Gang, den man nur kriechend durchqueren konnte. Aber dahinter stand man dann in einem Raum, der mit roten Ziegeln zugemauert worden war. Wenn sie erst dort waren, brauchten sie nur noch die Wand einzureißen und schon hätten sie auch die Kinder erreicht. „Was machen wir, wenn die Gören nichts sagen wollen, Jonas?“, fragte Levi, der jüngere der beiden. Keuchend zwängten sich die Männer zwischen engen Felsen hindurch. „Das lass mal meine Sorge sein, die werden mit Sicherheit reden!“, grinste sein Bruder. Schweigend krochen sie weiter und kümmerten sich auch nicht um den Sand, der ihnen von der niedrigen Decke auf die Köpfe rieselte.
Vorne an der Mauer gingen die Bauarbeiten inzwischen weiter. Mehrere Gerüste sollten sie stabilisieren. Wenn dann alles nach Plan verlief, würde man morgen früh den Schacht so verbreitern, dass auch Erwachsene zu den Kindern hinabsteigen konnten. Ein Ingenieur gab bereits sein Einverständnis dafür, das Loch zu vergrößern, so dass man ihnen etwas zu essen und zu trinken hinunter lassen konnte. Nach einem ausgiebigen Mahl in Form von frischen Hamburgern und Pommes lagen die vier Freunde nun gesättigt und zufrieden auf dem Boden. Schon bald fielen ihnen vor Müdigkeit die Augen zu.
In den frühen Morgenstunden wurde Salome plötzlich wach. Sie hatte schlecht geträumt. Zwei fremde Männer waren zu ihnen eingedrungen und hatten Mara als Geisel genommen. Salome setzte sich abrupt auf. Sie war schweißgebadet und zitterte vor Angst. Einen Moment lang hielt sie inne und lauschte. Sie hörte merkwürde Geräusche hinter sich. Jemand versuchte die Mauer einzureißen. Salomes Herz schlug wild. „David, Monir, wacht auf.“ Sie rüttelte die Jungen. „Da ist jemand!“ Auch David schrak aus dem Schlaf auf. Er legte seinen Finger auf den Mund und gebot den anderen leise zu sein. Dann kroch er ganz vorsichtig zum Telefonkabel. Flüsternd erzählte er dem verdutzten Feuerwehrmann, der oben auf dem Platz mit einem Kollegen wachte, von den Geräuschen. Der erfahrene Mitarbeiter ahnte sofort, dass jemand versuchte, zu den Kindern zu gelangen und verständigte einen herbeigeeilten Polizisten. Die Streife fuhr augenblicklich zum verschütteten Eingang der unterirdischen Gewölbe, der sich an der Rückseite der Mauer befand. Das Schutzgitter dort war aufgebrochen. Ein Wettlauf mit der Zeit begann. Der obere Zugang musste schnellstens fertiggestellt werden, damit die Retter vor den Räubern bei den Kindern wären. Die Polizisten informierten per Funk ihre Kollegen und betraten, während sie ihre Waffen entsicherten, den Gang.
Im Berg hatten Levi und Jonas Blume inzwischen ganze Arbeit geleistet. Die Ziegelmauer brach nach ein paar Schlägen mit einem Stemmeisen in sich zusammen und schreiend sahen die Freunde in die grinsenden Gesichter zweier dunkler Gestalten. Im Bruchteil einer Sekunde legte Jonas den Arm fest um Mara und hielt dem entsetzten Kind eine Pistole an den Kopf. „So, dann wollen wir mal zur Tagesordnung übergehen. Was habt ihr Sebanja und Rabbas erzählt, haeh? Und keine faulen Tricks, wir wissen von dem Schatz und wenn ihr uns nicht sagt, wo er sich befindet, dann mache ich die Kleine hier sofort kalt. Habt ihr verstanden?“ Jonas Stimme klang barsch und entschlossen. Salomes Augen füllten sich mit Tränen. Sie führte instinktiv die Hand zum Amulett an ihrem Hals. Ihre Gedanken waren augenblicklich bei Gott. „Wir wissen von keinem Schatz. Wir haben nur ein paar Räuber belauscht und der Polizei alles gesagt, damit sie sie fangen können“, antwortete sie zitternd. Monir nahm all seinen Mut zusammen. „Ja, sie warten draußen schon auf euch und dann kommt ihr in den Knast, wo Leute wie ihr auch hingehören. Selbst wenn es einen Schatz gäbe, wäre er das Eigentum Israels und Palästinas und würde nur im Museum ausgestellt werden. Und jetzt lass meine Freundin los, oder es wird dir sehr schlecht ergehen.“ Verblüfft starrten die beiden Juden den kleinen palästinensischen Jungen an, der sich ihnen so frech in den Weg stellte. Auch die beiden Polizisten hatten nämlich zwischenzeitlich den engen Gang gefunden und waren hindurchgekrochen. Unbemerkt postierten sie sich hinter die Räuber. Einer trat nun an Jonas heran und schlug ihm blitzschnell die Waffe aus der Hand. David schob die Pistole geistesgegenwärtig mit dem Fuß zur Seite und nahm die völlig verstörte Mara, die allerdings nur noch Augen für Monir hatte, in die Arme. Schluchzend fiel sie daraufhin ihrer Schwester um den Hals. Levi und Jonas wurden schnell mit Handschellen gefesselt und unschädlich gemacht.
Eine Stunde später war der Ausstieg zur Klagemauer verbreitert und gesichert worden. Eine Trittleiter wurde heruntergelassen. Salome und David sahen einander an. „Wir müssen noch hier bleiben. Können Sie bitte Herrn Sebanja und Herrn Rabbas Bescheid geben. Sie sollen noch einmal her kommen“, erklärte Salome den Polizisten und fügte mit einem spöttischen Blick auf die beiden Räuber hinzu: „Wir haben ihnen nämlich noch etwas zu zeigen!“ „Es geht uns gut. Bleiben Sie bitte alle oben. Nur mein Großonkel, Monirs Großvater, Sie beide und ein Filmteam des Israelischen Fernsehens sollen sich bereithalten“, bat David die erstaunten Polizisten, nachdem Levi und sein feiner Bruder von deren Kollegen abtransportiert worden waren. „Laden Sie bitte auch den Leiter des Israelmuseums ein. Er darf ebenfalls mit herunterkommen.“ Der Polizist schmunzelte. „Na, da bin ich ja mal gespannt. Das habt ihr übrigens toll gemacht. Es gibt nicht viele Kinder in eurem Alter, die in einer so gefährlichen Situation die Nerven behalten, alle Achtung!“
Um sechs Uhr morgens füllte sich der Gang mit den ausgesuchten Personen, auf die nun das schönste Erlebnis der Menschheitsgeschichte wartete. Benjamin Sebanja und Mahmud Rabbas traten vor die Kamera. Alle großen Fernsehanstalten waren dieser Live Übertragung aus dem Tempelberg in Jerusalem zugeschaltet. Mit wenigen Worten informierten der Israelische Ministerpräsident und der Führer des Palästinensischen Volkes die Weltöffentlichkeit über einen vereitelten Atombombenanschlag der Al-Kaida. Amerikanische Elite Einheiten hätten in Zusammenarbeit mit der ägyptischen Polizei einen Frachter in Alexandria aufgebracht, an dessen Bord sich eine Atombombe befand, die in Miami gezündet werden sollte. Die Terroristen wollten dann Nordkorea die Schuld für den feigen Anschlag geben, in der Hoffnung, die USA würden ihrerseits Nordkorea angreifen und falls China und Russland dem nicht zustimmen, damit einen dritten Weltkrieg auslösen, dem die ganze Menschheit wohl zum Opfer gefallen wäre. Und das alles nur, um Israel zerstören zu können. Beide Staatsmänner bedankten sich bei den vier Kindern, die durch ihren Mut zu wahren Helden geworden waren. David erzählte dann von dem Fund der Steintafel und wie sie in das Labyrinth kletterten. Zunächst waren sie in den Keller zu den Terroristen gelangt. Nachdem ein Erdbeben ihnen den Rückweg versperrte, mussten sie tiefer in den Berg hineingehen. Dort fanden sie die inzwischen ja auch bekannte Halle des ersten und zweiten Tempels und konnten einen Geheimgang öffnen, der sie zu einer Stelle brachte, die sie nun den Erwachsenen und allen Menschen auf der Welt zeigen wollten.
Dann begann die Gruppe die Stufen zur Schatzkammer hinabzusteigen. Als David den Öffnungsmechanismus der geheimen Tür betätigte, hielten Mara und Salome stolz die beiden Teile ihres 3000 Jahre alten Amuletts in die Kamera. Daniel Rosenbaum bekam glänzende Augen. Der Leiter des Israelmuseums wusste inzwischen, dass die im Grab gefundene Steintafel nach der Radiokarbonmethode auf ein Alter von nahezu 3000 Jahre datiert wurde. Er war einfach überwältigt, als er die Amulette der Mädchen sah und den unschätzbaren Wert der kostbaren Gegenstände erahnte.
Abermals öffnete sich der Felsen. Und diesmal wurden Millionen Menschen gleichzeitig Zeugen einer einzigartigen Entdeckung, die die Bibel in ganz neuem Licht erscheinen ließ.
Von vier zehnjährigen Kindern geführt, betraten zwei Männer, die aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit bis zu diesem denkwürdigen Tag Feinde sein mussten, einen Raum, in dem das Rätsel der Anfänge menschlicher Zivilisation und der Geschichte der drei großen Religionen für nahezu 3000 Jahre unbeschädigt erhalten geblieben war. Als der Kameramann durch den Sucher seines Gerätes blickte und die vielen wundervollen Gegenstände der Ursprünge jüdischen Glaubens sah, erfasste ihn spontan eine Welle der Rührung und Demut, die auch ihm augenblicklich Tränen in die Augen schießen ließ. Nur mit Hilfe seines tief ergriffenen Kollegen, dem es in diesem Augenblick die Sprache verschlug, gelangen ihm die ersten Filmaufnahmen aus dem Allerheiligsten. Benjamin Sebanja nahm die Hand seines Großneffen David. Salome und Mara zogen vorsichtig die Felle zur Seite. Auch Monir führte seinen Großvater zu dem bedeutungsvollen Kasten, dessen Inhalt nahezu allen Völkern der Erde als Grundlage ihrer Gesetzgebung dient. David übersetzte noch einmal den althebräischen Text auf der Steintafel ins Arabische, Hebräische und dann ins Englische. Erschrocken wollte auch Benjamin Sebanja seinen Blick abwenden, doch David schüttelte den Kopf.
„Kommt. Ihr seid die zwei Könige, von denen auf der Tafel berichtet wird. Ihr dürft nicht nur vor die Bundeslade treten, ihr müsst es sogar, um damit Gottes Willen zu erfüllen. Gebt einander nun die Hand und schwört, alles zu tun, um Israel und Palästina wieder in Frieden zusammen zuführen. Ab heute soll zwischen Juden, Christen und Muslimen für immer Friede sein.“ Mahmud Rabbas und sein israelischer Amtskollege legten vor laufender Kamera einen Eid ab, um den Bund zu schließen, den Gott ihnen prophezeit hatte. Dann traten sie ehrfurchtsvoll zurück und verneigten sich vor einem Holzkasten, der die Menschheit nun im Jahre 2011 noch einmal mit den Gesetzestafeln der Gebote Gottes konfrontierte.
Salome und Mara atmeten hörbar auf. Sie stützten beide den sichtlich aufgewühlten Daniel Rosenbaum, der als Leiter des Israelmuseums immer noch nicht ahnen konnte, was in den nächsten Monaten noch auf ihn zukommen würde. Mit dem Kameramann im Schlepptau führten sie den etwas rundlichen Mann zur ersten Tür der Schatzkammer des Königs Salomo. David betätigte auch hier wieder feierlich einen geheimen Mechanismus, der ihm aber inzwischen geschickt von der Hand ging. Dann erlebten die Fernsehzuschauer auf der ganzen Welt ein Spektakel, das alles bisher Da gewesene in den Schatten stellte. Mit großen Augen sahen sie Schätze, die in diesem Jahrtausend noch kein Mensch erblickt hatte. Auch die zweite Kammer wurde geöffnet und der tote Priester, welcher sein Leben für den Schutz der Kostbarkeiten gegeben hat, mit einem kurzen Gebet von Salome geehrt. Dann musste Daniel Rosenbaum geholfen werden, der vor Schreck einer Ohnmacht nah war. Ungläubig ließ er noch einmal seine Augen über den Schatz schweifen und wies David an, die Tür wieder zu verschließen. Nun kehrte das Leben in den eigentlich sehr agilen Museumsdirektor zurück. Er wandte sich Benjamin Sebanja und Mahmud Rabbas zu.
„Diese Räume müssen versiegelt und von Polizei und Armeeeinheiten strengstens bewacht werden. Ich suche mir die besten und loyalsten Mitarbeiter aus, damit wir alles fotografieren und katalogisieren können. Dann brauchen wir ein neues Museum, das allen Sicherheitsanforderungen unserer Zeit genügt.“ „Sie bekommen, was sie benötigen. Solange der Schatz von den zehn Geboten bewacht wird, wird es wohl hoffentlich niemand wagen, sich am Eigentum unseres Herrn zu vergreifen“, erklärte Sebanja. Und Mahmud Rabbas fügte hinzu: „Keines dieser Stücke soll jemals das Heilige Land verlassen. Die Menschen sollen zu uns kommen und Salomos Schatz hier im Tempel bestaunen. Aus den Einnahmen finanzieren wir dann nicht nur das Museum. Alles, was übrig bleibt, wird in Stiftungen helfen, der Armut auf dieser Welt zu begegnen. Wir werden damit so viel Geld verdienen, dass niemand auf der Erde mehr hungern muss.“ Daniel Rosenbaum lächelte dankbar und sah die beiden kleinen Mädchen an seiner Seite liebevoll an. „Und ihr Kinder bekommt von mir eine lebenslange Dauereintrittskarte und sicher auch einen Platz in den Geschichtsbüchern. Vielleicht sollten wir einen Teil der Einnahmen zudem für eure Schul-und Berufsausbildung verwenden.“
***
„So, den Rest kennt ihr ja schon aus der Schule. Am 15. Juli 2012 wurden die beiden getrennten Staaten Israel und Palästina gegründet. Jerusalem ist seitdem offiziell unsere gemeinsame Hauptstadt. Und was aus euren leidgeprüften Eltern wurde, wisst ihr ja selbst. Ich habe die Nachfolge meines Großvaters angetreten und David wurde heute zum Ministerpräsidenten Israels vereidigt. Auf ihm lastet eine große Verantwortung. Er erfüllt alle Voraussetzungen, die nach alter jüdischer Überlieferung der neue Messias mitbringen muss. Ich beneide ihn nicht um seine Aufgabe.“ Zufrieden blickte sich Monir Rabbas um. Der Vierzigjährige hatte nach dem Abitur Betriebswirtschaft und Jura studiert und ging danach in die Politik.
Mithilfe seines Großvaters und des Einflusses seiner Familie stellte er sich im letzten Jahr zur Wahl für das Amt des Palästinensischen Ministerpräsidenten und gewann prompt mit überwiegender Mehrheit. Stolz betrachtete er seinen zwölfjährigen Sohn Achmed und seine Tochter Sarah, die ihm seine Frau Mara schenkte. Auch Rebekka, seine zehnjährige Nichte saß mit ihm und einigen Kindern der eingeladenen höchsten israelischen Diplomaten und Regierungsmitglieder auf der obersten Stufe einer monströsen Treppe im größten Hotel des Landes, welches Staatsempfängen diente oder extra für Festlichkeiten hergerichtet wurde. Von hier oben hatte man den schönsten Überblick über den großen Ballsaal und konnte sogar durch die vielen riesigen Glasfenster weit hinaus auf die Stadt sehen, die an diesem Abend in ihrem Lichterglanz erstrahlte, als wollte sie Sonne, Mond und allen Sternen im weiten Weltall Konkurrenz machen.
Am Treppenaufgang stand Salome Yehuda in ihre eigenen Gedanken versunken und schaute auf das Glas Selters, welches sie in der Hand hielt. Liebevoll lächelnd trat David auf sie zu und küsste ihr zärtlich die Wangen. „Was trinkst du da, Schatz? Als Regierungschef ordne ich aber Sekt für meine große Königsgemahlin an. Heute Abend wollen wir feiern!“ „Ja, du hast Recht. Wir sollten heute wirklich feiern. Wir haben nun alles erreicht, was wir erreichen konnten und sogar noch ein kleines bisschen mehr“, schmunzelte sie. „Monir hat seinen Achmed, Sarah ist eine Christin und Rebekka auch. Nur ein kleiner Jude fehlt uns noch zu unserem Glück, aber dafür hast du ja nun gesorgt, mein Lieber. Also, lass mich meine Selters trinken und nehme du ein Glas Sekt auf mein Wohl oder besser auf unser Wohl!“, erklärte Salome, die Hüterin des Schatzes, wohl wissend, dass sie jetzt erneut einen kleinen Schatz zu bewahren hatte. Davids Augen weiteten sich. „Sali, ist das wahr, wir bekommen noch ein Baby? Ich werde Vater?“
Enthusiastisch nahm er seine Frau in den Arm, hob sie hoch und wirbelte sie freudig herum, bis die junge werdende Mutter ihren Mann sanft stoppen musste. „Dann will ich der erste Gratulant sein.“ Monir war die Stufen hinabgestiegen und hatte die letzten Worte mit gehört. Er gab seiner Schwägerin einen Kuss. „Ich freue mich für euch. Allah sorgt also gut für Nachwuchs.“ David lachte. „Nein, nein, mein Freund. Dieser kleine Junge wird endlich ein Jude! Lasst uns nun gemeinsam mit unseren Kindern auf den Balkon gehen. Unten stehen viele Menschen, die in Zukunft gute politische Arbeit von uns erwarten.“
Tausende jubelten ihrem Messias zu, der der Menschheit einst den Frieden brachte und jetzt ganz bescheiden abwinkte. David Yehuda war nur ein einfacher Mann, ein Jude, der seine Kraft und sein Wissen in den Dienst seines Volkes stellen wollte, das mit Gottes Hilfe nun bald um einen weiteren Bürger anwachsen würde.

Impressum

Texte: alle Rechte beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 07.07.2011

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /