Gegenwart
„Noch ein Stück vorfahren, bitte! In Ordnung. Jetzt den Motor abstellen, die Handbremse anziehen und Fenster und Türen schließen. Nehmen Sie bitte alles aus dem Auto, was Sie im Abteil benötigen.“ Der junge Bahnarbeiter nickt Christina freundlich zu.
Hab ich es doch geschafft. Ich kann stolz sein. Es ist gar nicht so einfach, hier in Altona auf die Rampe zu fahren. Jetzt nur nichts vergessen!, denkt die junge Frau und beginnt eifrig einige Sachen einzupacken.
Christina Andreotti nimmt ihre Tasche in die Hand und vergewissert sich, dass die Fenster ihres kleinen Wagens verschlossen sind. Dann drückt sie auf die Fernbedienung und schließt auch die Türen. Der junge Mann hat ihr zwei Bremsklötze hinter die Vorderreifen gelegt und ist schon weiter gegangen, um den nachfolgenden Fahrer einzuweisen. Um 20:40 Uhr wird sich der Autoreisezug pünktlich in Bewegung setzen und morgen Abend ist sie endlich zu Hause in Palermo.
„Hallo Mama, ich sitze im Zug. Es geht gleich los. Ja, es hat gut geklappt mit dem Auto. Ich will noch etwas am Laptop arbeiten und dann bald schlafen. Grüß Raphaelo und Papa. Tschau, Mama.“ Sie legt ihr Handy in die Handtasche zurück und packt ihren Reisecomputer aus. Es war eine schöne Zeit hier in Hamburg.
Ich habe mir meinen Jugendtraum erfüllt. Jetzt bin ich endlich Ärztin!,lächelt die dunkelhaarige schöne Italienerin in sich hinein. Langsam setzt sich der Zug in Bewegung. Christina schreibt und unterbricht ihre Arbeit nur kurz, um sich gegen 23:00 Uhr auf die Nacht vorzubereiten. Sie verschließt ihr Abteil und zieht die Sitze vor, so dass sie auch bequem schlafen kann. Einen Augenblick später ist sie in tiefen Schlaf gefallen. Sie träumt.
Traum
Marielena legt ihr Englischbuch zur Seite. Die Hausaufgaben hat sie nun alle gemacht und ihre Eltern kommen erst heute Abend nach Hause. Sie hat Langeweile und während sie ihre blonden halblangen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammenbindet, überlegt das kleine neunjährige Mädchen, wie es den Nachmittag verbringen will. Sie könnte eigentlich wieder zu dem verlassenen Haus gehen. Es ist halbverfallen und der Garten verwildert. Richtig unheimlich ist es dort, aber Marielena hat keine Angst. Gleich hinter ihrem Elternhaus führt ein kleiner schmaler Pfad in den Wald. Marielena liebt die Spaziergänge durch das Dickicht, obwohl sie weiß, dass es ihre Mutter verboten hat. Nach einigen Metern führt der Weg wieder auf eine enge Straße. An dessen Ende steht das alte einsame, verlassene Hexenhaus. Sie streicht ihr pinkfarbenes T-Shirt mit den unzähligen bunten glitzernden Perlen auf der Vorderseite glatt und wandert langsam zur Gartenpforte. Sie ist schon oft durch ein kaputtes Kellerfenster in das Haus eingedrungen. Marielena denkt sich gerne spannende Geschichten aus. Sie träumt sich in ihre Figuren hinein und schreibt dann alles auf. Ihre zarten Hände öffnen geschickt die Gartenpforte und mit einem raschen Blick vergewissert sie sich, dass sie niemand gesehen hat. Dann verschwindet sie auf dem Waldweg. Ihre Schritte führen sie direkt zum alten Haus. In der Einfahrt steht ein Auto. Es ist ein altes klappriges rotes Gefährt, mit einer Beule am rechten Kotflügel.
Das Glas des Abblendlichtes ist geborsten.
Marielena versteckt sich tiefer im Wäldchen und kriecht durch das Unterholz. Dann hat sie das Haus erreicht und schleicht sich zum Kellerfenster. Ganz langsam klettert das Mädchen in den Keller hinein. Vorsichtig tastet sie sich zur Tür, um dann Stufe für Stufe leise die Treppe hinauf zu steigen.
Von drinnen sind Männerstimmen zu hören. Durch die geöffnete Küchentür sieht sie zwei Männer auf Küchenstühlen sitzen. Sie tragen verwaschene Jeans und Hemden. Der eine scheint schon sehr alt zu sein und der Jüngere blutet an der rechten Hand.
Der alte Mann hat einen Autoverbandskasten vor sich auf dem Küchentisch liegen und verbindet ihn.
„Wir müssen vorsichtig sein, der Unfall war nicht geplant. Aber wieso musste die alte Kuh auch ihren Wagen so blöd parken!", presst der junge Mann hervor. „Hauptsache, es ist nichts weiter passiert und uns hat niemand gesehen. Der Ältere begutachtet zufrieden sein Werk. Dann zieht er sich lederne Handschuhe an und gibt auch dem Jüngeren das Paar, welches auf dem Tisch lag. Er geht zum Waschbecken, greift einen alten Lappen und wischt sorgfältig alle Spuren fort.
„Wann kommt Georgio heute Nacht?", fragt der Jüngere. „Ich weiß nicht, Raphaelo meinte, er wird so gegen Mitternacht hier sein. Wir werden unseren Anteil im Garten vergraben. Lass uns nun warten, bis es dunkel ist. Aber erst muss die alte Karre verschwinden. Ich öffne gleich das Tor und du fährst sie hinten auf den Hof in den Schuppen, ja!"
Die Stimme des Alten hat einen befehlenden Ton angenommen und duldet keinen Widerspruch. „OK, du bist der Boss! He, Clemenzo, was machst du mit deinem Anteil?" Der schlanke dunkelhaarige Mann in der abgewetzten Jeans und dem schmutzigen gelben Hemd sieht den Angesprochenen aufmerksam an.
„Äh, ich fahre wieder nach Sizilien und lebe bei meinem Sohn. Er hat eine Autowerkstatt und er kennt die Regeln. Ich werde ihn mit dem Geld unterstützen. Er fragt nicht, woher die Kohle kommt. Und du, wolltest du nicht auch wieder nach Hause? Du bist doch Jugoslawe?"
„Ich bin Kroate. Wir wohnten in der Kraijna, nahe der serbischen Grenze. Meine Eltern sind mit mir nach Deutschland geflüchtet, als der Krieg dort ausbrach. Wir hatten Verwandte hier. Ich kenne dort nicht mehr soviel, aber du hast recht. Ich werde auch verschwinden. Mit dem Geld kann man in meiner Heimat gut leben!" Der Mann lacht heiser.
Dann verlassen sie die Küche und gehen nach draußen. Auch Marielena schleicht auf Zehenspitzen wieder in den Keller zurück. Sie klettert aus dem Fenster und versteckt sich im Gebüsch. Die beiden Männer kommen aus dem Schuppen, den sie sorgfältig verschließen. Mit Reisig verwischen sie alle Spuren auf dem Sandboden.
„Es gibt heute Nacht Regen", meint Clemenzo. „Dann sieht man nicht mehr, dass wir hier waren." „Und das Haus gehört deinem Freund?" „Ja, er hat es von seiner Tante geerbt, aber er kann nichts damit anfangen. Er lebt auf Sizilien, deshalb verfällt es. Luca sucht einen Käufer."
Clemenzo blickt sich plötzlich um. Er sieht angestrengt in Marielenas Richtung. Einen Moment lang scheint es, als suchten seine Augen die Gegend ab. „Hauptsache, wir können unseren Anteil hier solange lagern, bis Gras über die Sache gewachsen ist." Der Jüngere grinst. Clemenzo zeigt auf den Garten. „Komm, lass uns einen guten Platz für unsere Altersversorgung finden. Da drüben werden wir es vergraben. Hol eine Schaufel aus dem Keller, Drako. Wir können schon ein Loch buddeln und bedecken es erst einmal mit Laub." Der Angesprochene kehrt einen Augenblick später mit einem Spaten zurück.
Marielena hat alles ganz genau beobachtet.
Ihr war das Herz stehen geblieben, als Clemenzo zu dem Brombeerbusch sah, hinter den sie sich gekauert hatte. Erleichtert schleicht sie sich davon.
Gegenwart
Was ist los? Christina öffnet die Augen und setzt sich abrupt auf. Der Zug hat angehalten. Sie zieht nachdenklich das Rollo hoch. Es ist stockdunkel draußen.
Komischer Traum. Marielena hieß doch meine Puppe und warum wollte Papa Geld in Onkel Drakos altem Haus vergraben? Es ist wirklich halbverfallen und wir haben als Kinder oft dort gespielt. Raphaelo hatte unseren Schatz im Schuppen versteckt. Aber das waren doch alles Murmeln und kein Geld! Und wer waren Drako und Luca? Der Onkel ist schon damals über achtzig Jahre alt gewesen und in dem Traum habe ich eindeutig einen jüngeren Mann gesehen. Ich sollte weniger arbeiten! Aber die letzten Wochen und das Staatsexamen waren auch sehr anstrengend. Mama wird mich schon wieder aufpäppeln, denkt sie zufrieden.
Sie zieht rasch ihre Hose und eine Jacke an und öffnet die Tür ihres Abteils. Ein dunkelhaariger älterer Mann steht auf dem Flur und grüßt sie freundlich. „Können Sie auch nicht schlafen? Es ist sehr laut im Zug und unbequem.“ „Ich bin gerade nach einem merkwürdigen Traum aufgewacht und will nur schnell zur Toilette.“ „Dann wünsche ich Ihnen weiterhin eine Gute Nacht.“ Der Mann schaut wieder zum Fenster hinaus.
Woher kenne ich den Kerl? Ich habe ihn schon mal gesehen! Christina hat nach dem Toilettengang wieder ihr Abteil erreicht und schließt sorgfältig die Tür ab. Du siehst Gespenster, leg dich wieder hin. Und du hast morgen noch eine anstrengende Fahrt vor dir.
Sie nimmt einen Schluck aus ihrer Seltersflasche und packt den Laptop in die Tasche.
Ich muss beim Schreiben eingeschlafen sein. Gott sei Dank ist das Gerät nicht auf den Boden gefallen. Ich werde in Zukunft besser aufpassen!, murmelt sie vor sich hin und ist wenige Augenblicke später wieder tief und fest eingeschlafen. Der Autoreisezug rattert auf den Schienen Richtung Süden.
Traum
Marielena träumt wie Christina. Sie ist nun ein Teil ihrer eigenen Geschichte geworden. Wirklichkeit und Traumwelt verschmelzen miteinander. So vergehen einige Jahre. Es ist Sommer. Eine Jugendgruppe bietet eine Freizeit nach Sizilien an und Marielena wurde kurzerhand angemeldet. Vom Schiffsanleger fährt der Bus auf die schöne Insel. Tiefblaues Meer und Boote, nichts als unzählige große und kleine Boote. Ruderboote, Segelboote und dann zu guterletzt zieht auch eine weiße Yacht mit goldenem Schriftzug am Bug an ihr vorüber.
Ein dunkelhaariger Mann steht an der Reling. Sein Blick ist kalt und ausdruckslos. Marielena spürt plötzlich große Angst. Doch dann verschwindet das Bild zum Glück wieder. Der Bus fährt weiter in eine große Einfahrt hinein, um vor einer wunderschönen mit hellem Marmor verzierten schneeweißen Villa inmitten eines riesigen Parks mit unzähligen Palmen darin zu halten.
„Appartementos Clemenzo" steht auf dem Schild vor ihrem Hotel. Ein alter Mann kommt schwerfällig humpelnd auf den Bus zu. Marielena sieht ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Als der geheimnisvolle Fremde sie erblickt, huscht ein zynisches, triumphierendes Lächeln über sein sonnengebräuntes Gesicht. Er wendet sich an den Fahrer, begrüßt die jugendlichen Gäste. Und wieder kreuzen sich ihre Blicke. Doch Marielena wird plötzlich von einem merkwürdigen Gefühl der Ruhe und Sicherheit getragen.
Am nächsten Morgen sitzt das schöne junge Mädchen allein neben der Veranda unter einer Palme und schaut verträumt aufs blaue Meer hinaus. Ein leichter Wind weht vom Strand herüber und bringt etwas Kühlung ins kleine Dorf. Unbemerkt nähert sich Clemenzo.
„Ich weiß, wer du bist, ich habe dich damals in Deutschland im Garten spielen sehen.“ „Ich weiß auch, wer du bist. Wie geht es Drako?"
Clemenzo setzt sich schwerfällig zu ihr auf die Bank. „Er ist wieder in Kroatien. Wir haben das Geld geteilt und sind dann wie abgesprochen jeder in eine andere Richtung gefahren." Marielena sieht den alten Clemenzo neugierig von der Seite an. „Woher stammt es? Ich habe damals immer in den Nachrichten aufgepasst. Aber es wurde nie etwas von einem Banküberfall berichtet."
Der kräftige Mann streicht zärtlich über hellbraune Locken und atmet tief den Duft der wunderschönen fülligen Mädchenhaare ein. Dann fährt seine alte Hand langsam hinunter bis zu ihrem zarten Hals. Seine knöchernen Finger halten ihren Nacken fest und hart umschlossen und auch sein Gesicht zeigt plötzlich eine Härte und kalte Entschlossenheit, die einen neutralen Beobachter das Blut in den Adern gefrieren lassen würde. Clemenzo blickt sich aufmerksam um, als wenn er sich gewohnheits- und routinemäßig vergewissern wollte, dass sie allein und ungestört wären. Doch dann entspannt sich das alte zerfurchte Männergesicht genau so schnell wieder und seine wachsamen Augen blinzeln durch die Sonnenstrahlen hindurch aufs tiefblaue Meer hinaus.
„Du bist ein hübsches und sehr kluges Mädchen“, lächelt er die zerbrechlich wirkende Marielena freundlich an. Sie blickt ihm liebevoll in die Augen und lehnt voller Vertrauen ihre schmalen Schultern an seine starke Brust. „Ich wollte so gerne hierher fahren, aber ich hatte schreckliche Angst vor euch." „Das brauchst du jetzt nicht mehr. Doch es hat in der Tat Augenblicke gegeben, da hätte ich dir deinen schönen kleinen Hals liebend gerne umgedreht. Die Kohle war ja aufeinmal nur noch als Drittel da.
120 000,-Deutsche Mark sind eine Menge Geld. Es handelte sich um unseren Anteil an einem besonderen Geschäft, das wir für unseren damaligen Boss abwickeln sollten. Wir hatten also plötzlich einen Komplicen!
Nun, ich bin heute zu alt und inzwischen bin ich sogar sehr froh darüber, dass du eine so hübsche und kluge kleine Komplicin geworden bist. Du willst Sizilianerin werden? Dann schlage ich dir ein Geschäft vor. Du lernst ganz zwanglos meinen Enkel Stephano kennen. Ich würde mich sehr freuen, wenn du dann nach deinem Abitur hier in Italien studieren würdest. Vielleicht verliebt ihr euch ja ineinander. Er ist ein netter Bursche—eben mein Lieblingsenkel. Du hast das Geld doch noch, oder?"
Seine Stimme klingt so hart wie damals, als er Drako die Anweisungen gab. Er duldet keinen Widerspruch. Aber Marielena antwortet dem alten Mann ganz ruhig und voller Vertrauen. „Ja sicher, ich habe mir nur mal etwas für Kleinigkeiten genommen. Der größte Teil ist noch da. Wie sieht Stephano denn aus? Hast du ein Bild von ihm?"
Der alte Clemenzo steht recht jugendlich auf und fasst sie bei der Hand.
„Komm", er führt das junge Mädchen einen schmalen Weg an Palmen entlang zum Strand. „Ich zeige ihn dir, er ist am Wasser, bei seinem Boot.
Gegenwart
Christina schreckt erneut aus ihrem Traum hoch. Was soll denn das? Die Yacht gehört Vater und die Villa ebenfalls. Der Mann? Ich habe ihn schon irgendwo gesehen! Mein Gott, ich bin ja schweißgebadet. Die Organisation!
Sie holt ihre Wasserflasche hervor. Nachdenklich dreht sie den Deckel auf und trinkt. Langsam setzt ihre Erinnerung wieder ein.
Sie war zusammen mit ihrer Mutter in die Stadt zum einkaufen gefahren. Wie alt ist sie damals gewesen? Acht Jahre oder neun? Es ist so lang her. Sie stand vor dem kleinen Spielzeugladen, welchen sie so sehr liebte. Ihre Mutter suchte nur kurz ein anderes Geschäft auf. Sehnsüchtig betrachtete Christina die wunderschöne Puppe im Schaufenster. Es handelte sich um Marielena. Einige Tage später bekam sie das braungelockte Puppenkind im rosa Kleidchen und mit gleichfarbiger Schleife im Haar zu ihrem neunten Geburtstag.
Plötzlich fuhr ein Motorrad an ihr vorbei. Sie erblickte im Schaufenster das Gesicht des Mannes, der darauf saß. Dann zerriss ein lauter Knall die Luft. Danach noch einer und auch ein drittes Mal krachte es fürchterlich. Sie erschrak und starrte ins Fenster. Der Mann hatte eine Waffe aus der Tasche gezogen und mehrmals auf die Männer, die gegenüber im Cafe saßen, geschossen. Christina sah noch im Spiegelbild der Fensterscheibe, wie zwei der Männer zu Boden fielen und sich der Dritte mit erstauntem Blick an die Brust fasste, wo sich plötzlich ein roter Fleck auf seinem Hemd abzeichnete. Dann stürzte auch er vornüber und schlug mit dem Kopf auf dem Tisch auf.
Eine Sekunde später fühlte sie nur noch die Hand ihrer Mutter und wurde von ihr in den Laden gezogen. Sie konnte nichts mehr sehen, denn die Mutter drehte sie herum, so dass sie ihr kleines Gesicht vor dem Bauch der Mutter in deren Schoß verbergen konnte. Kurze Zeit danach wurden sie von einem Auto abgeholt. Es war Georgio, der für den Vater arbeitete und sie sicher wieder nach Hause brachte. Doch von dem Tag an durfte sie das Haus nicht mehr verlassen. Nach ihrem neunten Geburtstag, fuhr sie mit ihrer Mutter nach Deutschland zu einer Tante. Sie blieben dort, bis Christina ihr Abitur gemacht hatte. Ihr Vater besuchte sie öfters in der Hamburger Villa. In den Ferien kam auch ihr älterer Bruder Raphaelo mit.
Ich muss das verdrängt haben. Wir sprachen auch nie in der Familie über das Erlebnis. Komisch. Normalerweise hätte man mich doch befragen müssen, aber nichts dergleichen geschah und dann lebten wir plötzlich in Hamburg.
Als junge Frau war sie dann ein paarmal wieder mit ihrer Mutter nach Sizilien gefahren und im letzten Jahr siedelte ihre Mutter vollständig in die Heimat um.
Vater besaß einige Restaurants und Eisdielen. Ihr Bruder arbeitete schon frühzeitig im elterlichen Geschäft mit. Christina wollte, seit sie denken konnte, immer Ärztin werden und studierte dann in Hamburg Medizin. Nun hat sie ihr Staatsexamen bestanden und möchte in Palermo im Krankenhaus arbeiten. Ihrer Bewerbung war entsprochen worden und sie freute sich schon sehr auf die Arbeit und die Heimat.
Der Mann auf dem Boot und der Mann auf dem Gang gestern Abend sind identisch. Sein Gesicht, ich habe dieses Gesicht schon irgendwo gesehen. Drako! Auch sein Gesicht zeigte das des Fremden, der mit ihr im Zug reist.
Christina trinkt erneut einen Schluck Wasser.
Der Zug fährt ununterbrochen weiter durch die tiefschwarze Nacht. Ich sah ihn zusammen mit Vater im letzten Jahr auf der Hochzeit von Giovanni und Isabella. Aber er arbeitet nicht für Vater. Nur, was hatte er auf dieser Hochzeit zu tun? Giovanni ist der Sohn von Onkel Tonio. Er ist zwar nur weitläufig mit uns verwandt, aber ich nenne ihn Onkel, seitdem ich denken kann. Christina seufzt.
Es ist nicht einfach eine Sizilianerin zu sein.
Das hat sie seit langem verstanden. Die Frauen halten sich aus den Geschäften der Männer heraus. Das Verhalten ihrer Mutter war ihr immer Vorbild.
Vater ist reich, aber nur mit Restaurants kann man nicht soviel Geld verdienen. Ich muss wohl der Tatsache ins Auge blicken, dass sowohl bei Vater als auch bei Raphaelo nicht immer alles mit rechten Dingen zugeht. Aber deswegen kann ich mich doch nicht von meiner Familie und Sizilien lossagen! Ich bin dort geboren, hatte eine schöne Kindheit, bis die Sache in der Stadt passierte.
Der Mann!
Der Mann auf dem Motorrad fährt mit ihr im Zug nach Italien! Sie hat vorhin auf dem Gang mit ihm gesprochen. Und er erschien ihr im Traum, genau wie in der Realität auf der Hochzeit.
Er gehört zu Onkel Tonios Leuten. Ich muss unbedingt mit Vater sprechen. Unsere Familie darf nicht in Gefahr gebracht werden. Christina schluckt.
Ich habe einen Mord beobachtet und Vater weiß es. Und wenn er es weiß, dann weiß es auch der Mörder auf dem Gang.
Sie überlegt.
Wenn hier einer in Gefahr ist, dann doch wohl erst einmal ich! Aber wenn er mich hätte töten wollen, hätte er es längst getan. Und die Frauen stehen unter einem besonderen Schutz. Es ist unehrenhaft für ein Mitglied der ehrenwerten Familie, eine Frau umzubringen! Ob die Idee mit der Arbeit in Palermo wirklich so gut war?
Christina ist sich plötzlich nicht mehr sicher.
Ich werde trotzdem mit Vater sprechen.
Aber ich muss schweigen, wie meine Puppe Marielena in dem schrecklichen Traum.
Sizilianische Frauen schweigen über die Geschäfte der Männer. Sie kann nicht zur Polizei gehen und ihn anzeigen. Sie würde sofort Vater und Raphaelo in Gefahr bringen.
Die junge Frau wusste immer, dass sie irgendetwas bedrückte und eine Last auf ihr ruhte, die sie sich weder erklären noch verstehen konnte. Der Zug überquert nun die Alpen und wird dann Richtung Rom weiterfahren. Dort wird sie mit dem Auto nach Sizilien aufbrechen. Der Mörder wird ebenfalls ihren Weg nehmen, soviel ist sicher. Christina weiß, dass sie ihn decken muss. Etwas anderes ist, zumindest im Augenblick und bevor sie nicht mit ihrem Vater gesprochen hat, nicht möglich.
Sie sieht auf ihre Uhr. Gleich sechs. Sie packt ihre Sachen langsam ein und zieht sich an. Ich werde den Schaffner fragen, wann der Speisewagen öffnet. Das Frühstück habe ich mir redlich verdient. Träume sind manchmal gar nicht schlecht, wenn sie helfen, die Wahrheit zu erkennen. Aber da war noch etwas anderes. Ein Name! Clemenzo ist Vater und er führte mich zum Strand. Dort wollte er mir einen jungen Mann zeigen. Wie war doch gleich der Name? Schade, habe ich vergessen!
Sie öffnet die Tür ihres Abteils und betritt vorsichtig den langen Gang, welcher durch die beiden aneinandergekoppelten Liegewagen führt. Dann erblicken ihre tiefbraunen Augen den dunkelhaarigen jungen Mann am Ende dieses Ganges. Der Fremde ist schlank und muskulös. Er trägt eine helle Hose, ein dezent gemustertes kurzärmeliges Hemd und sieht verdammt gut aus! Christina spürt sofort seine bewundernden Blicke. Zwei dunkle Augen schauen sie freundlich an. Sie fühlt sich merkwürdig, irgendwie magisch von seinem warmherzigen Augenausdruck angezogen.
„Guten Morgen, bei soviel Schönheit darf es auch draußen gerne einmal regnen! Ich hoffe, Sie nehmen mir das Kompliment nicht übel. Es ist eine dämliche Anmache, aber ich bin Italiener und die sind eben so, wenn sie eine schöne junge Frau sehen.“
„Danke, ich habe auch schon Besseres gehört. Aber ich bin Italienerin und somit Kummer gewohnt.“
Sie sehen einander lachend an. Seine Augen verraten nach den wenigen ersten Worten nur noch tiefere Bewunderung. „Darf ich Sie zum Frühstück einladen? Ich muss nach Palermo und will mich für die lange Autofahrt stärken!“, fragt er mit einem jungenhaften bittenden Blick, welcher in der Frau augenblicklich einen wohligen Schauer auslöst. Christina lächelt verlegen.
Warum nicht? Er scheint nett zu sein. „Gerne, aber ich weiß nicht, ob der Speisewagen schon geöffnet hat.“ „Wir können ja mal nachsehen. Übrigens, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt.
Mein Name ist Stephano Rossi. Ich bin Chirurg und werde in Palermo im Krankenhaus arbeiten.“
Stephano!
Christina hält verblüfft die Hand vor den Mund. Das kann doch kein Zufall sein. Der Junge in ihrem Traum, den Vater ihr zeigen wollte, hieß auch Stephano. Jetzt war es ihr wieder eingefallen.
„Was haben Sie? Ist Ihnen nicht gut?“
Stephano Rossi sieht die junge Frau neben sich besorgt an. Seine Familie stammt von Sizilien. Er ist dort in einem kleinen Bergdorf aufgewachsen und hat später in Deutschland studiert. Seine letzte Arbeitsstelle war ein Krankenhaus in München. Der Vater bat ihn, nach Hause zu kommen. Seine Eltern sind alt und gebrechlich und sein Vater braucht Unterstützung für das Im- und Exportgeschäft. Eigentlich sollte sein Bruder den Betrieb leiten, doch er studiert noch in den Staaten und so muss Stephano erst einmal aushelfen.
Als sie gestern Mittag telefonierten, erzählte ihm sein Vater, dass die Tochter eines Freundes aus Palermo ebenfalls mit dem Autoreisezug nach Rom reist. Sie wäre Ärztin wie er, hätte gerade ihr Examen bestanden und solle auch im Krankenhaus ihre neue Arbeitsstelle antreten. Der Freund würde es begrüßen, wenn sich Stephano der jungen Frau annehmen könnte, damit sie sicher nach Hause kommt. Dann erhielt er die E-Mail ihres Vaters und ein Bild von ihr. Stephano war sofort entzückt. Von der Idee und von der jungen Dame auf dem Foto.
Es klappte alles. Für ein paar Euro schwatzte er einem Ehepaar das Abteil ab und schickte sie in das Seine, einen Waggon weiter vorn. Dann bestellte er ein Frühstück im Speisewagen und nun musste er sie nur noch einladen.
Christina lacht. „Nein, danke, es ist nichts. Es geht mir gut. Sehr gut sogar.
Glauben Sie an schicksalhafte Fügungen? Ich habe nämlich heute Nacht von einem jungen Mann mit Namen Stephano geträumt und ich kenne sonst niemand mit diesem Namen.“
„Also, wenn das kein gutes Omen ist! Lassen Sie uns schnell in den Speisewagen gehen, bevor Sie es sich möglicherweise anders überlegen. Ich fange nämlich gerade an, mich in Sie zu verlieben. Ihr Vater hat nicht zu viel versprochen.“ Er stutzt.
„Oh, das hätte ich wohl lieber nicht gesagt.“
Christina sieht ihn ebenso verblüfft an.
„Würden Sie mir bitte mal erklären, was mein Vater mit unserer Zugbekanntschaft zu tun hat?“ „Ja, natürlich, es ist nicht so, wie Sie denken.“
Mit ruhigen Worten und wahrheitsgemäß berichtet Stephano von dem Telefonat, der E-Mail und dem Foto.
Vater hat doch überall seine Hand im Spiel, lächelt Christina. Nun will er mich sogar schon verkuppeln. Schon komisch, mein Traum. Aber wenn ich mir diesen Stephano so anschaue, könnte ich mich glatt an ihn gewöhnen! „Na, dann wollen wir mal artige Kinder sein und unseren Vätern gehorchen. Hattest du mir nicht gerade ein Frühstück versprochen?“ Sie hakt sich lachend bei ihm ein.
Palermo, in der elterlichen Villa
„Ich musste dich in Sicherheit bringen. Du warst noch zu klein und keiner wusste, was Du alles gesehen hast. Hätte die Polizei dich gefragt, hättest du mit Sicherheit den Schützen erkannt. Es tut mir alles so leid, mein liebes Kind.“
Clemenzo Andreotti streicht seiner Tochter liebevoll übers Haar. Aber es ist alles in Ordnung, mein Schatz, du brauchst dich nicht zu fürchten. Es kann dir gar nichts passieren. Du bist Sizilianerin und wenn du dich an die Regeln hältst, wirst du hier bis ans Ende deiner Tage glücklich leben können. Es gibt nun mal Dinge, die getan werden müssen. Doch um die Geschäfte kümmert sich dein Bruder. Freust du dich auf deine Arbeit im Krankenhaus? Mutter, Raphaelo und ich sind sehr stolz auf unsere junge Ärztin! Apropos, wie gefällt dir dein Beschützer aus dem Zug? Stephano Rossi entstammt einer sehr angesehenen Familie. Ich kenne seinen Vater gut. Ich hörte zufällig, dass er auch nach Palermo kommt und denselben Zug wie du nehmen würde. Da habe ich dann gleich meine Beziehungen spielen lassen und ihn gebeten, mir meine schönste und einzige Tochter wohlbehalten nachhause zu bringen!“
„Ich liebe dich, Papa. Und wer weiß, vielleicht hast du dir ohne es zu ahnen, schon deinen künftigen Schwiegersohn ins Haus geholt. Ich freue mich sehr, wieder hier zu sein!“ Christina gibt ihrem Vater einen Kuss und blinzelt lächelnd in die warme Nachmittagssonne. Sie blickt interessiert auf, als sie das Klopfen an die Terrassentür, der in einer wundervollen Parkanlage belegenen schneeweißen Villa, hört. Während ihre Augen den Besucher wahrnehmen, erstarrt die junge Frau. Ein eisiger Windhauch umgibt ihren Körper und stürzt ihre Seele aus der eben gespürten sicheren Geborgenheit der kräftigen Armen ihres Vaters plötzlich in einen nicht enden wollenden tiefen Abgrund. Christina glaubt vom Himmel direkt hinunter in die Hölle zu fallen.
Lässig, in Sandalen und mit einer verwaschenen Jeans und einem hellgelben T-Shirt bekleidet steht er in der Tür. Der Mörder!
Er sieht sie mit diesen kalten ausdruckslosen Augen an. Clemenzo begrüßt den Besucher mit herzlichen Worten. „Luca, schön, dass du da bist. Wir unterhalten uns gleich im Arbeitszimmer.“
Christina, mein Engel, darf ich dir Luca Rezzo vorstellen? Er arbeitet schon eine Ewigkeit für mich. Luca, was sagst du zu meiner schönen Tochter?“
„Wir haben uns schon im Zug gesehen. Guten Tag, Senorina, es wird ihnen sicher auf Sizilien gefallen.“
„Danke, ich werde euch dann mal allein lassen.“
Es gelingt Christina wider Erwarten meisterhaft den gerade erlittenen Schock zu verbergen. Sie nickt Luca Rezzo kühl zu, fährt mit der Hand über die Schultern des Vaters, ganz so als wenn nichts geschehen wäre und verlässt in einer für sie eigentlich gänzlich untypischen erhabenen Haltung die Terrasse. Selbstsicher steigt sie die blendend weiße Marmortreppe hinab und betritt einen Palmen umsäumten frisch geharkten Weg, der sie immer tiefer in den Park hineinführt. Als sie sich weit genug von den Männern entfernt wähnt, fällt die junge Frau mit einem verzweifelten Aufschrei ins Gras. Christina Andreotti schluchzt und lässt ihren Tränen freien Lauf. Das war es also! Luca handelte im Auftrag meines eigenen Vaters und ich bin als kleines Mädchen Zeugin dieser feigen Morde geworden.
Es war das erste Mal in Christinas Leben, dass sie sich wünschte, niemals auf Sizilien und in dieses Elternhaus hineingeboren worden zu sein. Sie war Ärztin geworden, um zu helfen und Leben zu retten und nicht, um einen mehrfachen Mörder ungeschoren davonkommen zu lassen. Es war auch nicht wichtig, was die getöteten Männer alles auf dem Kerbholz hatten. Es ging ihr einzig um das Fünfte Gebot!
Wieviele Morde mochte Luca bereits auf dem Gewissen haben? Männer wie er waren es gewohnt, keine Fragen zu stellen. Sie taten als Auftragskiller alles, was ihr Geldgeber von ihnen verlangte.
Der Körper der jungen Frau schüttelt und windet sich immer wieder. Tränen tiefster Verzweiflung rinnen über ihr schönes zartes Gesicht. Wie grausam kann doch die Welt sein! Als Christina die Wahrheit erkennt, weiß sie, dass ihr keine Wahl bleibt. Sie muss ihr Geheimnis bewahren, denn sie ist Sizilianerin. Noch nie im Leben fühlte sie sich so hilflos, wie in diesem Augenblick.
Ich werde morgen in die Beichte gehen und Gott um Vergebung bitten. Mehr kann ich nicht tun.
Pater Bernardi ist schon lange Priester in Palermo und hat sie getauft. Kurz bevor sie nach Deutschland fuhr, feierte sie bei ihm ihre Erstkommunion. Er wird mir helfen und vielleicht hat Gott mir auch schon verziehen. Warum sonst, hätte er Stephano zu meinem Schutz geschickt? Sie weiß, dass sie sich in den jungen Arzt verliebt hat.
Christina weint hemmungslos und bemerkt den sportlichen jungen Mann, der sich ihr vorsichtig und leise von hinten nähert, nicht. Stephano berührt sie zärtlich an den Schultern und lässt sich langsam zu ihr ins Gras gleiten. Ihre Arme schlingen sich wie von selbst um seinen Hals. Liebevoll sieht er sie an und küsst ihre hellbraunen duftenden Locken.
„Ich liebe dich, Christina. Ich wusste es, als ich dich zum ersten Mal sah. Und ich weiß auch, welches Geheimnis du bewahren musst. Mein Vater hat mir alles erzählt. Ich wollte mit all dem hier nichts mehr zu tun haben. Deshalb ging ich auch nach Deutschland und wurde Arzt. Aber niemand kann seinem Schicksal entrinnen. Ich muss jetzt meinem Vater helfen und Dinge tun, die ich niemals machen wollte.
Christina, willst du in Zukunft die Wärme und das Licht in meinem Leben sein?“
Die Sonne umüllt beide Liebende mit ihren schönsten und hellsten Strahlen. Christinas Tränen trocknen schnell auf ihrem Gesicht. Kleine schwarze Rinnsale unterhalb des braunen Augenpaares verraten einen Mascara Stift, der dem Sturzbach ihrer Verzweiflung nicht widerstehen konnte. Ihr so liebreizendes Antlitz erscheint Stephano durch diesen kleinen Schönheitsfehler der Kosmetikindustrie nur noch natürlicher und weckt sein Bedürfnis einmal mehr, sie auf ewig zu beschützen und sie nie wieder loszulassen. „Ja, Stephano. Ich liebe dich auch. Wir sind füreinander bestimmt und zusammen werden wir es schaffen, dass fühle ich. Mit Gottes Hilfe werden wir allem Bösen hier widerstehen.“
Das tiefblaue Meer vor den beiden jungen Menschen glitzert im Sonnenlicht. Sizilianische Kinder können dem Erbe ihrer Väter nie entfliehen. Aber sie können ihm entgegentreten. Auf dieser Insel sollen künftig Kinder das Licht der Welt erblicken, denen die Mächte der Dunkelheit und des organisierten Verbrechens nichts mehr anhaben können.
Texte: alle Rechte liegen beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 18.08.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Wettbewerbsbeitrag:
Im Namen der Mafia
Mai/Juni 2011 9. Platz