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Hörnum (Kindheitserinnerungen)


Wer auf der Nordseeinsel Sylt wohnt, lebt an einem Ort, an dem andere Leute Urlaub machen. Ich kam bereits 1958 als zweijähriges Kind nach Hörnum, denn Vater war Zollbeamter von Beruf und aus Lübeck dorthin versetzt worden. Für meine Oma und meine Mutter muss beim ersten Anblick unseres neuen Domizils eine Welt zusammengebrochen sein. Der Unterschied zu ihrem bisherigen Leben in der Großstadt Lübeck konnte gar nicht extremer ausfallen. Sprachlos und schockiert entstiegen die beiden der schnaufenden Inselbahn, welche bei den Eingeborenen nur die "rasende Emma" hieß. Sie blickten erst nach links und dann nach rechts. Überall war nichts als Sand, Dünen und auch dahinter befanden sich im Sand noch mehr Dünen aus dem selbigen. Auf einer dieser monströsen Erhebungen stand dann, dem Wattenmeer zugewandt, ein rot-weiß gestreifter Leuchtturm! Und irgendwann spazierte sogar ein einsamer einzelner Mensch, der sich trotz des eisigen Wintersturms vorwitzig nach draußen gewagt hatte, vor ihren Augen die Straße entlang. Entsetzt sahen sich die beiden an und sprachen ernsthaft von Sibirien und Walachei.

Wir bezogen im Blanken Tälchen in einer speziell für Zollbeamte angelegten Siedlung, welche aus drei einzelnen Gebäuden zu je zwei Wohnungen bestand, eine relativ große Haushälfte. Das Schönste daran war der Keller, denn der war so riesig, dass ich nicht nur Hinkepott dort unten spielen konnte, sondern auch im Winter Rollschuh lief. Er bestand aus drei großen Räumen und einem noch größeren Flur. Im Kohlenkeller stapelten sich die Briketts und Eierkohlen für die Feuerung. Für mich war es jedes Mal ein Fest, wenn der Kohlenwagen kam. Die Briketts mussten ordentlich aufeinandergelegt werden und diese Arbeit beanspruchte meine gesamte Aufmerksamkeit und Energie für mehrere Tage. Dass ich dabei auch regelmäßig selbst wie der Kohlenmann aussah, konnte mich von meiner ehrenvollen Aufgabe nicht abhalten. In der Waschküche stand ein großer Wäschebottich. Meine Mutter wusch dort die Wäsche auf ihrem Waschbrett. Ich rubbelte auf einem Kleinen emsig mit und wurde auf diese Weise genauso nass wie die Wäsche. Meine Mama träumte dabei immer laut von einer vollautomatischen Waschmaschine, die es damals zwar schon gab, aber leider noch zu einem unerschwinglichen Preis.
Gebadet wurde ich allerdings oben in der Küche. Eine blecherne Wanne füllte sich bis zum Rand mit warmem Wasser, welches auf dem mit Holz und Kohle befeuerten Küchenherd erhitzt worden war. Dann kam Mutter mit Kernseife und irgendwie schaffte sie es immer, aus mir wieder ein halbwegs menschlich ausschauendes Wesen zu machen. Die Wohnung besaß neben dem Keller noch zwei Stockwerke und einen Dachboden, welchen wir im Sommer als Schlafstatt nutzten, wenn alle anderen Zimmer an Sommergäste vermietet waren. Anfangs schlief ich noch unten im sogenannten Esszimmer mit Oma. Sie starb als ich vier Jahre alt war, aber davon später. Das Wohnzimmer daneben durfte ich dann lediglich zu besonderen Anlässen betreten. Das war eigentlich auch nur an Weihnachten der Fall!

Im oberen Stockwerk befanden sich das Schlafzimmer der Eltern, das Zimmer meines zwölf Jahre älteren Bruders und das Bad nebst einer schneeweißen Badewanne. Natürlich musste der Ofen mit dem Wasserboiler darüber erst befeuert und angeheizt werden, bevor man die Wanne nutzen konnte und aus dem Wasserhahn kam zu dieser Zeit nur fließend kaltes Wasser.(Was allerdings damals bereits einen ungeahnten Luxus darstellte, da viele Leute zu Hause noch ein Plumpsklo auf dem Hof ihr Eigen nannten.) Die einzige Toilette im Haus erreichte man, wenn man die Treppe wieder ein Stück hinunterstieg. Den Dachboden bauten meine Eltern für die Sommerzeit aus. Dort schliefen wir, während unsere Sommergäste die anderen drei Zimmer nutzten. Interessant wurde es jedes Mal wenn sich jemand im Bad wusch. Die Tür zum Boden öffnete sich nämlich nur dorthin und ich musste immer mit meiner Mutter warten und ganz leise sein, bis der Gast das Bad wieder verlassen hatte. Selbstverständlich wussten die das nicht und meine Mutter kam immer ins Schwitzen, wenn sie mich morgens nach unten holen musste.

Vor dem Haus wuchsen Heckenrosen. Etwas anderes konnte auf dem Sandboden auch nur schwerlich gedeihen. Das übrige Grundstück war recht groß gewesen. Neben dem Haus hatten mir meine Eltern eine schöne von drei hohen Sandwällen umsäumte Sandkiste errichtet, in der ich aber fast nie spielte, weil es außerhalb des elterlichen Grundstücks ja viel aufregender zuging. Die Wallkrone wurde von Mama mit unzähligen Mittagsblumen bepflanzt. Die blühten dort allerdings auch prächtig. Mutter und die Nachbarin legten sich dann in mühevoller Kleinarbeit vor dem Haus einen kleinen Blumengarten an und jubelten jeden Morgen über die schönen Tulpen, die zu ziehen ihnen gelungen war. Ich fand die Blumen natürlich auch toll und pflückte sie dann sogleich ab. Die Nachbarin kam mit Tränen in den Augen zu uns herüber und ich konnte gar nicht fassen, warum meine Mama über den schönen Blumenstrauß, den ich ihr gerade geschenkt hatte, so traurig war. Ich durfte dann nur noch Blumen auf den vielen Wiesen rings umher pflücken.
Außerdem erzählte meine Mutter der Nachbarin von einem Trick: Ich wollte nicht immer alles essen und dann wurde mein Teller einfach für die Katze, die wir gar nicht hatten, in den Flur gestellt.
Ich durfte also nicht mehr essen und tat dann zu Mutters Freude stets genau das Gegenteil. So erklärte sie der Nachbarin, sie solle mir doch beim nächsten Mal das Blumen pflücken sogar noch explizit erlauben.

Etwas skeptisch willigte sie ein und just am nächsten Tag steckte sie freundlich den Kopf aus dem Fenster und meinte, ich dürfe mir ein paar Blumen für Mama abpflücken. Und das Wunder geschah: Prompt presste ich wütend die Lippen aufeinander und antwortete wie immer in so einem Augenblick voller Trotz: „Das macht doch keinen Spaß. Dann will ich nicht!"
Der Nachbarin blieb vor Verblüffung der Mund offen stehen, aber sie hatte ihre mühsam aufgezogenen Blumen gerettet.

Auf der anderen Straßenseite, unserem Haus direkt gegenüber, erhob sich eine große mächtige Dünenwand. Und auf der kleinen Anhöhe davor schaute lustig ein knallroter Hydrant aus dem Sand. Er würde uns Kindern später einmal als abendlicher Treffpunkt dienen und der Ausgangsort für unsere vielen Versteck- und Räuberspiele werden. Zwischen Millionen von Strandhaferhalmen führte eine Steintreppe nach oben auf die teilweise schon mit Häusern bebaute Düne. Auch hier stromerten wir herum, aber davon später! Von dort hatte man jedenfalls einen wunderschönen Ausblick auf den kleinen Hafen und den Oststrand, der zum Wattenmeer gehörte und bei Ebbe regelmäßig trocken fiel. Nachdem ich nun etwas älter geworden war und meine kleinen Piratenstreifzüge alleine vornehmen durfte, brachten wir Kinder immer im Februar unsere alten Weihnachtsbäume dort herauf. In meinem letzten Schuljahr als Inselkind 1966 sollte ich noch die Grundsteinlegung des Schulneubaus auf dem gegenüberliegenden Platz miterleben dürfen. Betreten habe ich die Schule auf der Düne nicht mehr. Mein Vater wurde vorher nach acht Jahren Inselleben wieder aufs Festland versetzt.

Aber nun zurück zu den Weihnachtsbäumen!
Am 21./22. Februar war es soweit. Die lodernden Flammen der Biike leuchteten am Petri Tag hell aufs stürmische und schäumende Meer hinaus. Für mich hatte dieser Tag auch aus anderen Gründen etwas Besonderes an sich, denn ich brauchte nicht wie sonst üblich, pünktlich um sieben Uhr ins Bett. Dass Petrus als Schutzheiliger der Fischer galt und mit der brennenden Biike einstmals die Walfänger verabschiedet wurden, ahnte ich damals natürlich noch nicht. Ich genoss meine Räubertage in vollen Zügen, welche auch durch den Straßenverkehr nicht sonderlich in Mitleidenschaft gezogen wurden. Es gab nämlich zu dieser Zeit auf Sylt noch keinen Nennenswerten. Und der einzige Dorfpolizist besaß, wie auch mein Vater, nur ein einfaches Dienstfahrrad. Mein herrliches freies und ungezwungenes Leben wurde dann in meinem vierten Lebensjahr plötzlich vom Tod meiner Oma überschattet und ich vermisste ihre nächtlichen Erzählungen über die Mäusefamilie, deren Vater in einer Mausefalle umgekommen war und Mutter Maus, die nun ganz allein für ihre fünf Mäusekinder sorgen musste, sehr. Mama war immer ziemlich sauer gewesen, weil ich Oma nicht schlafen ließ und stellte uns öfters die räumliche Trennung in Aussicht, sollte ich nicht sofort damit aufhören des Nachts weiter um die Fortsetzung der Geschichten zu betteln. Auch hatte es Oma geschafft, mich dazu zu bewegen beim Zahnarzt endlich den Mund aufzumachen, was aber nicht zu sehr ihr Verdienst gewesen war, sondern viel mehr auf der freundlichen Behandlung durch den älteren Dentisten beruhte.
Er ließ mich erst eine Weile auf dem Behandlungsstuhl rauf und runter fahren und im Gegenzug dafür wollte ich natürlich auch ihm den Spaß nicht verderben. Er durfte dann gerne auch die notwendigen Arbeiten in meinem Mund ausführen. Seine Praxis gehörte ebenfalls zu den wenigen Häusern hoch droben auf der Düne und die herrliche Aussicht auf das Wattenmeer ließ die Patienten ihre Zahnschmerzen sofort vergessen. Es gab für mich auf der Insel so viel zu entdecken und jeder Morgen brachte ein neues Abenteuer mit sich.

Am 4. April 1962 geschah allerdings etwas völlig Unerwartetes, das mein bisheriges unbekümmertes Leben ziemlich verändern sollte. Ich war bereits im Januar mit meiner Mutter in einem merkwürdigen Gebäude zu Besuch gewesen. Es handelte sich um eine alte Kaserne, wie ich später herausfand. Davor lag ein großer, zum Teil asphaltierter Platz und auch rundherum standen noch einige alte ungenutzte Bundeswehrgebäude. Wir betraten dieses Bauwerk und stiegen eine Treppe hinauf. Über mir hing eine alte Schiffsglocke aus hell schimmernder Bronze. An den Wänden konnte man bunte Bilder betrachten, die wohl von Kindern gemalt worden waren. Staunend sah ich meine Mutter an, als ich an ihrer Hand ein Zimmer betrat, in dem ein älterer Mann an seinem Schreibtisch saß. Ich stand plötzlich vor einem zweiten Mann, der einen weißen Kittel trug. Er stellte sich als Schularzt vor und lachte mir freundlich zu. Dann ließ er mich erst einmal einige Kniebeugen machen. Danach sollte ich mit den Augen seinem Finger folgen. Er legte mir eine Metallscheibe auf die Brust, die mit einem Schlauch verbunden war, der am Ende zweigeteilt in seinen Ohren steckte. „Alles in Ordnung“, sagte er lächelnd. Ich durfte mich wieder anziehen.
Der Mann am Schreibtisch gab mir einen Würfel in die Hand und sagte, ich solle so viele Streichhölzer vor ihn auf den Tisch legen, wie ich Augen auf dem Würfel erkennen würde. Etwas empört über dieses Kleinkindgehabe schüttelte ich meinen Kopf, meinte: „Fünf“ und er erwiderte meiner Mutter zugewandt: „Eingeschult!“ Überrascht hörte ich meine Mutter: „Gott sei Dank“ sagen. Ich hatte schon sehr früh bemerkt, dass es meine Mama sehr gerne mochte, wenn ich ‚brav‘ war und tat, was von mir verlangt wurde. In diesen Augenblicken konnte ich sie um den Finger wickeln und wieder ein neues Auto oder ein buntes Pixibuch für mich herausschlagen. Mein glorreicher Zahnarztbesuch hatte mir einen sehr schönen gelben Kipplaster mit blauer Ladefläche eingebracht.

Doch dieses Mal brauchte ich mich merkwürdigerweise nicht einmal anzustrengen. Wir fuhren schon am nächsten Tag mit der Inselbahn, die hinter unserem Haus immer auf einer besonderen Drehscheibe für die Rückfahrt herumgedreht wurde nach Westerland.
Ich liebte diese Fahrten sehr! Gleich neben dem großen Kaufhaus, in dem meine Eltern ihre Einkäufe tätigten, gab es noch einen etwas kleineren Laden, der aus einer riesigen Fensterfront bestand, die vollgestopft war mit Spielsachen aller Art. Die Ermahnung ‚Lauf nicht weg‘ entbehrte hier jeglicher Logik, denn ich spielte mich in Gedanken durch jedes Teil, während Mutter und Vater ihren Einkäufen nachgingen. Und plötzlich erfüllten sich meine schönsten Träume.
Wir betraten das Geschäft, welches so herrlich nach Buntstiften und Büchern roch. Ehe ich mich versah, hatte ich einen kleinen braunen Schulranzen in der Hand und dann drückte mir Papa noch leicht spöttisch lächelnd eine große bunte Tüte aus festem Pappmaterial unter den Arm. Ich war zwar etwas verwirrt, nahm dann aber freudig meine neuen Schätze entgegen.
An besagtem 4. April 1962, also ganze vierzehn Tage vor meinem sechsten Geburtstag, trug ich den Ranzen auf dem Rücken und die große Tüte, die nun mit Süßigkeiten und Buntstiften gefüllt, fast genauso schwer geworden war, wie ich, stolz auf dem Arm.
Man hatte die Hörnumer Kirche nicht vollständig im Dorf gelassen. Die kleine rote Holzkapelle stand etwas außerhalb des Ortes, von Heidefeldern umgeben, inmitten einer bizarren Dünenlandschaft.
Als vierzehnjähriger Junge spielte mein großer Bruder dort vor der Tür Trompete und konnte damit am Sonntagmorgen nahezu alle Einwohner in das gemütliche Gotteshaus locken.

Und ich saß nun mit vielen anderen Kindern, die ich noch nie gesehen hatte, in der ersten Reihe. Die Orgel spielte eine schöne Melodie und unsere Eltern sangen ein Lied dazu. Ein Mann in einem schwarzen Umhang erzählte uns etwas über Jesus, den ich allerdings schon von meinen abendlichen Gebeten mit Mama kannte. Es war ein schöner Morgen und mir war bewusst, dass irgendetwas Besonderes geschehen würde. Nach dem Gottesdienst spazierten wir dann mit den Eltern die Hauptstraße entlang zu dem merkwürdigen Gebäude. Doch dieses Mal wurden wir erst einzeln und dann in der Gruppe an der großen Treppe fotografiert, bevor wir sie hinaufsteigen durften. Oben stand eine Dame, die sich als unsere zukünftige Klassenlehrerin vorstellte. Beim Vorübergehen sah ich aus dem Augenwinkel, wie die bronzene Schiffsglocke hell im Sonnenlicht leuchtete und konnte schauernd eine starke magische Anziehungskraft spüren, welche mir dann in den nächsten Schuljahren auch ziemlich viel Ärger einbringen sollte.

Nun war ich also eingeschult worden. Aber es gab da ein kleines Problem. Ich hatte leider als Mädchen das Licht der Welt erblickt, wünschte mir jedoch, seitdem ich denken konnte, nichts Sehnlicheres, als ein Junge sein zu dürfen. Im Alter von drei Jahren bat ich meine Mutter, sie möge in Zukunft „Peter“ zu mir sagen. Ich wäre ab sofort ein kleiner Junge. Sie spielte das „Spiel“ sogar eine ganze Weile mit. Nach einiger Zeit konnte ich auch Hosen für mich durchsetzen und besaß unzählige Plastikautos, Kräne, Bagger und Schiffe. Mein älterer Bruder fuhr schon zur See, so dass ich auch noch ein Spielzeuggewehr und ein Segelflugzeug nebst Werkzeugkasten von ihm „geerbt“ hatte. Nur meine beiden verhassten Zöpfe konnte ich nicht loswerden. Aber auch da hatte der liebe Gott wohl ein Einsehen und nachdem ich ein halbes Jahr in Hamburg im Krankenhaus liegen musste, durfte ich mir zur Entlassung etwas wünschen. Ich überlegte nicht lange und sagte spontan: „Einen Besuch bei Tante Margit!“ So hieß Mutters beste Freundin und gleichzeitig die Dorffriseuse.

Stolz spazierte ich mit meinem Bubikopf aus dem Salon, währenddessen meine Mutter schluchzend die langen Zöpfe in der Hand trug. Ich war endlich ein Junge geworden und benahm mich in der Schule natürlich auch entsprechend. Zum allmorgendlichen Ritual gehörte deshalb zunächst einmal eine Prügelei mit meinem Banknachbarn. Wir hatten noch ganz alte Schulbänke mit einem Pult und einer integrierten Sitzbank. Wer innen saß, so wie ich, war auf das Wohlwollen des Sitznachbarn angewiesen, wollte er seinen Platz verlassen. Unser Streit bekam damit täglich, ja fast stündlich neue Nahrung und ein Ende war, solange wir uns besagte Bank teilten, nicht in Sicht. Die Klassenlehrerin fand solches natürlich überhaupt nicht witzig und so verbrachte ich etliche Schulstunden in der Ecke.

Neun Klassen umfasste die Volksschule Hörnum/ Sylt. Und es gab dafür nur drei! Lehrer. Da ich später das Gymnasium besuchen konnte, müssen wir trotzdem etwas gelernt haben.
(Sollte vielleicht mal in Lehrerkollegien angesprochen werden, wenn es darum geht, eine Klasse bei Erkrankung der Lehrerin komplett nach Hause zu schicken.) Für uns wäre das damals undenkbar gewesen. Und natürlich wurde auch unsere Klassenlehrerin einmal krank. Ich war im ersten Schuljahr und hatte gerade wieder mein „Junge sein" bewiesen, als plötzlich die Tür zum Klassenzimmer aufging. Leider hielt ich sie just in dem Moment von innen zu, so dass der Direktor auf etwas Widerstand stieß und eine Sekunde danach bereits leicht verärgert im Raum stand. Eine weitere Sekunde später spürte ich einen brennenden Schmerz auf meiner linken Wange. Soweit die Erziehung 1962! Der Schulleiter brauchte mir nicht mehr den Weg zu meinem Platz zu weisen. Ich fand ihn mit schuldbewusst gesenktem Kopf auch von selbst. Natürlich erzählte er uns von der Erkrankung unserer Lehrerin. Dann ging es allerdings auch gleich zur Sache. Für das dritte Schuljahr wurden die Arbeitsaufgaben genauso schnell verteilt, wie für das Zweite. Uns sah er freundlich an und meinte, wir sollten ihm ein Bild malen. Die Schönsten würden später draußen auf dem Flur aufgehängt werden. Eines wäre allerdings sicher, sollten wir auch nur einen einzigen Ton von uns geben und Krach machen, dann wäre er sofort bei uns. Ansonsten würde er es sich vielleicht überlegen und wir dürften ausnahmsweise! mal eine Stunde früher nach Hause gehen. Es kam natürlich wie es kommen musste! Nicht nur Kumpel Wilfried und ich gerieten wie immer aneinander, auch einige „Kollegen“ fingen eine wüste Prügelei an. Plötzlich hörten wir eine laute Stimme. „Ich bin gleich da und dann Gnade euch Gott!“ Darauf wollten wir es selbstverständlich nicht ankommen lassen und von dieser Minute an war Ruhe in der Klasse.

Gelernt habe ich dadurch Selbstdisziplin und vor Allem auch eigenverantwortliches Arbeiten, welches mir im späteren Leben sehr zugute kam.
Natürlich erzählte ich zu Hause meiner Mutter nichts von der Ohrfeige, die ich vom Schulleiter erhalten hatte. Ich hätte ihr ja wahrheitsgemäß erklären müssen, dass ich ihm die Tür vor der Nase zugehalten hatte. Meine Mutter war Linkshänderin und hätte mir wegen dieser Frechheit mit Sicherheit sofort noch eine geknallt, aber diesmal natürlich auf die andere Seite. Bei Eltern und Lehrern bestand grundsätzlich uneingeschränkte Einigkeit, was unsere Erziehung zu anständigen und rechtschaffenden Menschen betraf. Ungezogenes Verhalten gehörte natürlich nicht dazu.

Die Schulglocke, welche nur Erwachsene bedienen durften, leuchtete tagtäglich hellglänzend in der Sonne. Pünktlich zu Beginn und zum Ende des Unterrichts wurde dieses wundervolle Kleinod vom Hausmeister oder meist auch einem Lehrer betätigt. Für uns Kinder hing sie unerreichbar hoch. Allerdings hinderte dieser Umstand uns "Jungen" nicht daran, immer wieder empor zu springen, um sie doch irgendwann einmal berühren zu können und ihr einen Ton zu entlocken. Das war sozusagen Teil unseres selbst ausgedachten Schulsports! Mit heller Begeisterung nahm ich daran teil, was mir später, als tägliche Trainingseinheit betrachtet, vielleicht auch zu meiner relativ guten Hochsprungnote im Sportunterricht verhalf. Vollkonzentriert schnellten meine kleinen strammen Beine in die Höhe und das Wunder geschah. Ich berührte die Schiffsglocke und wurde mit einem für meine Ohren wundervollen hellen Klang belohnt. Mein Blick fiel auf die Kameraden, welche in respektvoller Entfernung dem Treiben vor ihren Augen zu schauten und triumphierend nahm ich ihre Anerkennung entgegen. Dann sah ich zur Seite und oben auf der Treppe stand: Frau Kepinsky, unsere Klassenlehrerin. Sie fackelte nicht lange. Strafarbeit: 'Hundert mal schreiben:
Ich darf nicht bimmeln!'

Ich fühlte mich entsetzlich. Es ging mir dabei gar nicht um die Schreiberei, denn die schaffte ich mit links. Das Problem war meine Mutter. Wie es sich gehörte, machte ich am Nachmittag in ihrem Beisein die Hausaufgaben und obwohl sie mir nicht zu helfen brauchte, warf sie doch immer wieder mal einen Blick auf mein Heft. Sie hätte eine Strafarbeit solchen Ausmaßes sicher sofort entdeckt. War mir das peinlich! Trotzdem ich ja als Junge leben wollte, schien hier wohl leider die weibliche Sozialisation etwas durchzublicken. Ich löste mein vermeintliches Problem, in dem ich auf einem anderen Weg nach Hause ging, mich in die nächst beste Sandmulde setzte und mitten in den Dünen schnell meine Strafarbeit schrieb. Konzentriert sah ich auf mein Heft und bemerkte dabei natürlich den großen „grünen“ Mann, der plötzlich hinter mir stand, nicht. „Na, was machst du denn da?“, fragte mich eine tiefe Stimme und ich zuckte zusammen. Dann erblickten meine angstvoll geweiteten Augen ein Ungetüm in schwarzen Stiefeln, einem grünen weiten Umhang und einer ebenso grünen Mütze auf dem Kopf. Der Riese war kein anderer als mein Vater. Als Zollbeamter trug er im Dienst eben einen grünen Umhang, schwarze Stiefel und was sonst noch zu einer Uniform gehörte. Gottseidank war ich fast fertig und stand schnell auf, damit er meine Strafarbeit nicht mehr lesen konnte. Zusammen spazierten wir nach Hause. Das „bimmeln“ probierte ich nach diesem Erlebnis nie wieder.

Die 60er Jahre hatten es in sich. Nicht nur, dass ich nun also am 04. April 1962, vierzehn Tage vor meinem sechsten Geburtstag, mit einer voll beladenen bunten Schultüte im Arm und einem braunen Schulranzen auf dem Rücken mit dem Ernst des Lebens konfrontiert worden war. Im Februar desselben Jahres brachen dann infolge einer schweren Sturmflut an der Nordseeküste viele Deiche.
Vor Allem in Hamburg starben in einer einzigen Nacht Hunderte von Menschen. Umso schöner wurde es aber ein Jahr später, im Februar 1963. Eine besondere Wetterlage hatte das Unmögliche möglich gemacht. Die Nordsee war zugefroren! Sylt war und ist ja bis heute eine Insel im Schleswig-Holsteinischen Wattenmeer und normalerweise nur, wenn man nicht per Sportflugzeug oder Ausflugsdampfer anreist, über den Hindenburgdamm mit dem Autoreisezug erreichbar.(Von der dänischen Insel Röm kann man auch mit der Fähre nach List übersetzen.)
In Niebüll wurden und werden die Autos verladen und in Westerland, der Hauptstadt, fährt man wieder von der Rampe herunter. Die Bahn macht jedes Jahr das Geschäft ihres Lebens mit den Sommergästen und weigert sich verständlicherweise vehement, dem Bau einer Autostraße zuzustimmen. Im Februar 1963 geschah etwas, mit dem niemand gerechnet hatte und das in die Geschichte einging. Der Wasserstand im Wattenmeer war extrem niedrig gewesen und ein osteuropäisches Hoch bescherte uns fast neun Wochen lang Dauerfrost. Auf der ruhigen See hatte sich eine ca. 1,50 m dicke Eisschicht gebildet, welche überall fest auf dem Wattenboden auflag. Kurzerhand riefen die Sylter die sogenannte Eis-Avus ins Leben. Nördlich des Hindenburgdamms suchten sich die Autofahrer eine Schneise bis ans Meer und fuhren über dieses zum Festland hinüber.
Ich tobte wie alle anderen Kinder aus dem Dorf nach der Schule im Schnee und sauste mit meinem Schlitten die Dünen hinunter. Eines Tages hörte ich, wie meine Eltern von der neuen Straße durchs Watt sprachen.
Am Wochenende wollten wir sie ausprobieren. Wir waren inzwischen stolze Besitzer eines hellgrünen VW Käfers geworden und nachdem sich meine Eltern genau über die An-und Abfahrtwege sowie natürlich die Gefahren erkundigt hatten, fuhren wir los.
Die Eis-Avus war tatsächlich von der Straßenbehörde für den Autoverkehr freigegeben worden. Mit großen Augen sah ich aus dem Autofenster als mein Vater meinte: „So, nun sind wir auf dem Wasser.“

Meine Mutter schaute ihn allerdings etwas ängstlich an. So ganz geheuer war ihr das Ganze wohl doch nicht.
Aber sie freute sich auf den Einkaufsnachmittag in Bredstedt. Es war wirklich ein merkwürdiges Gefühl. Erst fuhren wir noch über Matsch und dann wurde der Untergrund plötzlich grau-weiß. Schnee lag überall, der Himmel über uns zeigte sich grau und auch mir wurde etwas unheimlich zu Mute, als ich am Horizont kein Land mehr sehen konnte. Unterwegs begegnete uns dann ein Reisezug. Er fuhr auf seinen Schienen rechts neben uns und mein Vater lachte. Ich feuerte ihn an. Er solle den Zug überholen. Einen Augenblick lang tat er mir den Gefallen und trat etwas aufs Gaspedal, dann schüttelte er doch den Kopf. Auch wenn das Eis hielt und große Lastwagen an uns vorbeifuhren, wollte er nicht allzu viel riskieren. Es wurde ein schöner Nachmittag. In Bredstedt kaufte meine Mutter begeistert ein und hinterher tranken wir noch Kakao in einem kleinen Gasthaus. Danach machten wir uns auf den Heimweg.
Unterwegs geschah ein mittelprächtiges Unglück. Ich hatte wohl zu viel heiße Schokolade getrunken und mitten auf dem Eis drang meine klägliche Stimme zu meiner Mutter nach vorne. „Mama, ich muss mal!“ Ich hörte Vaters entsetzte Stimme und bekam schon Angst, dass er auf der Eisstraße nicht stoppen wolle: „Nein, das auch noch!“ Dann hielt er aber doch an. Es war gottlob schon etwas dunkel geworden. Mir war die Situation nämlich sehr peinlich, denn es gab weder Baum noch Strauch, hinter denen ich mich hätte verstecken können. Zu Hause lachten meine Eltern noch lange über den denkwürdigen Tag. Sie waren nicht nur über die zugefrorene Nordsee gefahren, sondern hatten dank mir dort auch noch, mitten auf dem Wasser, anhalten müssen. Ich fand die Fahrt trotzdem großartig und wäre am liebsten gleich wieder los gefahren. Aber daraus wurde nichts mehr, denn das Tauwetter hatte eingesetzt.


Und es geht weiter mit Geschichten aus der Hörnumer Volksschule!



Direkt vor unserem Haus stand, wie bereits erwähnt, eine hohe mächtige Düne. Diese mussten wir überwinden wenn wir zur Schule wollten. Der Weg führte im Anschluss daran durch die Budersandstraße und danach war noch eine zweite Düne zu bewältigen. Dann hatten wir es geschafft. Ich schätze, so circa 2 Km gehörten zu unserem täglichen Schulweg. Dass es keinen Schulbus gab und auch nur wenige Eltern über ein Auto verfügten, versteht sich zur damaligen Zeit (1962-1966) von selbst. Wir mussten also, ob Neunt- oder Erstklässler, bei Wind und Wetter zusehen, wie wir unsere Schule erreichten. In den ersten drei Jahren war Frau Kepinsky, selbst Mutter dreier Kinder, für ihre Schutzbefohlenen, sprich uns, zuständig. Wir lernten als erstes die meisten Kinderlieder aus dem Schleswig-Holstein Liederbuch auswendig und begannen dann jeden! Unterrichtsmorgen zunächst mit einem neuen Lied. Natürlich stand man dazu auf und auch, wenn die Lehrerin den Klassenraum betrat, erhob man sich. „Guten Morgen, Kinder!“ „Guten Morgen, Frau Kepinsky!“, hieß daraufhin die korrekte Antwort. Danach wurde gesungen und erst wenn: „Setzt euch!“, gesagt wurde, durften wir unsere Plätze einnehmen.

Hatten wir in der ersten Stunde Rechnen, konnte dieses erlösende Wort für den einen oder anderen allerdings in weite Ferne rücken. Denn vom zweiten Schuljahr an war Kopfrechnen angesagt. Wehe dem, der das kleine Einmaleins nicht sicher beherrschte und sich bei den Kettenaufgaben auch noch aus dem Konzept bringen ließ! Keiner wollte gerne als letzter stehen bleiben. In den ersten Wochen als ABC-Schützen durften wir noch eine Schiefertafel benutzen. Dann mussten wir allerdings recht schnell auf Hefte umsteigen und lernten, das Alphabet mittels eines Füllhalters in Schönschrift dort hineinzuschreiben. Schönschrift gehörte fortan genauso zum Unterricht, wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Tintenkiller waren übrigens noch nicht erfunden worden. Man musste dementsprechend sorgfältig arbeiten, sonst gab es Kleckse! Auch Eselsohren warfen kein gutes Licht auf die kleinen Schüler und manch einer bekam selbst welche, wenn Mutter oder Vater strafend daran zogen.

Während des Unterrichts gab es dann auch nur eine einzige Person für uns: Frau Kepinsky! Und die setzte sich durch. Ohne Schläge, aber mit enormer Autorität. Wir hatten Respekt vor unseren Lehrern, die für uns die verlängerten Arme unserer Eltern darstellten. Ich konnte gut lernen und hatte keine großen Schwierigkeiten dem Unterricht zu folgen. Allerdings gehörte ich zu der Sorte Kinder, die kaum eine Minute still sitzen konnte und geriet deshalb mit meinen Mitschülern ständig in Streit. Meistens war ich mit den Aufgaben schnell fertig und langweilte mich sogleich. Im Kopf meines Zeugnisses stand dann auch regelmäßig der entsprechende Text. Wir hatten eine sehr gute Lehrerin, die sich aber gewaltig Gehör verschaffte und nicht nur, ohne mit der Wimper zu zucken Strafarbeiten verteilte (darüber erzählte ich bereits), sondern die betreffenden Übeltäter obendrein kurzerhand in die nächste Ecke komplementierte. Ich kann nicht mehr sagen, wie viele Schulstunden ich dort verbracht habe, aber es waren wohl Unzählige!

Nach dem Biikebrennen (das war das Abbrennen der Tannenbäume am 22. Februar auf der Düne über dem Hafen, auf der dann ab 1966 die neue Schule errichtet wurde) feierten die Eltern den Petritag. Wir durften am Abend im Gemeindehaus auftreten und einstudierte Gedichte sowie auch Märchenspiele aufführen. Ich war einer der sieben Zwerge und Beate, die leider viel zu früh aufgrund eines Unfalls verstorbene Tochter von Frau Kepinsky, spielte das Schneewittchen. Wenn sich das Schuljahr dem Ende neigte, feierten wir auch unser Kinderfest. Schiffchen ziehen, Ballwerfen und Ringstechen gehörten zu den Wettbewerben in den ersten drei Klassen.
Im vierten Jahr wechselte dann die komplette „Mannschaft“ das Klassenzimmer und auch den Lehrer. Es handelte sich in meinem Fall um Herr Pahl, der sich nun für die Stufen vier bis sechs verantwortlich fühlte. Hinsichtlich des geforderten Gehorsams und der Arbeitsdisziplin änderte sich natürlich: Nichts!
Wir begannen bei ihm die Alte Deutsche Schrift zu erlernen und es wurde Friesischunterricht erteilt. Zu den ersten Aufgaben des frischgebackenen vierten Schuljahres gehörte auch, das Landeswappen zu zeichnen und im Anschluss daran als Mosaik mit bunten Steinchen zusammenzubasteln. Lange konnte ich die vierte Klasse nicht mehr besuchen, denn zu Beginn des Jahres 1966 wurde mein Vater nach Flensburg versetzt. Dort kam ich im April zum Gymnasium. Die letzten drei Klassenstufen unserer Volksschule, an die ich gerne zurückdenke, wurden vom Rektor, Herrn Ehlfeldt, betreut. Über sein Auftreten bei uns berichtete ich bereits. Er war ebenso absolute Respektsperson wie die anderen beiden Lehrer, der Dorfpastor und der Dorfpolizist. Hilfe von den Eltern, wenn wir mal etwas „verbrochen“ hatten, bekamen wir keine. Im Gegenteil: Die Strafe von dort ließ meistens auch nicht lang auf sich warten. Disziplin, Sauberkeit, Ordnung und Gehorsam hießen die Zauberworte unserer Erziehung. Ich kann im nach hinein allerdings nicht sagen, dass mir irgend etwas davon geschadet hat.

Nach der Schule freuten wir uns natürlich auf unsere Freizeit. Gerade in den Herbst- und Wintermonaten waren die Insulaner wieder unter sich.
Es gab nur ganz wenige Autos, so dass sich für die Kinder doch viele Möglichkeiten auftaten, frei und ungezwungen, ohne auf den Straßenverkehr achten zu müssen, an allen Stellen im Dorf zu spielen. Im Sommer befand sich der schönste Treffpunkt ganz oben auf der Düne. Dort standen schon einige Häuser und jede Hausfrau versuchte hartnäckig, dem Sandboden ein paar Blumen und ein wenig Gemüse abzuringen. In einem dieser liebevoll betreuten Gärten befand sich ein Hochbeet, in welchem sich im Juni Erdbeeren anschickten, das Glück der Dame des Hauses zu vervollkommnen. Und jedes Jahr zur Reifezeit schlichen wir uns vorsichtig an. Natürlich wussten die Erdbeereneigentümer, dass nicht nur Vögel ihre zarten roten Früchte liebten, sondern nahezu sämtliche Dorfkinder es als Nationalsport ansahen, sich einer solch köstlichen Frucht zu bemächtigen. Es gelang mir leider nie, denn ich war der Kleinste und das Herz schlug mir schon, während wir auf der Lauer lagen immer bis zum Hals.
Auch am Strand tobten wir herum. In erster Linie war es der Oststrand, welcher sich quasi hinterm Elternhaus im Blanken Tälchen befand. Nur die Schienen der Inselbahn trennten uns vom Wattenmeer. Dieser beim Drehen und Rangieren in die Quere zu kommen, war strengstens verboten, was uns natürlich nicht daran hinderte, während der Fahrt unbemerkt auf und ab zuspringen. Wir müssen alle sehr eifrige Schutzengel gehabt haben. Jedenfalls passierte uns Inselkindern eigentlich nie etwas. Das Baden im Wattenmeer und am entfernteren Weststrand barg aufgrund gefährlicher Strömungen enorme Gefahren.

Im Sommer hatte man das Fahrgastschiff Hilliegenlei auflaufen lassen, um während der Ebbe Reparaturen daran auszuführen. Als das Boot dann am Abend mit der Flut wieder frei gekommen war, hatte sich ein tiefes Loch an der Stelle gebildet. Wir liefen am Strand entlang und fielen in dieses Loch hinein. Hätte ich meinen Schwimmring nicht unterm Arm gehabt und noch rechtzeitig greifen können, wäre die Angelegenheit ziemlich schlecht für mich ausgegangen. Ich konnte, wie die meisten anderen Inselkinder damals, mit acht Jahren nämlich noch nicht schwimmen. Meine Mutter verbot mir natürlich deshalb auch zum Hafen zu laufen. Gehalten habe ich mich, wie zu vermuten ist, nicht immer daran. Umso eindrucksvoller war dann die Erfahrung als Zuschauer dort erleben zu müssen, wie Rettungskräfte einen ertrunkenen Mann aus dem Wasser zogen. Auf diese Weise bildete sich bei mir ein ganz natürlicher Respekt vor dem Meer. Am Weststrand starben in den anderen Orten jedes Jahr immer wieder Urlauber, die von tückischen Unterwasserströmungen fortgerissen wurden. Manchmal wurde ich von meiner Mutter aber auch beauftragt, zu den Fischkuttern am Hafen zu gehen um dort Schollen zu kaufen. Es sollten nicht zu viele sein und vor allem nicht ganz so dicke. Der Preis war auch festgelegt: Er betrug damals 1 Deutsche Mark!

So viel kostete ebenfalls die Zigarettenschachtel, welche ich für meine Eltern häufig von unserem Nachbarn, dem Kneipenwirt des rostigen Ankers und Vaters von Kumpel und Klassenkamerad Heinzi, holen sollte. Es gab dort eine Sorte Schokolade, die ebenfalls 1 DM kostete und somit für mich natürlich unerschwinglich war. Vater gab mir eine alte leere Zigarrenschachtel und ich begann zu sparen. Von Sommergästen erhielt ich dann einmal 50 Pfennige und konnte mich in diesem Moment zu den wohlhabenden Kindern zählen. Irgendwann hatte ich die 2 und 5 Pfennige, die ich fürs Einkaufen von meiner Mutter erhielt, solange aufgespart, bis ich mitsamt der Zigarrenkiste bei Heinzis Vater vor dem Tresen stand, ihm den Inhalt darauf auskippte und meine Schokolade bekam. Im Dünengras zitterten meine kleinen Finger als ich sie öffnete und mir ein Stückchen davon abbrach und im Munde zergehen ließ. Man muss dazu sagen, dass es damals für 2 Pfennige beim Kiosk mit dem treffenden Namen Lolli eine große Tüte Pfefferminzbonbons gab. Die Lakritze einer deutschen Süßwarenfirma war in Zellophantütchen eingepackt und kostete zunächst 10 Pfennige, um danach stetig über 15 Pfennige auf 25 Pfennige zu steigen. Irgendwann lag mal ein kleiner bunter Teddybär darin. Natürlich wollte ich nur noch diese Tütchen haben und erfuhr erst viel später als Erwachsener, dass ich wohl auf diese Weise die Geburtsstunde der Gummibärchen live miterlebt hatte.

Im Winter konnte man mit dem Schlitten die „Todesbahn bei Krambeck“ hinunter sausen. Diese begann oben auf der Düne gleich hinter den „Erdbeeren“ und erwies sich tatsächlich als eine äußerst anspruchsvolle Abfahrt. Wer nicht rechtzeitig bremste, fuhr unserem Schuster (seine Tochter ging auch in meine Klasse), direkt in die gute Stube. (Daher der Name!) Kollege Heinzi zog mir öfter mal den Schlitten weg, so dass ich besagte Todesbahn auf dem Hosenboden bewältigten musste und dann, unten angekommen, einige Meter neben mir meinen Schlitten wieder aufsammeln durfte.
Vor unserem Haus befand sich ein Garagenplatz und gleich dahinter wuchs ein kleines Wäldchen, welches aus Krüppelkiefern bestand. Auch hier spielten wir gerne. Genau wie der alte Bunker unterhalb des Leuchtturms zu unseren bevorzugten Spielplätzen gehörte. Ich sammelte Strandholz, fand tote Tümmler an den Bunen und Bernsteine im Muscheltal, baute mir Schiffe und Burgen in den Sand. In Westerland gab es einen großen Spielplatz, auf dem ich „geparkt“ wurde, wenn meine Eltern Besorgungen machten. Vor einigen Jahren war ich mal wieder auf „meiner“ Insel, aber Schaukel und Wippe, sowie der Verkehrspark, in dem ich einmal bei einem älteren Jungen im Tretauto mitfahren durfte (und mir danach sehnlichst einen nie erhaltenen Gokart wünschte), waren wohl dem Bau neuer Hochhäuser zum Opfer gefallen. Die Sturmflut 1962 habe ich zitternd im Wohnzimmer mit den Eltern erlebt und als alles vorbei war, sahen wir uns die Bescherung am Weststrand an. Dort waren die Lokale schlichtweg von der Düne gefallen und Geschirr lag überall verstreut herum.

Eines der neu erbauten Kersig Häuser stand dann eines Nachts in lodernden Flammen. Ich sah vom Bodenfenster aus den hellen Feuerschein und hörte die Sirene heulen. Die Siedlung hatte man mit Reet gedeckt, welches natürlich sofort lichterloh brannte. Eine Klassenkameradin, Sylvia, lebt in diesen Häusern. Zusammen mit meiner Mutter besuchte ich unseren Papa während seiner Dienststunden am Strand. Dann liefen wir um die Südspitze, ruhten uns in alten Bunkern aus, tranken Kaffee und mein Vater passte auf, dass keine Schmuggler an Land kommen konnten. Einmal fuhren wir mit meinem luftbereiften Roller auf den neu angelegten Holzwegen und meine Mutter versuchte verzweifelt zu bremsen. Es misslang und wir landeten beide im Sand. Mutter hatte danach arge Probleme mit ihrem Steißbein. Für meine Eltern stellten ansonsten nur die Zollfeste eine Abwechslung dar. Das Leben muss damals für großstadtgewohnte Erwachsene in der einsamen Abgeschiedenheit der Insel nicht einfach gewesen sein. Mein zwölf Jahre älterer Bruder, der die Hörnumer Bürger am Sonntagmorgen mit seiner Trompete zur Kirche bat, machte seinen Abschluss bei Herrn Ehlfeldt, um danach eine seemännische Ausbildung zu beginnen. Fast hätte er seinen Zug nach Hamburg noch verpasst, aber Vater gewann mit unserem alten VW doch noch das Wettrennen. Ich lebte von dem Tag an allein mit den Eltern, aber ich war ja auf der Insel aufgewachsen und kannte nichts anderes. Von daher begann jeden Morgen ein neues Abenteuer.
Es war eine wirklich schöne Zeit, die ich nicht missen möchte, auch wenn wir auf viele für heutige Verhältnisse selbstverständliche Annehmlichkeiten wie fließend warmes Wasser und Zentralheizung, Fernsehen etc. noch verzichten mussten. Einen Fernseher (natürlich nur in schwarz-weiß) bekamen wir erst, als ich gerade meinen siebenten Geburtstag gefeiert hatte. Ich erinnere mich noch genau: Vater schaltete an einem merkwürdigen Kasten herum und ich sollte ihm Gutenacht sagen. Plötzlich liefen drei kleine Teddys über das Bild und sangen. Wie sich später herausstellte, handelte es sich um das Sandmännchen, das ich nun immer abends sehen durfte, sofern ich brav gewesen war. Ich sah es leider nicht immer. Auch ein großes schwarzes Diensttelefon, welches aber auf keinen Fall zu privaten Zwecken genutzt werden durfte, hatte man in unserer Wohnstube installiert. Ich musste lernen im Notfall den Hörer abzunehmen und sollte dann einen Text aufsagen, bis Mutter oder Vater eintrafen. Für Handy und Computergewohnte Kinder ist dies heute sicher gar nicht mehr vorstellbar.
Die Zeiten haben sich geändert und der technische Fortschritt beeinflusst nun auch das Leben der Kinder in einem Ausmaße, das ich manchmal, gemessen an unseren Möglichkeiten, als erschreckend empfinde. Es gab keine strahlenden Handys, die uns um den Hals gehängt wurden und wir kamen auch rechtzeitig, spätestens wenn wir Hunger hatten, müde und abgekämpft vom Toben und Spielen an der frischen Luft nach Hause. Übergewicht und Schlafstörungen kannte ich nicht. Gespielt haben wir mit den natürlichen Werkstoffen, die wir vorfanden: Sand, Treibholz, Wasser, Muscheln und heimische Pflanzen.




Impressum

Tag der Veröffentlichung: 07.02.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Bei uns hieß es noch: "Volksschule" und es ging dort etwas anders zu als heute.

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