Heiligabend—Weihnacht daheim und im Wandel der Zeit
Heiligabend, für mich war die Weihnachtszeit immer etwas ganz Besonderes!
Als Kind lebte ich auf Sylt und über die Wintermonate lag die Insel wie ausgestorben in der Nordsee. Wir zogen 1958 dorthin und blieben acht Jahre lang Insulaner. Ich war erst 1956 geboren worden. Von daher habe ich auch meine frühesten Erinnerungen an diese Zeit.
Mein Vater verdiente als Zöllner noch nicht viel, aber in Deutschland hatte bereits das Wirtschaftswunder Einzug gehalten. So konnten auch wir uns mit Ohrensesselchen, einer Waschmaschine und später sogar einem Auto eines bescheidenen Wohlstands erfreuen. Meine Eltern gehörten zu den Jahrgängen 1924 und 1927 und die Entbehrungen der Kriegszeit steckten ihnen tief in den Knochen.
Mutter war sehr erfinderisch gewesen, wenn es darum ging, uns Kindern eine Freude zu bereiten. Der Heilige Abend bezeichnete stets den Tag, an dem uns das Christkind besuchte, und ich erwachte bereits morgens voller Aufregung und Vorfreude.
Es gab immer dasselbe zu essen, nämlich Würstchen mit Kartoffelsalat, Selbstgemachtem natürlich, denn etwas anderes gab es auch nicht zu kaufen.
Dann wurde das Geschirr abgeräumt und die Zeit bis zur Bescherung kam mir wie eine kleine Ewigkeit vor.
Mein Bruder war zwölf Jahre älter als ich und fuhr seit seinem fünfzehnten Lebensjahr zur See. Er konnte das Fest nicht immer mit uns feiern und über Mutter legte sich dann stets eine melancholische Traurigkeit. Auch meine Oma war in meinem vierten Lebensjahr bereits gestorben, so begingen Vater, Mutter und ich das Fest der Liebe meistens allein.
Als es nun soweit war, dass das Christkind erscheinen sollte, musste ich mit meiner Mutter im Esszimmer warten.
Die gute Stube durfte ich normalerweise nicht betreten.
Sie war nur Besuchern und eben den hohen Festen vorbehalten. Das Ritual am Weihnachtsabend war immer gleich. Ich wartete fiebernd auf das Klingelzeichen. Wenn das Christkind nämlich nach Ablage aller Geschenke wieder ging, schellte es einmal an der Türe.
Als ich das Geräusch unserer Türklingel hörte, durfte ich aufstehen. Ehrfurchtsvoll und staunend betraten Mama und ich das Wohnzimmer, in dessen rechter Ecke stets der Weihnachtsbaum im Lichterglanz erstrahlte. Natürlich gab es noch keine elektrischen Kerzen und mein Vater behielt den Baum während die Wachskerzen brannten immer im Auge.
Ein großer bunter Pappteller mit Süßigkeiten erregte sofort meine Aufmerksamkeit. Die warmen Puschen, Turnhosen und Pullover nahm ich als notwendiges Übel hin. Aber da lagen auch Legosteine, natürlich nur einfache, denn die fertigen Kästen gab es damals ja noch nicht. Ich hatte mir immer eine Eisenbahn gewünscht und das Christkind brachte mir dann eine Bahn aus Holz.
Eine Rechenmaschine mit einer Tafel und vielen bunten Holzkugeln stand ebenso unter dem Tannenbaum. An Weihnachten 1964 hatten sich meine Eltern und meine andere Oma aber wohl nicht vorher abgesprochen.
Jedenfalls bekam ich zwei Puppen, die ich Heike und Rosi nannte. Sie liegen heute noch in einer Kiste verpackt im Keller. Ich wünschte mir ja als Kind nichts sehnlicher als ein kleiner Junge zu sein und so spielte ich kaum damit. Einen großen Kaufmannsladen konnte ich dann auch mein eigen nennen. Natürlich musste ich, bevor es an die Geschenke ging, erst einmal ein Gedicht aufsagen. „Denkt euch, ich habe das Christkind gesehen…“ und auch der Knecht Ruprecht gehörten wie selbstverständlich zu meinem Repertoire.
Die Jahre vergingen und irgendwann war ich selbst Mutter geworden. Meine Eltern konnten zu uns ziehen und den Heiligen Abend verbrachten wir stets zusammen. Mein Mann kochte sein traditionelles Weihnachtsessen, Hasenbraten und Landkohl sowie Ente oder Gans für meinen Vater, der dem Hasen nicht soviel abgewinnen konnte. Dann aßen wir zu fünft in der Wohnstube am runden Tisch zu Abend. Bei uns gehörte das Wohnzimmer bereits zum alltäglichen Gebrauch. Der Tannenbaum war zwar schon geschmückt, wurde aber erst—mit elektrischen Kerzen—beleuchtet, wenn die Bescherung begann.
Unser Sohn kam als Vierjähriger in Adoptionspflege zu uns. Ich erinnere mich noch gut an das erste Weihnachten mit ihm. Mein Mann arbeitete in einem Kaufhaus und davor stand zur Weihnachtszeit ein Weihnachtsmann. Unser kleiner Sohn wünschte sich nichts sehnlicher als einen Bauernhof und zupfte den Mann im roten Mantel und dem weißen Rauschebart immer wieder am Ärmel. „Bringst du mir auch einen Bauernhof?“, fragte er.
Natürlich stand ein wunderschöner Bauernhof mit Trecker und vielen Tieren unter dem Christbaum. Das Ritual, in Küche oder Kellerbar warten bis die Klingel läutete und dann während Weihnachtslieder vom Plattenspieler oder Band abliefen den Baum zu bestaunen, behielten wir bei. Auch war es dann unser Sohn, der das Gedicht aufsagen musste und später sogar mit der Blockflöte auch ein paar Liedchen spielen konnte. Es gab aber einen großen Unterschied zu den Weihnachtsabenden, wie ich sie aus meiner Kinderzeit kannte.
Damals wartete ich mit meiner Mutter auf das Christkind und Vater drückte auf die Klingel, wenn dieses wieder gegangen war. Als ich nun selbst eine Familie hatte, warteten mein Sohn, mein Mann und meine Eltern auf das Klingelzeichen. Ich war es gewesen, die, damals ja noch als Frau und Mutter, das Weihnachtszimmer vorbereitete.
Und wieder vergingen viele Jahre. Die fünf Menschen am Tisch wurden älter und weniger. Unser Leben veränderte sich dramatisch.
Bereits 1994, zwei Jahre nach meinem ersten Gespräch mit der Psychologin und meinem transsexuellen Coming Out, hatte sich unter dem Einfluss der Hormone mein Aussehen gewandelt. Die Gesichtsausdrücke meines Mannes auf den Weihnachtsbildern von damals sprechen denn auch Bände.
Weihnachten begann sich mit uns zu verändern.
Vier Jahre später fehlte meine Mutter auf den Fotos, die sich auch verändert hatten. Erst waren sie klein und schwarz-weiß, nun inzwischen konnte mein Fotoapparat farbige Bilder machen.
Aber sie gehörten in eine Rollbildkamera und mussten noch entwickelt werden. Meine Mutter starb im Frühjahr 1998 an Krebs. Ich war am Nikolaustag des vorigen Jahres, also 1997, von meinem Mann geschieden worden und lebte bereits in einer eigenen kleinen Wohnung in Husum.
Zu den Festen und weil ja auch mein Vater bei uns wohnte, behielten wir den Kontakt und feierten die gemeinsamen Feste noch zusammen. Jedoch übernachtete ich nicht mehr bei meinem Mann und meinem Sohn in unserer Wohnung unten, sondern schlief oben bei meinem Vater im Gästezimmer.
Im September 2002 war unser kleiner Dackel, der auf den Namen Purzel hörte, plötzlich eingegangen. Für Vater brach die nächste Welt zusammen und ich hatte meinen sonst doch so starken meinungsfesten Mann noch nie so weinen sehen, wie in dem furchtbaren Augenblick, als wir den armen kleinen Kerl begraben mussten.
Purzel hatte einst den Tannenbaum umgerissen und saß fröhlich schmatzend inmitten der bunten Kugeln. Von den Süßigkeiten, die ich für meinen Sohn zum Plündern hineingehängt hatte, war nichts mehr übrig geblieben.
Trotzdem konnte sich unser Dackelmischling stets vor der allgemeinen Bescherung über ein Würstchen freuen. Apropos, die Würstchen am Heiligabend zu meiner Kinderzeit hatten wir auf den Mittag verschoben, weil wir ja abends dann bereits warm aßen. Nun war also auch unser Hund nicht mehr da.
Es sollte noch schlimmer kommen. Im nächsten Jahr sollten wir vier, Vater, Marcus, Thorsten und ich, das letzte Mal zusammen Weihnachten feiern. Thorsten hatte eine nette Freundin gefunden, die er mir aber vorenthielt, weil ich seine Ex wäre und er mein nunmehr männliches Äußeres der Frau nicht zumuten konnte. Ich war etwas geknickt und hätte sie gerne kennengelernt, aber immerhin sollten ja unsere Feste so bleiben, wie sie waren.
Im nächsten Jahr aber, 2004, fuhr er nach Pellworm und Vater, Marcus und ich feierten bei Vater oben allein. Vater wollte keinen Weihnachtsbaum mehr kaufen, denn er besaß einen Künstlichen und da er ja immer bei uns unten gewesen war, erübrigte sich diese Anschaffung und Arbeit für den alten Mann.
Er starb im September 2005 ganz plötzlich an Krebs.
Am Heiligen Abend desselben Jahres blieb unser Haus dunkel. Thorsten fuhr wie das Jahr zuvor zu seiner Freundin und Marcus und ich verbrachten die Festtage an der Elbe zusammen mit meinem Bruder und meiner Schwägerin, sowie ihrer Mutter, Schwester und Nichte mit Ehemännern. Die große Familie half Marcus und mir etwas über den Kummer hinweg, doch als ich draußen am Deich spazieren ging, füllten sich meine Augen mit Tränen.
Weihnachten hatte sich verändert.
Im folgenden Jahr feierte Marcus bei seiner Freundin und ihren drei Kindern. Ich war bereits drei Tage vor dem Fest nach Flensburg gefahren und hatte meine Geschenke dort abgegeben. Wieder verbrachte ich das Fest bei meinem Bruder. 2007 dann dasselbe, mit dem Unterschied, dass meine Freundin am Heiligen Abend zu mir kam und ich wieder kochte. Die Kinder hatte ich bereits beschenkt und auch mein Mann rief nach dem Fest noch einmal an. Auch 2008 fuhr ich an die Elbe, denn meine Freundin hatte inzwischen auch ihre Mutter verloren und wollte die Festtage bei ihrem Vater und den Geschwistern verbringen.
Letztes Jahr nun saß ich am Weihnachtsabend plötzlich allein zu Haus. Eine Nachbarin war mir während des Schneetreibens mit ihrem Wagen ins Auto gerutscht und ich bekam in so kurzer Zeit auch nicht mehr die rechte Zugverbindung Richtung Kreis Lüchow-Dannenberg. Aber wir hatten inzwischen die Internettelefonie und so konnte ich mit meinem Bruder visuell telefonieren. Meine Freundin rief mich aus der Wiesbadener Gegend an und bestellte auch Grüße ihrer Familie unbekannterweise.
In diesem Jahr (2010) starb ganz plötzlich die Freundin meines Mannes. Er selbst ist aufgrund einer Krebserkrankung sehr schwer gehandicapt und unser Sohn schafft es aus vielerlei Gründen nicht, die Beziehung zu seinem Vater in ordentlicher Weise aufrecht zu erhalten.
Thorsten wird dieses Weihnachten allein in unserem großen Haus verbringen. Ich gab meinem Sohn bereits die Geschenke, als er mich besuchte, denn aufgrund der Witterung lasse ich das Auto stehen und fahre in der nächsten Woche mit dem Zug zu meinem Bruder.
Wir werden sicher versuchen, zu telefonieren. Aber mein Mann ist sehr krank und ich weiß nicht, ob wir wenigstens das im nächsten Jahr noch können werden.
Für mich hat Weihnachten nicht mehr die Bedeutung wie damals, als ich mit fiebernden Bäckchen auf Mutters Schoß saß und auf das Klingeln des Christkindes wartete.
Auch die schönen gemeinsamen Weihnachtsabende im Dorf mit Kirchbesuch und dem Hasenbraten, den mein Schwager als Jäger immer einige Tage vorher ins Haus brachte, sind vorbei.
Weihnachten wandelt sich mit Alter und Zeit.
In meinem Herzen denke ich zurück an die schönen Jahre mit meinen Eltern, die an diesem Tag, und das ist auch ein Novum, ihren Hochzeitstag feierten. Heute kann man am Heiligen Abend nicht mehr heiraten.
Ich versuche mich der wahren Bedeutung des Weihnachtsfestes zu besinnen, der Geburt unseres Herrn.
Und irgendwie gibt mir diese Erkenntnis Trost. Denn auch wenn sich in den Familien vieles am Fest der Liebe ändert und wir alle dem Wandel der Zeit unterliegen, feiern wir doch jedes Jahr aufs Neue den Tag, an dem Jesus in unsere Welt kam und allen Menschen mit seiner Botschaft den Frieden brachte.
Texte: alle Rechte beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 18.12.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
meiner Familie gewidmet