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Erster Preis im Wettbewerb: Kurioses aus meinem Bundesland

Pastor Johannes kniete vor dem Kreuz seines Herrn. Voller Demut sah er den geschundenen Körper Christi an und streckte ihm flehend die Hände entgegen. „Herr hilf mir! Der Alkohol ist des Teufels Werk! Lass nicht zu, dass meine Gemeinde daran zugrunde geht.“ In gut zwei Stunden würde sich die alte Nordstrander Seefahrerkirche mit den Gläubigen gefüllt haben. Er wollte ihnen am diesjährigen Reformationstag eine Predigt halten, die sie sobald nicht wieder vergessen werden. Und heute, am 31. Oktober Anno 1870, sollte die gesamte Gemeinde Nordstrand endlich für alle Zeit dem Alkohol abschwören!

Nachdenklich bestiegen die Kirchgänger denn auch an diesem Sonntag wieder ihre Pferde- und Ochsenfuhrwerke. Was der Herr Pastor da von ihnen verlangte, beschäftigte die Bürger doch in den nächsten Tagen und Monaten sehr. Eine Kindstaufe oder gar eine Hochzeit ohne einen Tropfen Alkohol war für sie eigentlich unvorstellbar! Zwei Wochen später heiratete Bauer Thomsen seine junge Magd Gertrude. Was soll man sagen: Das Fest wurde natürlich eine einzige Katastrophe! Es gab den ganzen Abend nur Tee oder Kaffee und die Hochzeitsgäste verabschiedeten sich allesamt sehr frühzeitig von ihrem frischgebackenen Brautpaar. Nur der alte Pastor Johannes war mit sich zufrieden. Aber so konnte es nicht weitergehen! Die Nordstrander Frauen beratschlagten, was man tun könnte. Marie, eine sehr erfahrene Dienstmagd, hatte plötzlich eine Idee. Sie nahm eine Tasse, kippte etwas Rum hinein, legte ein Stück Zucker dazu und füllte alles mit Kaffee auf. Damit man den Alkohol nicht riechen konnte, setzte sie noch ein Sahnehäubchen darüber.

Im November feierte man eine Kindstaufe. Und dieser Tag, an dem der Herr die kleine Clara Johanna Petersen bei ihrem Namen rief, rückte die aus den Fugen geratene Welt der Küstenbewohner endlich wieder gerade. Es wurde ein sehr fröhliches Fest. Die Nordstrander Bürger feierten unbekümmert und ausgelassen bis zum nächsten Morgen.

So vergingen die Wintermonate. Die Einheimischen genossen wieder ihre Dorffeste und Pastor Johannes kniete in seiner Kirche und dankte dem Herrn. Dann nahte das Frühjahr. Aber vorher, am 22. Februar, feierte man traditionell seit dem 17. Jahrhundert den Petritag. Petrus war der Schutzpatron aller Fischer und am Abend wurden die Walfänger mit einem großen Feuer, der Biike, sowie einem Fest verabschiedet. So geschah es auch am 22. Februar 1871. (Heute hat man den Brauch auf den 21.Februar verlegt.)
Dete Clausen, eine hübsche sechzehnjährige Deern aus Husum, kam zu Weihnachten zu Onkel und Tante auf den Hof nach Nordstrand in Stellung, wie man damals sagte. Die gefüllten Kaffeetassen standen auf dem Tisch und die flachsblonde Dete nahm behände das Tablett auf. Natürlich bediente sie als wohlerzogenes Mädchen zuerst den Herrn Pastor.

Der wunderte sich auch des öfteren, wie leicht sich die Nordstrander Bürger von den Alkoholischen Getränken losgesagt hatten. Er war jedoch ein sehr frommer Mensch und schrieb das tadellose Verhalten seiner Gemeinde sofort der grenzenlosen Güte und Gnade seines Herrn Jesus zu. Während er nun an die nächste Sonntagspredigt dachte, nahm er einen Schluck aus der Kaffeetasse. Verwundert über den eigenartigen Geschmack, nippte er erneut an seinem Getränk. Und auf des braven Pastors Stirn bildeten sich alsbald tiefe Zornesfalten, währenddessen er den Atem anhielt. Dabei weiteten sich seine Augen, bis man das weiße darin erblicken konnte. Wutentbrannt knallte der ehrwürdige Gottesmann die Tasse mit dem hübschen blauen Friesenmuster auf den Tisch. Sodann erhob er sich schwerfällig von seinem Stuhl und im großen Saal des Pharisäerhofes, der damals noch "Zum Seehund" hieß, wurde es augenblicklich mucks Mäuschen still. Pastor Johannes war schließlich eine stattliche Erscheinung mit einer Körpergröße von etwa 1.80 Meter.
„Ihr Pharisäer!“, rief er seiner Gemeinde erbost zu.

„Und was geschah dann?“ Die sechsjährige Claudia blickte den Nordstrander Bauern Hans Hansen aufmerksam an, nachdem sie seiner spannenden Geschichte lauschen durfte. „Nichts!“, antwortete der grauhaarige Mann. „Aber von dem Tag hatte das Getränk einen Namen.“ „Was ist denn nun das Geheimnis dieses Zaubertranks und warum stand der Pastor so wütend auf?“, fragte Roman Kaiser neugierig. Der Berliner Lehrer machte gerade zusammen mit seiner Frau Gisela und den Kindern Claudia und Timmi Urlaub auf Nordstrand.
„Uwe, giv uns mol dree Pharisäer vun din Husmarke!“ Hans Hansen nickte dem Kröger auffordernd und freundlich zu. „Probeeren geiht över stodeeren, seggn wi hier an de diek!“

Gisela las bereits den auf dem Tisch liegenden Prospekt, während sie ihrem zweijährigen Sohn einen Löffel Eis in dessen weit geöffneten Mund schob. „Hier steht, unten kommt ein Stück Zucker in die Tasse und dann gießt man Rum darauf. Danach wird das Ganze mit Kaffee aufgefüllt und damit man den Rum nicht riecht, kommt noch ein Sahnehäubchen obenauf!“
Hans Hansen schmunzelte geheimnisvoll und verteilte die drei gefüllten Tassen auf sich und das junge Lehrerehepaar aus Berlin.
„Na denn! Natürlich sagt an der Küste niemand Prost, denn das hätte dem Pastor ja alles verraten. Es heißt nur schlicht: Na denn! Hier gibt es auch eine besondere Regel: Wer sechs Pharisäer getrunken hat, bekommt den Siebenten und den Anruf fürs Taxi umsonst.“
„Wissen Sie“, meinte Gisela lächelnd, „unsere Kollegen fahren alle mit den Kindern ins Ausland. Aber wir haben uns entschlossen, unseren erst einmal die Schönheit Deutschlands zu zeigen!“
Es wurde ein kurzer aber sehr vergnüglicher Abend.

„Papa hat heute Nacht die Schönheit Deutschlands gesehen. Mama sagt, es ist nur ein Kater. Aber er fühlt sich so krank, dass er nicht ans Telefon kommen kann und denkt euch nur, Dete hat aus Versehen die Tassen vertauscht“, meldete die kleine Claudia am nächsten Morgen den überraschten Großeltern nach Berlin.

Viele Jahre später erfuhr sie auch, dass die Pharisäer eine Gruppe Menschen aus der jüdischen Religion waren und bereits 135 Jahre vor Christi Geburt lebten. Übersetzt heißt Pharisäer die „Abgesonderten.“ Der Name kam daher, weil sich die Gruppe sehr intensiv um die Einhaltung der Regeln aus den Büchern Mose bemühte und überaus fromm lebte. Zu fromm, wie Jesus später wohl meinte und sie als überheblich und selbstgerecht bezeichnete. Durch diese Kritik, die eigentlich, weil aus dem Munde Jesu gekommen, gar keine war, benutzten viele Christen das Wort später als eine Art Schimpfwort.
Jedoch waren und blieben die Pharisäer, die auch als Schriftgelehrte bezeichnet wurden, eine vom Volk sehr geschätzte Laienbewegung.

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Tag der Veröffentlichung: 18.08.2009

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Widmung:
1. Platz beim Wettbewerb: "Kurioses aus meinem Bundesland"

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