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„Willi, komm, der Zug fährt gleich ein. Wir wollen den Führer sehen!“
Aufgeregt winkte mir meine sechzehnjährige Tante zu.
Ich sah noch einmal auf die friedlich dahinfließende Glatzer Neiße. Dann drehte ich mich um und rannte so schnell mich meine elfjährigen Beine tragen konnten zum Bahnhof.

Auf den Straßen wimmelte es von Menschen. Die Leute beeilten sich, einen Platz mit Blick auf die Bahngleise zu erhaschen. SS Männer in Uniform marschierten an mir vorbei. An den Gebäuden hingen die Fahnen mit den Hakenkreuzen.

Ich lief wie üblich zum Bahnhofsschuppen und kletterte flink auf die alte knorrige Eiche. Von hier oben hatte man den besten Ausblick. Meine Freunde Georg und Heinz aus dem Jungvolk waren schon da. Heinz rückte etwas zur Seite und zeigte dann plötzlich in die Richtung, aus der sich langsam schnaufend eine Lokomotive näherte.

Wie elektrisiert rissen die Menschen die Arme hoch.
Aus tausend Kehlen riefen sie ihrem Führer zu.

Auch wir wurden von der allgemeinen Begeisterung angesteckt. Wir streckten unsere Arme so weit es nur möglich war nach vorn und schrieen mit Leibeskräften seinen Namen.

Das Erlebnis ist nun zwölf Jahre her. Zwölf Jahre, die meine heile Kinderwelt völlig veränderten.
Ich sitze am Tisch, schaue die alten Bilder an und blicke dann auf die Lebensmittelmarken für Januar und Februar 1950. Auf dem Papier steht:
250g Fett, 500g Brot , 500g Zucker und 125g Fleisch.

Im August 1949 habe ich in Cuxhaven meinen ersten Zollgrenzschutzlehrgang absolviert. Das Gruppenfoto vor mir zeigt die Klasse Sieben mit den Kollegen.
Und jetzt bin ich hier in Groß Saarau an der Zonengrenze und versehe meinen Dienst. Unser Zollhaus ist alt und es gibt nur einen Ofen. Wir sind vier Kollegen, die sich zwei feuchte kleine Schlafräume teilen. Wer ein Geschäft zu verrichten hat, muss in den angrenzenden Wald gehen.

Es ist kalt.
Fast so kalt wie damals, im Winter 1945.

Ich hatte mich mit siebzehn Jahren während des Reichsarbeitsdienstes freiwillig an die Front gemeldet. Mein Vorgesetzter bot mir einen Lehrgang an, wenn ich bliebe. Ich hatte ja Handelsschule und war aufs Aufbaugymnasium gegangen. In der Schreibstube konnte man mich gut gebrauchen. Er sah mich sehr merkwürdig an, als ich das Angebot ablehnte.

Heute weiß ich, warum!
Aber damals mit Siebzehn wollte ich nur noch für den Führer und für mein Vaterland kämpfen.

Wir sind hundertfünfzig junge Männer zwischen siebzehn und zweiundzwanzig Jahren gewesen, die ihre Grundausbildung in der Kaserne Hermann Göring zu Berlin erhielten. Den imposanten Reichsadler am Eingang werde ich nie vergessen. Wir hatten alles. Warme Kleidung, gutes und reichliches Essen und jede Menge Spaß in unserer Kameradschaft.

Dann kam Hermann mit seinem Gefolge in die Kaserne und aß mit uns einfachen Soldaten in der Kantine. Er saß nur wenige Meter vor mir am Tisch. Meine Begeisterung damals war grenzenlos.
Von Tod, Leid und Entbehrung ahnte ich nichts.

An der Ostfront bekam ich die Krätze und musste ins Feldlazarett. Als ich zurückkam, fehlte bereits die Hälfte der Kameraden. Nachts, wenn es keiner sah, weinte ich um sie, dachte auch an Mutter und die kleine Schwester zu Haus in Kamenz in Niederschlesien. Irgendwie hatte ich Glück. Im Schützengraben schlief ich völlig entkräftet und übermüdet ein und als ich erwachte, gab es den Wald um mich herum nicht mehr.

„Willi, bist du noch da?“, hörte ich einen meiner Landserfreunde leise rufen. „Ja“, antwortete ich.
Im Zickzack zogen wir uns von Warschau in Richtung Berlin zurück. Und es war kalt, bitterkalt in diesem Winter 1945.

Beim Reichsarbeitsdienst hatte ich mich immer über unsere Fußlappen mokiert. Damals lachte ich nicht mehr und hätte gerne zusätzlich welche gehabt.

Irgendwann standen wir auf den Seelower Höhen.
Der Russe kam unbarmherzig näher. Unsere Einheit gab es nicht mehr. Nur wenige hatten überlebt. Später erfuhr ich, dass nur siebzehn von uns zurückgekommen waren.

Ich hatte mich zwei älteren Soldaten angeschlossen.
Der Melder war schon Anfang Fünfzig. Und der andere, lachte in der Scheune, in die wir uns über Nacht schlafen gelegt hatten. „Die Kugel für mich ist noch nicht gedreht“, meinte er.

Am frühen Morgen hörten wir das Artilleriefeuer.
Es kam näher, zu nahe! Wir mussten ‘raus.
Plötzlich war da nur noch Rauch. Ich warf mich instinktiv auf den Boden.

Kein Geräusch mehr, nichts. Beängstigende Stille.
Nur dichter Rauch.
Nach ein paar Minuten konnte ich wieder etwas sehen.
Ich kroch langsam ein Stück vor. Dann erblickte ich sie.

Erst lag da der Kopf des Melders. Einige Meter weiter Teile seines Körpers. Der andere lag in einer Mulde. Er hatte die Augen geschlossen, als wenn er nur schliefe. Seine Gedärme quollen aus dem Bauch hervor.

Ich duckte mich, stand dann langsam auf und lief. Und wieder rannte ich.

Aber diesmal nicht, um den Führer zu sehen, sondern um mein Leben.

Dann traf ich auf eine andere Gruppe versprengter Landser. Wir waren zu viert. Einer ist bereits Fallschirmspringer gewesen und war schon in Frankreich hinter den feindlichen Linien abgesprungen. Während unseres Marsches Richtung Westen überholte uns ein Wagen mit Feldjägern darin.

Was wir hier machten? So genau wusste das natürlich niemand. Der Russe war ja nur einen Tag hinter uns. Sie meinten, wir wären Deserteure, nahmen uns die Gewehre ab und wollten uns aufhängen.

Ich war siebzehn Jahre alt geworden und schloss mit meinem Leben ab. Zweimal war ich bisher im Feldlazarett gewesen und zweimal kam ich gesund an die Front zurück. Dann fand ich neben einem toten Soldaten eine neuwertige Pistole und ehe ich sie mir ansehen konnte, nahm sie mir ein junger Unteroffizier wieder ab. Er schoss einem Kameraden damit in den Fuß und gab mir die Schuld. Ich sollte vors Kriegsgericht und wäre sicher erschossen worden, wenn ich nicht voller Angst Mitleid bei unserem Hauptmann erweckt hätte. Und jetzt sollte ich wieder durch die Hand unserer eigenen Leute sterben.


Ich dachte noch einmal an Mutter und Kamenz in Schlesien. Sah das Schloss vor mir, in dem mein Großvater als Ofensetzermeister die alten großen Kachelöfen reparierte. Wie oft war ich dorthin gelaufen, um den Männern ihr Vesperbrot zu bringen und hatte in den vielen Räumen gespielt. Ich sah den Mühlgraben, in dem die Freunde im Sommer badeten.

Im November liefen wir Schlittschuh und pünktlich mit dem ersten Schnee wurden die Skier hervorgeholt. Danach dachte ich an Frankenstein, wo ich zur Schule gegangen war und an Hirschberg. Dort in Grunau an der Segelflugschule durfte ich meine Flugscheine machen und konnte nächtelang nicht schlafen, als uns Hanna Reitsch besuchte. Mein Leben lief wie in Zeitlupe vor meinen Augen ab.

Was dann geschah, übertraf alles, was ich bisher erlebt hatte. Der Fallschirmspringer riss ein MG an sich und die Feldjäger fielen tot zu Boden. Dann liefen wir los. Wieder rannte ich um mein Leben.

Ein LKW hielt an. Darauf saßen die wenigen Kameraden, die übrig geblieben waren. Unser Kommandeur wusste schon lange, dass wir den Krieg verloren hatten. Er wollte nicht auch noch die letzten seiner Soldaten verheizen. Wir fuhren nicht mehr nach Berlin sondern Richtung Ostsee. So konnte ich dem Kessel entfliehen.
Nach der Gefangenschaft in Himbergen, wo ich halb verhungert am 06. Mai 1945 meinen achtzehnten Geburtstag erlebte, heuerte ich als Steward auf einem Minensuchboot an. Wir räumten Minen in Norwegen.

Durch Zufall hörte ich, dass jemand auf dem Flaggschiff Kontakt zu Leuten aus meinem Dorf hatte. So erfuhr ich vom Aufenthaltsort meiner Mutter.

Vor mir liegt das Bild des Kamenzer Schlosses.
Ob ich es je wiedersehen werde?

Unsere Begeisterung haben wir mit dem Verlust der Heimat teuer bezahlt. Tod und Verderben brachte er uns, dessen Namen wir damals aus Leibeskräften schrieen.


Nach den wahren Erzählungen meines Vaters Wilhelm, geb.im Mai 1927 in Kamenz/ Schlesien, der nach dem Krieg in Schleswig-Holstein seine zweite Heimat fand und am 01.09.2005 in Flensburg verstarb.


Impressum

Texte: alle Rechte beim Autor Das Cover-Foto ist aus dem Besitz meines Vaters. Es zeigt das Schloss Kamenz, so wie es vor dem Krieg aussah.
Tag der Veröffentlichung: 29.08.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Kurzfassung des gesamten Werkes für den Biographie-Wettbewerb Februar 2011

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