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Peter Lassen sieht auf die Uhr. Gleich Sieben! Die Flut kommt. Hier an der Küste leben die Menschen wie selbstverständlich mit den Gezeiten. Er schließt die Tür zu und geht nachdenklich zur Garage.
Markus‘ Bewährung wurde widerrufen! Warum, wusste er auch nicht so genau. Peter hat sein Rad aus der Garage geholt. Sein Sohn macht ihm Kummer. Markus ist bereits dreißig Jahre alt und hat noch nichts Vernünftiges zu Wege gebracht. Immer wieder Geldstrafen, jetzt sogar Gefängnis. Er ist unfähig, ein sozialverträgliches Leben zu führen, ganz besonders dann, wenn er getrunken hat. Der junge Mann kann leider weder eine Ausbildung noch einen Arbeitsplatz dauerhaft halten.

Peter hat nach einigen Minuten sein Ziel erreicht.
Der Weg führte ihn wie immer an saftigen Kuhweiden entlang. Hier im Koog wachsen keine Bäume mehr. Das Land ist flach und nur wenige an das rauhe Klima angepasste Pflanzen können gedeihen. Er stellt sein Rad an den Zaun und öffnet die kleine Eisentür, die sich sofort wieder selbsttätig schließt, damit die Schafe nicht entweichen können. Dann steigt er die Treppe zum Deich hinauf. Die Bank auf der Deichkrone ist frei und der Blick über die Bucht nach Süderhafen entschädigt ihn kurzzeitig für alle Sorgen. Vor ihm naht langsam die Flut und verschlingt das offene Vorland mit den Lahnungen. Links hinter ihm erhellen die Lichter der grauen Stadt am Meer den Himmel. Peter Lassen schaut wieder auf das wellenschlagende blaue Meer vor ihm. In Schobüll, ein paar hundert Meter weiter endet der Deich, auf dem er gerade sitzt. Ein kleines Stück der Schleswig-Holsteinischen Nordseeküste bleibt ungeschützt. Hier ragt der Geestrücken bis ans Meer, um dann in die Salzwiesen überzugehen. Peter denkt wieder an seinen Sohn und an seinen Mann Thorsten.

Peter und Thorsten hatten 1980 geheiratet. Ganz normal und legal als Mann und Frau. Peter im weißen Kleid und Thorsten im schwarzen Anzug. Sechzig Personen waren sie zur Hochzeit. Sie wurden in der dorfeigenen Kapelle getraut. Dreizehn Jahre lebten sie als Ehepaar in Thorstens Heimatdorf.
Er war hier als Bauernsohn geboren worden und Peter wuchs erst auf Sylt auf und verbrachte dann seine Schulzeit in Flensburg.
Als sie keine Kinder bekamen, meldeten sie sich als künftige Adoptiveltern beim Kreis. Im Juli 1983 kam der heißersehnte Anruf einer Dame vom Jugendamt. Ein kleiner vierjähriger Junge lebte zurzeit in einem Kinderkurheim. Das Amt suchte nun neue Eltern für ihn. Anfang August holten sie Markus zu sich. Am Strand legte die Erzieherin Markus kleine Hand in die Peters und der blonde Junge wurde sein Sohn.

Viele Jahre waren seitdem vergangen. Markus musste mehrfach an den Mandeln und an den Ohren operiert werden. Thorsten kam fast zeitgleich mit einem Bandscheibenvorfall ins Krankenhaus. Peters Mutter erkrankte zusätzlich an Krebs und Peter war mit seinen Kräften am Ende. Auch er wurde im Herbst 1992 in eine Klinik eingewiesen.
Dort sprach er das erste Mal in seinem Leben mit einem Arzt über seine "komischen Gefühle", die ihn seit frühester Kindheit verfolgten.

Er wurde als Mädchen geboren und musste sich dann in eine Geschlechtsrolle fügen, die nicht seiner Psyche entsprach. Im Alter von drei Jahren verlangte er von seiner Mutter, sie möge ihn künftig nur noch "Peter" nennen. Er wäre von nun an ein kleiner Junge. Die Mutter spielte das "Spiel" eine Zeitlang mit.
Aber dann wurde er doch wieder in hübsche bunte Kleider gesteckt und musste lange Zöpfe tragen.
Am Gymnasium flüchtete er sich in seiner reinen Mädchenklasse in einen Tagtraum. Er hätte einen Busunfall und die Ärzte würden männliche Organe in seinem Bauch finden, sodass sie ihn zum Jungen umoperieren müssten. Die einsetzende Pubertät wurde dann zu einem einzigen Albtraum. Er bekam schmerzhafte monatliche Blutungen, denen auch mit Medikamenten nicht beizukommen war und sah mit Entsetzen, wie sich eine kleine weibliche Brust auf seinem Körper bildete. Warum er sich von diesem Tag an selbst hasste, wusste er nicht. Er konnte auch mit niemand darüber reden.
Die Eltern waren gut zu ihm und liebten ihn, aber sie erzählten auch viel von ihrer eigenen Jugend im Nationalsozialismus. Damals hatten Wünsche, wie Peter sie erlebte, verheerende Folgen für die Betroffenen.

Die Ärztin, der er sich in einer Ostseeklinik anvertraute, erkannte die Problematik sofort. Sie besorgte ihm die Anschrift einer auf Transsexualität spezialisierten Psychotherapeutin und Peter nahm bereits im November erste Gespräche dort auf.
Dann kam der furchtbare Moment, als er Thorsten von den Inhalten der Therapiegespräche erzählte. Thorsten war außer sich. Er stand wortlos vom Tisch auf und meinte dann nur, wenn Peter in Zukunft als Mann leben wolle, müssten sie sich trennen. Einen solchen Skandal in seiner Familie und in seinem Dorf würde er nicht mittragen.

Peter wollte nur reden und einfache Lösungen für sein Problem suchen. Er dachte an Crossdressing. Damit ist das Tragen der Kleidung des anderen Geschlechts gemeint. Das tat er ohnehin bereits, denn er fühlte sich in Hemd und Hosen am wohlsten. Die schmerzhaften Blutungen wären mit weiblichen Hormonen unterdrückt worden und zusätzlich hätte er gering dosierte männliche Hormone erhalten. Ein männlich klingender Spitzname hätte das Ganze abgerundet und seiner Seele geholfen, sich zu stabilisieren. Aber Thorsten ging auf keinen Vorschlag ein. Peter war so verzweifelt, dass er sich das Leben nehmen wollte.

In einer nahegelegenen psychosomatischen Klinik durfte er sich nicht in die Gruppengespräche einbringen. Der Arzt meinte, die Mitpatienten würden eine solche bizarre Geschichte nicht verstehen und Transsexuelle wären Menschen aus der Halbwelt und dazu wolle Peter als Beamtin doch sicher nicht gehören. Irgendwann hielt er die Isolation nicht mehr aus und erzählte den anderen während eines abendlichen Beisammenseins seine Geschichte. Die Reaktion war überwältigend. Man nahm ihn spontan in die Arme. Er konnte sich erst einmal minutenlang ausweinen. Die Mitpatienten hatten bereits von Transsexualität gehört und gingen ganz normal damit um. Peter setzte dann einen Besuch in einer Hamburger Selbsthilfegruppe durch. Er erzählte dem Arzt, was dieser hören wollte und wurde als geheilt entlassen.
Er sollte mit Thorsten an einer Familientherapie teilnehmen. Doch als der Therapeut seine besonderen Fähigkeiten auf dem Gebiet der Transsexualität betonte, schüttelte Thorsten verärgert den Kopf.
Die Therapie, die als Hilfe für Thorsten und vor allem für Markus gedacht war, war beendet, bevor sie beginnen konnte. Peters Therapeutin hatte die Gefahr, in der er schwebte, erkannt. Sie meinte lakonisch, sie würde zu ihren suizidgefährdeten Patienten immer sagen: "Lassen Sie uns doch erst einmal reden, umbringen können Sie sich dann ja immer noch."
Die Worte kamen so selbstverständlich, dass Peter lachen musste und im nächsten Momemt unter Tränen von seinem nun dreizehnjährigen Sohn erzählte, der ihn doch noch brauchte. Das war natürlich von ihr auch beabsichtigt.

Thorstens Haltung aber blieb steif und starr. Er wollte weder über das Problem reden, noch gemeinsam mit Peter und Markus überlegen, wie sie in Zukunft ihr Leben gestalten könnten. Und Markus sollte auch von all dem „Blödsinn“ nichts mitbekommen. Für Peter wurde der seelische Druck so groß, dass die Hormonbehandlung beginnen musste.
Als Nebenwirkung stellte sich bald ein leichter Stimmbruch ein. Aber er fühlte sich so glücklich, wie schon lange nicht mehr und konnte auch endlich wieder arbeiten. Thorsten stellte ihn vor ein Ultimatum. Entweder die Hormone oder die Familie.
Peters Eltern wohnten bereits seit einigen Jahren im Dachgeschoss ihres Zweifamilienhauses. Sie waren entsetzt, wollten zwar nur das Beste für alle, aber ihre Gedanken, dass Peter mit einer solchen Störung sicher bei Hitler vergast worden wäre, halfen ihm nicht weiter. Seine Schuldgefühle wuchsen ins Unermessliche. Thorsten begleitete ihn noch einmal zu seiner Therapeutin und schimpfte auf Peters Frauenärztin, die ihm, ohne den Ehemann zu fragen, männliche Hormone verschrieben hatte. Die Gespräche verliefen im Sand. Dann erhielten sie noch einen Termin bei einem Spezialisten an der Uniklinik. Dieser schrieb Peter erneut die Einweisung in die Nervenklinik aus. Traurig ließ er sich von seinem Mann dorthin fahren.
Er hatte stets befürchtet, mit seinen Wünschen irgendwann für immer in der Psychiatrie zu landen. Als man ihm dort erklärte, in der offenen Abteilung wäre kein Bett mehr frei und die Aufnahme könnte nur in die Geschlossene erfolgen, meldete sich endlich Peters Selbstachtung zurück. Er erhielt starke Beruhigungsstabletten und bekam von der Heimfahrt nichts mehr mit. Thorsten glaubte, eine solche Pille würde seine Frau wieder vernünftig werden lassen. Zuhause zog Peter nach seinem Outing am Arbeitsplatz in die Ferienwohnung einer Kollegin. Er wurde krank vor Heimweh und bat seine Eltern, ihn wieder nach Hause zu holen. Irgendetwas geschah dann in seinem Kopf.

Er fühlte sich plötzlich von einer Stimme geleitet, die ihm die nächsten Schritte erklärte.
In der Landeshauptstadt suchte er sich eine möblierte Wohnung, bat seinen Arbeitgeber um die Versetzung und begann seinen Alltagstest. Er lebte ohne operiert zu sein und ohne männliche Ausweispapiere ein ganzes Jahr lang in männlicher Rolle. Es klappte alles großartig. In einem Sportstudio konnte er seinen Muskelaufbau trainieren und als junger Mann nahm er am öffentlichen Leben teil.
Peter fühlte sich zunächst wie ein sechzehnjähriger Junge und erlebte seine gesamte Pubertät noch einmal neu. Nur diesmal in der richtigen Rolle. Seine Krankenversicherung hatte ihm zwischenzeitlich gekündigt und Peter war verzweifelt. Er musste seine ganze Kraft einsetzen und bat Vorgesetzte um Hilfe.
Nachdem ein Rechtsanwalt eingeschaltet worden war, nahm ihn die private Versicherung wieder auf. Nach einem Jahr der Begutachtung durch zwei unabhängig voneinander praktizierende Ärzte wurde die Diagnose der Psychotherapeutin bestätigt. Peter war tatsächlich genuin Frau zu Mann transsexuell. Wie die Störung entsteht, ist auch heute noch nicht bekannt. Hormonstörungen der Mutter während der Embryonalzeit und pschychosoziale Ursachen im frühkindlichen Bereich werden von Fachleuten diskutiert. Den Betroffenen hilft das wenig.

Peter musste wieder kämpfen, denn die Versicherung wollte die Operationskosten nicht übernehmen. Die Hormonbehandlung war bereits durchgeführt worden und die Eierstöcke müssen nach entsprechender Zeit wegen der Krebsgefahr entfernt werden. Der einzige Operateur, welcher zu der damaligen Zeit den schwierigen Eingriff mit Penisaufbau und Harnröhrenverlängerung erfolgreich durchführte, lebte und operierte in der Schweiz. Nach einigem Schriftverkehr erklärte sich die KV bereit, wenigstens einen Teil der Kosten zu übernehmen.

Peter fuhr nach Lausanne. Als der Arzt nach der Operation meinte: "Nun wollen wir mal den kleinen Jungen auspacken", sah er an sich herunter und wieder hinauf. Freudentränen liefen über sein Gesicht. Es war wie bei der Deutschen Einheit. Etwas was zusammen gehörte war nun endlich zusammen gewachsen. Körper und Seele hatten sich vereint.
Zuhause kam dann der nächste Schock. Die Versicherung
wollte nun plötzlich trotz vorheriger schriftlicher Zusage doch nicht zahlen und verlangte eine Abgeltungsklausel. Peter sollte erklären, dass er künftig keine weiteren Ansprüche an die KV mehr stellen würde, die in irgendeinem Zusammenhang mit der geschlechtsangleichenden Behandlung stünden. Das schließt Korrekturoperationen, wann immer sie nötig würden genauso ein, wie die Hormonbehandlung, die lebenslang erfolgen muss. Inzwischen war ein BGH Urteil ergangen, sodass Peter Glück im Unglück hatte und seine Anwältin die Angelegenheit für ihn zu einem positiven Ende bringen konnte.

Das Schlimmste stand ihm noch bevor. Zwischen Peter und Thorsten hatte sich eine Mauer aufgebaut. Für Thorsten blieb er bis heute seine Geschiedene oder wie er oft verächtlich bemerkte: seine Ex. Er würde Peter niemals als Mann anerkennen. Markus hatte inzwischen gemerkt, dass etwas Furchtbares in seiner Familie geschehen war. Aber Thorsten wollte nicht, dass Peter mit dem Jungen sprach. Peter sollte sich aus der Erziehung heraushalten und sich auch im Dorf nicht mehr zeigen.
Thorsten schämte sich für Peter. Er meinte, er würde von den Dorfbewohnern gemobbt werden, was Peter selbst allerdings nicht so empfand.
Die Auseinandersetzungen der Eheleute waren Gift für Markus, der zeitweilig drohte, straffällig zu werden. Thorsten schaltete das Jugendamt ein, weigerte sich aber auch die von dort angeratene Familientherapie mit Peter und Markus durchzuführen. Er wäre ja nicht verrückt und Markus auch nicht.

Als der Junge achtzehn Jahre alt geworden war, wurde die Ehe geschieden. Sie fuhren vom Scheidungsrichter direkt mit frischen Brötchen in Peters neue kleine Wohnung am Deich, um dort gemeinsam zu frühstücken. Es war wie in alten Zeiten. Peter konnte sich nicht von Thorsten lösen und dieser nicht von Peter.
Doch das Jahr 1997 war für Peter ein Schicksalsjahr geworden. Sein Arbeitgeber hatte ihn vorzeitig pensioniert, was natürlich finanzielle Nachteile mit sich brachte. Peter schämte sich anfangs auch, seinen Arbeitsplatz verloren zu haben, war aber dann doch froh über die Pensionierung. Seine Mutter erkrankte erneut an Krebs und starb drei Monate später. So konnte er wenigstens die letzten Tage mit ihr verbringen. Peter kümmerte sich um seinen Vater und vermied es, Thorsten zu nahe zu kommen. Das war natürlich nicht leicht, denn der Vater wollte seine Wohnung und den Familienhund nach dem Tode seiner Frau nicht verlassen. Peter half Thorsten, der nach längerer Arbeitslosigkeit wieder einen Arbeitsplatz gefunden hatte im Haushalt, konnte aber Auseinandersetzungen, die bei Thorsten häufig tief unter die Gürtellinie gingen, nicht immer verhindern.

Vor allem fühlte er sich an Markus Schicksal schuldig. Der Junge kam mit seinem Vater, der sich trotz allem redlich um ihn bemühte gar nicht mehr zurecht, brach sämtliche Berufsausbildungen ab, kam mit dem Gesetz in Konflikt und lief immer wieder von zuhause weg. Auch heute ist sein Leben noch ziemlich chaotisch. Peter hilft seinem Sohn, wo er helfen kann. Das Verhältnis zwischen den Beiden ist unverändert gut.
Peters Vater und auch der kleine Hund starben vor einigen Jahren, während Peter sich ein neues Leben in der Kreisstadt aufbaute. Thorsten ist nun lebensgefährlich an Krebs erkrankt und telefoniert zuweilen mit ihm. Meistens schimpft er dann auf Markus, der sein Leben nicht im Griff hat und keine Arbeit halten kann. Für den mitfühlenden Peter bleibt Thorsten der Mensch, den einmal geheiratet hat. Er kann sich inzwischen dank der langen Therapie bei seiner Ärztin vor Verletzungen schützen. Dennoch fällt es ihm schwer, sich vor anderen Menschen zu outen und seine Geschichte zu erzählen.
Vor allem für seinen Sohn hätte er sich eine konstruktivere Bewältigung der häuslichen Schwierigkeiten und des Umgangs mit seiner transsexuellen Problematik gewünscht.

Er sieht auf die glatte friedliche See hinaus. Vor ein paar Tagen hat er noch in Süderhafen gebadet. Dann schaut er mit einem letzten Blick über das Meer hinüber zum Leuchtfeuer nach Nordstrand. Ein leichter Nebel legt sich über das flache ruche Land. Bald ist der Sommer vorbei und die Einheimischen werden wieder unter sich sein. Bei Pharisäer und Tote Tante mit Rum wird man den Herbststürmen trotzen und dann wird er wieder hier oben auf dem Deich stehen und dem Blanken Hans entgegen sehen.

Impressum

Texte: Alle Rechte liegen beim Autor.
Tag der Veröffentlichung: 01.11.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Thorsten und Markus (Namen geändert)

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