Die späte Antwort Gottes
oder
Und noch ein Mysteriendrama
von
Rüdiger Siegfried Kugler
(Der manchmal befremdlich anmutende Schreibstil ist aufgrund persönlicher Motive beabsichtig).
Inhaltsverzeichnis
Unser HEUTE wie das GESTERN
Prolog
1. Dich werde ich nie vergessen
2. „Stelldirvor, ichweißwas“ „Nein wirklich“
3. Ein häufiger Weg in die Realität
4. Einzigartig (Für Tatjana)
5. Ein bleibender Hauch von Liebe
6. Mit einem Bein im Knast
7. Fremd in Bokelrehm: Ausgeliefert
Das MORGEN unser WOLLEN
8. Aus der Teufelsküche in die Gottessaat
9. Sein schönstes und sein schlimmstes Geheimnis
10. Aufhellende Feinheiten der letzten 10 Jahren
11. „Bei dir ist doch eine Schraube locker“
Epilog
Des Schleiers Spalt weite gelüftet
Unser
HEUTE
Wie das
GESTERN
Aus
Dr. Rudolf Steiners
„Priester Apokalypse“
(Faksimile)
Eine Vortragsreihe über die Offenbarung Johannis
Gehalten für die Priesterschaft
der Christengemeinschaft
in Dornach
vom 5. bis 22. September 1924
PROLOG
Aus dem 16. Vortrag, Dornach, 20. September 1924 Rudolf Steiner: „...1933, meine lieben Freunde, bestünde die Möglichkeit, dass die Erde mit allem, was auf ihr lebt, zugrunde ginge, wenn nicht die andere weise Einrichtung da wäre, die sich nicht errechnen lässt, so dass die Rechnungen nicht immer stimmen können dann, wenn die Kometen die andere Form angenommen haben. Man würde im Sinne des Apokalyptikers sagen:
Ehe denn der ätherische Christus von den Menschen in der richtigen Weise erfasst werden kann, muss die Menschheit erst fertig werden mit der Begegnung des Tieres, das 1933 aufsteigt.
Das ist apokalyptisch gesprochen...
1. Dich werde ich nie vergessen
Mit einem sehnsüchtigen Herzen ausgerüstet umklammerten mich die Krallen des Alltags der Arbeitswelt. Die Falle schnappte ebenso erbarmungslos zu, wie es jedem Jugendlichen ergeht, der mit nebelhaften Zukunftsplänen der Schule den Rücken kehrt, um einen zukünftigen Beruf zu ergreifen –und ich war sechzehn.
Ein mir bis zu jenem Zeitpunkt unbekannter Lauf kam ins Rollen. Von einem Augenblick zum anderen stand ich im Berufsleben oder vielmehr, ich fing an fremden Boden unter meinen Füßen abzutasten, mit dem Ziel, eines Tages, nach drei Jahren, eine sichere Existenz als mein Heil, mein Los anzupacken; es waren Rosinen im Kopf. Dass es drei Jahre unerfüllter Sehnsucht, erdrückender Einsamkeit, des oft Aufgeben-wollens werden würden, hätte ich mir damals nicht im Entferntesten vorstellen können, schließlich begann alles so unsagbar vielversprechend. Vorerst jedenfalls gaukelte mir meine Fantasie –wie seit der Kindheit- märchenhafte Erwartungen vors geistige Auge. Rosig würde mein Leben werden, nur noch schön sein. Ich war dem Elternhaus entkommen.
Es war ein nicht in Worte zu fassender, unvergleichlich schöner Sommertag. Die Sonne legte sich machtvoll ins Zeug, Menschen, Tiere und Pflanzen zu erfreuen, und speziell mich, der ich nun anfangen wollte, erwachsen zu werden.
Am Rande eines Waldes, der Stätte, die mich von jeher eigenartig anzog, hatte ich meine zweite Heimat gefunden. Wenn mich das Rauschen der Baumkronen berührte und Tierstimmen aus dem Unterholz zu mir drangen, hörte ich einen wundersamen Ruf, der mir geheimnisvoll zuflüsterte: „Hier kannst du unbeobachtet deine Herzenswünsche darbringen!“
Den Hang herab, zu Fuße des Berges, lag verträumt und wunderschön anzusehen Baiersbronn. Insgeheim beglückwünschte ich mich zu dieser grandiosen Wahl, meine Lehrstelle als Koch, die einige hundert Km entfernt von meiner Heimatstadt Ludwigshafen lag, derart ideal getroffen zu haben!
Mit dem Ford Taunus 17M lieferten mich meine Eltern in meinem zukünftigen Heim ab. Nach einem kurzen Gespräch mit dem Pensionsleiter, Herrn Bothe, aßen wir noch gemeinsam zu Mittag in dem gemütlich eingerichteten Restaurant, dabei konnte ich kaum noch meine Ungeduld zügeln. Schließlich war es soweit: Mama und Papa brachen auf, zurückzufahren dahin, woher sie mich gebracht hatten. Bemüht, meine Nervosität zu verbergen, konnte ich es kaum glauben, nie mehr eingeschlossen zu sein in dem Gefängnis elterlicher Befehlsgewalt. Und endlich, mit herzlichem Händedruck bei den üblichen Abschieds-Umarmungen das Versprechen abgelegt, brav zu bleiben, ihnen keine Schande zu machen und bald zu schreiben, fuhren sie davon. Das Winken fiel mir schwer. Ich war frei! Die Freude darüber ließ kein Platz für Sentimentalität. Frei! Frei nach sechzehneinhalb Jahren. Frei vom Druck der Angst vor einer Strafe, wenn nach Einstellung der Eltern man etwas ausgefressen hatte. Frei von elterlicher Beobachtung und lästigen Verwandtschaftspflichten. Deshalb hatte ich mich für den Beruf Koch entschlossen, um frei zu sein.
Mein Gott, wie irrte ich mich. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung vom Kampf ums Überleben in der Arbeitswelt als Lehrling, der zu lernen hatte, ein Mensch zweiter Ordnung zu sein. Jedenfalls da, wo ich gelandet war. Im selben Augenblick aus dem Schutzwall der Elternabsolution, geriet ich in die in Kraft tretende Vogelfreiheit eines jungen Menschen, der, fernab von der Heimat, niemanden hatte, der ihm den Rücken stärkte, war Gefahr im Anzug von Erwachsenen, die ihre Macht erbarmungslos ausnutzten. In den Fängen gelandet von Machenschaften, Leistungszwang, Unmenschlichkeit, einseitigen Richtlinien unantastbarer Broterwerbsmoral; wer sich nicht unterwarf wurde vernichtet. Innerhalb weniger Tage, wie mit einem Vorschlaghammer aufs Denkvermögen, wusste ich, dass das oberste unausgesprochene Gebot meines Umfeldes lautete: Mensch sein vergessen! Recht haben in jedem Falle die über mir. Und die über mir waren alle. Ich war ihnen absolut ausgeliefert. Nichts ahnend, wo hinein ich da geraten war, woher auch?, sah ich dem Wagen meiner Eltern hinterher, der sich langsam entfernte. Und noch bevor er völlig aus meinem Blickfeld war, machte ich auf meinem Absatz kehrt und eilte in den Pfad, der mich in den Wald führte. In der Stille wollte ich gleich mein Glück genießen; meine Freiheit beginnen in der Welt der kühlen Schatten, der beschützenden Bäumen; in einer Welt natürlicher Laute, wo nicht sich gegenseitig angebrüllt wurde, anstatt in normaler Tonart miteinander umzugehen. Tief atmete Ich durch und sog den vertrauten, so lange ersehnten Geruch unberührter Natur ein...
Es war ein Segen, dass ich jene Stunden genoss. Nur selten sollten solche Augenblicke wiederkehren. Von dem Zauber dieser Stätte hatte ich bald nichts mehr. Aber! Dem Himmel sei Dank! Ich lernte Gerhard kennen! Seine Freundschaft wurde mir zu einer erfrischenden Quelle, zu der ich ging, wenn ich meine Umwelt und ihre Alltagsvorstellungen nicht mehr verstand. Er wurde meine Stütze nach des Meisters regelmäßigen Beleidigungen und bösartigen Verhöhnungen oder wenn ihm mal wieder die Hand ausgerutscht war oder das Messer, das er nach mir geworfen, knapp das Ziel verfehlte.
Drei Wochen später, während denen ich im Hause „Schönblick“ begriff, dass es für mich da nichts zu lachen gibt, musste ich an einem Montagmorgen zur Berufsschule in Freudenstadt; das war acht Km von Baiersbronn entfernt. Jemand wies uns ordnungsgemäß dem Saal zu, in dem für unseren Berufszweig der Gastronomie der theoretische Unterricht stattfand, unterbrochen von der Mittagspause zwischen 12 Uhr und 14 Uhr 30. Wir ließen uns auf den Schulbänken, die in drei Reihen aufgeteilt und durch zwei schmale Gänge getrennt waren, nieder. Ich mich ganz vorne in der mittleren Reihe, direkt vor dem Pult des Lehrers.
Nachdem sich wohl jeder einen Platz erobert hatte, wurden wir bestimmt darüber informiert, was uns erwartete und welche Materialien wir zu besorgen hätten. An Einzelheiten dieses ersten Montagmorgen kann ich mich nicht mehr erinnern, außer, dass ich darüber nachsinnte, inmitten 40 gleichaltriger Jungs zu sein, unter denen bestimmt der eine oder andere davon träumte, einmal der Küchenbulle einer Brigade zu sein, der er dann ordentlich den Marsch blasen konnte mit Anschissen, Fußtritten, Ungerechtigkeiten..., um den ganzen Rotz zurückzugeben, den jetzt der eine mehr, der andere weniger so wie ich abbekam. Wohin meine Augen wanderten: Fremde. Hin und wieder spickte ich über meine Schulter, hin, zum Ende der letzten Bank der ersten Reihe. Dort saß er, der mir bereits auf dem Korridor aufgefallen war. Im Bruchteil einer Sekunde wusste ich instinktiv, dass mich mit diesem Menschen etwas verband. Mögen alle um mich herum in einem Boot gesessen haben. Ich nicht! Ich saß alleine mit dem in einem Boot, der mir die ganze Zeit wie telepathisch versicherte: “Du und ich: wir werden Freunde!“ Und als uns unser Lehrer aufforderte, dass jeder sich mit seinem Namen vorstellen möge, hörte ich nur den einen, als er an der Reihe war: Gerhard Hömens.
Es läutete zur Pause. Wir alle sprangen auf und stürmten in den Flur, dabei entging mir nicht, dass sich Gerhards Tischnachbar an seinen Rockzipfel hängte. Eifersucht ergriff mich. Unnötigerweise wie ich bemerkte. Ganz offensichtlich hatte auch Gerhard Interesse an mir. Er kam zu meiner Seite, sprach mich an, und im Trio landeten wir vor dem Schulgebäude. Um uns die anderen, die sich Sprüche zuriefen, sich ausfragten, kreischten, lachten... Und mich ergriff Panik bei der Idee, dass wir den anderen nicht loswerden würden. Die Eifersucht. Schon wieder! Unnötig, denn ich bemerkte, dass auch Gerhard den anderen als lästig empfand und die Angelegenheit in die Hand nahm... Schon waren wir allein und ich selig.
Die Montage, von 12 Uhr bis 14 Uhr 30, wurden bald zu Musestunden. Eine von Anfang an vorhandene Spur des Zusammengehörigkeitsgefühls und angeregte Gespräche, darunter sogar Themen metaphysischen Inhaltes, in denen wir ein- und dieselbe Weltanschauung entdeckten, senkte in unsere Herzen den Grundstein einer besonderen Freundschaft. Wir spazierten oder erkundeten oder tobten durch die Wälder, unternahmen Ausflüge entlang geruhsam dahinfließender Bäche, machten Rast bei Quellen, bummelten durch nahegelegene Dörfer, kehrten in feine Kaffees oder urtypische Kneipen ein... Wir lachten viel, trieben Späße, ohne andere zu schädigen, wie die Einweihung Gerhards an mich im Kautabak genießen, so dass wir manchen vollbespuckten Aschenbecher in Kneipen zurückließen, verdeckt mit Pappdeckeln. Die arme Serviererin, die unsere zurückgelassene Schweinerei erst entdeckte, waren wir außer Reichweite. Bald trafen wir uns unter der Woche an Abenden, um zum Beispiel im einzigen Kino der dörflichen Umgebung in Baiersbronn einen Film anzusehen. Danach begleitete ich meinen Freund zum 4 Km entfernten Mitteltal, wo er lernte, um selig und beschwingt den Rückweg einzuschlagen, in die Höhle des Löwen. Egal was, wir unternahmen nichts mehr getrennt, ob im Mondenschein, im Sonnenschein, ob als Tramper oder Wanderer vertieft in Ideen und Vorstellungen über einst, jetzt oder später, wir verstanden es einfach, unsere Zweisamkeit über alles zu schätzen, und wo auch immer schütteten wir uns gegenseitig die Herzen aus, liebten und genossen das Leben, waren mit uns allein zufrieden und sprachen nicht nur einmal die Freude über unsere Freundschaft aus; sogar bedeutungsvolles Schweigen hüllte sich in den wundersamen Zauber unserer Zuneigung. Zwei Jungs hatten sich in der Fremde gefunden, denn ebenso wie ich hatte auch Gerhard den Wunsch nach einem Freund in seinem Herzen getragen.
Es war kaum ein Monat vergangen, da wagten wir es, unseren Klassenlehrer zu fragen, ob wir nebeneinander sitzen dürften, was uns erlaubt wurde, vorausgesetzt, dass der Unterricht darunter nicht leide. Es war traumhaft, dass Seite an Seite zu sein sogar an den Montagen nicht mehr nur auf die Pausezeit und der Busfahrt zur jeweiligen Ausbildungsstätte zurück beschränkt war.
Demgegenüber verging die Arbeitswoche unbarmherzig. Meine Angst vor dem Küchenchef behinderte erheblich meine Leistung, die ich durchaus in der Lage gewesen wäre zu erbringen. Ich kam als der Älteste aus einer kinderreichen Familie, hatte Ferienjobs hinter mir und Wochenendearbeit in der Kneipe einer Tante, hier jedoch zum Spielball der Launen meines Meisters geworden hatte ich ein Brett vorm Kopf.
Morgens, beim Aufstehen bereits, überkam mich die Frage: Wie wird der Menschenschinder heute gestimmt sein. Trat er unter angenehmen Anwandlungen seinen Dienst an, durften wir, das war Oma, Jörg, unser Geselle, Doris und ich beim Frühstück sitzen bleiben, was Seltenheitswert hatte. Missmutig zu kommen war seine Regel, mit einem Gesicht wie drei Tage Regenwetter, in dem geschrieben stand, sofort die Beine unter die Arme nehmen zu müssen. Kam er aber nach einer durchzechten Nacht voll wie ‘ne Strandhaube zur Arbeit, war es am Schlimmsten. Der Katzenjammer plagte ihn, und das bekamen wir ab.
Wie sehr erleichterte es uns, wenn er sich erst einmal zu Tisch setzte. Das hieß, vorerst Ruhe vor ihm haben. Vielleicht sogar den ganzen Vormittag. Machte er sich allerdings umgehend an die Arbeit, hatten wir schlechte Karten; mit ausfallenden Schlagwörtern, Handgreiflichkeiten und Befehlen statt Unterweisungen verging der Arbeitstag, während solcher zu meiner Angst der Ekel vor diesem Menschen hinzukam. Irgendwie gewöhnte ich mich an seine fünf Finger, die manchmal in meinem Gesicht landeten, auch bekam ich eine gewisse Übung darin, geschickt den Messern auszuweichen, die nach mir flogen, überkam ihn ein Wutanfall. Was mir tatsächlich zusetzte war Frau Bothes krankhafte Überwachung, die die Freiheit aller Angestellten im Auge behielt und private Treffen in unseren Zimmern untersagte. Selbst für nur einen Augenblick, eventuell einer Frage rein betrieblicher Gründe wegen, in das Zimmer von Kollegen zu gehen und sich dabei erwischen zu lassen, hieß sich Ärger einhandeln. Um der Friedewillen wurde versucht, uns dieses Verbot einzureden, und befürchtete nichts weiter, als ein Austauschen und Mitteilen untereinander. Fiel dennoch einem mal die Decke auf den Kopf, bedeutete dies, die Nacht abwarten, bis alle schliefen. Auf Zehenspitzen wurde dann durch die Flure geschlichen, in die Bude anderer gehuscht, bei Kerzenschein geflüstert mit der Panik vertraut, erwischt werden zu können, und heilfroh darüber, war man später unentdeckt im eigenen Bett gelandet.
Diese Abläufe: tags in der Gewalt des Sadist, nachts der Horror vorm Giftstich einer Schlange, die ihre Ohren überall hatte, damit der Gatte, der seine Ohren nicht überall haben konnte, mit jüngstem Material versorgt werden konnte, bescherten mir nicht nur regelmäßig Albträume, sondern trieben mich in die Sehnsucht nach dem Tod.
Da war diese Oma, die zwischen zwei Stühlen saß. Verwandt mit dem Küchenchef und zum Liebling Jörg gehabt, der kurz vor seiner Gesellenprüfung stand und immer angab, wenn er wieder einmal ein Zimmermädchen aus dem elterlichen Hotel verführt hatte, gab mir unter vier Augen Ratschläge, suchte Verständnis für ihren Enkel und schwieg in seiner Gegenwart; speziell war der schlechter Laune und somit unberechenbar.
Und dennoch! Da war die Aussicht auf den Montag. Ich hatte einen Freund: Gerhard. Ihm konnte ich mich anvertrauen, mein Leid klagen. Und er stand mir zur Seite, umgaben ihn ebenfalls keine schönen Umstände; unzumutbarer Stress, Leistungsdruck, wie von einem Ausgebildeten erwartet, und eine neugierige Mutter, die nämlich des Hotelbesitzers. Nur mit Schlagen wurde Gerhard nicht konfrontiert.
Anfangs kam Gerhard ebenso wenig zurecht, spielte sogar einmal mit dem Gedanken, das Handtuch zu werfen. Dann hätte er die große weite Welt erkundet. Nur, abstammend von gutbäuerlichem Stamm, war er zum Überleben wie geschaffen. Mit seiner lebensfreudigen, natürlichen Art –immer zu einem guten Streich aufgelegt- kam er überall an. Ihm war so leicht nicht das Rückgrad zu brechen. Bald schon vermochte er es, das Beste aus seiner Lage herauszuholen; und voller Elan strahlte er Lebensfreude aus. Er verfügte über einen Unternehmungsgeist, dass in seiner Gegenwart nie Langweile aufkam. Sein Charme, sein Optimismus, sein Lachen war befreiend und ansteckend. Und zuversichtlich Pläne für die Zukunft schmiedend, baute er mich wieder und wieder neu auf. Noch jedenfalls!
Was meine Homosexualität betraf, lag kein zwingender Grund vor, darüber zu sprechen. Ich war von Kindheit an gewohnt, allein damit zurecht zu kommen. Nur in Momenten der Selbstbefriedigung wurde ich insofern damit konfrontiert, zwei, drei Schauspieler zum Lustobjekt zu haben. War die Luft raus, war’s das. Nach außen hin also kein Thema, zumal ich einmal den Test gemacht hatte. Der Überlegung: versteht man sich so gut wie Gerhard und ich, dann müsse es doch normal sein, auch in Momenten der Selbstbefriedigung an den Freund zu denken, mich hingegeben, wurde zum totalen Reinfall; ein fehlgeschlagener Versuch reichte und fiel der Vergessenheit anheim.
Leider scheinen Menschen, die über Macht anderer verfügen, keine Grenzen zu kennen. Nach außen hin sozial eingestellt, kam Personal, das für minderwertige Glieder der Gesellschaft erklärt war. Darunter Rita, zum Bedienen, und Waltraut, als Küchenhilfe. Waltraut war ein Kapitel für sich. Wenn ich das richtig verstand, hätte sie eigentlich ins Gefängnis gemusst, statt dessen war ihr die Chance gegeben, sich in diesem Haus zu bewähren. Abwechselnd hielt ich mich mal nachts in Ritas, mal in Waltrauts Zimmer auf. Die beiden selbst waren sich nicht sehr grün. Ich verstand mich mit beiden. Jedoch schweißten die menschlich unzumutbaren Verhältnisse zusammen, auch Rita und Waltraut, die sich immer häufiger fragte, ob es ihr im Gefängnis nicht besser ergangen wäre, derart schlimm wurde ihr tagein tagaus zugesetzt. Die wachsende Einsicht: Da gibt es welche, die mit dir machen können, was sie wollen, nahm verheerende Formen an. Der Glaube an das Gute im Menschen war erschüttert. Ich litt mit Waltraut, ich litt mit Rita, ich litt über mein eigenes Los. In Ludwigshafen wussten es alle, wie freudig ich das Elternhaus verlassen hatte. Diesen Triumph, freiwillig zurück zu kehren, konnte ich ihnen nicht geben. Mal fügte ich mich meinem Schicksal, mal haderte ich damit. Und die Schlaftabletten, die ich mir dann und wann von Rita geben ließ, nahm ich nicht ein, sondern sammelte sie instinktiv.
Das Durchhalten im Hause „Schönblick“, das mir bis dahin nach Unternehmungen mit Gerhard möglich war, endete in jener Nacht, als ich nach Hause kam und Jörg, wir waren in einem gemeinsamen Zimmer untergebracht, gerade in meinem Tagebuch las. „Du Schwein!“, beschimpfte er mich angewidert. Hinter mein dunkles Geheimnis gekommen, versprach er mir –der ich klein mit Hut geworden- zwar, keinem von meiner Homosexualität zu erzählen, jedoch unter der Voraussetzung, dass ich fortan einen weiten Bogen um ihn mache, denn er habe gerade beobachtet, wie wir uns –eben noch von Gerhard bis zum Hause begleitet worden- engumschlungen und abknutschend voneinander verabschiedet hätten. Obgleich ich Rita und Waltraut mit ins Vertrauen ziehen konnte und beide großartig zu mir hielten, war dies nicht das selbe, hätte ich Gerhard von diesem Vorfall erzählen können, was ich nicht übers Herz brachte. Von nun an hatte ich nicht einmal mehr nach Feierabend Ruhe. Jede Gelegenheit für Sticheleien und Anzüglichkeiten nutzte Jörg, um meine Freundschaft –die mir heilig war- in den Dreck zu ziehen. Das war zu viel. Und ich plante meinen Selbstmord. An meinem Geburtstag sollte es geschehen! Unsicher darüber, ob meine bisher gesammelten Schlaftabletten ausreichten, ging ich unbefugterweise an jenem Nachmittag in Ritas Zimmer, um das ganze Gläschen an mich zu nehmen, aus dem sie mir bisher das gewünschte gegeben hatte. Damit nicht genug, plante ich, um ganze Sache zu machen, mir die Pulsadern aufzuschneiden. Als es dann dunkel wurde und im Hause still, schlich ich mich in die Küche, nahm ein Fleischermesser an mich und eine Flasche Wasser, verließ das Haus durch den Hintereingang und ging in den Wald. Alle Schlaftabletten dann geschluckt, verließ mich, das Messer an die Pulsadern gesetzt, die Courage... Das Aufwachen am nächsten Morgen, in meinem Bett sogar, geschah, als wäre ich in einer anderen Welt gelandet. Drei Tage wandelte ich in Trance unter den Menschen. Rita gestand mir bald, dass sie meine Absicht durchschaut und deshalb vorsorglich die Schlaftabletten in Grippetabletten ausgetauscht hatte. Gerhard, dem ich am nächsten Montag im Bus bei der Rückfahrt zur Lehrstelle meinen misslungenen Selbstversuch beichtete, fühlte sich persönlich getroffen und meinte nur: “Hast du denn nicht an mich gedacht?“ Beim nächsten Telefonat mit meiner Mutter konnte ich ihr dann zum ersten Mal von den Schlägen und so weiter berichten. Am darauffolgenden Morgen, unangekündigt, stand sie auf der Matte, mit einem in Baiersbronn gekauften Koffer. Und während ich, von ihr aufgefordert, dabei war, meine sieben Sachen zu packen, ging sie geradewegs zu Herrn Bothe ins Büro, um ihm die Leviten zu lesen.
Sechs Monate waren vergangen, und ich war wieder im Elternhaus; eingezogen in dem Kinderzimmer, das ich mit meinem zweitältesten Bruder geteilt hatte, und das eine Zeitlang zu seinem Reich geworden war. Wir hatten uns nie geliebt, hatten hauptsächlich in Streit gelebt. Ich hatte also keine guten Karten bei ihm. Zusätzlich sorgte sich unsere Mutter um meine Zukunft. Wie sollte es mit mir weiter gehen? Mich würde doch kein Betrieb mehr einstellen. Dem konnte ich entgegenhalten! Über Nacht bekam ich den rettenden Einfall. Und siehe da, an jenem Tag, an dem ich meine Bewerbung zum Kurhotel Bareiss abschickte, kam über Kreuz von Gerhard ein Brief mit genau diesem Vorschlag. Zwei Wochen später lieferten mich meine Eltern zum zweitenmal in einem Lehrbetrieb ab. Gerhard hatte dafür gesorgt, dass sein Zimmerkollege bei einem anderen unterkam und ich bei ihm. Mein Glück war vollkommen. Zu zweit in einer Küche, zu zweit in einem Zimmer, zu zweit standen wir auf, zu zweit –mit den anderen an einem Tisch- frühstückten wir, zu zweit verbrachten wir den Feierabend, zu zweit fuhren wir in die Berufsschule, zu zweit... das währte nicht lange. Ich war ein Dorn im Auge des Kurhotelbesitzers und des Küchenmeisters. Unsere Schichtarbeit wurde uns trennend gelegt. Abwechselnd sollte mal ich, sollte mal Gerhard nach der Berufsschule noch arbeiten. Der freie Tag einmal die Woche, der jedem in diesem Betrieb zustand, fiel bei Gerhard und mir auf unterschiedliche. Mehr und mehr war Gerhard mit anderen, anstatt mit mir zusammen... Da war sie wieder: Die Eifersucht! Sie hatte bis dazumal nur auf der Lauer gelegen. Sich verkrochen, sich still verhalten, ihre Zeit abgepasst. Darauf gewartet, auszubrechen, um mir das Herz zu vergiften, mir die Reinheit meiner Gefühle zu nehmen, mein Innenleben zu verwüsten, in der Absicht, mich dem Verderben preiszugeben. Und das gelang ihr gründlich, indem sie meine Freundschaftsempfindungen umwandelte in ein fragwürdiges Verliebtsein, das in Wahrheit ein körperliches Begehren nach sich zog, das in eine aushöhlende, kraftverzehrende Sucht ausartete; meine zwei, drei Lieblingsschauspieler-Lustobjekte verloren ihren Reiz auf mich. Von heute auf morgen war ich Gerhard verfallen.
Irgendwann gestand ich ihm meine Liebe. Damit überfordert, bat er mich, im Namen unserer Freundschaft, ihn nie anzufassen. Ich schämte mich. Und Gerhards Bitte immerzu im Hinterkopf, nahm das Unglück seinen Lauf. Noch hatten wir schöne Zeiten, besonders dann, wenn ich ihm, nebeneinander auf seinem Bett liegend, aus meinen selbst geschriebenen Werken vorlaß.
Keinem in der Küche war entgangen, was ich für Gerhard empfand, so dass wir uns in einem fort mit zweideutigen Bemerkungen herumzuschlagen hatten, was Gerhard zu viel wurde. Seine Ehre stand auf dem Spiel. Die Ehre seiner Heterosexualität. Er unternahm erst recht mehr mit den anderen Lehrlingen, sah nach Mädchen, und stellte sich nicht weiter meinen Eifersuchtsszenen. Und eines Tages kam er aufgelöst ins Zimmer gestürzt. Ich hatte ihn in eine entsetzliche Lage gebracht. Die Mutter Bareiss’, die für ihr Leben gern schnüffelte, hatte in Abwesenheit von uns beiden mein verstecktes Tagebuch gefunden, es mitgenommen und es ihrem Sohn unter die Nase gerieben. Es kostete Gerhard, zur Rede gestellt, viel Mühe, ihn unter vier Augen davon zu überzeugen, nichts von meinen perversen Fantasien gewusst zu haben. Zum Beweis erklärte er sich damit einverstanden, dass ich in das Zimmer eines anderen ziehe, wo ich gleich Bescheid gestoßen bekam, es zu unterlassen, diesem an die Wäsche zu gehen. Nicht lange und ich zog wieder – heimlich- zu Gerhard. Seine Freundschaftsgefühle zu mir waren noch stark genug, bis ihm aufging, was er mir in meinen intimen Fantasien war. Von da an war ich bei ihm unten durch. Es verging kaum mehr ein Tag, an dem nicht auch er mich verhöhnte mit demütigenden Sprüchen. Ob beim Abfall herausbringen, beim Duschen im Hallenbad, das zum Hotelbetrieb gehörte, Spielchen der Lehrlinge unter sich, wenn sie sich zum Spaß zwischen die Beine gingen... sie durften, ich nicht. Das Ertragen solcher Szenen und der Idee ausgeliefert: besser unglücklich mit ihm, als ohne ihn, machte mich zum Schatten meiner selbst. Wir hatten ständig Streit. Wiederholt kam ich in der Küche mit meinem Meister oder einem Kollegen in die Haare. Hinzu kam, dass mich während der Arbeit mein Trieb, der mich mittlerweile zu seinem Sklaven gemacht hatte, davon stehlen ließ, um nach schneller Selbstbefriedigung im Zimmer weiter meiner Aufgabe nachzukommen. Meine Gedankenwelt war mir zu einer fremden geworden!
Heute weiß ich, es war mein rettender Anker, als mich eines schönen Tages Herr Bareiss zu sich ins Büro rief. Damals löste das einen Schock in mir aus, zu erfahren, dass er meine Mutter telefonisch gebeten hatte, für eine Unterredung zu ihm ins Haus zu kommen. Die Vermutung, von Gerhard getrennt zu werden, machte mir fürchterlich zu schaffen. Und so kam es auch. Festgelegt auf den 15. Januar 1972 sollte ich das Haus verlassen. In diesem Zusammenhang erlebte ich ein Silvester, das als das erste überhaupt meinem Gedächtnis unauslöschlich erhalten blieb. An jenem Morgen wusste ich kurzentschlossen, das neue Jahr gleich in Ludwigshafen beginnen zu wollen. Nur Gerhard zog ich ins Vertrauen. Und beim Packen meiner Habseligkeiten vernahm ich plötzlich das mir so vertraute Gepolter, das von der morschen Holztreppe herrührte. Es war wie damals, als ich so Gerhard zum erstenmal kommen hörte. Ganz unglücklich hatte ich mich auf dem Bett niedergelassen nicht des Zimmers, von dem mir Gerhard nach Ludwigshafen geschrieben hatte, bereits dafür gesorgt zu haben, dass wir zusammen darin leben würden. Die Eltern, die mich gerade im Kurhotel Bareiss abgeliefert hatten, waren verabschiedet. Ja, und dann kam Gerhard aufgeregt hereingestürmt, mit den Worten :“Was hab ich da gerade gehört! Die Hausdame will dich hier reinstecken, weil sie meint, mein Zimmer sei zu klein für zwei? Is’nicht! Komm.“ Schon schnappte er meinen Koffer. „Gibt’s da kein Ärger?“, fragte ich ungläubig. „Ärger,“ meinte Gerhard, „das werden wir schon sehen. Du jedenfalls kommst zu mir!“ Mitten in diese wunderschöne 1. Erinnerung in diesem Haus platzte nun Gerhard zum letzten Mal herein. Gott, wie glücklich war ich in dem Moment, als er die Tür aufriss, zur Schwelle stand, mir etwas entgegenhielt und sagte: „Hier, ich hab dir ‘n halbes Hähnchen geklaut.“ „Danke,“ entgegnete ich, „ich hab’ keinen Hunger.“ „Du Säckel,“ schimpfte er, „da muss einer jetzt verzichten und du willst es nicht.“ „Is’ ja gut, ich werde es essen!“, kam ich ihm entgegen und würgte die Mahlzeit herunter.
Zum letzten Mal stiegen wir gemeinsam die schmalen, knirschenden Stufen hinunter, ins Freie hinaus; unser letzter Händedruck, ein letztes Abschiedsbild von ihm, und er stürmte davon. Ich kämpfte mich den Abhang zur Strasse durch knietief-gefallenen Schnee der letzten Tage hinab, trampte zum Bahnhof in Baiersbronn und ahnte tief unbewusst: Das ist der Beginn, zu lernen, einmal nach meiner Fasson selig zu werden.
2. "Stelldirvor, ichweißwas!" "Nein? Wirklich?"
Es begann alles an einem stinklangweiligen, ganz normalen, späten Abend. Ein Onkel -von dem, weswegen Pauken und Trompeten ,etc.-, der kruzefixnochmal als Taxiunternehmer Tag und Nacht auf Tour sein musste, dem jede Ecke, jede Strasse, jedes hinterstes Kabuff, verruchteste Stätten, verschwiegenste Plätzchen vertraut waren, die nicht einmal der Allgemeinsterbliche kannte, hatte ihn gesehen. Ihn, um den sich bald alles drehte. Im Traum wäre ihm nicht eingefallen, sich vorsichtig nach allen Seiten zu drehen, um, falls Späher aus der Verwandtschaftsbrut sich in der Nähe aufhielten, an diesem Abend da mal nicht einzukehren, wo er seit einiger Zeit regelmäßig verkehrte. Es lag auch kein Grund vor, vorsichtig zu sein, lag dieser von ihm gern besuchte Treffpunkt schließlich mitten in einem Viertel, das bei den Besseren keinen guten Ruf hatte. Erst recht bei denen, die in der Folgezeit auf einem einzigen Thema herumreiten konnten, weil sie äußerst günstigen Umständen es zu verdanken hatten, vor Längerem oder Kürzerem aus diesem Viertel herausgekommen zu sein und seither sich zur Elite zählten, zur möchtegern Gesellschaft gehörten.
Wie gesagt, alles begann an diesem stinklangweiligen Abend. Klar! Der Onkel hätte auch an einem ganz normalen Abend davor, oder einem ganz normalen Abend danach ihn sehen können. Aber es geschah unumstößlich an diesem späten Abend im Hemshof! Hemshof? Das ist eine dieser missbilligten Siedlungen am Rande einer Stadt oder kleineren Ortschaft. Dort, wo die sogenannten Asis hausen, der Teil der Gesellschaft, mit dem man nichts zu tun haben will; Individuen, die man nicht einmal mit der Kneifzange anfassen würde; heruntergekommene Subjekte, zu denen man keinen Kontakt pflegt. Wie es der Zufall wollte, hatte Onkelchen ihn dort gesehen. Gleichzeitig von einer höheren Macht aufgerufen, die dem Onkelchen missionarisch zutraute, einen wichtigen Auftrag, der keinen Aufschub duldete, zu erfüllen, durchzwickte ihn schaudernd-prickelnd ein Nervenkitzel, der es so richtig in sich hatte. Demnach steuerte er flugs das Taxi Richtung nach Hause, damit das liebe, brave, extravagante Weibchen unverzüglich in grenzenloses Erstaunen versetzt werden konnte. Es -das Weibchen- war aber gar nicht so lieb, so brav, wenn... Ansonsten schon bemüht, eine Seele von Mensch zu sein, gäbe es da nicht diese angenehme Verzückungs-Befriedigungs-Möglichkeit bei Gerüchten, die man so herrlich schön breit zu treten verstand; dieser um alles in der Welt nicht zu vergleichende Genuss, aus einer Fliege einen Elefanten zu machen...
Natürlich wusste Onkel wie bissig Tantchen werden konnte, wurde es unsanft aus dem seligen Schlaf der Gerechten gerissen. Doch der Zweck, diese brenzlige Angelegenheit schleunigst weiter zu tragen, heiligte die Mittel, mit denen er gedachte, das Tantchen augenblicklich wohlwollend zu stimmen. Und Tatsache! Wie erwartet durchbohrte das Weibchen den Gatten mit gefährlich-todbringendem Giftpfeil, drauf und dran die Stimme zu erheben und sich eines auszuscheltenden Wortschatzes zu bedienen, der den Gatten gepfeffert niederzumachen verstand... Sich seiner Sache absolut sicher und auf alles vorbereitet, vertraut mit dem beschlagenen Wissen, wie das Weibchen im Bruchteil einer Sekunde in Hochform zu bringen war, sich auskennend darin, mit nur einem Worte eine folgende Berichterstattung schmackhaft vorzubereiten, in jahrzehntenlanger Übung sich die Fähigkeit angeeignet, die Brise Salz in der Suppe zum Ausgangspunkt zu nehmen, um das Weibchen in lechzende Neugierde zu versetzen, platzte es geschwind wie der Wind aus ihm heraus: "Stelldirvor, ichweißwas!“
Lüsternd und betört schienen dem Tantchen gleich die Augen herauszuspringen. Es stieß japsente, entzückte Laute von sich. Spannungsschweiß floss von der Stirn. Lady Boshaftigkeit gab sich ein Stelldichein und bescherte dem Tantchen die Gier nach mehr Hören wollen; die grauen Zellen waren in Bewegung gesetzt, damit der Kopf ordentlich Rauchen konnte. Am Ende seines Liedes angelangt, vom Weibchen mit dem unschätzbar-wertvollen Schlussakkord "Nein? Wirklich?" ausreichend belohnt, machte der Onkel sich wieder auf zur Arbeit.
Als die Begünstigte, einmal in der Situation zu sein, zuerst von einem Geheimnis zu wissen, das selbstverständlich der gesamten Familiensippe aufs Brot geschmiert gehörte, kribbelte es in Tantchens Fingerspitzen. Mit dieser sie vom Boden abhebenden Bürde betraut, das Zünglein an der Waage zu sein, wie es in der Schwere einer solchen Angelegenheit alle Jubeljahre nur einmal vorkam, geriet das Tantchen fast in Ekstase. Die Vorfreude, das anzurichten, wozu das Schicksal es bestimmte, trieb ihm beinahe Schaum vor den Mund. Oh, was für eine glückliche Stunde, ein gefundenes Fressen zu haben, das darauf wartete, den Raubtieren zum Fraße vorgeworfen zu werden.
Bedauerlicherweise waren Trommeln abgeschafft, mit denen eine wichtige Botschaft auf geradem Wege in Umlauf zu setzen gewesen wäre. Wie beneidenswert diese Barbarenmethode, eine Dringlichkeit per Handflächen mit geringem Einsatz in alle Himmelsrichtungen gleichzeitig zu verschicken. Diese Ursitte hatte die Zivilisation verdrängt. Doch wozu gab es das Telefon? Eine Erfindung, die eigens dafür geschaffen wurde, den Ahnenstamm über eine aus ihm hervorgegangene verdorbene Frucht nicht lange im Unklaren zu lassen.
Und da, wo es nun klingelte, wurde eine Oma -von jenem, weswegen...- aus ihren gemütlich-warmen Federn aufgescheucht. Eine Oma, die alles andere als begeistert war, mitten in der Nacht von ihrem Steckenpferd aus dem Bett geholt zu werden. Immerhin war der Tag für wesentliche Wichtigkeiten lang genug. Aber der Apparat hielt nicht still. Da mochte sich Oma einmal, sogar zweimal zur Seite drehen und versuchen, mit dem Kissen auf den Kopf gedrückt die Ohren dicht zu machen, es nützte nichts. Die Quasselstrippe forderte ihren Tribut. Und mit einer saftigen Portion Zorn beladen über diese mutwillige Belästigung, legte sich Oma auf ihrem Gang zum Telefon aus ihrem reichhaltigen Wortkastschätzchen einige Flüche zurecht, die ihren allbekannten Körpergebrechen hervorragend angepasst waren. Schließlich war sie ein altes krankes Mütterlein, das auf Rücksichtnahme, wenigstens in der Nacht, bestehen konnte. Oh, nein, Oma war auf den Störenfried am anderen Ende der Leitung ganz und gar nicht gut zu sprechen. Dem Tantchen war das klar! Wollte es nicht, dass es scheppert in der Kist´, musste es greifen zu einer raffinierten List! Und um den ihm zugedachten Ingrimm Omas an Gift und Galle gleich im Keim zu ersticken, übertraf das Tantchen sich selbst mit der olympiareifen Leistung, Oma in lechzende Neugier zu versetzen; "Stelldirvor, ichweißwas!" plärrte es wie aus der Pistole geschossen durch den Draht.
Mit dem unschätzbar-wertvollen Schlussakkord Omas "Nein? Wirklich?" ausreichend belohnt, konnte sich das Tantchen, seine Schuldigkeit getan, wieder aufs Ohr legen. Oma hingegen hastete -hastete?-, ja, hastete zu Opa. Die ewig-auf-sich-aufmerksam-machenden Leiden waren wie weggeblasen. Wachgerüttelt den Schlaf aus den Augen reibend, schickte sich Opa bereits mit seinem diktatorischen, barschgewaltigen Bassbariton an, dem Mütterlein die Flötentöne beizubringen. Aber Oma war routiniert zur Genüge, dem Gatten, bevor der sich recht versah, mit bemerkenswerter Klugheit über die Schnauze zu fahren und so ihn in lechzende Neugierde zu versetzen, "Stelldirvor, ichweißwas!" Und mit "Nein? Wirklich?" bekam das Mütterlein nach vollendeter Aufklärungsarbeit von Opa sein ausreichendes Lob.
Einig waren sich die bisher Eingeweihten darüber, sie -die Mutter dieser Abartigkeit- unbedingt zu verschonen. Hoffentlich steckte ihr keiner, was hinter ihrem Rücken getrieben wurde. Die Ärmste, was hatte sie für ein schweres Kreuz zu tragen. Ach Gottchen, das ging ja auf keine Kuhhaut mehr. Und nun das noch: Sodom und Gomorra. Musste sie sich aber auch in ihrer Jugend weiß der Kuckuck wo überall herumtreiben? Das kommt davon. Halt, nein! Wer im Glashaus sitzt soll nicht mit Steinen werfen. Selbst wenn die Abgrundgute, der nichts erspart blieb, nicht ganz unschuldig war an ihrem Unglück. Einen solchen Schandfleck –den man ja seinem ärgsten Feind nicht wünschte - hatte sie weiß Gott nicht verdient. Durch die Lupe betrachtet war er ja schon immer ein bisschen komisch. Von ganz anderem Holz geschnitzt, als das der Familiensippe. Und ziemlich zurückgeblieben. Ein schwer ins Herz zu schließender Junge, der nicht nur die 4. Schulklasse wiederholte, sondern es mit der Wahrheit nicht so genau nahm und hin und wieder lange Finger machte. War etwa ihre Erziehung daran Schuld? Steckte in ihr letztendlich der Wurm drin! Von der Prügelstrafe hielt die Gute ja nichts. Damit war ihr nie beizukommen gewesen. Und im Übrigen: kam man ihr mit Ratschlägen und wollte nur das Beste von ihr, war mit der nicht gut Kirschen essen. Ausgerechnet die hat es nötig, die mit ihren modernen Ansichten und altdahergebrachten Moralvorstellungen, von denen keiner was hielt. Das hatte sie nun davon. Ihre Hände in Unschuld waschen? Man kriegt, was man verdient, meine Liebe. So ist das nun einmal: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Wir haben es immer gewusst. Das musste ja so kommen. Jetzt kannst du zusehen, wie du mit dieser Schande fertig wirst. Hättest du bloß auf uns gehört. Wir, an deiner Stelle, würden uns nicht einmal mehr auf die Strasse wagen. Vor Scham würden wir in den Erdboden versinken oder uns einen Strick nehmen... Derweil erinnerte man sich an eine Tante in Leibzig, an eine in Frankreich; der eine oder andere Onkel bekam Bescheid; zwischen Einkaufen, Spazierengehen, Behördengängen, zwischen gegenseitigen Besuchen, Telefonaten und alltäglichen Begegnungen wie Freunde, Bekannte, Nachbarn, etc., nirgends wurde es versäumt, hinter vorgehaltener Hand in lechzende Neugierde zu versetzen mit: „Stelldirvor, ichweißwas!“ Und mit einem „Nein? Wirklich?“ bekam der Informant sein ausreichendes Lob. Als eine unbedingt dringliche Wichtigkeit galt es, mit ins uneingeschränkte Vertrauen zu ziehen alle, die zur Zeit hinter schwedischen Gardinen gefilterte Luft einatmeten. Ein Denkmal dem, der das Papier erfunden hat, ein dreifaches Hoch der zuverlässigen Post, ein besonderes Dankeschön dem Briefzusteller, der -das ist doch sonnenklar- speziell dafür im Dienste der Menschheit stand, ein Eisen schmieden zu können, so lange es noch heiß war. Von Westen und von Osten, von Süden und von Norden her hatte man mit dem geistvollen, tiefsinnigen „Stelldirvor, ichweißwas!“ den Erfolg gepachtet für eine Antwort, die in der Regel Tage, Wochen oder ewig auf sich warten ließ, mit diesem ausnahmsweise ausreichendem Lob, das dem Empfänger wie Öl runterging „Nein? Wirklich?“ Und nach vollbrachter Kunde in der Runde, alles was dazu gehörte im Bunde, war bei der Aufklärung über den missratenen Nachwuchs auch wirklich niemand vergessen worden.
Es wurde wieder zur Tagesordnung übergegangen. Traf sich da, traf sich dort zum Austausch von Neuigkeiten. Irgendwie jedoch ließ sich vergleichbares Tratsch- und Klatsch-Material für lechzende Neugierde nicht auftreiben. Im besonderen war es das Tantchen, das befürchtete, Gras könne über die Angelegenheit wachsen. Nicht auszudenken, geriet diese in Vergessenheit. Und überhaupt! Würde sich eine solche Gelegenheit, es der Schwester mal so richtig zu zeigen, je wieder ergeben? Eine solche verpatzt zu haben, würde sich Tantchen ein Leben lang nicht verzeihen können; und erst recht war nicht auszudenken, käme ihr ein anderer zuvor.
War es nicht sogar ihre verdammte Pflicht, der Schwester reinen Wein einzuschenken. Der war sogar zuzutrauen, den Spieß umzudrehen, obwohl es allesamt gut mit ihr gemeint haben, würde sie jemals dahinter kommen, was alle wussten außer ihr. Von der anderen Seite betrachtet, war es unverantwortlich, ihr die Wahrheit vorzuenthalten. Nein, das konnte man ihr nicht antun. Da machte man sich ja mitschuldig. Ach Gottchen, und das Gewissen! Wie sollte ihr jemals wieder unter die Augen getreten werden können. Zumindest die Möglichkeit musste ihr gegeben werden, das missratene Früchtchen zur Rede zu stellen.
Nein! Da war sich Tantchen seiner ganz sicher. Es ging nicht darum, ihr einen Denkzettel zu verpassen oder Zwiespalt zu säen, Öl aufs Feuer zu gießen oder Gelüsten nachzukommen, das durchtriebene Blut in Wallung zu bringen. Oder Schaden zufügen wollen. Niemals! Als die Güte in Person kam sie sich vor, schließlich erlaubten es die schwesterlichen Gefühle –an sie sich urplötzlich erinnert- nicht, tatenlos zuzusehen, wie ihr hinten herum auf dem Kopf herum getanzt wird. Sich derart streng ins Gericht genommen, konnte das Tantchen bald keinen ruhigen Schlaf mehr finden. So ganz Wohl war ihr dabei nicht, seit Tagen ihre heilige Pflicht zu versäumen. Zusätzlich gab ihr der Gatte eins drauf, erfuhr er, sich danach erkundigt, wie sie reagiert habe, dass sein Weibchen bisher nicht dazu gekommen sei. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Es kam zum Tag X! Den Telefonhörer von der Gabel genommen bekam Tantchen sie, nach zweimal verwählt, gleich an die Strippe. „Fällt mir ein Stein vom Herzen, dass ich dich antreffe, meine Liebe. Ich hab’ leider eine schlechte Nachricht.“ „Du hörst dich gar nicht gut an. Ist mit dem Taxi was nicht in Ordnung?“ „Wenn’s mal das wäre, meine Liebe! Nein, es betrifft dich. Ich hab’ ja gemeint, es wäre besser, dich da rauszuhalten, aber Mutti ist da anderer Meinung. Einer Mutter muss man das sagen, so schwer es auch fällt. Und du weißt ja, ich hab’ mit eigenen Kindern keine Erfahrung. Ich kann ja leider keine kriegen“ „Hör mal, ich hab’ nicht viel Zeit, ich bin gerade beim Essenkochen. Könntest du dich kurz fassen?“ „Sonst ja wirklich gerne, meine Liebe, nur dieses Mal geht das beim besten Willen nicht. Für das, was ich dir zu sagen habe, musst du dir die Zeit nehmen. Ach, es fällt mir so gar nicht leicht. So etwas sollte man eigentlich gar nicht durchs Telefon machen. Ach Gott, wie du mir leid tust, meine Liebe. Wer sonst, wenn nicht ich, wüsste es am Besten, dass du es in deinem Leben nie leicht hattest. Dir bleibt rein gar nichts erspart. Ach Mensch, warum muss immer ich die Dumme sein...“ „Hör mal,“ wurde dem Tantchen in ihrem beklagenswerten Jammer das Wort abgeschnitten, „komm doch einfach her, wenn dir das, was du mir zu sagen hast, übers Telefon unangenehm ist.“ „Würde ich ja wirklich gerne, meine Liebe, aber ausgerechnet heute hab’ ich keine Zeit...“ „Dann spuk’s doch einfach aus und spann mich nicht länger auf die Folter.“ „Na hör mal,“ ließ sich das Tantchen beleidigt wie eine Leberwurst vernehmen, „wie kommst du darauf, dass ich dich auf die Folter spanne? Und von wegen ausspuken! Mein Reden: Undank ist der Welt Lohn. Da erklär ich mich bereit, die traurige Pflicht zu übernehmen, mich bei dir zu melden, wovor sich alle drücken, und du kommst mir so.“ Tantchen kam in Rage. Was bildete die sich eigentlich ein? Da nahm man in Kauf, sich in Brennnesseln zu setzen und sie nahm sich heraus, einem den Mund zu verbieten. Wenn das meine Kinder wären, wäre ich für jede Hand dankbar, die mir gereicht würde. Sie hat das natürlich nicht nötig. Glaubt sie! Aber da hatte sie die Rechnung ohne das Tantchen gemacht. „Also gut,“ wetterte es, „wenn du’s nicht anders willst, meine Liebe. Aber gib mir nicht die Schuld, wenn du gleich einen Stuhl brauchst, weil dich die Beine nicht mehr halten. Ich hab’s versucht, dich schonend darauf vorzubereiten. Lass dir bloß nicht einfallen, mir später Vorwürfe zu machen.“
Du meine Güte, bahnte sich da wieder ein Familienkrach an? Bitte nicht! Das hätte gerade noch gefehlt. „Entschuldige,“ bekam das Tantchen zu hören, „ich wollte dir bestimmt nicht zu nahe treten. Jetzt sag mir halt, was du zu sagen hast. Ich werde ganz Ohr sein.“ „Dann halte dich bitte fest! Ich will’s so kurz machen wie möglich. Es geht um deinen Ältesten! Wie du weißt, kommt man mit einem Taxi überall hin. Letztens also, im Hemshof, weißt du, da gibst es so ein Lokal, das heißt Treffpunkt...“ „Treffpunkt?“ fiel es Tantchen ins Wort, „damit erzählst du mir nichts Neues. Homos treffen sich dort. Ich weiß, dass er da hingeht. War’s das? Du musst schon entschuldigen, aber ich bin beim Kochen.“
Tantchen war wie vom Blitz getroffen. Da hört sich ja wohl alles auf! Dieses scheinheilige Luder wusste über ihren Ältesten Bescheid und hat es nicht für nötig gehalten, die Familie umgehend darüber zu informieren. Die ganze Aufregung umsonst. Also stell sich das mal einer vor! Nein! Wirklich!
3. Ein häufiger Weg in die Realität
Diese Geschichte ist wahr. Sie mag in eine Schnulze hineinführen, in einen Groschenroman. Es gibt Im Leben eben einzigartige Begebenheiten. Und Menschen, denen ähnliches widerfahren ist, werden ihre Freude daran haben, über eine Liebe zu hören, von der ich hier erzähle. Einem Schmalztopf entsprungen werden andere sagen, nämlich die, die keine Ahnung davon haben, dass Gott Amor am Werke ist wie eh und je. Dreißig Jahre ist es in unserem Fall her, da traf sein Pfeil mitten ins Herz eines Träumers, dem das wahre Leben wie einem Zuschauer von einer Tribune her vertraut war, sein eigenes allerdings durch die rosarote Brille sah. Erwartungen an seine Zukunft waren hochgesteckt in Friede, Freude, Eierkuchen; die Naivität war ihm ins Gesicht geschrieben. Und träumte er von der großen Liebe seines Lebens, war er in seinem Element. Dann geriet er in romantische Sehnsucht, die ihn in den siebten Himmel hob, und seine Umwelt verschwamm in ihrer Wirklichkeit, wozu die Film- und Glimmerwelt bereits in seiner Kindheit ihren Teil ebenso beitrug, wie Liebesromane, die unseren verträumten Außenseiter in eine einzige Illusionswelt führte. Er war mit einem Wort: Ein Idealist wie’s im Buche steht!
Vor einigen Wochen erst war er –der einfachhalber geben wir ihm den Namen Otto Brunner- 18 Jahre geworden. Kürzlich bei Knöller in Ludwigshafen einen Tanzkurs abgeschlossen, konnte er dieser Leidenschaft, von der Otto nicht einmal ahnte, dass sie in ihm verborgen lag, nicht mehr widerstehen. In dieser neuen Welt, die des Tanzbeins schwingen, ging sein ganzes Taschengeld drauf, wovon er ziemlich wenig hatte. Das konnte ihn nicht davon abhalten, jede freie Minute, die er als Kochlehrling hatte, in die Disco zu gehen. Tanzen wollte er. Tanzen musste er. Da reichten ihm die paar Mark, die der Eintritt kostete, eventuell vielleicht noch für ein, manchmal sogar zwei Getränke, damit der Durst gelöscht werden konnte, nötigenfalls gab es auch fließend Wasser in der Toilette; Hauptsache er konnte, wenn ihm der Rhythmus der Musik ins Blut ging, loslegen. Keine Disco-Veranstaltung an Samstagabenden und Sonntagnachmittagen bei Knöller ließ sich Otto entgehen, demzufolge, ausgezeichnet im Führen geworden, er bei den Mädchen bald zu einem Geheimtipp geworden war. Von jeher in Freundschaften mit Jungen das Größte gesehen, wurde Otto nun eines Besseren belehrt. Anfangs entdeckte er, dass nicht jedes Mädchen sich als eine gute Tanzpartnerin herausstellte und mit so manchem Korb, den er kriegte, war er irgendwo fremd gelandet, musste er, von Natur aus schüchtern, auch lernen umzugehen. Davon nicht klein zu kriegen, stellte es sich als lohnenswert heraus, wieder und wieder zum Tanz aufzufordern, und hielt er eine Tänzerin im Arm, mit der er, wie Wachs in seinen Händen, bei jeder Drehung, jeder Figur fließend davon schweben konnte, merkte er sich dieses Gesicht ganz genau, was zumeist auf Gegenseitigkeit beruhte, die leider die unerfreuliche Nebenwirkung mit sich bringen konnte, dass dieses oder jenes Mädchen sich in Otto verliebte. Selten fiel bei Otto der Groschen sofort, was zum Vorteil hatte, dass zwei junge Menschen einige schöne Stunden mehr gemeinsam verbrachten; sobald ihm nämlich ein Licht aufging, einer seiner Tanzpartnerin das Herz gebrochen zu haben, machte er anstandshalber einen weiten Bogen um sie. Sie sollte nicht unnötig leiden.
Wer in seinem Glauben darüber, dass es eine Art Bestimmung aus einer höheren Welt gibt, manche nennen das auch Schicksal, von nichts und niemandem vom Gegenteil überzeugt werden kann, der wird keine Schwierigkeiten damit haben, wenn wir nun darauf zu sprechen kommen, dass seltsame, ein wenig sogar anrüchige Gegebenheiten Otto dahin führten, wo er zur rechten Zeit, am rechten Ort sein sollte. Irgendwann in der Nacht, auf dem Weg nach Hause, an einem Park vorbei, waren ihm Vorgänge aufgefallen, denen er in folgenden Nächten auf die Spur zu kommen beabsichtigte... Diese und jene flüchtige Bekanntschaft gemacht, wurde er an einem Abend mit in ein Lokal genommen, worin es ihm auf Anhieb gefiel; er war im „Treffpunkt“ gelandet. Die Frage, wie es in einer solchen Stätte zuging, beschäftigte ihn bereits seit einiger Zeit. Nur: jedes Mal, wenn er drauf und dran war, sich selbst einen Eindruck davon zu verschaffen, verließ ihn der Mut. Und nun war er drin! Leibhaftig! Unter Seinesgleichen! Angenehm berührt von dieser seltsam fremden und -woher auch immer- irgendwie vertrauten Atmosphäre, angesteckt von einer heiteren, entspannten, herrlichen Stimmung, kam er aus dem Staunen kaum heraus. Dieses unkomplizierte Verhalten: ungeniertes, argloses, zwangloses miteinander Umgehen unter Männern, obwohl auch Frauen anwesend waren, die so ganz und gar keinen Anstoß daran nahmen; was für eine Offenbarung. Niemand störte sich daran, dass Männer sich herzlich begrüßten, umarmten, küssten. Welch eine wundersame Entdeckung dieser ungewohnte Anblick: Männer, die tanzten, auseinander und eng umschlungen. Und dieser Wortschatz: Tunte, Schwestern (vergeblich Ausschau haltend nach Frauen in Klosteruniform), Klappen... dafür würde er sich demnächst gerne die Zeit nehmen, einmal mitreden zu können. Es war um ihn geschehen. Er hatte seine Heimat gefunden, sein zweites zu Hause. Wäre seine Leidenschaft, das Tanzen, nicht gewesen, der Reiz, in Knöllers Disco zu gehen, wäre Knall auf Fall zur Geschichte geworden. Binnen Kurzem sollte sich für Otto herausstellen, dass sich um einen guten Tanzpartner, die es im Treffpunkt wenige gab, gerissen wurde. Noch aber war er Neuling, noch war mit seinen Vorzügen keiner vertraut, denn tanzende Menschen gab es ununterbrochen auf dem Parkett; forderte ihn trotzdem mal jemand zum Tanz auf, nicht zuletzt, weil er von seinem Platz aus ständig den Rhythmus der Musik körperlich mitmachte, trieb ihm die Verlegenheit vor lauter Peinlichkeit die Röte ins Gesicht; aber bei seinem: „Ich weiß nicht...“, hielt sich niemand lange auf. Die Überwindung seiner Scheu, mit einem Mann zu tanzen, brachte er einfach nicht über sich. So kam es, dass er vorerst zwischen seinem Schichtdienst als Kochlehrling im Europahotel in zwei Welten hin- und herpendelte. 22 Uhr endete an den Samstagen der Discoabend bei Knöller, da hielt Otto dann nichts mehr vom Treffpunkt ab; und an den Sonntagnachmittagen war das nicht anders. 18 Uhr Disco-Ende, ab in den Treffpunkt, falls Kaffeeklatsch ab 16 Uhr angesagt war, ansonsten wurde regulär 20 Uhr, bzw 21 Uhr geöffnet.
In seiner Räumlichkeit war der Treffpunkt wie eine niedliche, etwas zu groß geratene Puppenstube. Forderte von der Straße aus ein weiterer Gast um Einlass, wurde ein Knopf der Außentür betätigt, der über dem Tresen im Gastraum ein rotes Licht aktivierte, das nicht immer gleich bemerkt wurde. Ständige mit den Schlagerklängen verbundene Discolichter sorgten für gemütliche Behaglichkeit. Oder die einzigen Personen, die öffneten, das waren Erna, die Bedienung, Walter, Mädchen für alles, und Ludwig, der Wirt, waren in das Wohl der Gäste solchermaßen eingespannt, dass es einige Minuten dauern konnte, dem roten Licht nachkommen zu können. War der Gast als ein Dazugehörender erkannt, ging er erst einmal durch ein etwa 1 ½ qm großes Foyer, bevor er ins Lokal direkt eintrat. Geradeaus war die Bar mit Tresen und Barhockern, von da aus man auch zu den Toiletten gelangte. Links ab ging es in die Räumlichkeit, an deren Ende ein Discopult war, ebenfalls mit einem Tresen und Barhockern versehen. Einige wenige Tische mit Stühlen gab es und eine Musikbox an der Wand, die dann in Betrieb war, wenn die Gäste noch in keiner so großen Anzahl eingekehrt waren. Rechts vom Foyer war gerade mal noch Platz für einen einzigen Tisch mit wenigen Stühlen. Und hier gab es eine allgemein sehr beliebte Sitzgelegenheit, die Otto anfangs für sich wie geschaffen schien. Durch das Stück Wand des Foyer brauchte der Stuhl nur um ein weniges zurück gerückt werden, und man erreichte, dass keiner eine Notiz von einem nahm mit dem Vorteil, dass einem selbst nichts entging, besonders die Tanzenden inmitten der Lokalität; und den Stuhl an den Tisch gerückt, wurde erreicht, im Blickfeld der Anwesenden zu sein. Speziell an den Wochenenden, war der Laden prope voll und jeder darum bemüht, mit Armen und Beinen sich sanft aber bestimmt ein Minimum an Stehplatz zu behaupten, währenddessen auf der Tanzfläche an ein richtiges Austoben nicht zu denken war, hatte man da noch etwas Bewegungsfreiheit. In einen solchen Abend hinein, erst wenige Male im Treffpunkt Gast gewesen, traf es Otto wie ein Blitz. Er machte seine erste Erfahrung mit der Liebe auf den ersten Blick.
Angetan und gut gelaunt, nahm Otto von seinem Sitzplatz aus an dem bunten Treiben beobachtend teil. Scham und Scheu hinderten ihn daran, bei manchem Hit nicht sich einfach mitten unter die Tanzenden zu mischen. Oh, es kribbelte ihm in den Beinen. Nebenbei begutachtete er neu einkehrende Gäste, die bei ihm vorbei mussten. Und dann bemerkte er es! Ca. 1 ½ Meter entfernt an die Wand gelehnt wurde er beobachtet von einem schwarzhaarigen Fremden, der mit Ludwig plauderte. Ganz offensichtlich zeigte dieser nicht erst ab diesem Moment Interesse an Otto, und bemerkt worden, ließ er kaum noch die Augen von ihm. Selbst Ludwig, der dabei war, Anker zu werfen, fiel das eindeutige Interesse des Fremden an Otto auf. Das wäre ja gelacht, diesen Neuling, der noch grün hinter den Ohren war, zum Konkurrenten zu haben. Sehr spendabel setzte Ludwig seinen Charme ein und brachte den Fremden, der recht gesellig war und trotzdem in geteilter Aufmerksamkeit blieb, viel zum Lachen.
Mit dieser Situation, einem Mann zu gefallen, umzugehen, wusste Otto nicht, zumal dieser Fremde ihm gefiel. Gefiel? Ein Bild von einem Mann fand Otto. Er wurde unruhig und unsicher. Da musste ein Fehler vorliegen. Ausgeschlossen, dass solch ein attraktiver Mann auf ihn ein Auge geworfen haben könnte, obwohl die Eindeutigkeit der Blicke des Fremden keine andere Schlussfolgerung zuließ. Von der Erscheinung magisch angezogen, entschwand Otto das Geschehen um ihn her zunehmend. Er geriet in einen betörenden angenehmen Zustand, der ihn leicht und unbeschwert werden ließ. Nähe und Zugehörigkeit zauberte das Fremde weg. Und dann geschah es! Wieder trafen sich die Blicke der beiden. Nur dass dabei dieses Mal eine Musik erklang, die dem ganzen Geschehen die Krone aufsetzte. „Ich hab’ die Liebe gesehen!“, sang Vicky Leandros. Und Otto liebte.
Die Zeit blieb nicht stehen. Irgendwann musste Otto Aufbrechen, wollte er am Morgen nicht zu müde bei der Arbeit sein. Mit einem letzten verabschiedenden Blick verließ er im Zauber seiner Liebe die Lokalität.
Der nächste Tag versetzte mit seiner Nüchternheit Otto in Unsicherheit. Was war, wenn er irrte? Weggegangen vom Treffpunkt war er mit der Gewissheit, sich mit seinem Liebsten durch die Augen stumm für den folgenden Abend verabredet zu haben. Zwischen quälenden Stunden, die einfach nicht vergehen wollten, der Überlegung, den Liebsten vielleicht nie wieder zu sehen und der Liebe, die ihn beflügelt seine Fantasie anregte, entwickelte Otto einen Plan. Also war er an diesem Abend im Treffpunkt der erste Gast; sein Sitzplatz durfte auf keinen Fall besetzt sein. Und sich niedergelassen, schlug er Wurzeln. Die Probe aufs Exempel, hier sollte sie stattfinden. Schon trudelten die ersten Gäste ein. Das Discopult löste die Musikbox ab. Bei jedem aufblinkenden Rotlicht hoffte Otto, jetzt sei er es, der herein wollte. Und wieder nicht. Selten waren Ottos Nerven so strapaziert worden. Was war, wenn er nicht kam? Was war, wenn er kam und nicht augenblicklich nach Ottos Sitzplatz sah? Dann war ihm das die Bestätigung, sich geirrt zu haben, und er wollte keinen Sekunde länger hier bleiben!
Schon wieder leuchtete das rote Licht auf. Erna nahm gerade eine Bestellung auf, Walter legte Schallplatten auf, Ludwig war im Geplauder. Nun leuchtete es schon alle naslang; derweil Otto in eine seltsame Mischung von Nervenkrieg, Geduldsanspannung und freudiger Erregung geriet. Etwas sagte in ihm: Dass ist er! Schließlich rief Erna, die alle Hände voll zu tun hatte, Walter zu, er solle öffnen. Und dann geschah es! Wie einem Groschenroman entnommen, trat der Schwarzhaarige ein, sah auf Otto und lächelte. Schon rief Ludwig ihn, begrüßend in Beschlag nehmend, zu sich zum Tresen.
Otto war selig. Es stimmte. Sie liebten sich. Der Liebste war über ihr Wiedersehen ebenso verunsichert gewesen wie Otto selbst. Ruhe und Friede kehrte ein. Während Ludwig bemüht war, den Schwarzhaarigen diesmal mit einem Stammgast zu verkuppeln, ließen die beiden sich nicht aus den Augen und ungenierter verweilte Otto mal auf den Lippen seines Liebsten, der da sprach und lächelte, auf den Augen, die in Ottos eigenen ein Leuchten hervorzauberten, und über die Gestalt, die Ottos eigene in schöne Schauer versetzte. Wie lange vollzogen sich diese erwiderten Blicke, die sie beide in einem verzauberten Bann hielt? Wo war die Zeit? Bekamen sie eigentlich von dem Geschehen um sich her noch etwas mit? Hier war Leben, ansteckendes Leben. Jubel, Trubel, Heiterkeit. Lachende Menschen, lustig und froh. Eine ausgelassene Gesellschaft, in deren Mitte zwei Liebende waren, gerade dabei, eine eigene Welt zu erschaffen. Auf einmal wusste Otto nämlich nicht wie ihm geschah, hatte sich der Schwarzhaarige doch tatsächlich zu ihm herüber begeben. „Tanzt du?“, fragte er. „Ja!“, antwortete Otto, vom Klang der Stimme des Liebsten schier betört, und fand sich wie selbstverständlich gegenüber dem Schwarzhaarigen auf der Tanzfläche vor. Jeder tanzte für sich, ein Schlager folgte dem anderen, trotz vorhandener Bewegungsfreiheit kamen sie in Tuchfühlung, die sie beide erst recht verlegen Schweigen machte, eingehüllt in ein ununterbrochenes Anlächeln. Und dann geschah es! War es Walters Verdienst, der dafür ein Auge hatte, litten Verliebte unter Anlaufschwierigkeiten? Oder war von Ludwig der entscheidende Tipp gekommen, einsehend, den Schwarzhaarigen weder für sich noch für einen anderen zu gewinnen. Jedenfalls trieb Vicky Leandros’ „Ich hab’ die Liebe gesehen!“ die Liebenden endlich in die Arme. Es war das erste Mal! Seine Qualitäten im Führen beim Tanzen oft unter Beweis gestellt, konnte Otto dem langsamen Tanz nie etwas abgewinnen. Und er begriff wieso. Diese Entdeckungsreise hatte er sich für ihn aufgespart. Nie zuvor war Otto etwas vergleichbar Schöneres widerfahren. Ganz dem Liebsten in den Armen hingegeben, fand er sich in einer Wohltat vor, die neue Empfindungen in ihm auslösten. Scheue und Schüchternheit waren entschwunden. Eine Art Rauschzustand durchströmte ihn, im fühlbaren Nahsein des Liebsten. Und instinktiv bestätigte dies Otto, nur in der Liebe geborgen und richtig aufgehoben zu sein.
An diesem Abend war es Klaus, der in Bad Schwartau bei Lübeck wohnte und im Süden Deutschlands beruflich zu tun hatte, der vorzeitig gehen musste. Diesmal trennten sich die Liebenden mit einem Rountevous für den nächsten Abend, wofür Otto sich in Schale warf. Sich die Sonntagskleidung anzulegen, den besten Schlips dazu, schien ihm für Klaus gerade mal gut genug. Vergingen die Stunden bis zum Wiedersehen schon quälend langsam, kam ihm die letzte vor, als stünde er unter Starkstrom. Die Zukunftspläne hatte Otto ehedem fertig ausgemalt, worin er nach der Lehre zu Klaus ziehen würde und sie das glücklichste Paar auf Erden werden.
Endlich war es soweit. Beim Berliner Platz, wo Otto viel zu früh war, trafen sie sich. Mit der Straßenbahn fuhren sie nach Mannheim. Geplant war, im „Pferdestall“, auch ein Homolokal, einzukehren. Dort entschieden sie sich für eine Sitzgelegenheit, bei der sie weniger zu beobachten gewesen wären. Aber das war eh egal, so wenig wie an diesem Abend los war und die Verliebten von nichts Kenntnis nahmen, sich ständig in die Augen sahen, von sich berichteten und jedes Mal, wenn Vicky Leandros sang, „Ich hab’ die Liebe gesehen!“, sich engumschlungen auf der Tanzfläche in den Armen lagen. Irgendwann rückte Otto mit einer Frage heraus, die ihn sehr verunsicherte: „Du, Klaus, ich hab’ noch nie in meinem Leben geküsst. Mache ich das eigentlich richtig?“ „Wenn das wahr ist,“ lobte Klaus, „dann bist du im Küssen ein Naturtalent.“
Das Naturtalent mochte gar nicht mehr aufhören, bis Klaus damit heraus rückte, Ottos guten Ruf nicht aufs Spiel setzen zu wollen, er würde am nächsten Tag wieder weg sein und dann... „Das ist mir egal,“ meinte Otto, „ich küsse so und so keinen anderen mehr.“
Ging das Klaus zu weit? War ihm das Spiel mit dem Feuer aus den Fugen geraten? Ahnte er bereits, was er da angerichtet hatte?
Der Abend nahte sich dem Ende. Gestern noch, so Klaus, habe er noch einige Tage in Süddeutschland zu tun, heute hieß es, dass er schon früh am Morgen abreisen müsse. Das Versprechen, bald zu schreiben, löste er nicht ein. Wochen vergingen, in denen Otto regelmäßig schrieb und Liebesgedichte verfasste, 13 in der Zahl. (Er besitzt sie heute nicht mehr). Zu Weihnachten kam wider Erwarten eine Karte, im Wortlaut: Ich weiß, dass Du böse auf mich bist. Ich lasse nun öfters von mir hören!
Wieder entfachte Hoffnungen in träumender Glückseligkeit. Wochen vergeblichen Wartens. Glauben an den Liebsten, Entschuldigungen findend für seine Treulosigkeit. Das bisschen Lehrgeld zusammengespart reichte für ein Geburtstagsgeschenk und eine Bahnkarte. Nach Tagen sich Durchschlagen in einer fremden Stadt, mit täglichem Vorbeisehen bei Klaus, konnte Otto ihn zwei Minuten sprechen. Die versprochene Verabredung am Abend nicht eingehalten, fuhr Otto ernüchtert zurück. Klaus war in einer festen Beziehung. Und das schon seit mehreren Jahren.
(Zwei Jahre später siedelte Otto in den hohen Norden über; es war sein Schicksal, dort Wurzeln zu schlagen)
4. Einzigartig
(Für Tatjana)
„Früher war alles ganz anders,“ sagt sie, nimmt einen Glimmstengel aus ihrem goldenen Etui, führt ihn trotz roten langen aufgeklebten Kunstfingernägeln gekonnt in eine Zigarettenspitze und lässt sich Feuer von mir geben. Dabei lächelt sie, sich bedankend, mich an und ich schmelze dahin. Zwei, drei Züge und sie verschwindet in einem blauen Dunst, der sich lichtet. Verschwunden ist eine Wirtin hinter ihrem Tresen mit stark geschminktem Gesicht, das ein faltenreiches Antlitz verbirgt, aus eigenem Haar eine schwarze Perücke, die sie sich (in angeheitertem Zustand gestand mir das Tatjana einmal) in jungen Jahren von einem Barbier hatte anfertigen lassen und Modeschmuck, der einen zierlichen Hals, entzückende Öhrchen und schmale schöne Hände schmückt. Statt dessen taucht eine orientalische Schönheit voller Geheimnisse auf, aus denen sie mir hin und wieder manches Preis gibt bei ihrem Zurück in die Vergangenheit. Schwärmt sie von guten alten Zeiten, trägt sie mich auf Höhen wunderschöner Traumbilder, was mir ein berauschendes Erlebnis ist, an ihrer Reise ins Vergangene, als sie ihren Männertreffpunkt in Hamburg führte, in dem es hoch her ging, teilhaben zu dürfen. Was sie hier her verschlagen hat, in dieses Kaff Neumünster, wo die Gehsteige zum Schlafengehen hochgeklappt werden, ist mir ein Rätsel. Gerade mal einen Katzensprung, von hier aus gesehen, wäre es gewesen, um in Kiel zu landen, wo ausgegangen wird zum Feiern, Tanzen, Lachen, Spaß haben. Wer unbedingt eine Bekanntschaft machen will, den verschlägt es nicht zu Tatjana. Es sind die ihr treu gebliebenen von nah und fern, die hier her kommen, von denen es sich aber kaum leben lässt. Oder es verirren sich solche in diese Stätte, die sich in der Gegenwart nicht zurecht finden und dem Alltag kaum Abwechslung abzuringen verstehen. Solche, die einen Hang zur Nostalgie haben oder einsam sind, oder unglücklich verliebt. So wie ich seit kurzem. Er heißt M., arbeitet in der Bundeswehrküche und klatscht mir jeden Mittag, wenn ich ihm `ne Sekunde gegenüber stehe und bemüht bin, seinen Blick zu treffen, eine Kelle Gemüse, Kartoffeln oder sonst was auf meinen Teller.
„Möchtest du noch einen?“, fragt sie mich und sieht mir Seele erwärmend in die Augen. Ich nicke und sage: „Gerne, aber jetzt musst du dir mal etwas auf meine Rechnung eingießen!“ „Was soll das?“, wiegelt sie ab. „Lass bloß dein Geld stecken. Du, als Vaterlandsverteidiger, hast selbst kaum etwas auf der hohen Kante. Und mir geht es nicht schlechter wegen den paar Drinks, die ich dir spendiere.“ Sie schenkt das vor mir stehende Glas randvoll mit Eierlikör ein, stellt die eigens für mich angebrochene Flasche in Reichweite und streut einen Teelöffel Kaffeepulver über die dicke gelbe Flüssigkeit. „Das ist etwas für Feinschmecker!“, vertraute mir Tatjana einmal an, und dass es unter feinen Pinkeln Sitte sei, das benutzte Glas Eierlikör mit der Zunge fein säuberlich auszulecken.
Sie prostet mir mit ihrer Tasse Kaffee zu, führt bedacht die Zigarettenspitze an die Lippen, zieht genüsslich davon und... Wieder verschwindet sie in blauem Dunst, der sich lichtet und den Mittelpunkt einer vornehmen Gesellschaft freigibt. Tatjana, von feingliedriger Natur, ist dieser Mittelpunkt. Und das in der Blüte ihres Lebens, das sie mit vollen Zügen auskostet an der Seite eines Mannes mit Rang und Namen. Tür und Tor der oberen Zehntausend stehen ihr offen. Als eine von ihnen, mit auserlesenem Stil und feinem Geschmack, schreitet sie sicher durch ihre Reihen, umgeben von Eleganz, Reichtum und schönem Schein. Es ist nicht allein ihr ungewöhnlicher Charme, der alle bezaubert. Ihre Aura im Besonderen ist es. Sie tritt auf und ihre Ausstrahlung berührt. Eine Ausstrahlung, die „Ja!“ zum Leben mit all seinen Konsequenzen sagt. Ist das, was ich sehe, aus dem Teil ihres Daseins, über den sie nie spricht? Warum dieses Tabu? Aus der Hamburger Epoche macht sie doch auch kein Geheimnis. Erst recht nicht aus ihrer gefeierten Primaballerina Karriere, die sie, gerade begonnen, an den Nagel hängte. Aber wo hinein ist die zu setzen? Wäre das sehr indiskret, sie danach zu fragen? Nein! Ich spüre, dass es daran nicht liegt. Es ist diese Sensibilität, die einen berührt, begibt man sich in Tatjanas Atmosphäre. Eine Atmosphäre, angereichert mit Leid, Qual und Schmerz. Ein Schicksal tut sich vor mir auf, das tränenreich war, mit seltenen Momenten des Glücks wie die Geburt ihres Sohnes, den sie allein durchbringen musste und der homosexuell veranlagt ist. Ihr erhofftes Eheglück blieb unerfüllt. Bisexuell war ihr Mann. War es derselbe aus den besseren Kreisen? Oder war sie davor schon einmal oder danach nochmals eine Ehe eingegangen? Und wie wurde sie zur Wirtin in der schwulen Szene? Spielte da ihre Mutter eine Rolle, die oben, im zweiten Stock, krank und bettlägrig unter der Fürsorge ihrer Tochter lebt?
„Wie weit bist du eigentlich mit deinem Schwarm?“, fragt mich Tatjana. „Du sprichst gar nicht mehr über ihn.“ „Meinst du M.?“ „Wen denn sonst?“, entgegnet sie. „Oder gibt es mehrere M.`s in deinem Leben?“, forscht sie in einem Ton, der mir durch Mark und Bein geht. Mir ist, als läge in dieser Frage ein Vorwurf. „Mehrere M.`s? Nein“, kläre ich sie auf, „da kann ich dich beruhigen. Es gibt bloß keine Gelegenheit. Außer in der Kantine, bei der Essensausgabe, oder auf dem Kasernenhof, wo er immer mit irgend einem Kameraden zusammen ist, sehe ich ihn nie, um mal mit ihm unter vier Augen zu reden. Und er weiß ja nicht einmal, dass ich schwul bin.“ „Wie du es über ihn nicht weißt!“, entgegnet Tatjana und sieht mich mit diesem Ausdruck an, bei dem es mir ganz warm uns Herz wird. Und mein Gefühl sagt mir, dass ihr meine Situation vertraut ist. Bereits der 1. Tag, den 1. April 1976, in der Kaserne, ahnte ich, dass es schwer wird. Nach 5 Tagen war ich reif für die Insel. Nicht, weil ich als Schwuler unter Typen war, von denen einer besser aussah als der andere. Mein Versteckspiel kostete Kräfte. Diese Angst davor, geoutet zu werden. Und darum bemüht, auf gar keinen Fall aus dem Rahmen zu fallen, machte ich sogar beim Biertrinken, wovor es mich seit jeher schüttelte, mit. Eines mittags bemerkte ich M. Es war um mich geschehen. Seither gefällt es mir beim Bund, auch wenn meine Sehnsucht nach ihm bisher unerfüllt blieb.
„Wie Gilbert!“, spricht Tatjana in den Raum hinein. Ich horche auf und wiederhole: „Wie Gilbert?“ „Irgendwie erinnerst du mich an ihn,“ erklärt sie. „Er war sehr schüchtern. Und Kais äußere Erscheinung gab keine Veranlassung zu Hoffnungen. Mir ging es keineswegs anders. Kai war ein Mannsbild, bei dessen Anblick Frauenherzen höher schlagen.“ „Und?“, forsche ich drängend, „Kamen sie zusammen?“ „Ach,“ weicht Tatjana wie üblich, liegt eine zu Herzen gehende Liebesschnulze in der Luft, aus, „das ist eine lange Geschichte.“ „Du weißt ganz genau, dass ich eine Schwäche für lange Geschichten habe,“ erinnere ich sie. „Das heißt mit anderen Worten...“ „Genau!“, unterbreche ich sie. „Na schön,“ geht sie darauf ein. „Aber vorher schließe ich ab. Heute Abend wird hier eh nichts Wesentlicheres mehr vorfallen.“ Sie kommt hinter ihrem Tresen hervor, begibt sich graziös leichtfüßig, fast schwebend zur Eingangstür und ich sehe wie stets, wenn ich die Möglichkeit dazu habe, auf ihre wohlgeformten Beine. Schöner und edler können die von Marlene Dietrich kaum sein. Mir scheint, als würde selbst das Alter Beine einer solchen Frau nichts anhaben können.
Die Türe verschlossen, die Leuchtreklame der Straße und die Lichter des Raumes gelöscht, verwandelt sich mit der bloß noch roten Beleuchtung des Tresens die Monotonie der Einrichtung und die kahlen Wände, wo hier oder da Kitschiges prangt, wie durch Geisteshände geschehend die Lokalität in eine mystische Intimität.
Wieder mir gegenüber, verrichtet Tatjana ohne Nachfrage dieselbe Prozedur wie vorhin mit meinem Glas, schenkt sich selbst Kaffee nach, setzt sich auf ihren Barhocker mit Rückenlehne und kommt meiner Wartehaltung nach. „Früher,“ beginnt sie ihre typisch übliche Einleitung, „war alles ganz anders. Da gab es keine Machenschaften in der Szene. Kein gegenseitiges Ausstechen. Vielleicht lag das daran, dass der 175er in Kraft war, der dafür sorgte, ständig mit der Angst im Nacken zu leben, an den Falschen zu geraten. Und dass es diese Rosa Listen gab ist kein Ammenmärchen. Dementsprechend war der Zusammenhalt untereinander wie in einer großen Familie. Da drang nichts aus der Szene nach draußen. Zum Schutz aller war es das A und O, der Außenwelt gegenüber, eine verschworene Verschwiegenheit zu wahren. Und ohne ein Kennwort oder abgesprochenen Licht- und Klingelzeichen, kam niemand in einen Männertreffpunkt. Für die allerdings, die keinen blassen Schimmer davon hatten, aber das gleiche Geschlecht bevorzugten, konnte das schon ein Nachteil sein. Meine Güte, ich möchte nicht wissen, wie viele deswegen aufflogen, weil sie auf der Suche nach Liebe, und das ohne Beziehungen, an den Falschen geraten sind. Man macht sich darüber kaum Vorstellungen. Der Vorteil davon war, dass man im normalen Alltag eine Art feines Gespür entwickelte, also, man hatte ein Auge dafür, sich untereinander zu erkennen. Besonders in dem Fall, geht es um die große Liebe. Die bringt dann einfach den Zufall mit ins Spiel wie bei Gilbert und Kai. Damals schwebte meiner Mutter, die sich in Eppendorf eine Eigentumswohnung gekauft hatte, ein Bad vor, von dem ihr herkömmliche Fachleute abraten wollten. Bei meiner Mama bissen sie da auf Granit. Wenn sie sich etwas vornimmt, können sie keine zehn Pferde mehr aufhalten. Ein Bekannter stellte ihr Kai vor, der sich das Handwerk der Klempnerei und Bauarbeit selbstständig angeeignet hatte und per Mundpropaganda für seine unkonventionelle Methode bekannt war, sozusagen unter Eingeweihten ein Geheimtipp. Kai hörte sich die Ideen meiner Mama an. Und begeistert erklärte er sich bereit, ihr ihre Träume verwirklichen zu wollen, was er an den Abenden seiner Freizeit in der Tat umsetzte. Seine fertige Arbeit gefiel mir so gut, dass ich ihn bat, die Toiletten meines Treffpunkts, die entsetzlich veraltert waren, auf den modernsten und gemütlichsten Stand zu bringen, wofür ich ihm völlig freie Hand zusicherte. Er ging darauf ein und ich sah keine Veranlassung dafür, ihn darüber aufzuklären, wo er bei mir eigentlich landete. Natürlich bekam er es sehr bald mit. Von gestern war er nun wirklich nicht. Aber er besaß die Höflichkeit, sich darüber nicht auszulassen. Statt dessen ließ er sich neuerdings von Freundinnen abholen, die in meinem Lokal beim Tresen darauf warteten, bis er Feierabend machte. Ganz selten nur setzte er sich dazu, bis die Freundin ihr Getränk ausgetrunken hatte und sich dann freundlich bei mir bis zum nächsten Tag verabschiedete. Irgendwann war mir aufgefallen, dass Gilbert, einer meiner Kundschaft, gegen seine Gewohnheit regelmäßiger kam. Bis dahin war er, wenn’s hoch kam, zweimal die Woche gekommen. Seit neuestem kam er jeden Abend und verhielt sich still im Hintergrund. Bei Kai fiel mir auf, dass der sich seltener abholen ließ, manchmal sogar, wenn auch in einer der hintersten Ecke des Tresens, noch ein oder zwei Bier trank, das Geschehen um sich her beobachtete und sich, auch wenn nicht mehr drin lag, auf Gespräche einließ. Als seine Arbeit dem Ende zuging, plante ich eine schöne Einweihungsfeier. Schließlich war nicht damit zu rechnen, dass Kai weiterhin bei mir verkehren würde. Und ich hätte meine Hand dafür ins Feuer gelegt, dass es zwischen beiden gefunkt hatte. Leider war jeder auf seine Art verhindert, den 1. Schritt zu wagen. Besonders für Kai war die Situation ungewohnt, Ihn hinderte die pure Schwellenangst vor sich selbst. Dabei fand ich, dass Gilbert, der Kai gerade mal bis zu den Schultern reichte, wie geschaffen war für ihn. Von sehr zarter Statur, durch und durch feminin, war sein Wesen weich und anschmiegsam. Mein 6. Sinn sagte mir, das die zwei zusammen passen. Und deshalb war es mir wert, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Was lag da also näher, als so eine unverfängliche, ganz zwanglose Einweihungsfeier. Und was sag ich dir, die fröhliche und ausgelassene Stimmung gab mir dann recht. Ich bekam nicht einmal mit, wie die zwei im Trubel der Heiterkeit verschwanden.“
Das war’s! Keine ins Detail gehenden Einzelheiten. Die Privatsphäre Liebender unantastbar heilig haltend. „Und?“, frage ich vorsichtig, Tatjanas Diskretion berücksichtigend, „sind sie zusammen geblieben??“ „Und ob!“, antwortet sie mir leidenschaftlich. „Sie hatten sich gesucht und gefunden!“
Dass ich wenige Wochen später mit M. eine ganze Nacht, die mein weiteres Dasein entscheidend beeinflusste, zusammen verbringen konnte, führe ich auf Tatjana und Ihren Erzählungen aus dem wahren Leben zurück, in dem die Liebe eine nicht zu leugnende Realität ist. Gelingt es einem, diesen Boden nie völlig unter den Füßen zu verlieren, kann das Schicksal zielsicher, über Höhen und Tiefen hinweg, den Menschen seiner wahren Bestimmung zuführen. Und komme da was wolle!
5. Ein bleibender Hauch von Liebe
„Hört doch endlich auf!“, flehe ich gequält in mich hinein und presse mir die Hände über meine Ohren. Mit dieser Hartnäckigkeit hatte ich nicht gerechnet. Ich wusste ja, dass sie kommen. Bis zuletzt redete ich mir ein, wenigstens im Betrieb funktionieren zu können. Pflichterfüllt und automatisch wusch und rasierte ich mich, und dann verließen sie ihn. Auf Zehenspitzen durchs Treppenhaus geschlichen und die Haustür zugeschlossen, konnte ich bloß noch zusammen gekauert im verdunkelten Schlafzimmer auf dem Bettrand warten. Ich fühlte mich so schlecht. Schon klingelte es. Mein Gott, es war 5 vor 12, als ich einsah: es geht nicht. Aber dafür muss ich büßen: sie hören und hören nicht auf zu klingeln. Verständlich. Es ist Sonntag, und fällt da einer aus, ist es besonders ärgerlich für die Anwesenden, zu der eigenen Arbeit die vom abwesenden Kollegen übernehmen zu müssen.
Was ist jetzt los? Es klingelt Sturm! Und wie mir das durch die Glieder fährt. Hab’ ich nicht schon genug unter meinem schlechten Gewissen zu leiden? Müsst ihr da zusätzlich so penetrant aufdringlich sein? Klar! Warum solltet ihr es mir nicht mit gleicher Münze zurückzahlen? Was kümmert euch das, wie hundsmiserabel ich mir vorkomme, ein Kameradenschwein zu sein? Instinktiv halte ich die Luft an. Es ist mit einem Male so verdächtig still. Panik ergreift mich bei der Idee, dass sie ins Haus gekommen sind, vor der Mansarde stehen, mit dem Ohr an die Wohnungstür gepresst, und lauschen. Das halte ich nicht aus. Ich werd’ ja noch wahnsinnig. Kraftlos, als wollte mich eine zentnerschwere Last in die Knie zwingen, schaffe ich es, mich zu erheben, meine Beine zu bewegen, den Vorhang einen minimalen Spalt, um bloß von unten her nicht gesehen zu werden, zur Seite zu schieben und durchs Fenster gerade noch mitzukriegen, wie der Firmenwagen davon fährt. Durchgestanden. Wenigstens das. Ich spüre, trotz meiner Feigheit, einen Anflug der Erleichterung, die sofort wieder verschwindet. Zu groß ist mein Elend seit gestern Mittag, als ich von einer Sekunde zur nächsten krank wurde. Kerngesund war ich und so guter Dinge, hatte ich doch bis sonntagfrüh frei. Es war Wochenende und ich würde gleich mit meinem Schatz zusammen sein. Seit ich mit ihm zusammen war, hatte mein Leben wieder einen Sinn bekommen. Wie gewohnt, seit ich kein Auto mehr hatte, wartete ich am Freitagabend auf dem ZOB-Bahnhof am Hauptbahnhof auf ihn, mit 2 Kinokarten in der Tasche für den Film „Grease“. Es sollte eine von diesen Überraschungen werden, mit denen ich jedes Mal ins Schwarze traf und auf diese Weise erfuhr, dass geteilte Freude wirklich doppelte Freude ist. Mit dem üblichen Bus aus Bad Bramstedt kam er nicht. Also wartete ich auf den nächsten. Er war Maler von Beruf, warum sollte es da nicht mal vorkommen, nicht pünktlich Feierabend machen zu können? Im nächsten Bus saß er auch nicht. Noch hätte es sich gelohnt, ins Kino zu gehen. Wen interessierte schon die Werbung? Die Vorschau der Filme demnächst sah ich eigentlich gerne, zum größten Versäumnis aber wurde sie nun nicht unbedingt. Mit dem folgenden Bus wartete ich ebenfalls vergeblich und ich ging nach Hause. „Dann kommt er halt morgen früh,“ sagte ich mir, mich in guter Stimmung haltend. Der Vormittag verging und ich wurde enttäuscht. Wenigstens anrufen hätte er gekonnt, was er mir das letzte Mal fest in die Hand versprochen hatte. Es ist doch logisch, dass ich mir Gedanken mache. Monate ist es her, als er wochenlang nichts von sich hören ließ und ich endlich seine Mutter anrief, ihn an die Strippe bekam und sich alles aufklärte. Vielleicht wäre er damals, aus lauter Verlegenheit, mich versetzt zu haben, nie wieder gekommen.
Eine komische Unruhe nahm Besitz von mir. Ein bloßes Gefühl, intuitiv: Etwas war anders als damals. Etwas, das nichts Gutes verhieß und mich in eine unangenehme vertraute Stimmung versetzte, die ein Jahr zurücklag. Obdachlos war ich und schlief mal da, mal dort, getrieben von dem eisernen Willen, nicht zusätzlich meine Arbeit zu verlieren. Die Freizeit verbrachte ich in Cafes’ oder mit Bummeln durch die City. Und täglich sah ich bei Claus und Martin, die ausgerechnet jetzt in Urlaub waren, vorbei. In der schwersten Krise mit Wolly, sollte es ganz dick kommen, boten sie mir an, auf sie zählen zu können, bräuchte ich über Nacht eine neue Unterkunft. Ein Kollege, der für eine Woche zum Strohwitwer wurde, nahm mich in jenen Tagen bei sich auf. Ein anderes mal bekam ich den Tipp der günstigen Übernachtungsmöglichkeit in einer Pension auf St. Georg. Nach einer Nacht war ich bedient. Bis 4 oder 5 Uhr in der Früh pokerten zu Tisch bei Schnaps und Bier die drei weiteren Mitbewohner des kleinen Raumes dieser Absteige. So gerädert bei der Arbeit war ich nicht einmal, wenn ich auf die Autobahn fuhr, um auf einem Seitenparkplatz mit gestelltem Wecker und in einer Decke eingegraben zu schlafen. Und manchmal fuhr ich nach Feierabend einfach nur in der Gegend herum wie an jenem Tag, als ich in Neumünster landete, mit der Absicht, Tatjana zu besuchen. Danach trieb ich mich auf der Fußgängerzone herum, lernte einen Bauernburschen kennen, der für mich eine schöne und gelungene Abwechslung bedeutete in meinem tristen Trott, grau in grau, fuhr ihn nach Hause in sein nahe gelegenes Dorf und trennte mich von ihm mit einer Verabredung für den nächsten Tag. Wer nicht kam, war er, und das war gut so. Es war das Schicksal, das dafür gesorgt hatte, mich an jenem Tag unbedingt in Neumünster haben zu wollen. Um der Liebe willen. Ein Jahr war das her, als ich wieder glücklich werden durfte. Doch wie gewonnen so zerronnen: Das grau in grau war wieder da, dieser scheußliche Zustand. Nein, das musste nicht sein. Bestimmt machte ich mich unnötig verrückt. Am besten war es, bei seiner Mutter anzurufen und ihn mir ans Telefon geben zu lassen. Dann würde sich schon herausstellen, dass ich Gespenster sah, wo keine waren, zumal ich diesmal nicht mehrere Wochen hätte tatenlos verstreichen lassen können. Und die Nummer gewählt, bekam ich seine Mutter am anderen Ende der Leitung zu sprechen. So aufgeregt, wenn ich mit ihr sprach, war ich nie gewesen. Als wir uns kennen lernten, mochte sie mich auf Anhieb leiden. Es freute sie offensichtlich, dass ihr Sohn, auf den ich ihrer Meinung nach einen guten Einfluss habe, mal herauskam aus dem Kaff. Demnach zerbrach sich kein Mensch aus dieser Familie meiner Veranlagung wegen den Kopf. Hauptsache der Sohn und Bruder war glücklich. Beim Wählen der Nummer zersprang mir fast mein Herz. Umso wohler tat mir die Freude seiner Mutter darüber, mich zu hören, und nach einem kurzen wie geht’s wie steht’s Alltagsplausch erkundigte ich mich nach ihm. „Weißt du denn nicht?“, antwortete sie gelassen, beinahe belanglos. „Detlef hat seit drei Wochen eine Freundin...“
Von Glück durchströmt taste ich die Seite meines Bettes ab. So, wie ich es immer tue, ist er am Wochenende bei mir. Das Aufwachen am Morgen ist einer der schönsten Momente, zu vergleichen allenfalls damit, wenn ich ihn im Bus entdecke, kommt er aus Bad Bramstedt. Dann ist ein Jubel in mir und das Herz schäumt über vor Freude. Ich taste und taste. Vergeblich! Da stimmt was nicht! Im Bruchteil einer Sekunde wird mir klar: ich war eingeschlafen. Und was mich sonst durch einen erholsamen Schlaf wie neu geboren in den nächsten Tag bringt, verwandelt sich augenblicklich in ein Horrorszenarium. Und daran hat nicht die leere Seite in meinem Bett Schuld, an die ich gewohnt bin Woche für Woche. Nein. Heute ist Sonntag!. Da erwach ich wissend damit, ihn neben mir zu haben. Und die Sonne geht in meinem Herzen auf. Anders war es nie, seit ich zu seinem Leben gehören durfte. Anders ist es jetzt. Schmerz kündigt sich an. Die Besinnung setzt ein: Er ist nicht da! Er hat eine Freundin! Seit drei Wochen! Eine erschauernde Kälte kriecht in mich und ich reiße die Augen auf. Meine einzige Wehr, die mir übrig bleibt gegen diesen scheußlichen Zustand innerster Verlassenheit, die die Verzweiflung auslöst, bloß noch sterbend abschalten zu wollen.
Das Kissen ist feucht. Mein Körper schweißgebadet. Ja! Natürlich! Ich hatte geweint. Irgendwann muss ich eingeschlafen sein. Was für ein Segen, nachdem mir die ganze Nacht hindurch kein Schlaf vergönnt war, und nach dem ich mich so gesehnt hatte, um zu vergessen. Wenigstens für ein paar Stunden. Jetzt friere ich entsetzlich. So sehr ich mich auch in die Decke wickle und kugle, sie gibt mir keine Wärme. Es bleibt mir keine Wahl, ich muss hoch. Angst lähmt mich. Die Angst der bevorstehenden Tortur. Also friere ich weiter. Aber es wird schlimmer. Es ist kaum mehr auszuhalten. Und dann ist es so schlimm, dass ich mich dieser fürchterlich Tortur ausliefern muss, zähneklappernd eine halbe Ewigkeit, konvulsivischen Bewegungen wegen von Kopf bis Fuß behindert, in eisigem Frost die nasse Kleidung in trockene auszuwechseln. Ich schaffe es sogar, mir den Bademantel darüber zu ziehen. Leider bekomme ich noch immer keine Gewalt über meinen Körper. Die Glieder zittern und zucken mir weiterhin. Ich schaffe es zur Küche, schaffe es, mir Wasser auf den Herd zu stellen, eine Tasse mit einem Pfefferminzteebeutel und Zucker vorzubereiten und das heiße Wasser darüber zu gießen. Und wirklich! Die Wärme in meiner Hand geht über in den Körper. Die ersten Schlücke beruhigen meine Glieder. Wie gut das tut! Gut tut auch diese schöne Erinnerung, die sich mir einstellt. Wie in einem Hollywood-Schmacht-Fetzen hineinversetzt sah ich Detlef am folgenden Tag. Ich hatte ihn mit seinem Kollegen kennen gelernt, gemeinsam mit ihnen einen Kinobesuch erlebt, sie im Auto nach Hause gefahren und mich mit ihm verabredet.
Liebe auf den ersten Blick war mir geschehen, und ich konnte es kaum erwarten, ihn wieder zu sehen, begleitet von unzähligen Befürchtungen. Wie war es ihm seither ergangen? Jeder für sich hatte eine Nacht darüber geschlafen. Womöglich wurde er von der Ernüchterung, dass ich schwul sein könnte, heimgesucht, weshalb er weiter nichts mit mir zu schaffen haben wollte, trotz entdeckter Ergänzungen über uns beide. Das wäre einfach zu schön, um wahr zu sein. Er war der ruhende Pol, aus dem heraus er meinen Ideen gegenüber völlig offen war. Das ging so weit, dass er mir eine Kassette überspielen wollte mit der Musik aus dem Film „Saturday Night Fever“ für meinen Autorecorder. Bestimmt hatte er mittlerweile dieses spontane Versprechen bereut und würde mich durch seine Mutter an der Tür abwimmeln lassen. Von dieser Fiktion der Art eingenommen, wäre ich beinahe nicht nach Bad Bramstedt gefahren. Und auf eine Enttäuschung wenigstens vorbereitet, verschlug es mir umso mehr die Sprache, was dann geschah. Auf mein Klingeln hin wurde geöffnet und Kind und Kegel kamen aus den verschiedensten Richtungen her angelaufen; die Mutter, der Stiefvater, die große Schwester, der kleine Bruder... Und kaum hatte ich mich vorgestellt, riefen sie alle wie im Chor: „Detlef, dein Freund aus Hamburg ist da. Er will dich abholen!“ Schon erschien er auf der Treppe, die zum oberen Stockwerk führte. Und ich traute kaum meinen Augen. So schön in seinem gelben T-Shirt und der hellen verwaschenen Jeans hatte ich ihn nicht in Erinnerung. Oder war er über Nacht noch schöner geworden? Ohne weiter zu treten, forderte er mich auf, zu ihm zu kommen. Und dann führte er mich kurz in sein Zimmer, um gleich darauf mit mir das Haus zu verlassen, worüber ich sehr erleichtert war. Ich kam mir mehr als überfordert vor. Eine solche Freundlichkeit und Aufnahme in einer Familie durchweg, deren Sprössling mich gerade kennen gelernt hatte, war mir niemals zuvor entgegen gebracht worden. Auf der Fahrt nach Hamburg konnte ich mich schnell regenerieren, was besonders sein Verdienst war. Er hatte doch tatsächlich noch am selben Abend sein Versprechen eingelöst und seine Doppel LP von „Saturday Night Fever“ auf Kassette überspielt, mit der wir nun unter vier Augen waren.
In jener Zeit meiner Obdachlosigkeit hatte ich mehrere Wohnungen besichtigt. Und da war alles darunter gewesen, von unbeschreiblich schäbigsten Bruchbuden, für die unverschämt ungeheuerlichste Mieten verlangt wurden, bis zu modern ausgestatten Luxuswohnungen, für die schwindelerregend zig Tausende DM an Abstand verlangt wurden. Einen Kredit von der Bank, 10 000,- DM, hatte ich bereits. Von hochtrabenden Plänen getragen, die weit über meine Verhältnisse hinaus ragten, war ich überzeugt davon, bald wieder ein Zuhause zu haben. In kürzestem Zeitraum aber entmutigte mich eine Absage nach der nächsten. Schon glaubte ich, dass sich alles gegen mich verschworen habe. Mein kleines Vermögen schrumpfte. Weniger und weniger konnte ich mich zusammenreißen. Ich fluchte und schimpfte gegen Gott, klagte ihn an, mir keine Wohnung zuzuführen und zählte bereits die Tage, wie lange ich so bei der Arbeit wohl noch durchhielte. Mit einem Male drehte sich das Blatt: Die Liebe war wieder da! Tränen laufen mir über das Gesicht. Ach Gott, ich liebe ihn so sehr. Ich bin allein. Und das tut so weh. Die Freude ist fort. Das Leben ist leer. Wie soll es weitergehen ohne ihn? Ein Schluchzen durchschüttelt meinen Leib. Ich bemühe mich, die Tränen zurückzuhalten, doch sie lassen sich nicht aufhalten. Mit fahrigen Bewegungen versuche ich sie wegzuwischen. Ein unsinniges Bemühen. Es werden ja doch immer mehr. Mein Schluchzen geht in einen Weinkrampf über, der mich körperlich ganz und gar in Mitleidenschaft zieht. Übrig bleibt mir nur, mich dem unerträglichen Schmerz hinzugeben. Stöhnend vergrabe ich, Rotz und Wasser heulend, mein von Tränen überströmtes Gesicht in die zu Tisch verschränkten Arme, um mich bald darauf restlos erschöpft auf dem Bett meinem Kummer ganz und gar zu überlassen. Und irgendwann versinke ich tatsächlich in einen sehr tiefen Schlummer. Am Montagmorgen klage ich meinem Hausarzt, der in der Strasse genau mir gegenüber seine Praxis hat, mein Leid. Er hat Verständnis und schreibt mich eine Woche lang krank. Dieser Sorge, meine Arbeit verlieren zu können, bin ich somit enthoben.
Mit einem Male, erwähnte ich oben, drehte sich das Blatt: Die Liebe war wieder da! Und vom Urlaub zurück waren Claus und Martin gekommen, die mir herzlich Obdach gewährten und mir ein Bett aufstellten in ihrem Arbeitsraum, in dem Martin, der das Handwerk der Schneiderei beherrschte, Kleider Unikate für Damen herstellte. Das tägliche Sehen mit Detlef, dessen ausgeglichenes stilles sanftes Wesen Wunder in mir wirkte, baute mich auf. Und zauberhaft –wie aus einer anderen Welt- kam es an jenem Wochenende, das er mit mir in Hamburg verbrachte, in dem von dem Freundespaar mir zugewiesenen Raum, der sich in ein Gemach aus „Tausend und einer Nacht“ verwandelte, zur Intimität zwischen uns. Ich wusste um meine Verantwortung, die mir das Schicksal auferlegt hatte. Mit 19 Jahren hatte Detlef im körperlichen Verkehr keinerlei Erfahrungen gemacht. Dass es mir zufiel, seine erste zu sein, obgleich er heterosexuell veranlagt war, dem wollte ich mich unbedingt für würdig erweisen.
Von Bekannten hatte ich den Tipp bekommen, eine Verlobte anzugeben auf meiner Suche nach eigenen vier Wänden. Später könne ich ja angeben: Wir haben uns getrennt. Und es war das so! Die Notlüge allein reichte zwar nicht, aber sie war das Salz in der Suppe. Eindruck schindete ich zusätzlich damit, Koch zu sein bei der Lufthansa Service Gesellschaft. Und meine tagelangen Befürchtungen, das noch vorhandene Geld reiche für eine Kaution nicht mehr aus, lösten sich in Luft auf. Inklusive der Miete bekam ich auf Heller und Pfennig genau die erforderliche Summe zusammen. Auf einmal war alles sehr schnell gegangen und ich war erstmals zum Mieter einer eigenen Wohnung geworden. Und zwar in Dulsberg. Himmelhochjauchzend an jenem Abend in Bad Bramstedt angekommen, ließ ich gleich Detlefs Mutter an meinem Glück teilhaben, bis er hinzu kam und ich ihm sogleich sein Set Schlüssel übergab. Wir hatten allen Grund zum Feiern.
In den folgenden Tagen meiner Krankschreibung stellt es sich mir heraus, dass sie nicht ausreichen werden, meinen Liebeskummer zu kurieren, zumal mir das Einnehmen pharmazeutischer Produkte von jeher unmöglich ist und ich bei Krankheit stets nur den eigenen Heilungschancen vertraute; mit Ausnahme bei Zahnschmerzen, gezwungenermaßen. Unregelmäßige Schlafphasen am Tag und in der Nacht, mit nur seltener Tieftrance, Appetitlosigkeit, wieder kehrende mich durchschüttelnde Weinanfälle entkräften mich völlig. Das übrige dazu erledigt der Verlustschmerz und die Trauer darüber, den geliebten Menschen für immer verloren zu wissen. Ich bin diesen abwechselnden Zuständen dermaßen ausgeliefert, dass ich, so sehr ich es auch wünsche, keinerlei Einfluss auf sie auszuüben vermag. Und die wenigen kleinen Lichtblicke, die sich dazwischen schieben, sind kaum der Rede wert. Verdunkelt sind alle Räume, in denen Erinnerungsstücke sind, die mich in unsere gemeinsamen Unternehmungen zurück versetzen und mir Anekdoten von ihm vor Augen führen. In sein Zimmer einen Fuß zu setzen, scheue ich mich, ebenso die Bilder von ihm anzusehen. Ich kann nicht lesen, nicht fernsehen, nicht aus dem Haus gehen. Und treibt es mich dazu, in die Kassette „Saturday Night Fever“ zu horchen, bin ich gezwungen, sie gleich wieder zum Schweigen zu bringen. Ausgerechnet sie lässt mein Herz am meisten bluten. Am Freitagmorgen überwinde ich mich zum Waschen und zur Rasur. Mein Hausarzt ist wirklich kulant. Er hat ein großes Einsehen, spricht mir Mut zu, versichert mir, dass die Zeit alle Wunden heilt und schreibt mich eine weitere Woche krank. Dieses Verständnis ist mir mehr, als nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Übers Wochenende kann ich Lutz anrufen. Er fackelt nicht lange, kommt vorbei und ich kann ihm mein Herz ausschütten. Lutz, diese treue Seele von Freund. Immer zur Stelle, wenn Not am Mann ist. Als einziger war er es, der mir schon beim Umzug von Holger van Deun zu Wolly unter die Arme griff. Ebenso beim Einzug in die eigene Wohnung. Detlef konnten er und seine Freundin Gaby sofort leiden. Nicht so meine Familie in Süddeutschland, der ich stolz meinen Freund vorstellte. Die Gelegenheit dazu ergab sich, als wir eine Autotour nach München unternahmen, wo sich Werner, ein langjähriger Freund, niedergelassen hatte. Beide kamen wir aus Ludwigshafen und wenige Jahre, nachdem es mich in den hohen Norden verschlug, war er mit seinem damaligen Partner im Süden Deutschlands gelandet.
Für unsere Tour nach München mussten wir einen Mietwagen nehmen, da mein von den Eltern geschenkter Ford Taunus 17 M den Geist aufgab. Geplant war, Werner, der einen Abstecher bei seiner Verwandtschaft machte, abzuholen, um gemeinsam dann in Mannheim, der Schwesterstadt Ludwigshafens, Claudia und Sabrina, Zwillinge und Transvestiten, Claudia von Natur aus, Sabrina des Spaßes halber, zusteigen zu lassen. Was lag da näher, als ein Zwischenstopp bei meiner Familie? Die paar Stunden waren enttäuschend. Keiner wollte es sich anmerken lassen, doch später kam heraus, dass ihnen Detlefs stilles Wesen nicht koscher war. Und auch die Freunde wurden mit ihm nicht warm. Anders war das mit Burkhard und Jörg in Berlin, mit denen wir ein Wochenende verbrachten. Diesem Paar war Detlef auf Anhieb sympathisch. Bei keinem, mit dem ich in den vergangenen Jahren eine Partnerschaft probierte, hatte ich das dringende Bedürfnis so sehr verspürt, ihn den mir am Herzen nahestehendsten Menschen vorzustellen. Es war das schon so: Vom Fleck weg hätte ich Detlef geheiratet! Seine Sanftheit, seine Bescheidenheit berührten mein innerstes Wesen. Er war mir die Unschuld vom Lande. Und wenn er herzhaft lachte, öffnete er etwas in mir, das mich an eine längst verschollene Welt erinnerte. Die der Kindheit in paradiesischer Reinheit vor dem Sündenfall.
Nie mehr erlebe ich seinen unverdorbenen Witz, seinen frechen, keineswegs bissigen, oder gar bösartigen Humor, seinen unbeschwerten Schalk im Nacken. Ein Strom der Tränen fließt mir bei dieser Bewusstmachung übers Gesicht, und in aufeinanderfolgenden Schluchzern entlädt sich mir mein Schmerz darüber, von ihm verlassen worden zu sein. Es tut so unerträglich weh. O Gott, wie kann ich das durchstehen? Wie soll ich das überleben? In meiner Verzweiflung bleibt mir nur die Weite meiner Hände, in die ich mein heulendes Elend schluchze und stöhne...
Am folgenden Freitagmorgen kommt mein Hausarzt zu dem Schluss, dass ich in einer Woche wenigstens so weit wieder hergestellt sein werde, zur Arbeit gehen zu können. Und er liegt richtig damit. Etwas regelmäßiger, wenn auch noch ziemlich wenig, kann ich essen. Ich kann die Sonne in meine Wohnräume herein lassen. Es ist mir möglich, in Detlefs Zimmer zu gehen, das bis dahin leer steht. Statt dessen hatte er mit einem Kunstwerk auf der Wand begonnen, das eine männliche Person darstellt und halbfertig ist. Jetzt kann ich sogar die Bilder von ihm ansehen. Nicht lange, aber immerhin. Die Kassette anzuhören geht noch nicht. Lesen liegt ebenfalls nicht drin. Den Fernseher schallte ich zwischendurch mal an. Ich gehe für einen kurzen Spaziergang aus dem Haus. Und mache ich mir deutlich, dass Detlef gegangen ist, werde ich von einem Schwindelgefühl erfasst, der mich taumeln lässt. Dann setze ich mich oder stütze mich an der Wand ab. Aber Tränen, dem Himmel sei Dank, sind versiegt. Tag auf Tag fühle ich mich gestärkter. Der äußere Verlust seiner Gegenwart für mich ist ohne zurückbleibenden Schaden überstanden. Ich werde gesund. Ich habe es geschafft. Es ist mir gelungen, ihn meinem Herzen nicht nehmen zu lassen. Eine große Gefahr ist gebannt! Die jener Verdorbenheit, die ein Jahr zuvor, mir unbewusst, dabei war, meine letzten menschlichen Werte endgültig kippen zu wollen. Ihr wird fortan der Kampf angesagt sein, denn das Gute ist eine reale Existenz. Ich weiß es ganz sicher. Mir ist es höchstpersönlich widerfahren. Es gibt noch herzensreine Menschen. Der Kampf für das Gute in uns lohnt sich immer!
6. Mit einem Bein im Knast
Vorspiel:
Wir waren wie eine sich zusammen getane Truppe von Gipfelstürmern, bestehend aus Einzelgängern, Freundespaare oder Liebespärchen, angelangt an ihrem sich vorgezeichneten Ziel. Die schwindelerregende Aussicht von dort oben, diese Nähe, diese Weite, der Blick auf die Höhen umliegender Gipfel und in die Tiefe der Ebene, der Himmel über uns, war überwältigend. Doch wir fühlten uns, sich aufeinander verlassen könnend, im Ganzen sicher. Wir trugen Schlitten bei uns. Auf ihnen war beabsichtigt, über dem schneebedeckten Abhang eine bestimmte Rodelbahn hinab zu sausen, dann wieder rauf, zum Gipfel, um die Schlittenfahrt auf ein neues zu starten. Es herrschte eine ausgelassene Gaudi mit mehr oder weniger Übermut in begrenzter Waghalsigkeit. Und schoss einer über das Ziel zu weit hinaus, standen die anderen jenem sofort ermahnend zur Seite, nicht ohne tiefer gehenden Gründen. Dort, wo von der Gipfelhöhe her startend die eine vorbestimmte Rodelbahn ins Ziel mündete, fand eine andere Truppe sich ein, zu der kein näherer Kontakt gewünscht wurde.
Zu suspekt, zu ominös erschien einem diese zwar ohne den Ehrgeiz bis zum Gipfel stürmen zu wollen, aber waghalsig, dass einem vom bloßen Zusehen schwindelig wurde. Ohne Zwischenfälle verlief die Begegnung unserer Truppe vom Gipfel her und derer, die nicht so weit sich bemühte. Jedenfalls so lange jeder den nötigen Abstand voreinander bewahrte, bis einer vor lauter Übermut unbedacht aus der Reihe tanzte, was vorerst gut ging, da die vom Gipfel her ihrem Kameraden noch ins Gewissen reden konnten, wurde er bei der Grenzlinie, zwischen ihrem Zielpunkt und dem Startplatz der anderen Truppe, angetroffen. Dann kam der Kamerad noch zum Gipfel mit zurück. Der Zwischenfall wiederholte sich jedoch häufiger, so dass einige es bereits einsahen wie zwecklos es war, dem Kameraden gut zuzureden, denn der fand Gefallen an der Waghalsigkeit der anderen Truppe. Bald musste selbst der letzte vom Gipfel her Abstand davon nehmen, den Kameraden, der so weit war, in sein Unglück zu rennen, zurück zu gewinnen. Und das war im Frühjahr 1983.
Gang der Handlung:
Mit zwei Monatsmieten meiner Wohnung in Dulsberg im Rückstand, lebte ich mit der täglichen Spannung, bald von meinem Vermieter, mittels einer angekündigten gerichtlich verfügbaren Räumungsklage, auf die Strasse gesetzt zu werden. Fünf Monate brauchte es nur, in diese Misere zu geraten. Über Jahre hinweg, speziell die letzten drei, konnten weder große Geldnot, noch das sich Abgeben mit so genannter schlechter Gesellschaft mich von meinem Prinzip abbringen: die Miete regelmäßig zu zahlen. Dann traf ich im Herbst 1982, vom Arbeitsamt vermittelt bekommen, Michael S. Er hatte geerbt und war dabei, sich seinen Lebenstraum, einen Beatschuppen mit Lokal und Küche, zu erfüllen. Dem Publikum sollten life Auftritte von Bands geboten werden mit einem besonders ausgefallenen und günstigen Speiseservice. Im Kochen Null Ahnung, bot mir Michael S. an, mein eigener Herr zu werden. Berechtigte Bedenken, wie meine Ahnungslosigkeit von Kalkulation, Unerfahrenheit im Großeinkauf, fehlende Tiefkühlräume und manches mehr, verstand Michael S. zu beschwichtigen. Zuletzt überzeugte mich sein Argument, die Chance meines Lebens geboten zu bekommen, und meine Überlegung, übers Arbeitsamt bei ihm gelandet zu sein, anders wäre ich nie auf die Schnapsidee gekommen, mich selbstständig zu machen. Irgendwie wusste ich immer weiter, genährt von dem zu meist unerschütterlichen Vertrauen in mein Schicksal. Schaffte ich es, dem gegenüber wachsam zu sein und treu zu mir selbst, konnte einfach nichts schief gehen. Innerhalb der letzten 3 Jahre hatte sich mir das oft bestätigt, ein Feinempfinden dafür zu haben, Neubeginne und Abschlüsse jeweiliger Lebensphasen, obgleich über Umwege von himmelhochjauchzend bis zu Tode betrübt und längeren oder kürzeren Abwägungen, rechtzeitig genug zu erkennen. Dass das letzte Stück der Rodelbahn zu Fuße des Berges hinab rasant schnell ging und jeder Versuch zu bremsen scheiterte, musste etwas bedeuten. Es konnte auch nicht von ungefähr sein, in jenen Tagen eine elektrische Schreibmaschine von IBM, die aus dem Einbruch in einer Schule stammte, angeboten zu bekommen. Mit ihr würde für mich ein lang gehegter Traum in Erfüllung gehen, von dem die übriggebliebenen Freunde, aus dem Kreis meiner einst wertvollsten, wussten und meine Idee, Hamburg für immer zu verlassen, um in der Heimatstadt bei meinem Bruder zurück gezogen den jahrelang geplanten Roman nieder zu schreiben, akzeptierten. Demzufolge nahmen sie die Auflösung meiner Wohnung voll und ganz in die Hand, indem sie die besten Einrichtungsgegenstände –die sie mir Jahre später für umsonst zurück gaben- untereinander verteilten, Geld zusammen legten und mich zum Besitzer einer robusten Schreibmaschine machten. Die Karten waren gelegt. Ich hatte veranlasst, dass Jörg, der 2 Jahre unentgeltlich bei mir Untermieter war, in seinem Elternhaus wieder aufgenommen wurde, was er mir erst Jahre später verzieh auf Grund eines Missverständnisses; Heike und Bernhard, die noch immer eine Wohnung suchten und seit einem ¼ Jahr in meinem Wohnraum lebten, das unmittelbar ins Schlafzimmer führte, zogen bald in Jörgs frei gewordenes Domizil. Den Anstoß dazu ergab aber nicht sein Auszug, sondern geschah im Zusammenhang meiner aufgebenden Selbstständigkeit und der anschließenden Arbeitslosenmeldung. An jenem Tag liefen wir uns über den Weg. Ich sah Frank und war ihm mit Haut und Haaren verfallen. Von Kopf bis Fuß wild durcheinander tätowiert, bis zur Knastträne, die sein Auge zierte, und den üblichen Hass- und Love-Parolen auf den Fingern, die schwarzen strähnigen nackenlangen Haare in Pomade glänzend, entsprach er dem typisch äußeren Erscheinungsbild von Klischee Vorstellungen eines Schwerverbrechers. Tatsächlich gerade seine letzte Haftstrafe abgesessen, brauchte er ein Dach über dem Kopf. Schicksalsmäßig traf das die Faust aufs Auge. Wir gingen eine Cola trinken und dann ab zu mir, wo ich Frank Heike und Bernhard vorstellte. Ihre distanzierte Freundlichkeit kümmerte mich nicht weiter und wir verzogen uns gleich in mein Zimmer. Es hatte mich voll erwischt. Franks Angabe später, die Eltern noch aufzusuchen, rief den Verdacht in mir auf, er benutze bloß einen Vorwand, um sich zu verdrücken. Stundenlang saß ich wie auf glühenden Kohlen, bis er zurück kam, die Hucke voll. Und ich war selig. Sofort teilte er mir mit, dass seine Mutter mich kennen lernen möchte. Da wusste ich, dass ich in Hamburg bleibe. Am folgenden Tag zogen sich Heike und Bernhard, nach einer Aussprache mit mir, in das frei gewordene Zimmer zurück. Bald darauf hatte ihre Wohnungssuche Erfolg. Ich war, abgesehen von Frank, der mich zu seiner Familie, die mich herzlich aufnahm, einmal mitnahm, wobei mich seine jüngere Schwester besonders leiden mochte und ihrem Bruder ins Gewissen redete, es sich mit mir nicht auch wieder zu verderben, allein und ganz unten angekommen.
In naiver Blauäugigkeit bildet sich der Intellekt ein, es hänge natürlich nur von der Veranlagung und Widerstandsfähigkeit, von der körperlichen, seelischen oder geistigen Verfassung eines Menschen ab, ob er, ganz unten gelandet, drauf geht oder nicht. Die Wahrheit ist so simpel wie einfach. Der Verlust und Verfall höherer Ideale entscheidet allein den Untergang eines Menschen und somit den einer gesamten Gruppe. Ganz egal, ob sich das bei den unteren oder oberen Zehntausend vollzieht. Bei den einen ist es offensichtlich, während bei den anderen der schöne Schein täuscht und daher geschwungene Reden die 5 Sinne geistig intakter Menschen benebeln können, weil Oberflächlichkeit, Gleichgültigkeit und Bequemlichkeit zu echter Geistigkeit alle wiederum gleich macht. Ich weiß bis heute nicht, welche Bedingungen, ob oben oder unten, günstiger sind, sich behaupten zu lernen gegen Gleichgültigkeit, Oberflächlichkeit, Bequemlichkeit zu echter Geistigkeit. Sehe ich in mich, blicke ich um mich, tut sich ein Abgrund auf, der droht, uns alle in seine Tiefen zu reißen. Wie damals, als ich gleich zu Anfang mit Frank die fehlenden 100,- DM aus meiner Geldkassette bemerkte. Ich hatte schon so wenig und nun das! Aber an Stelle des Diebstahls –in den letzten 3 Jahren wurde ich oft genug bestohlen, des Vertrauensbruches wegen zu leiden, litt ich vielmehr darunter, dass er des schlechten Gewissen wegen nun weg bliebe. Dass ich, so befürchtet, falsch lag, erleichterte mich ungemein; und wir versöhnten uns ausgezeichnet. Damit waren die Weichen gelegt für eine Zeit, die mir rückblickend nur noch unwirklich erscheint. In diesem einen Jahr mit Frank durchträumte ich, ausgeliefert den Mächten von unten, ein Horror Szenarium, das sich in 7 Akten unterteilen lässt und mich zu Fall bringen wollte. Das vereitelte die unermüdliche Hilfe von oben, indem ich in Frank, außer, dass ich ihm hörig war, einen Charme sah, mit dem er, besonders im breiten Zustand, Frauen wie Männer bestach, sein auf Herzensgüte begründetes liebes kindliches Wesen, sein ansteckender Witz wie spaßige Unternehmungslust und diese gesunde Portion Blödsinn, den er von sich gab und zum Mitmachen animierte, womit Missverständnisse vorprogrammiert waren. Dann wurde er sehr gefährlich. Deshalb hatte er eine Lampe offen. Kaum aus dem Knast entlassen, ehe wir uns begegneten, kam es zu einer folgenschweren Messerstecherei. Ein riesiges Polizeiaufgebot rückte heran und legte ihn nach einer wilden Verfolgungsjagd und gelungener Festnahme an Händen und Füßen in Ketten. Es gelang seiner Anwältin, ihn aus einer 24 Stunden Haft in Einzelzelle heraus zu kriegen. Im Vollrausch war er unzurechnungsfähig gewesen und nicht der allein Schuldige. Fortan trieb ihn eine Gnadenfrist dazu, aus seiner Freiheit herauszuholen was heraus zu holen war. Bekanntschaften zu knüpfen, Freundschaften zu schließen, war für ihn ein Leichtes. Und in kürzestem Zeitraum lernte er meinen alkoholkranken Nachbarn, der im 2. Stock, direkt unter meiner Mansarde seine Wohnung hatte, kennen, befreundete sich mit Kerstin, Tina und ihrem jüngeren Bruder Rolf, die Schüler waren und aus der näheren Umgebung stammten, und verliebte sich mit Jeannette, die 2 U-Bahn Haltestellen von mir entfernt wohnte, so dass Frank hin- und herpendelte. Einmal sogar nahm er mich mit und stellte mich als rein platonischen Freund vor, der ich ab sofort für Außenstehende immer blieb.
Im 1. Akt war ich selbstverständlich überfordert, trotzdem mich die vorangegangenen 3 Jahre, natürlich im Unklaren darüber, für Frank vorbereiteten. Auf manches konnte ich bereits verzichten. Gemütlichkeit war längst ein Fremdwort. Das Reden und Diskutieren miteinander in einer vernünftigen ordentlichen Sprache, ging es bei diesem oder jenem Thema auch hoch her, fehlte mir durchaus. Harmonie und Einklang in den eigenen vier Wänden war verloren gegangen mit der Richtungsänderung meines Musikgeschmacks, den ich in meiner Jugend vorfand und liebte. Und Prinzipien, die mir mal heilig waren, hatte ich aufs Abstellgleis gestellt. Die Sehnsucht allerdings, meine Lebensgewohnheiten, die ich im Umgang mit einem Menschenschlag, der nicht zu mir passte, aufgeben musste, eines schönen Tages zurück zu gewinnen, machte mich stark im Durchhalten. Und versagte zwischendurch doch mein Glaube und Mut, trieb mich ein Verzagen ins Aufgeben wollen, baute mich mein Schriftstellertraum wieder auf. Für Frank war das ein rotes Tuch. Und bald war ich für ihn in beleidigendem verletzendem Sinne „Der Professor“. Schließlich spielte er die 1. Geige im Anstiften zur Selbstvernichtung und kriminellen Aktionen wie in jener Nacht. Breit bis zum Abwinken war er mit dem Bruder von Jeanette und noch einem Kameraden gekommen. Sie hatten es sich in den Kopf gesetzt, die Wohnung meines Nachbarn unter mir, der mit Abwesenheit glänzte, auszuräumen. An die Vernunft zu appellieren, dass es der Mühe nicht lohne, war vergeblich. Ich stieß mit meiner Wehr, meinen Bedenken, meiner Ablehnung auf taube Ohren. Noch ein falsches Wort und Frank hätte sich vergessen. Blut und Wasser schwitzte ich, als Bettlaken aneinander verknüpft wurden und sich daran, durchs Fenster gelassen, Frank abseilte, während wir –ich fürchtete um sein Leben- alle Kraft aufboten, ihn nicht stürzen zu lassen. Die Sonne hellte schon den Tag auf. Das Bersten der Fensterscheibe, die Frank, an der Hauswand hängend, mit dem Fuß eintrat, fuhr entsetzlich durch meine Glieder. Jetzt waren wir geliefert. Dieser Lärm kann nicht ungehört geblieben sein. Irgendwo würde jemand seinen Kopf gleich durchs Fenster stecken. Bestimmt sah ein Passant, auf dem Weg zur Arbeit, hoch oder einer, der seinen Hund zum Geschäft machen auf die Straße brachte. Irgendwer jedenfalls alarmierte gerade die Polizei, da war ich mir ganz sicher. Ein beschädigter Staubsauger tauchte auf, ein verrosteter Toaster, ein zerbrochener Fön,... Nichts als Schrott, fand ich, abseits stehend, packte erst wieder zu, um Frank hoch zu ziehen und litt Qualen wegen der Absturzgefahr. Wenigstens sahen sie ein, alles mitnehmen zu müssen. Falls die Polizei gleich anrolle, durften keine verräterischen Spuren zurück bleiben. Und alle, vollbepackt mit dem Diebesgut, schleichend durchs Haus geführt, die Tür hinter ihnen zugeschlossen, flehte ich gen Himmel, beim Bettlaken Auseinanderknüpfen, dass die drei bis zur U-Bahn ungesehen blieben. Die einzige Chance darin sehend, eventuell noch einmal davon zu kommen. Oft hatte ich mir von solchen Aktionen erzählen lassen, fasziniert vom Abenteuerlichen, Spannungsgeladenen. Höchstpersönlich nun mitgehangen, mitgefangen, machte ich eine Gefühlserfahrung scheußlichster Natur durch. Tage später konnte ich wieder ruhig schlafen. Von Frank, der den Nerv hatte, dem Nachbarn in die Augen zu sehen, erfuhr ich, dass kein Verdacht auf uns fiel. Der Einbruch, so wurde vermutet, trotz des beschädigten Fensters, sei durch die Wohnungstür geschehen. Wir waren aus dem Schneider.
In den Wochen zum 2. Akt hin fraß meine Eifersucht mich auf. Unentwegt verwickelte ich Frank in Szenen, kam er von Jeannette oder waren Kerstin, Tina und Rolf, der Frank wie einen großen Bruder verehrte, gegangen. In diese spaßige ein Herz und eine Seele Stimmung, in die sie sich per Klebstoff hinein schnüffelten, passte ich nicht. Auch fand ich keinen Zugang in die sich besaufenden Poker- oder Skatrunden mit dem Nachbar und Kollegen. Ich vertrug nämlich nicht viel, somit war ich das Problem, denn Frank wollte mich überall dabei haben. Leider ödeten mich diese Zeitvertreibe an. Und ich wollte Frank für mich allein haben. War es so weit, spielte ich beleidigt und machte aus einer Fliege einen Elefanten, war eine Bemerkung gefallen, die er schon vergessen hatte. Am schwersten für mich war zu begreifen, dass ich müde war –oder endlich mit ihm ins Bett gehen wollte- und er nicht. Womit alles er im Laufe des Tages sich abfüllte und einnahm, was den stärksten Bullen umgehauen hätte, das schien ihn lebendiger und wacher zu machen. Und gefährlicher. Dann wusste er nicht mehr, was er tat, wie mich umbringen wollen. Ich hatte ihm verweigert, seine aufgegabelte Kiezbekanntschaft, eine junge Frau und zwei jungen Männer, in die Wohnung herein zu lassen. Gott sei Dank verfehlte die Colaflasche ihr Ziel und landete in der Glasscheibe der Tür vom Wohn- in den Schlafraum, anstatt mir den Schädel einzuschlagen. Oder in jener Zitterpartie, die ich durchmachte, als er, um mich zu ärgern, im Vollrausch übers Dach kraxelte und ich ihn mit viel Zureden wieder in die Wohnung herein bekam. Keine Stunde verging ohne Aufregung. Dennoch fehlte er mir in jener Zeit, in der er -bei Jeannette verhaftet- in U-Haft saß. Wir schrieben uns und er schickte mir für zweimal Besuchsscheine. Hilfreich stand mir Andreas, der ein Einzelgänger war und zu seiner homosexuellen Veranlagung noch nicht stehen konnte, zur Seite. Ihm konnte ich mein Leid klagen wie dem Tagebuch, das ich anfing zu führen. Gut tat mir auch, unter allen Bewerbern für eine Alleinkochstelle in einem Squashcenter, gegenüber vom Hagenbek Tierpark, genommen worden zu sein. Günstiger konnte die Arbeitszeit, Montag bis Freitag von 13 bis 20 Uhr, die Wochenenden frei, nicht sein, denn bald darauf kam Frank wieder frei mit dementsprechendem Nachholbedarf. Ich entschied mich, all meine Hebseligkeiten auf dem Dachboden verstaut, Frank zu verlassen und die Wohnung, vor der Räumungsklage, frei zu geben. Eine Nacht bei Andreas in Rahlstedt geschlafen, mit der Absicht, vorerst bei ihm wohnen zu bleiben, und ich fand heraus, ohne Frank noch unglücklicher zu sein. Auf einmal erinnerte ich mich nach 7 Jahren an Holger van Deun. In seiner Eigentumswohnung hatte ich zur Untermiete gewohnt. Seine Mutter erreicht, erfuhr ich, dass Holger der Liebe wegen in den Staaten gelandet war. Aber sein Bruder Wolf habe, nicht weit von der U-Bahn Haltestelle Horner Rennbahn entfernt, in seinem Haus im Keller noch einen freien Raum. Kurzerhand rief ich dort an und tatsächlich konnte sich Wolf an mich erinnern und vermietete ausnahmsweise diesen Raum, von dem er meinte, dass er zum Wohnen ungeeignet sei, an mich und meinen Freund, per Telefon. Und das war gut so. Mit meiner Vermutung, dass Frank rein äußerlich abschreckend wirke, lag ich nicht verkehrt. Doch versprochen war versprochen. Wir kamen ja auch gleich mit unseren Koffern an. Der Raum war schön groß und daneben lag die Waschküche. Die Toilette und Dusche lagen im Erdgeschoss. Als ich allerdings am 1. Tag nach der Arbeit kam, passte Wolf mich ab, nahm mich beiseite in einen naheliegenden Dorfschank, trank mit mir ein Bier und erklärte, es ginge doch nicht. Tagsüber hatte Frank Kerstin, Tina und Rolf zu sich geholt, und was sie in ihrem Schnüffelrausch da vollzogen, musste Wolf mit seiner Frau ziemlichen Ärger eingebracht haben; mit ihren Mietern im Dachgeschoss hatten sie schließlich nur gute Erfahrungen gemacht. Ich beschwor Wolf, uns noch eine Chance zu geben, und versprach ihm, Frank ins Gebet zu nehmen; und wir kamen überein, uns nach zwei Wochen noch einmal zu sprechen.
Den 2. Akt erlebten wir nur als ein kurzes, aber bedeutungsvolles Intermezzo, während dem wir innerlich näher kamen. Jeanette war Geschichte. Dafür boten die 2 Mädchen, zu denen Frank gleich einen guten Draht hatte und die im Dachgeschoss wohnten, neuen Anlass für meine krankhafte Eifersucht. Morgens bereitete ich mich zur Arbeit vor, abends wartete ich zu meist auf Frank, bis wir dann mit Alkohol fern sahen oder zu Gesellschaftsspielen Musik hörten oder lautstark stritten. Der Sommer war einfach prächtig, so dass wir an den Wochenenden mit Kerstin, Tina und Rolf gleich in der Nähe bei einer Kiesgrube baden gingen. Ich war gerne dabei und hielt mich am „Strand“ auf, denn kaltes Wasser verabscheute ich von jeher; außer, die Hitze der Jahreszeit zwang einen zur Abkühlung. Es gab sehr viele schöne Momente, die leider überschattet wurden durch Franks Unfähigkeit, rücksichtsvoll zu sein. Einen Monat später mussten wir gehen. Es war früh am Morgen, ich saß auf gepackten Koffern, wartete auf Frank, der über Nacht nicht nach Hause gekommen war, und hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Schließlich kam er und, siehe da, er wusste eine nächste Bleibe für uns. Rechtzeitig, damit ich pünktlich bei der Arbeit sein konnte, landeten wir in Uhlenhorst in der Sierichstrasse in einer Pension mit Portierloge im Parterre, die ihre zwei oberen Stockwerke an Menschen vermietete, die vom Sozialamt untergebracht wurden, wo Frank sich einen Berechtigungsschein besorgte. Unser zur Hauptstrasse liegendes Zimmer –die Toilette lag im Flur zur allgemeinen Benutzung- bot Platz für 2 Betten, 2 Nachtschränkchen, einem ca. ein Meter breiten, fast bis zur Decke hoch reichendem Kleiderschrank, einem kleinen Tisch mit 2 Stühlen, einer Duschkabine, einem Waschbecken und einem Minimum an Bewegung. Für uns war es ein kleines Paradies, zu dem sogar ein tragbarer Farbfernseher gehörte und ein niedlicher Balkon. So gut wie quasi um die Ecke herum war Aldi und ein Waschcenter. Am selben Tag noch rief Frank Tina an, und schon marschierte sie mit dem Bruder und ihrer Freundin Kerstin an. Schnell hatte Frank eine Stammkneipe ausfindig gemacht, in die ich oft mitging. Und besonders liebte ich es, wenn er beim Würfelspiel „Maxen“ am Tresen mit den Wirtsleuten und einiger Kundschaft Runden gewann. Kummer machte mir der Hauptbahnhof. Dort kannte Frank Hans und Franz! Und war kein Geld mehr da, ging er auf den Strich. Dann hatte ich, Qualen der Eifersucht durchmachend, zu warten, bis er, wie abgesprochen, zurück kam, um mich in seine Lieblingsspelunke auf St. Georg einzuladen, wo er eine Nutte kennen lernte, mit der er sich fortan manchmal traf. Er war ständig unter dem Druck, seine Heterosexualität unter Beweis zu stellen, so auch in jener Situation, in der er mit einer stark alkoholisierten greisenhaften Rentnerin in einem Gebüsch verschwand. Unfern davon hatte ich zu warten, bis er siegesgrinsend auftauchte und, so breit wie er war, schwankend einen Schlüpfer wie eine Fahne vor sich hin- und herschwenkte und mich zum nächsten Umtrunk einlud. Zumindest gab es keinen Ärger in der Pension, in der jeder sich selbst nur der Nächste war. Ich ging weiterhin zur Arbeit, lernte mit Franks Jähzorn umgehen, ertrug seine fünf Minuten, indem ich aus dem Zimmer ging oder er mich hinaus schickte, Tod unglücklich darüber, dass er sich mit Pornos allein vergnügte, machte seine nächtlichen Koch-Arien mit, wenn wir längst über Mitternacht nach Sauftouren zurück kamen und ihn ein Heißhunger auf Spaghetti mit Tomatensauce oder Ravioli überkam, und betäubte mich regelmäßig mit Weinbrand-Cola, worauf Frank neuerdings stand; die glücklichen Stunden mit ihm waren es mir wert. Immer mehr Kraft jedoch kosteten mich die leidvollen, vor allem, da ich noch häufiger über den eigenen Schatten springen musste. In Schweiß gebadet überstand ich jene nächtliche Aktion, mit der Frank an einem Abend heraus rückte. Er war in enthusiastische Stimmung versetzt. Wie lange war das her? Monotonie hatte sich in unseren Alltag geschlichen. Er war gereizt und mir schlichen Depressionen auf den Pelz. Es bedurfte geringster Kleinigkeiten und wir gerieten in Streit. Sein Glück jetzt tat mir gut. Was sollte ich machen? Allein der Gedanke an seine Idee lehrte mich das Grausen. Sollte ich ihm damit kommen? Ich, der ewige Spielverderber! Der „Herr Professor“! Der Plan, vorerst in die Stammkneipe zu gehen, bis nach Mitternacht die Strassen gottverlassen seien, erweckte in mir die Hoffnung, er besinne sich eines besseren; die Lust auf seine Idee vergehe ihm sturzbetrunken. Dem war natürlich nicht so! Und widerwillig bekam ich Insider Einblicke in die Vorgehensweise eines Autoknackers, während ich, mich in albtraumähnlichen Zuständen bereits im Knast sehend, Schmiere zu stehen hatte. Franks Ausbeute, die ich auf unserem Zimmer zu Auge bekam, zeigte mir dann, wie sinnlos es war, sich dafür die Zukunft zu versauen. Ein andermal überraschten mich Frank, Tina, Rolf und Kerstin damit, dass sie jemand kennen gelernt haben, der auf Tina stehe und förmlich nach Geld stinke. Sie sahen ihre Chance darin, einen großen Coup zu landen und weihten mich in die Details ein. Angekündigt empfing uns der Hausherr erwartungsvoll in seiner Wohnung, die tatsächlich nicht von schlechten Eltern war. Frank besorgte die alkoholische Abfüllung. Tina fiel die becircende Rolle zu, die sie fabelhaft meisterte mit einer schauspielerischen Glanzleistung, die einen Oskar verdiente. Und ich hatte das Opfer in geistreiche Gespräche zu versetzen, zur Ablenkung für Kerstin und Rolf, die abwechselnd aus der gemütlichen Stube gingen, um die Wohnung zu durchsuchen. Irgendwann, der ehrenwerte Herr war randvoll, bemerkte ich Unruhe. Frank verschwand, kam wieder, tuschelte mit Tina, die nun statt seiner verschwand. Ein Blickkontakt mit Frank, ein Kopfzeichen, mir signalisierend, dass Kerstin und Rolf fündig geworden waren. Der Abgang war angesagt! Ich hatte das letzte Thema ausklingen zu lassen. Und kaum auf der Strasse in einem Taxi gelandet, stellte sich mir heraus, dass wir stolze Besitzer von 3000,- DM waren, die wir untereinander verteilten und feiern gingen. Das Nachspiel dieser Angelegenheit lief glimpflich ab. Die Drohung des Geprellten tags darauf mit Anzeige und Anwalt machte uns keine Angst. Wir stritten einfach alles ab. Ich setzte mich hin und schrieb einen Brief, der sich gewaschen hatte. Wir hörten nie mehr von ihm.
Ebenso plötzlich wie zu meiner Arbeit gekommen wurde ich erwerbslos. Wie gewohnt kam ich nach dem Wochenende ins Squashcenter, wo der Teufel los war. Es hatte gebrannt. Die Spekulation lag nahe, dass zum Feierabend hin der Kellner unachtsam war beim Aufräumen und Zigarettenglut übersah, die zu dem Unglück führte, das Lokal und die Küche unbrauchbar zu machen. Mir wurde der Restlohn ausbezahlt und ich ging, meine sieben Sachen gepackt, auf nimmer Wiedersehen. Traurig war ich nicht. Ja, ich war erleichtert. Und mich beim Arbeitsamt gemeldet, daraufhin mit Frank zum Sozialamt gegangen, bekam ich die Miete für die Sierichstrasse bezahlt. Unser Totaleinkauf im Aldi und der große Wäschetag im Waschcenter verliefen entspannt. Fortan musste ich nicht mehr ständig auf die Uhr sehen, waren wir im Stammlokal, und mich nicht mehr losreißen, wenn’s am Schönsten war mit Kerstin, Tina und Rolf. Die andere Seite der Medaille war die seelische Qual, die mir, ohne bei der Arbeit abschalten zu können, gründlich zusetzte, gabelte Frank eine Bordsteinschwalbe auf, verzog er sich in meiner Gegenwart auf St. Georg mit seiner bekannten Prostituierten, ließ er mich für eine halbe oder volle Stunde auf dem Hauptbahnhof warten, um bei einem Freier ’ne schnelle Mark zu machen, begnügte er sich, nachts neben mir liegend, mit sich alleine. Und suchte ich in meiner Verzweiflung ein schwules Lokal auf, fand ich dort schon gar nicht mein Glück. Hin und wieder kam Andreas, der sich unter vier Augen geduldig meinen Kummer anhörte. Kam Frank dazu, war er katzenfreundlich und kochte für uns alle. Als Detlef, der Koch, aufkreuzte, mit dem ich einmal gut Freund war und vier Monate lang in einem Hotelbetrieb ausbildete, was weit zurück lag, freute ich mich besonders. Er verstand am allerwenigsten, dass ich bei Frank blieb. Sogar Werner meldete sich, der aus München mit seinem Partner in Hamburg einen kurzen Abstecher machte. Ich glaube, zweimal besuchte ich auch Heike und Bernhard. Allesamt Ereignisse bescherten meinem Tagebuch eine Fülle von Abwechslung, bis zu dieser, die über meine Grenzen ging. Das Geld vom Arbeitsamt war gekommen. Inklusive einer Nachzahlung insgesamt 2600,- DM. Günstige Umstände sorgten dafür, dass Frank nichts davon mit bekam, was ich für einen Schicksalswink hielt. Wollte ich vermeiden, dass dieses kleine Vermögen zum Fenster hinaus geworfen wurde, musste ich es ihm verschweigen. Seit einiger Zeit keimte der Traum einer gemeinsamen Wohnung, worüber wir auch manchmal sprachen, in mir, wozu uns bislang die Kaution fehlte. Jetzt war sie da und ein Versteck musste her! Ein wirklich gutes! Nur, wo in diesem unserem kleinen Reich? Auf der Suche danach fühlte ich mich regelrecht überfordert, bis zu dem Geistesblitz, der mich traf, bei der Sicht nach oben auf den Kleiderschrank. Es hätte schon mit dem Teufel zugehen müssen, sollte er die nächsten Tage dort etwas zu schaffen haben. Vom Stuhl aus schob ich den gesamten Betrag tief genug unter die Koffer und kam mir unglaublich schlau vor.
Früh am Abend, von Andreas gekommen?, landete ich zu Hause. Eigentlich sollte Frank da sein. Ich versuchte, es mir gemütlich zu machen, und schaltete den Fernseher ein. Irgend etwas lag in der Luft. Es knisterte förmlich danach und zwar sehr unangenehm. Ich lenkte mich ab, hatte Hunger, wollte aber auf Frank warten. Es wurde später. Wo blieb er denn bloß? Ich wurde unruhiger. Dieses unangenehme unsichtbare im Raum war kaum mehr auszuhalten. Und dann platzte die Bombe! Mein Kopf schoss hoch, im Blick die Koffer. Panik packte mich. Hoffnung stieg auf, „Lieber Gott, mach dass es nicht wahr ist!“. Die Koffer schienen in ihrer ursprünglichen Lage zu sein. Gleichzeitig sah ich ein, mich selbst zu belügen. Es war einfach offensichtlich. Flehend und bittend, dass er das Geld nicht entdeckt habe, rückte ich einen Stuhl heran, stieg darauf, hob die Koffer und griff –ins Leere. Im Bruchteil einer tausendstel Sekunde war ich wie betäubt unterwegs, getrieben von dem Gedanken, zu retten, was zu retten sei. Eine Odyssee begann, begleitet von Stossgebeten gen oben in mich hinein, vor mich her, die mich alle Orte aufsuchen ließ, wo er dabei sein könnte, die Kaution auf den Kopf zu hauen. Ich fragte hier, ich fragte dort Bekannte, ob sie Frank gesehen haben. Einzig seine Prostituierte, der ich leid tat, hatte ihn Stunden zuvor in ziemlich schlechter Verfassung gesehen. Nach zwei Nächten und einem Tag –zwischendurch glaubte ich, in herumwälzenden wenigen Stunden, mir Schlaf holen zu können- fand ich ihn in einer Disco auf der Reeperbahn. Beschämt händigte er mir einen Fünfzigmarkschein, den Rest vom Schützenfest, aus. Mitleid überkam mich und ich sagte ihm, nachdem er schon mal unsere gemeinsame Wohnung in Sand gesetzt habe, könne er, falls ihm noch was an mir liege, wieder kommen und ging meines Weges. Am nächsten Morgen kam er zurück, schlief sich aus und ich war selig. Später kam die ganze Wahrheit heraus! Sein kunterbuntes Einnehmen von Drogen und Aufputschmitteln, dazu der ständige Mischmasch an Alkohol, hatte ihn an den Punkt gebracht, nicht mehr leben zu wollen. Beim Abschied nehmen von seiner bekannten Prostituierten, die Taschen bereits voll mit Schlaftabletten, erinnerte er sich an unsere Bettwäsche in den Koffern, denn die Nächte fingen an, kühl zu werden. Wenigstens warm eingepackt wollte er, allein in einem Gebüsch, der Welt für immer Ade sagen. Also fuhr er nach Hause, wo buchstäblich ein Geldsegen vom Himmel über ihn herab fiel.
Jeder Versuch, unser weiteres Zusammenleben zu dokumentieren, scheitert daran, dass ich mich, außer einigen unwesentlichen Szenen, bei Andreas vorfinde, wo ich mich in der Adventszeit aufblühend erholte; zur unbewussten Stärkung in den 4. Akt hinein. Aus Furcht davor, Frank könne in meinem Tagebuch lesen, hatte ich es Andreas mitgegeben. Darin gelesen, was ich ihm frei stellte, empfand er mich für Suizid gefährdet und kam sehr besorgt direkt nach seiner Arbeit vorbei, mir mitteilend, dass, wenn ich nicht mehr weiter wisse, seine Tür für mich jederzeit offen sei. Die Gelegenheit, sein Angebot dankend anzunehmen, ergab sich kurz darauf, als Frank mit einem Kollegen plante, den Safe der Pension auszurauben. Und während sie ihre Tat ausführten, wofür sie sich nächtelang mit der jungen Frau, die Dienst hatte, anfreundeten, packte ich meinen Koffer und verschwand heimlich, still und leise. Das war’s, glaubte ich, und freute mich auf meine Schreibmaschine, die Andreas bei sich aufbewahrt hatte. Sein Einzelgängerdasein glich dem eines Eremit, was mir nur recht war. Und ihn darum gebeten, mich am Morgen zu wecken, tranken wir gemeinsam Kaffee, bevor er zu seiner Arbeit ging und ich mich endlich meinem Element, dem Schreiben, hingeben konnte, inspiriert von Gitte Hennings, die damals verkündete nicht mehr Gitte zu sein, neuen LP, auf der sie den Anfang, den Höhepunkt und das Ende einer Liebesbeziehung besang. So gelang es mir, mit der Sehnsucht nach Frank fertig zu werden. Morgens zusammen Kaffee trinkend, abends beim Gespräch Musik hörend, dabei manchmal Feuerzangenbowle trinkend, vergingen die Tage, sanft, ruhig und angenehm, in denen ich das kleine Werk schrieb: Am Ende ist man allein! Ein Telefonanruf kurz vor Weihnacht widersprach dieser Behauptung. Franks Mutter war am Hörer. Sie machte sich große Sorgen um ihren Sohn, den sie kaum mehr wieder erkenne, seit ich ihn verließ. In einer Unterredung mit ihm, habe er ihr versprochen, sich zu ändern, und bat mich nun um eine allerletzte Chance für ihren Sohn. Andreas stellte sich nicht quer und ich konnte die Mutter beruhigen, indem ich Zeit und Ort angab für ein Treffen mit Frank. Seine Freude, mich auf dem S-Bahnhof Rahlstedt wieder zu sehen, ging mir ganz schön nahe. In einem nahe gelegenen Restaurant sprachen wir uns aus. Und glücklich darüber, ihn wieder zu haben, verlebten wir bei Andreas einige ziemlich harmonische Wochen.
Den folgenden Aufenthaltsort, ein Asylheim in Bahrenfeld, trieb Frank auf. Sozialpädagogen hatten ein zweistöckiges leerstehendes Haus erworben, das für obdachlose, schutzbedürftige und notleidende Menschen umfunktioniert wurde. In diesem Zufluchtsort zogen wir zur günstigen Miete, die das Sozialamt übernahm, in ein riesengroßes Zimmer am Ende des Erdgeschosses. Ein Wasch- und Toilettenraum ging vom Gang ab. Ganz oben wohnten die Ansprechpartner, Mitarbeiter der Initiatoren dieser Stätte, denen eine gemeinsame Problembewältigung das oberste Motto war. Und Schwierigkeiten oder Unstimmigkeiten traten viele auf bei dem zusammengewürfelten Haufen. Menschen mit gescheiterten Existenzen oder an der Liebe zerbrochen, in extremste Armut geraten, lernte ich kennen. Schräge Vögel, zwielichtige Erscheinungen, furchteinflößende Gestalten, herzensgute Seelen, geistig Verschrobene; vieles war hier vertreten. Darunter gutgläubige, Atheisten, von besserer Zukunft träumende, sich von aller Hoffnung aufgegebene, Spinner, für alles zugängliche, ausgemachte Egoisten, verkannte Genies und seltsame Pärchen. Es kam Intelligenz, Humor, Lebenserfahrung, Weisheit, Dummheit, Güte, Blödsinn, Hass, Liebe, Dumpfheit, Übertreibung vor. In dieser Vielfalt menschlicher Eigenschaften war für jeden etwas dabei, auch für Frank und mich. Spannungen blieben also nicht aus, die mich nötigten, Andreas die Schreibmaschine mit zu geben. Zum einen lag Schreiben nicht drin, zum anderen glaubte ich, Frank könne seine im Jähzorn geäußerte Drohung, sie aus dem Fenster zu werfen, wahr machen. Zu Anfang unterstützte man sich noch, half sich gegenseitig aus. Hier eine freundliche Geste, dort eine nette Verständnisaufnahme. Doch schon bald war in allen Ecken und Enden des Hauses Streit an der Tagesordnung und ständig wurde irgendwo zu schlichten versucht. Zu sehr saßen sich die gegenseitigen Charaktere auf der Pelle, so dass, ob gerechtfertigt oder nicht, Grund zur Eifersucht unter Freunden, Kumpels, Pärchen vorlag. Auch bei mir. Und Frank stellte mich zur Rede, kam ich aus einem Zimmer von Personen, die ihm nicht grün waren. Besuch hatten wir kaum mehr. Mit Kerstin, Tina und Rolf war Frank auseinander. Mein Kontakt zu Detlef brach ab. Andreas fühle sich in dem Umfeld unwohl, wie auch Franks Schwester, für die –einmal da und nie wieder- ihr Bruder aus unserem kahlen Zimmer mit angebrachten Vorhängen, Decke auf dem Tisch, Läufern über dem Parkett eine relativ gemütliche Bude machte. Allem Anschein nach erging es den Mitbewohnern ähnlich. Der gute Wille nahm ab. Aus den Toiletten stank es. Die Hausflure wurden vernachlässigt. Hilfsbereitschaft untereinander verlor sich. Lebensmittel Großeinkäufe verführten zum Prahlen und Angeben. Missgunst entstand. Gewiefte Naturen machten krumme Geschäfte zum Nachteil des anderen mit meistens Drogen, Spirituosen, Wertgegenständen. Und keiner war mehr vor Diebstahl sicher. Einer beschuldigte den anderen. Verdächtige wurden gefunden. Handgreiflichkeiten nahmen zu. Es kam zu Zimmer Durchsuchungen, zu Verweisen, zu Rauswürfen. Das Projekt war gescheitert, dessen totale Auflösung mit zu kriegen Frank und mir erspart blieb auf Grund des Besuches meines ehemaligen Freundes Wolfgang, der mich wie die Nadel im Heuhaufen gesucht hatte.
Wolfgang wollte schon immer hoch hinaus. Die Blendwelt der Highsociety hatte es ihm jeher angetan, und das sich in den Kopf-gesetzte erreichte er für gewöhnlich. Ihm zur Seite stand inzwischen, in Liebe verbunden, Andrea, die kürzlich ihren Job, Hausdame im Atlantic Hotel, gekündigt hatte. Jetzt sollte es steil nach oben gehen. Das ganz große Geld zu machen war ins Auge genommen, angefangen mit einem Restaurant Betrieb, wozu ein Koch benötigt wurde. Den fanden sie in mir. Der einzige Haken dabei: Ohne Frank war ich nicht zu kriegen. Für Andrea, die etwas Besseres war, eine bittere Pille, die zu schlucken ihr unter Würgen nur gelang. Ein Kompromiss musste her. Den zu finden, bereitete uns allen ein ziemliches Kopfzerbrechen, was zur Übergangslösung führte, dass Frank und ich nach Mümmelmanns Berg mit in die 3 Zimmer Wohnung zogen von Wolfgang und Andrea, mit deren zwei nicht stubenreinen ausgewachsenen Schäferhunden Frank besonders gut konnte. Während der heißen Phase zur Findung einer Lösung, stellten Wolfgang und Andrea mich als ihren Koch den Pächtern des Restaurants in Bokelrehm vor. Das war ein Dorf hinter Itzehoe, wo sich noch Hund und Katz gute Nacht sagen und die Einheimischen für Menschen aus dem Sündenpfahl Hamburgs eine gewisse Zeit der Gewohnheitsbedürftigkeit brauchen. Wir rechneten alle mit einem guten Startschuss, einem schnellen Erfolg, für den Frank unter Verschluss gehalten werden musste. Allein sein äußeres Erscheinungsbild hätte genau die Gäste fern gehalten, von denen sich Wolfgang und Andrea ihren künftigen Reichtum erhofften. Lief dann alles wie geschmiert, konnte Frank nachkommen. Bis dahin würde schon die rechte Antwort parat sein, auf die Frage, in welcher Beziehung die Betreiber des Restaurants zu diesem Fragment an Mensch standen; in jedem Fall durfte meine homosexuelle Veranlagung niemals publik werden. Die Fassade eines blitzblanken Image hatte stand zu halten, für das Wolfgang, mit seinen gerade 21/22 Jahren, und Andrea, mit einigen kaum erwähnenswerten Jahren älter, sogar bereit waren, den Bund der heiligen Ehe einzugehen. Zur Zufriedenheit aller bekam jeder das Seine! Viel zu spät die Wohnung gekündigt, blieb Frank für zwei Monate mietfrei zurück und versprach Wolfgang und Andrea fest in die Hand, sich vernünftig aufzuführen. Jeweils am Montag, meinem freien Tag, wollte ich kommen und Lebensmittel mitbringen. Zwischendurch würde Wolfgang, hatte er in Hamburg zu tun, nach dem Rechten sehen. Für mich gab es in Bokelrehm, über dem Lokal, ein niedliches Zimmerchen separat, von dem eine eigene Dusche mit Toilette abging. Daneben bezog nachbarschaftlich das jung vermählte Paar eine komfortable Wohnung. Für die Hunde war unten, von der Küche aus, nach hinten hinaus im Hof ein Zwinger errichtet worden. Nach wenigen Wochen –der Andrang Neugieriger verebbt, unser Nervenkleid strapaziert- endete das Ergebnis all unser Bemühungen nur noch in Sisyphusarbeit, und die Wohnung im Mümmelmanns Berg war mehr oder weniger zu einer Ruine geworden, deren Frist zur termingerechten Abgabe näher rückte. Und trotz meiner letzten Besuche, an denen ich mitbekam, dass Freier von Frank und einem Kollegen dort bereits übernachteten, brachte ich es nicht übers Herz, ihn fallen zu lassen. Es war Wolfgang, der dem Spuk ein Ende machte und Frank, zu meiner völligen Überraschung, nach Bokelrehm holte.
Selbstverständlich durfte kein Verdacht erregt werden, wie es um Frank und mich stand. Durch einen Seiteneingang geschleust, über eine Treppe in mein Zimmer geführt, wartete Frank auf meinen Feierabend. Viel war ja nicht mehr zu tun, folglich konnten wir uns bald in den Armen liegen. Mein Glück war grenzenlos. Nie zuvor hatten wir uns so nah beieinander. Sogar Frank kam mit den Bedingungen, dass wir zusammen sein konnten, zurecht, die ihm zur Auflage machten, im Hintergrund zu bleiben. Selbst Andrea, die ihn als Mädchen für alles gebrauchen konnte, machte gute Miene zum bösen Spiel, zumal ihr die Wiedersehensfreude der Hunde, die ihr oft zu viel wurden, mit Frank nahe ging. Bald war uns allen klar, dass das so nicht lange gut gehen konnte. Wenigstens die Pächter, die sich allabendlich im Lokal aufhielten, mussten Kenntnis über Franks Anwesenheit erhalten, was Wolfgang erledigte. Und die Luchts boten ihren Schuppen am Ende der Dorfstraße an zur Unterbringung Franks. Was sie für eine glorienreiche Idee hielten, bedeutete für mich, doppeltes Versteckspiel und Traurigkeit. Die wenige Zeit –tagsüber gemeinsam in der Küche gearbeitet, abends in meinem kleinen Reich unter uns, nachts in einem Bett Arm in Arm eingeschlafen, ebenso am Morgen aufgewacht- war unsere vielleicht schönste gewesen. Und eine dunkle Vorahnung, dass es schnell mit ihm bergab gehe, bestätigte sich mir geradezu im Eiltempo. Für die Dorfburschen, an ihrer Spitze die zwei nicht mehr minderjährigen Söhne der Luchts, war Frank eine willkommene Abwechslung auf Sauftouren, bei Kartenspielen mit hohen Einsätzen, an Bowling Abenden, in die Einkehr Diskos außerhalb Bokelrehms. Nach ein-, zweimal zur Arbeit ins Lokal gekommen, blieb Frank ihr fortan fern. Bei mir konnte er nicht mehr schlafen, so dass ich ab und an im Schutz der Dunkelheit zu ihm ging, um in aller Herrgottsfrühe verstohlen durchs Dorf zu geistern. Keiner durfte spitz kriegen, dass ich die Nacht bei meinem Liebsten zugebracht hatte, ob er da war oder nicht; schließlich kam es vor, dass Frank nicht nach Hause kam. Dann machte ich mich enttäuscht auf ins Lokal, mit der quälenden Frage, ob er eine Freundin habe. Ein genau solcher Vormittag gab mir Rätsel auf. Wolfgang und Andrea waren seit dem Vortag in Hamburg, die alte Wohnung renovieren, und ich allein den Betrieb führend. Nichts einfacher als das. Seit ich in der Küche kaum mehr gefordert wurde –der Pleitegeier kreiste längst über uns, hatte ich beim Ausschank gelernt, mich nützlich zu machen. An diesem Vormittag zugange, war alles anders. Mit der tags zuvor von mir neu angebrochenen Flasche Mariachron stimmte etwas nicht. Einige Gegenstände hatte ich da, wo sie nun standen, so nicht hinterlassen. Diese und jene veränderten Kleinigkeiten –so betrunken war ich nun wirklich nicht- vielen mir auf. Aber erst als ich eines Gastes wegen, um heraus zu geben, an die Geldkassette musste, rauchte mir der Kopf. Absolut sicher konnte ich mir nun sein, dass in der Nacht jemand unbefugt im Lokal gewesen war. Ich rekonstruierte, die einzelnen Ungereimtheiten zusammen setzend, und zählte zwei und zwei zusammen. Der Groschen fiel und mir wurde schwindelig. Mit meinem Gedächtnis also, dass ich schon angezweifelt hatte, stimmte alles. Beim Ankleiden bereits vergeblich nach den Schlüsseln gesehen, fand ich sie in einer anderen Hose als in jener, die ich am Vortag trug; ohne diesen Vorfall wäre ich nie auf Frank gekommen. Umgehend rief ich Jens, Luchts älteren Sohn, an, er möge doch bitte gleich vorbei kommen. Ihm, das wusste ich, konnte ich mich bedenkenlos anvertrauen. Und er versprach mir, Frank sofort zu mir zu schicken. Statt dessen kamen Stunden später Jens, sein Bruder und ihr bester Freund, mir mitteilend, dass sie, Geld zusammen gelegt, mit ihrem Auto Frank nach Itzehoe gefahren hatten, um ihn dort in den Zug nach Hamburg zu setzen. Ohne von ihm Abschied nehmen zu können, verschwand er aus meinem Leben. Den fehlenden Betrag bat ich Wolfgang, einfach von dem kleinen Gehalt abzuziehen, das er mir noch schuldig war. Damit erreichte ich es, ihn von einer Anzeige abzuhalten.
Ich war wieder allein. Endgültig! Nur dass sich dem letzten 7. Akt ein Epilog anschloss. Frank hatte angerufen; die neuen Betreiber des Lokals kannten seine Stimme nicht. Insofern konnte ich ihn, mit großer Vorfreude, in Itzehoe vom Zug abholen und wir kehrten in einem Restaurant ein. Mit anfänglichen Schwierigkeiten hatte Frank in Hamburg wieder Fuß gefasst. Wir tauschten uns, wie es jedem bis dato ergangen war, gegenseitig aus, bis ich auf jene Nacht zu sprechen kam. Ich wollte es endlich genau wissen. Was sich herausstellte war ungeheuerlich! Mit Frank gemeinsam hatte Jens & Co. das Ding gedreht. Der Reihenfolge nach, vom Nehmen der Schlüssel, der Vorgänge und Vertuschungsversuche im Lokal, bis zum Zurückgeben der Schlüssel hatte ich alles an fünf Finger richtig ausgerechnet. Mit dem Irrtum, allein Franks Handschrift darin zu lesen. In Panik versetzt, kamen Jens und Konsorten überein, nur dann eine Chance zu haben, nicht aufzufliegen, würde Frank beiseite geschafft werden. „Das perfekte Verbrechen“ scheiterte an der falschen Hose, in der die Schlüssel, der Finsternis wegen eventuell, landeten. Verspätet –aufgeschoben ist nicht aufgehoben- nahmen Frank und ich auf dem Bahnhof Itzehoe herzlich voneinander Abschied. Und ich blieb mit dem Geschenk einer wichtigen Lebenserfahrung zurück: So lange es Sündenböcke gibt wie Frank, werden es jene in der Gesellschaft immer ganz einfach haben, die es gern darauf anlegen, ihre Hände in Unschuld zu waschen.
7. Fremd in Bokelrehm: Ausgeliefert
Es war eisig kalt an jenem Tag. Seit Wochen hielt der Frost an. Die Hände tief in die Jackentaschen eingegraben, den Kopf gesenkt gehalten, musste ich bei dieser Rutschpartie auf spiegelglatter Bahn mit jedem Schritt befürchten, auf meinem Allerwertesten zu landen und mir dabei blaue Flecken zu holen, wenn nicht sogar die Knochen zu brechen. Bei dieser Achtsamkeit, wenigsten eilig als möglich voran zu kommen, sah ich zu meinen Füßen ein beschriftetes Stück Papier. Ich war durchgefroren und wünschte mir nichts sehnlicher, als in einem Krug in gemütlicher Geselligkeit mich aufzuwärmen. Da hätte sich schon die Erde unter mir auftun müssen, um mich aufhalten zu lassen. Kurz darauf kehrte ich bei Wally ein und traf Bekannte, mit denen ich einige Bier trank.
Anderntags dabei, einige meiner Kleidungstaschen zu Leeren, geriet mir ein Stück Papier in die Hand, das mich daran erinnerte, dass ich den inneren Schweinehund überwunden, mich gebückt und das Schriftstück eingesteckt hatte, des Empfängers wegen; von dieser Familie, die ich nur oberflächlich kannte, war auch mir in letzter Zeit Unglaubliches zu Ohren gekommen. Eventuell bekam ich endlich die Gelegenheit, mir ein eigenes Bild zu machen über Vorkommnisse aus dieser Gegend, in der Langeweile hin und wieder zu Kopfe stieg. Mit Tratsch und Klatsch durchsetzte der Ansässige seinen Geist, der es ausgezeichnet verstand, fein ausgesponnene Gerüchte in die Welt zu setzen, und getreu dem Motto „man soll die Feste feiern wie sie fallen“ wurde der Monotonie der Dörflichkeit mit rauschenden Gelagen und stilvollen Veranstaltungen auf den Leib gerückt, bei denen tief ins Glas geguckt wurde. Welch Wunder, dass die jungen Menschen hier im Alter von 16 oder 15 Jahren oder noch früher bereits mit dem Saufen anfingen. Sich Abwechslung zu verschaffen mit kumpelhaften Sauftouren, finanziell hoch angelegten Skatabenden und heimlichen Verhältnissen neben eingeübten Ehen, wie die der Luchts, war ein Privileg der Bauern, die zu Haus und Hof auch die Moralvorstellungen der Alten übernommen hatten.
An die Luchts ist es gerichtet, dieses Schriftstück, verfasst von dem Koch, der am 1. März 1984 in Bokelrehm seine neue Stellung antrat und deshalb in Hamburg alle Brücken hinter sich abgebrochen hatte. Die Wieder-Eröffnung des Kruges „Waldesruh“ der Luchts war auch für ihn ein Neuanfang.
An feindseligen Stimmen, die es den Luchts Übel nahmen, den Krug Fremden zu verpachten, hatte es von Anfang an nicht gefehlt. Und das war nur die Spitze des Eisbergs! Bereits das Vorhaben und dann die Umsetzung eines modernen Baukomplexes nach dem fast völligen Niederbrand 1983 des alten Kruges „Waldmannsruh“ rief Neid und Missgunst von überall her auf den Plan –es wurde sogar hinter vorgehaltener Hand über Brandstiftung geredet. Es gab genug Möglichkeiten in einem anderen weitaus beliebteren Krug der umliegenden Dörfer einzukehren. Schließlich war das einmal: Die gute alte Zeit -und lange her, als der alte Krug beliebtestes Ziel aller war. Früher, heißt es in schwärmerischen Reden, früher, was war das für ein reger Betrieb. Die heruntergekommenen Schießstände im Keller, die das Feuer verschonte, geben Zeugnis davon ab, dass an den Erzählungen aus der guten alten Zeit etwas dran sein muss. An manchen Tagen war der Ansturm so groß, dass Touristenbussen, voll mit naturverbundenen Städtern, kaum Platz zum Parken geboten werden konnte. Eine Veranstaltung folgte der anderen, und weil ein riesiger Saal zur Verfügung gestellt werden konnte, gab es immer Interessierte, die, verschiedenster Anlässe wegen, im Waldmannsruh feiern wollten, so dass es oft vorkam, für einen festen Termin Monate zuvor gebucht haben zu müssen. Selbst Onkel Rühmann, ehemaliger Besitzer des Kruges, zwanzig Jahre ist das her, redet sich in Hochstimmung über seine organisierten Festivitäten oder den Arbeitern, die früh am Morgen, auf dem Weg in die Felder, bei ihm vorbeikommend ihren Frühstücksimbiss zu sich nahmen. Und Gustl, für jedermann hier heute noch ein Begriff, hat die Bundeskegelbahn bauen lassen. Sie verstand es wirklich, ihre Gäste familiär zu bewirten, bis zum Tod ihres Mannes. Die Luchts, die Umstände blieben ein ewiges Rätsel, waren die letzten, die Besitzer vom Waldmannsruh mit Einbuße des Glanzes einstiger Ära wurden. Zu häufig wechselten nach Gustl die Besitzer, denen der nötige Pfiff dazu fehlte, einen gut gehenden Krug aufrecht zu erhalten. Wenige Monate nach dem Kauf der Luchts des veralterten Gebäudes brannte alles nieder, was erneuten Zündstoff in die Gerüchteküche legte; vom Großfeuer verschont blieb vollständig die Kegelbahn.
Einem wertvollen Schatz gleich, der mich in eine Tragödie blicken lässt, kommt mir das verfasste Schriftstück von dem Koch vor, mit dem ich so manches angeregte Gespräch führte. Ich war dann der einzige Gast jener Tage, als... Nein, lassen wir das Vorgreifen. Halten wir uns an die Reihenfolge. Dass der Koch am 1. März 1984 von Hamburg mit nach Bokelrehm kam, verdankte er dem Umstand, Jahre zuvor mit Wolfgang gut Freund gewesen zu sein. Irgendwann trennten sich ihre Wege. In der Zwischenzeit lernten sich Wolfgang und Andrea, die ausgebildete Hotelfachfrau war, kennen und lieben. Die Entscheidung der Liebenden, im Gastronomiegewerbe sich selbstständig zu machen, konnte nur in die Tag umgesetzt werden, ließ sich zum einen ein ausgebildeter Koch (das Wiedersehen der Freunde war also kein purer Zufall; und dem seit einigen Wochen arbeitslosen Koch kam die Idee mehr als gelegen) finden, der mit einem geringen Gehalt sich zufrieden gab, bis der Betrieb Gewinn einbrachte, um dann daran beteiligt zu sein, und zum anderen lag die Bedingung der Luchts vor, nur an ein Ehepaar ihren Krug zu verpachten, was sich Wolfgang und Andrea kein zweites Mal sagen lassen mussten. Sich dem Gerede auszusetzen, blutjunge Leute aus dem Sündenpfahl Hamburgs in ihr Dorf zu holen, sahen die Luchts gelassen entgegen. Sie spekulierten auf die Neugierde der Dörfler, die dem Krug wieder Leben einhauchen würde, und damit lagen sie erst einmal gar nicht so verkehrt; was für ein Schmarren schließlich, einen eigenen Koch mitzubringen. Das war kein gutes Omen! Das musste ja in die Hose gehen, warf die Bewirtung des Kruges ja nicht einmal genug für die Pächter ab. Und in einem Krug sorgte von Haus aus die Wirtin mit landesüblicher Hausmannskost für das leibliche Wohl ihrer Gäste. Damit war Andrea unten durch. Der Koch eh. Und alle wussten es, nur die Betroffenen selbst nicht, die zukunftsfreudig ihre Zelte in Bokelrehm aufschlugen. Und mit der Zuversicht, es fast allen Recht zu machen, legten sie sich ordentlich ins Zeug. Die Einweihung wurde ein voller Erfolg. Ich weiß, von was ich rede, ich war dabei. Eigens zum guten Gelingen waren die Eltern der neuen Wirtsleute aus Hamburg gekommen, von denen die Mutter Wolfgangs dem Koch unter die Arme griff, denn der hatte seine gesamte Kunst aufgeboten und eine Speisekarte zusammengestellt, die es in sich hatte. In sich hatte es auch die Kalkulation, von der keiner etwas verstand.
Die Rechnung der Luchts schien aufzugehen: Dem Platzen nahe war die Neugierde der Anwohner der hiesigen Umgebung. Der Koch führte seinen Job aus und hielt sich im Hintergrund, was eine Absprache unter sechs Augen war. Einzig die Luchts darin einzuweihen, dass der Koch schwul war, wurde einstimmig für erforderlich gehalten, was sich bald als das geringste Problem herausstellte im Misslingen eines eigentlich hochzupäppelnden Kruges. Dazu brauchte es Wirtsleute wie Wolfgang und Andrea, die allein den Vorstellungen der hiesigen Bevölkerung nicht gewachsen waren. Oder lag es daran, dass den Einheimischen nichts Recht zu machen war? Die fanden immer ein Haar in der Suppe, ganz gleich, was die jungen Leute sich einfallen ließen. Binnen weniger Wochen herrschte Totentanz im Krug, so dass tatsächlich Andrea und Wolfgang damit begannen, sich im Hintergrund zu halten und der Koch kaum mehr etwas in seiner Küche zu tun hatte, immer häufiger hinterm Tresen stand und ich, manchmal über ganze Vormittage hinweg, mit ihm Gespräche führte.
Im Juli war es beschlossene Sache, dass die jungen Eheleute zum 1. August aufgaben. Ein vom Ehrgeiz Gepackter, der schon immer davon geträumt hatte, Wirt zu werden, und der ein kleines Vermögens besaß, war, woher auch immer, aufgetrieben worden. Es kam zu einem Deal, von dem alle unterm Strich profitierten. Die Luchts kamen zu ihrer noch fälligen Pacht und dem Koch, dem obendrein mitgeteilt wurde, dass der neue Pächter ihn samt Inventar übernehme, wurde sein seit Wochen offenstehendes geringes Gehalt ausbezahlt; und sich in die Hand das Versprechen geben gelassen, dass alle über seine Veranlagung Stillschweigen bewahren, blieb er auf dem sinkenden Schiff zurück... Der neue Pächter nämlich war ein Ausländer. Mit Sack und Pack, das war aus Hamburg eine deutsche Frau, ein 15jähriger gemeinsamer Sohn, eine 7jährige gemeinsame Tochter, setzte zum 1. August 1984 der neue Pächter seinen lebenslang gehegten, nun endlich erfüllten Traum in die Tat um und übergab seinen Sohn als Lehrling ausgerechnet dem Koch, der sich mit seinem Können überall sehen lassen konnte nur nicht in Bokelrehm. Voller Optimismus wurde eine neue Speisekarte ausgearbeitet; und sich auf Anhieb mit dem Sohn seines neuen Chefs gut verstanden, freute sich der Koch auf seine Aufgabe, bildete er schließlich nicht zum ersten mal einen Lehrling aus...
Mir wird fast schlecht beim wiederholten Lesen des Textes, den mir der pure Zufall aushändigte. Ich lege ihn zur Seite, gehe in die Küche mir eine Tasse Tee aufbrühen und überlege, ob es nicht meine Pflicht ist, das Schreiben dem Koch zu bringen, der es wohl einer Unachtsamkeit wegen verloren hat. War es Schicksal, dass ausgerechnet mir das Schriftstück in die Hände fiel? Schicksal, nicht nur einmal mit dem Koch ins Gespräch gekommen zu sein, in denen er nie ein Wort darüber verlor, woraus zu schließen gewesen wäre auf das, was mich in eine Wahrheit führte, die nichts außergewöhnliches, nichts weltbewegendes ist? Da ist in der Dorfstrasse 15 einfach nur eine weitere zum Himmel schreiende Gemeinheit den in der Welt gang und gäbe geschehenden hinzugefügt worden. Um diese vollständig nachzuvollziehen, gehe ich noch am selben Tag nach Bokelrehm, wo im August der Koch über der Gaststätte mit hoffnungsvollen Erwartungen die nach seinen Wünschen hergerichtete Neubauwohnung bezog.
Er scheint unausgeschlafen und nicht geneigt zu sein, sich auf Besuch einstellen zu wollen, was mich nicht wundert, trage ich doch bei mir die Kündigung seiner Wohnung. Ihm das mitgeteilt und versichert, neutral zu sein, bietet er mir Platz an und eine Tasse Tee. Der Wohnraum ist schlicht, doch auf längere Sicht wohnlich eingerichtet, und die an den Wänden angebrachten Poster lassen den Schluss zu, dass der Koch Harmonie und Gemütlichkeit bevorzugt, worauf ich ihn anspreche. „Ja,“ geht er darauf ein, „ich habe wirklich gedacht, die nächsten Jahre hier zu leben.“ Und damit hat er freie Bahn geschaffen, sich offen auszusprechen, dabei kommt heraus, dass keinen Vertrauten hier zu haben das schlimmste für ihn sei. Mit Anfeindungen auf Grund seiner Veranlagung hatte er gelernt umzugehen. Darum ging es? Aber davon wusste doch keiner außer Luchts. Und mit denen sei er doch immer gut ausgekommen. Stimmt, ihnen wäre am aller wenigstens daran gelegen, seine Veranlagung in der Umgebung publik zu machen. Deshalb wog er sich sicher, und bis vor zwei Tagen nahm er noch jede Gelegenheit wahr, mit seinem neuen Chef ins Gespräch zu kommen. Nicht nur aus uneigennützigen Gründen. Zu suspekt erschien ihm das Gebaren, ging es um Farzad, seinen Lehrling, mit dem ab dem ersten Tag sich eine Freundschaft entwickelte, die missbilligend vom Vater beobachtet wurde und der vier Wochen nach Übernahme des Kruges dem Koch ans Herz legte, seinen Sohn privat in Ruhe zu lassen. Gewillt, sich dem Wunsch zu fügen, stellten die beiden, die täglich acht Stunden gemeinsam in der Küche zu tun hatten –und war’s nur für die Beköstigung der Familie und deren Besuche-, fest, ihre Freundschaft auf einen Befehl hin nicht unterbinden zu wollen; zudem sich für keinen von beiden ein rechter Anschluss mit den Einheimischen der umliegenden Ortschaft ergab -und Hamburg verband sie. Also trafen sich die beiden manchmal heimlich bei Erika, im Holsteniendorf. Hier verbrachten sie ungezwungen ihre Freizeit mit Billiard und Gesprächen, bei denen ihnen die Themen selten ausgingen. Leider wurde ihnen diese eine Möglichkeit gründlich versalzen. Der Vater hatte den beiden hinterher spioniert und den Koch, der sich fortan nirgendwo mehr sehen lassen konnte, bei Erika bis unter die Gürtellinie beleidigt. Und Farzad, gründlich eingeschüchtert, unterließ fortan Gemeinsamkeiten außerhalb des Betriebes mit dem Freund, den er im Kreise der Familie todschwieg. Ließ es sich einrichten, weil der Vater und Chef in Hamburg geschäftlich oder privat zu tun hatte, trafen sich die Freunde in ihrer Freizeit manchmal noch heimlich im Keller, in dem Farzad sich mit seinem elektrischen Gitarrenspiel nachmittags einnistete. Bei einer dieser Gelegenheiten bat er den Koch, der, nach einem fürchterlichen Krach mit seinem Chef, daran dachte, alles stehen und liegen zu lassen, darum, wenigstens ein Jahr durchzuhalten. Dann sei er im Küchenbereich soweit sicher, sich die Restzeit seiner Lehre in einem anderen Gastronomie-Betrieb zuzutrauen. Ihm zu liebe ließ sich der Koch darauf ein. Farzad, der nie ein Problem mit seiner Homosexualität hatte, die er ihm bereits nach wenigen Tagen beichtete, zum Lehrling zu haben, war ihm die einzige Freude in Bokelrehm; und dass er sich zum Koch eignete fiel allgemein auf. Zu seiner guten Auffassungsgabe war er flink und besonders bereitwillig, wäre er doch von seinem Vater lieber gestern als heute befreit gewesen.
Sich damit abzufinden, dass, ging es um den Küchenbereich, jedwede Entscheidung ihm genommen wurde, dazu brauchte der Koch nur wenige Wochen. Trotzdem machte er gute Miene zum bösen Spiel; bis zu dem Krach im Zusammenhang mit dem Vorfall bei Erika. Zunehmend weniger überwarf er sich mit seinem Chef, stets vor Augen, Farzad gut auszubilden und ihm als Freund zur Seite zu stehen, wenn der Frust ihn fast soweit brachte, alles hinwerfen zu wollen. Seine Aufsässigkeit in der Familie –natürlich sei der Koch daran schuld- wurde allen zu viel, und es hagelte Verbote über ihn, von denen ihn besonders das Streichen seines wöchentlichen Abstecher nach Hamburg traf. Nun erst recht festigte sich in der Küche die Freundschaft der beiden, was dem Chef und Vater wohl schon schlaflose Nächte bereitete. Der Überblick war ihm abhanden gekommen. Tauchte er in der Küche auf, stieß er an eine Mauer der Kälte und Verschwiegenheit. Rein betrieblich nur konnte er den beiden, die ihm gegenüber sich nichts als Gleichgültigkeit vormachten, kommen. Leider hatten sie die Rechnung ohne den Wirt gemacht! Und die präsentierte er am 20. Januar 1985! Farzad, dem seit einiger Zeit verboten wurde, in den Keller zu gehen, durfte ab diesem Tag nicht mehr in der Küche arbeiten. Von jetzt auf nachher wurde er arbeitslos gemacht. Als der Koch tags darauf von seinem Chef erfahren wollte, warum er diese Entscheidung zum Leidwesen aller getroffen hatte, bekam er nur zu hören, „Das geht dich gar nichts an! Es ist meine Sache! Ich kann mit meinem Sohn machen, was ich will! Wenn es dir nicht passt, kannst du ja gehen!“ Und abwechselnd von seiner Mutter oder der kleinen Schwester oder dem Vater selbst stand Farzad unter Beobachtung. Als letzter Ausweg, sich gegenseitig über das Befinden des anderen zu erkunden und sich über den neuesten Stand der Dinge zu unterrichten, blieb das Dach; jeweils zu Enden des Hauses waren Farzads und des Kochs Fenster. Wagte es Farzad doch mal, einen Moment der Unbeaufsichtigung zu nutzen und sich in der Küche blicken zu lassen, tauchte sofort der Vater auf. Und trotzdem die Fronten allseitig verhärtet waren, wäre der Koch nicht zu dem Entschluss gekommen, Bokelrehm verlassen zu müssen, wollte er je wieder glücklich werden. Dazu brauchte es letztendlich das berühmte Pünktchen auf dem i, damit ihm ein Licht aufgehen konnte. Die Luchts waren es, die ihm verrieten, inmitten der Vorbereitungen für das Essen einer größeren Gesellschaft, dass Wolfgang und Andrea nichts besseres zu tun hatten, dem neuen Pächter, noch bevor dieser in Bokelrehm überhaupt auftauchte, zuzustecken, dass sein werdender Koch schwul war. Und zu keinem Opfer mehr bereit, forderte der Koch sein restliches Januargehalt von seinen Chef. Dies verweigert bekommen, legte er die Schürze ab und erklärte, nicht eher in die Küche zurück zu kommen, bevor ihm sein Geld ausbezahlt würde. Letztendlich war der Koch dazu gezwungen, sich von den Luchts, denen er nicht einmal die Wohnungsmiete für Februar zahlen konnte, DM 50,- zu leihen, um in Hamburg Freunde anzurufen, auf die er sich jederzeit verlassen konnte. Farzad das Genick gebrochen, ist gefügig gemacht! Vorerst zumindest.
Bevor ich mich von dem Koch verabschiede, stelle ich ihm eine Frage, die mir unter den Nägeln brennt. Und zwar, ob Farzad ihm aus rein freundschaftlichen Motiven so nahe gehe oder eventuell mehr dahinterstecke? „Nicht nur!“, entgegnet der Koch geistesabwesend. „Was sich Farzad heute gefallen lassen muss, musste ich mir mit 17 Jahre auch gefallen lassen. Und so wie er wollte ich nur eins: raus aus dem Elternhaus. Ich hab’s geschafft. Ordentlich. Ich glaube nicht, dass das möglich gewesen wäre, hätte mir das mein Vater angetan, was Karim Shouri aus purer Eifersucht und Macht mit dem eigenen Sohn gemacht hat. Du kennst ja den Inhalt meines Kündigungsschreiben an die Luchts...“
Betrifft: Kündigung der Wohnung in der Dorfstrasse 15
Liebe Familie Lucht !
Durch die Zuspitzung der Umstände der vergangenen Tage fühle ich mich l e i d e r dazu veranlasst, diese Wohnung fristgemäß, laut Paragraph 2, Absatz 1 meines Einheitsmietvertrages, zum 31. März dieses Jahres zu kündigen.
Zu dieser Kündigung kommt es nur deshalb, weil diese Wohnung der Gegebenheiten wegen direkt über meiner gewesenen Arbeitsstelle liegt und ich demnach zusehen musste, wie Farzad Shouri, den ich gutgläubig vom 1. August 1984 bis zum 20. Januar 1985 zum Koch ausbildete, betrogen wurde, denn ohne mich davon in Kenntnis zu setzen wurde von meinem Arbeitgeber nicht veranlasst, meinen angeblichen Lehrling bei der Industrie- und Handelskammer eintragen zu lassen; was sich erst durch den Tatbestand herausstellte, als sich Farzad eigenmächtig einen Ausbildungsvertrag zukommen ließ und sich diesen von seinem Vater unterschreiben lassen wollte. Statt dessen wurde ihm fristlos gekündigt.
Ich bin mir zwar noch nicht schlüssig, was ich die folgenden Wochen unternehmen werde, aber ich bin nicht bereit, meine Augen länger zu verschließen vor der Tatsache, dass hier ein junger Mensch, weil er sich seiner bald 17 Jahren wegen nicht angemessen zur Wehr setzen kann, sich bedingungslos dem diktatorischen Beschluss seines Vaters beugen muss, der bedauerlicherweise nur autoritativ agiert; mich selbst aber dazu einsetzte, seinen Sohn zu einem guten Koch auszubilden.
Es tut mir wirklich leid, dass es durch diese Realitäten zu dieser ausgesprochenen Kündigung kommen musste; aber Herrn Karim Shouri scheint entgangen zu sein, dass ich außer ein Koch auch ein menschliches Wesen bin, mit einem erfahrungsreichen Bewusstsein und den Fähigkeiten selbst zu denken und zu handeln.
Bokelrehm, den 22.01.1985
Das
MORGEN
Unser
WOLLEN
8. Aus der Teufelsküche in die Gottessaat
Sein erster religiöser Wahn... Wahn? Für ihn sollte jener Lebensabschnitt unbewusst der 1. Schritt sein, 13 Jahre später mit innerer Heranreifung aus seiner seelischen Not heraus sich ernsthaft, gründlich und tiefgreifend mit der anthroposophischen Geisteswissenschaft auseinander zu setzen. Die Frage nach Gott, die Frage nach Jesus, die Frage nach sich selbst... Schon seine Kinderseele war erfüllt davon. Leider brach gar zu früh die Intimität in ihm aus. Gerade mal 9 Jahre alt ergab es sich ihm, in liegender Stellung auf dem Bauch mit den Händchen herauszufinden, durch den kleinen Pipilein eine Art Erleichterung –mit dem vorläufigen Ergebnis nur „heißer Luft“- herbei führen zu können. Das war schön! Das tat gut! Das Herz war rein und schöpfte einfach Lebensfreude aus dem Zustand paradiesischer Unschuld. Und der sonntägliche Kirchgang löste noch in ihm eine in den Himmel hebende Festesstimmung aus. Als Ältester von 3 Geschwistern hatte er die Schuhe zum Glänzen zu bringen, während die Mutter die Sonntagskleidung zurecht legte und der Vater sich ans Essen kochen machte.
3 oder 4 Jahre später, mittlerweile bestand die Familie aus 5 Kindern und war umgezogen, brach die Pubertät in ihm aus, die sich schleichend und gemein besitzergreifend an seine Seele heranmachte und er im Gotteshaus insgeheim um Vergebung bat für die schlimme Fantasie, die er in der Woche mit den Händen und dem Pipilein auslebte. Dieser Sündenberg wuchs bedrohlich, und die Scham vor Gott entfernte ihn aus dessen Haus. Und obwohl er manchmal befürchtete, von seiner Stirn sei es abzulesen, was er unter der Bettdecke trieb, wurde er sich klar darüber: was wirklich in ihm vorging konnte von den Erwachsenen keiner wissen. Nur Gott! Der sah alles! Der wollte bestimmt von einem nichts wissen, der sich wiederholt mit dem Teufel einließ. Eigentlich wollte er mit dem nichts zu tun haben, doch die erotischen Fantasien waren stärker, noch dazu in ihrer Hinziehung zu Männern statt zu Frauen, die er schön fand und verehrte. Mit Mädchen war meistens auch viel besser zu reden als mit den Jungs, unter denen immer wieder einer war, in den er sich verguckte, bis er mit 17 Jahren seine 1. große Liebe durchmachte, verheerend und unerfüllt, was sein Schicksal war, das die Wende brachte, die sein bisheriges Leben abschloss und als Neubeginn in sexuelle Ausschweifungen führte. Und der Teufel ließ logischerweise nicht lange auf sich warten.
Im Herbst 1976 überschlugen sich die Ereignisse. Frühjahr 1975 endgültig im hohen Norden gelandet, bekam er ein Jahr darauf seinen Einberufungs-Bescheid. Im Sommer dann fand sein Schicksal –ihn durch seelisches und körperliches Leid bereits ordentlich herangenommen-, dass es an der Zeit war, ihn, im Zusammenhang mit auffällig ungewöhnlichen mystischen Ereignissen, einer religiösen Gemeinde auszuliefern. Hier widerfuhr ihm ein Angenommensein, das mit Worten kaum zu beschreiben ist. Diese harmonischen Stunden im Kreise fanatisch gläubiger Menschen taten ihm ausgesprochen gut und hielten ihn fern von Tatjana, die ein kleines Lokal in Neumünster führte, in dem sich Homosexuelle gut aufgehoben wussten.
Von mit Gitarren begleiteten Liederabenden am Lagerfeuer, Teenachmittagen, missionarischer Straßenarbeit, Zeugnis Bekundungen und Wunder Berichterstattungen angefeuert, schrieb er Jesuslieder, Gottesgedichte und Aufsätze, die sogar in der Gemeindezeitschrift zur Veröffentlichung kamen. So ganz nebenbei hatte er sich in den Kameraden M., der mit bei der Essenausgabe in der Kaserne war, verliebt, bei dem er sogar an einem Abend landete und kurz entschlossen mit auf die Stube nahm, wo die Beiden die Nacht in seinem Bett zubrachten. Selig, mit rosaroter Brille -zu seinem Leidwesen wurde nicht mehr daraus-. glaubte er allen Ernstes den Zeitpunkt für gekommen, den ihm nahestehendsten Gemeindemitgliedern seine Veranlagung zu beichten. „Du bist vom Teufel besessen!“, war einstimmig das Urteil. „Wir können ihn dir austreiben. Verlass dich nur auf uns.“ Sich darauf verlassen? Verraten und verkauft kam er sich vor. Zu allem Übel musste er sich am darauffolgenden Morgen beim Hauptmann melden. Ein Kamerad, der ausgerechnet sein Bett unter dem hatte, worüber 2 Nächte zuvor zwei in einem gelegen hatten, und an jenem Wochenende wider Erwarten plötzlich aufgetaucht war, hatte ihn verpfiffen. Tatjana war es, die ihm später erzählte, dem Verräter, den er nie selber bei ihr angetroffen hatte, Lokalverbot gegeben zu haben; also war es nichts als Eifersucht gewesen, die jenen zum Verräter hatte werden lassen. Jedenfalls nicht bereit, den Namen des Kameraden preiszugeben, erklärte er sich dem Hauptmann gegenüber bereit, sich für 3 Wochen nach Flensburg, wo er Lutz kennen lernte, in psychiatrische Beobachtung zu begeben. Was dabei heraus kam war die eindeutige Diagnose, dass er wirklich schwul war; und Lutz bekam seinen Gewissenskonflikt, nicht töten zu können, glaubhaft abgenommen.
Danach landete er wieder in Hamburg, wo das Schicksal die nächste Runde einläutete, immer im Schlepptau den Teufel, der dabei war, mit Satan einen Packt zu schließen; stets ihre Rechnung machend ohne seine Schutzengel, die ihn durch Lutz, der ihm die Philosophie des Whiskytrinkens schmackhaft machte, und dessen Freundin einem ganz neuen Freundeskreis zuführten.
Unvergleichlich war sein Sommer 1980. Der Freundeskreis um Lutz hatte ihn im Großen und Ganzen von der homosexuellen Szene weggebracht, was er längst wollte und aus eigenen Kräften nicht zu Wege brachte.
Nach dem Bund wieder zur Untermiete gewohnt, biss er in den saueren Apfel, weiterhin seinen Beruf Koch auszuüben. Den hatte er so richtig satt. Immer häufiger redete er davon, ein Buch schreiben zu wollen, was durch seinen Erschöpfungszustand nach Feierabend ein Unding blieb. Und die Ahnung, ständig in einer zerrissenen Seele zu hausen, bestätigte sich ihm unheimlich. Zusätzlich brachte ihn das Wohnen bei Wolly, einem älteren Menschen, der an nichts Höheres glaubte, in geistige Unbefriedigung; anfangs schienen sie auf einer Wellenlänge zu liegen und wurden sich später spinnefeind. Erst die Freundschaft mit Wolfgang gab seinem Dasein etwas Farbe, nur dass der nicht schwul war und dessen Vater alles aufbot, den beiden die Hölle heiß zu machen, dass trotz heimlicher Zusammenkünfte nichts Gescheites daraus werden konnte.
Nach einigen Wochen Obdachlosigkeit, in denen er mal bei einem Kollegen, mal bei einem Bekannten, mal in einem Asylheim übernachtete, dazwischen im Auto schlief auf dem Parkplatz bei Autobahnen, mit gestelltem Wecker rechtzeitig bei der Arbeit war, sich einer Katzenwäsche unterzog und dann loslegte, war es die Liebe zu Detlef, die frischen Wind brachte und ihn die erste eigene Wohnung finden ließ. Kurzweilig blühte er auf! Glücklich mit Detlef an den Wochenenden gemeinsame Unternehmungen startend, nach Berlin oder Ludwigshafen oder München fahrend, unter der Woche zur Arbeit bei der LSG (Lufthansa Service Gesellschaft) gehend und die Wohnung in Schuss haltend, trieb ein sich einfahrender Alltag ihn wiederum in die innere Erstarrung. Detlef war es dann, der, im Frühjahr 1979 mit einem Mädchen zusammen gekommen, von heute auf morgen nichts mehr von sich hören ließ. Krank vor Liebeskummer lieferte ihn diese Trennung dem Packt Luzifers und Satans vollständig aus. Die Verwilderung seiner Seele war nicht mehr aufzuhalten. Fortan meinte er, einen nach dem anderen zu lieben, was ihn in Wahrheit zum Sklave eines Egoismus machte, der die nächsten 10 Jahre dafür sorgte, ihn innerlich radikal auszuhöhlen.
Der Volksmund sagt: Wo eine Kirche hingebaut wird errichtet daneben der Teufel seinen Tempel. Umgekehrt ist es nicht anders: Wo der Teufel sich in seiner Kurzsichtigkeit einnistet, wirken die Engel auf lange Sicht in gute Bahnen hinein. Als er, von Detlef verlassen, seine 2 Jahre durchgehaltene Arbeit bei der LSG im Herbst 1979 aufgab, zum Unverständnis der engsten Freunde und der Familie in Süddeutschland, begab er sich unbewusst zum Tanz auf den Vulkan. Noch einige Monate in einem 3 Sterne Hotel Kochlehrlinge ausgebildet, war die Luft raus. Er machte erste Erfahrungen auf dem Arbeits- und Sozialamt. Und dann führte ihn das Schicksal mit Heike zusammen. Das war kein kennen lernen! Das war ein sich Erkennen! Erst vor wenigen Wochen war Heike in Dulsberg gelandet, wo sie vom Fleck weg ihren Bruder Michael, der auf der Straße geschlossene Freundschaften mitbrachte, aufnahm. Ihre Lust, einfach in den Tag hinein zu leben, steckte ihn an. Und kaum am Morgen aufgewacht, eilte er zu ihr rüber, mitten hinein ins Highlife. Dass alle stets knapp bei Kasse waren fiel nicht ins Gewicht. Es wurde zusammengelegt, günstig eingekauft und sich satt gegessen. Hier kiffte er seinen ersten Joint, der ihm gar nicht gut tat. Gut taten ihm die Gespräche und Diskussionen über Gott und die Welt. Gut tat ihm auch Jörg, ein feiner junger Bursche, der sich mit ihm einließ und bald bei ihm einzog, in der Hoffnung, Steffi zu überwinden, was ihm nicht gelang, obwohl er für sie immer nur fünftes Rad am Wagen blieb. Der Sommer 1980! Der war unbeschreiblich schön und brachte die nächste Wende in sein Dasein. Endlich machte er Nägel mit Köpfen. Er schrieb einen Kurzroman. Daraufhin entstand sein 1. umfangreiches Werk „Ein bleibender Hauch von Liebe“, wozu noch 2 Jahrzehnte vergehen mussten, bis er hingereift war, damit eine ordentliche Vorlage zu haben für die Arbeit „und noch ein Mysteriendrama“. Die Engel wirkten im Verborgenen und überließen derweil dem Teufel- und Satangespann das Feld, die, im Siegesrausch, sich daran zu schaffen machten, ihn unbemerkt mit seinen Illusionen und weltfremden Ideen einmal auf Grund fahren zu lassen.
Einen Menschen in seinen Grundfesten zu erschüttern, heißt, ihn der Gefahr auszuliefern, an sich selbst irre werden zu lassen, was kein Kunststück ist in einer Gesellschaft, die menschlich allgemein gültige Richtlinien sucht und Lösungen findet wie vergangene Generationen –siehe zum Beispiel: Das 3. Reich, siehe die gegenwärtige, zum Beispiel: Die Gen-Forschung, die Macht der Gesetzesgeber; beides das selbe in grün, aber keiner merkt’s wie: stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin.
Sein Garant, an sich selbst nicht irre zu werden, war eine unnatürliche Naivität und ein reiner kindlicher Glaube an den lieben Gott. Zwar zum Unikum seiner unmittelbaren Umwelt erklärt –immer häufiger redete er davon, ein Buch schreiben zu wollen- machte ihn diese Paarung von Naivität und Kindsglauben zu einem Stehaufmännchen, speziell in den 5 Jahren Dulsberg geprägt, von 1978 bis 1983, die ihn in den sozialen Abstieg stürzten. An dem: Ein Unglück kommt selten allein! ist was wahres dran. In seinem Beruf Koch sich in Selbstständigkeit versucht, eine Chance, die ihm das Arbeitsamt vermittelt hatte, konnte er bald die Wohnungsmiete nicht mehr bezahlen und musste 5 Monate später aufgeben. Die Räumungsklage ließ nicht lange auf sich warten, worüber die weiteren Mieter des Wohnhauses aufatmend drei Kreuze über die Brust schlugen. Seit 2 Jahren verkehrten bei dem einmal ruhigen unauffälligen jungen Mann nur noch zwielichtige Gestalten, seit jüngstem sogar Ausländer.
Heike, die mit der Liebe ihres Lebens zusammen gekommen war, zog weg, Jörg musste bedauerlicherweise bei seinen Eltern wieder einziehen, und er, für eine elektrische Schreibmaschine von IBM seine besten Einrichtungsgegenstände eingetauscht, plante, in die Heimatstadt zurückzugehen, um bei seinem Bruder zurückgezogen seinen ersten umfangreichen Roman zu schreiben, damit es wieder bergauf gehe. Nur stand das nicht in seinen Sternen geschrieben. Also wurde ihm Frank über den Weg laufen gelassen. Und es packte ihn die Leidenschaft, die ihm die Eifersucht beibrachte, die mit Eifer sucht was Leiden schafft. Frank, der erst Tage zuvor mal wieder aus der Haft entlassen worden war, ergriff ein unbändiger Nachholbedarf, und den zu befriedigen war ihm jedes Mittel recht. Von Grund auf ein lieber Kerl und vom menschlichen Standpunkt aus betrachtet rein und ehrlich, nur dass die äußeren Umstände ihn dies nie ausleben ließen, verlangte es ihn vom Aufstehen bis zum Schlafengehen mit Alkohol und allen möglichen Drogen nach Dröhnung. Und das ging ins Geld. Die paar Kröten vom Sozialamt waren nichts weiter als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Echt Kohle machen ließ sich mit Diebstählen, Brüche, Autos knacken in der Nacht; und rissen alle Stricke, konnte `ne schnelle Mark gemacht werden auf dem Strich beim Bahnhof. Dann konnte es vorkommen, dass Frank einen Kollegen oder eine Bordsteinschwalbe mitbrachte, immer in breitem Zustand und unter dementsprechender Geräuschkulisse, mit dem Nachspiel, innerhalb eines ¾ Jahres vier Mal eine neue Bleibe ausfindig machen zu müssen. Und das unter erschwerten Bedingungen; typische Knastbrüdersymbole übersäten Franks Körper von Kopf bis Fuß kreuz und quer.
Rückblickend beweißt ihm besonders das Meistern dieses Lebensabschnittes das Walten von Schicksalsmächten über sich. In der vierten Bleibe mit Frank machte Wolfgang ihn ausfindig. Wenige Wochen darauf landete er in Bokelrehm und Frank bezog Wolfgang und Andreas’ Hamburger Wohnung, die bald renoviert werden musste.
Vorerst nach Bokelrehm von Heike und Bernhard in Hamburg aufgenommen, zog er im Frühjahr 1985 nach Harburg in eine schäbige Bruchbude, die die Freunde für ihn fein herrichteten. Das äußere, inklusive Toilette auf dem Hausflur, entsprach nun seinem inneren Zustand! Moralisch ziemlich heruntergekommen, noch dazu mit seinem Beruf auf die Reeperbahn verschlagen, wurde seine Seele –dem Packt Luzifers und Satans ausgeliefert- von einer Sucht ergriffen, die sich bereits in Dulsberg latent in seinem Unterbewusstsein eingenistet hatte: Die nackte Lust auf Sex. Zwischenmenschliche Beziehungen konnten sich nicht mehr ergeben. Wie eine Maschine funktionierend, ging er zur Arbeit. Den Rest seines Daseins verschlang die Promiskuität mit kaum mehr Deutschen. Er glaubte nicht mehr an Gott, nicht mehr an die besondere Bestimmung des Menschseins. Demnach bedeutete das Todsein wirklich das Ende von allem. Bierrausch unter Dopedröhnung bescherten ihm nur noch unruhigen Schlaf, dem er beizukommen versuchte mit Schlaftabletten, bis zu jener Nacht, als er mit einem Bekannten eine ganze Flasche Whisky leerte und ihm den Tag darauf die Arbeit sonst wo vorbei ging. Wieder Kunde auf dem Arbeitsamt, ergab es sich durch einen guten Freund, einen Fließbandjob annehmen zu können, der ihm einen lang gehegten Traum erfüllte. Geregelte Arbeitszeit und Wochenende frei. Sofort packte er die Gelegenheit am Schopfe. Mit der vagen Hoffnung, wieder etwas Freude am Leben zu finden, machte er sich daran, die jahrelange Idee eines Buches schwarz auf weiß zu bringen, mit dem Schwur -dazumal so weit, zu glauben, dass alles nur auf den eigenen Mist gewachsen sei- nichts von Gott oder Jesus oder Schicksalsmächten zu erwähnen. Er hielt durch, sowohl als auch. Die Grundfassung seiner zweiteiligen Romanidee lief ihm wie geschmiert von der Hand. Und das war nicht alles. Filme von dem Berliner Regisseur Uwe Frießner, die seinem Denken gleich kamen, befreiten ihn aus der Schlinge, die sich in Dulsberg um seinen Hals gelegt hatte. Wie Sand am Meer Absagen von manchmal niedermachendster Kritik von Lektoren gesammelt, brachten ihn dahin, nicht mehr an sich zu glauben. Das war nun Schnee von gestern! Er besorgte sich die Adresse von dem Regisseur und schickte diesem sein Manuskript, was Bangen und Hoffen nach sich zog. Die Wochen vergingen und nichts geschah. Er stürzte in eine Krise, die ihn einem Rückfall gefährlich nahe brachte. Gleichzeitig erinnerte er sich eines Buches, eine Auslage in altdeutscher Schrift, das er 9 Jahre lang wie einen Schatz hütete. Von einem Umzug zum anderen alles verloren, brachte er es nie übers Herz, auch diese Lektüre ab irgendwann hinter sich zu lassen. Gar zu offensichtlich waren jene Umstände damals gewesen, die dafür sorgten, ihn unbedingt in Besitz dieses Buches zu bringen. Sich jedoch als für unreif befunden, es zu verstehen, hatte er dieser Lektüre, aus tief innerlichster Überzeugung, einmal für sie so weit zu sein, in jedem weiteren zu Hause einen würdigen Aufbewahrungsplatz gegeben.
Diesmal sprang der Funke sofort über. Und obwohl er wie ein Ochs vorm Berg stand, ging der Keim der Ahnung in ihm auf, in sich eine Seelentüre aufgestoßen zu haben, die ihn einmal in eine geistige Räumlichkeit führe, in die er ohne dieses Buches „Der Verkehr mit der Geisterwelt Gottes“ von Johannes Greber nicht geraten wäre. Eines schönen nachts, gerade beim Eindämmern, klingelte das Telefon. Es war Uwe Frießner! Der war solchermaßen begeistert und gepackt von der Romanidee, das er sofort Anrufen musste. Arbeiten an einem Film hatten ihn daran gehindert, eher das Manuskript zu lesen. In einem Zug dann, so sehr gefesselt davon, las er es durch und rief daraufhin gleich an. Es wurde ein sehr langes, nahezu vertrautes Gespräch, bei dem sich Uwe Frießner die Filmrechte sicherte. Und er? Ihm brachte dieser Anruf die Bestätigung, auf dem richtigen Weg zu sein. Nie mehr –und sah es äußerlich, selbst für ihn, ganz anders aus- war er aufzuhalten. Die nächsten 2 ½ Jahren wurde aus der Grundfassung von „Unkraut vergeht nicht“ zu „Die Spreu vom Weizen“ sein Roman „Wenn Schwule lieben“.
Um im Sommer 1994 seiner Arbeit zum Druck im Selbstverlag den letzten 5. überarbeiteten Schliff, der alle paar Jahre wieder seiner sich streng auferlegten Selbstkritik standhielt, verpassen zu können, musste er sich erst einmal einer Konfrontation stellen, für die er sich ein halbes Leben lang irgendwie ahnend vorbereitet und sein Schicksal ihn Etappe für Etappe hingeführt hatte. Zum Vorteil wurden ihm dabei sowohl seine 8 Jahre lange Fließbandarbeit, als auch seine Standhaftigkeit und sein Durchhaltevermögen, der Luzifer- und Ahrimangefahr mit mehr oder weniger aufrechtem Gang gelernt zu haben, direkt ins Auge zu sehen. Jahr auf Jahr verloren sie Stücke der Gewalt über ihn und boten deshalb, als es zum angestrebten Finale kam, alles auf, was in ihrer Macht stand; gewillt, ihm sein Rückgrad zu brechen, ihn auf Teufel komm’ raus auf ihre Seite zu lotsen. Bis dahin allerdings, ob es ihnen passte oder nicht, mussten sie sich noch gedulden. Vorerst lebte er etwas über ein Jahr zur Untermiete bei Jörg, wo er im März 1988 seinen Roman abschloss. Endlich: Die Sehnsucht danach „Der Verkehr mit der Geisterwelt Gottes“ begreifen zu wollen, sollte in Erfüllung gehen! Recht schnell gelangte er zu der Einsicht, keinen blassen Schimmer darüber zu haben, was es hieß, ein Christ zu sein. Demzufolge blieb ihm nichts anderes übrig, als erst einmal die Bibel von vorne bis hinten durchzulesen. Weitere Lektüren folgten, von denen er sich erhoffte, einen Einblick in das Leben Jesu zu bekommen. Und wieder war Gefahr im Anzug. Eine Absage löste die nächste ab, die ihm den Wind aus den Segeln nahmen, mit seiner Schriftstellerei weiter zu machen. Dazu der ständige Stress mit Jörg, der Steffi überwand und bei einem anderen Mädchen die Liebe seines Lebens fand.
Wieder einmal gab es keinen anderen Ausweg, als eine andere Bleibe finden zu müssen, im Ungewissen darüber, dass alles nach Plan seines Schicksals verlief, das die alles entscheidende Runde eingeläutet hatte. Noch war der Vorhang für die Premiere herunter gelassen, hinter dem bis ins kleinste Detail zwar spannungsgeladen aber perfekt vorbereitet sich gegenüber traten die guten und die bösen Mächte, Himmel und Hölle bereit, beim Kräftemessen ihr Bestes zu geben sobald der Vorhang sich öffnete zur Hinführung in den letzten Akt „Aus der Teufelsküche in die Gottessaat“.
Am 1. Juni 1988 glaubte er, das ganz große Los gezogen zu haben. Für seine Verhältnisse zwar zu teuer, aber in der Not frisst der Teufel Fliegen, verschlug es ihn in ein riesen Zimmer, das er sich einteilte in eine Schreibecke, eine Schlafecke und einen gemütlichen Wohnraumteil. Zwei weitere Untermieter, männlich und weiblich je Zimmer, lebten mit in der großflächigen Wohnung. Zu ihnen fand er keinen Draht. Sie kamen aus besserem Hause und waren überbetitelt, was ihm keine Probleme machte. Die Hauptsache war, dass die Küche alles bot zum Kochen und Backen. Und das Benutzen der gemeinsamen Toilette mit Dusche verlief reibungslos. In der Regel musste er am Ehesten hoch zum Pünktlichsein am Fließband.
„Ist der niedlich,“ fand Heike, die beim Einzug half und dem Vermieter über den Weg lief, der in Alltagskleidung zerbrechlich, krank und schutzbedürftig wirkte. „Ja, ne!“, bestätigte er ihr gern den eigenen Eindruck. 2 Tage später, von der Arbeit gekommen, bekam er mitgeteilt, vom Vermieter gesehen werden zu wollen. Der lebte zur Straße hin in den drei ineinandergehenden größten Räumen der Wohnung, wo es unangenehm und verdächtig streng roch. Der Vermieter lag im Bett, aufgedeckt, ohne Toupet und unrasiert, inmitten eines Chaos mit verklebten Tassen, Gläsern, verkrusteten, verschimmelten Essensresten auf Tellern, benutztem Besteck etc., und aus allen möglichen Ecken und Enden lugten Geldscheine und Münzen hervor, wovor nicht einmal das Bett verschont blieb.
Sein Blick in starre, trübe, tote Augen verhieß nichts Gutes. Des Vermieters Kopf, nicht groß, nicht klein, saß übergangslos auf einem Rumpf, der eins war mit dem kugeligen speckigen Bauch, von dem zu beiden Seiten lange dünne Ärmchen abgingen, an deren Enden große fette Pranken wucherten. Den Intimbereich verdeckte fast gar nicht eine Urin verfärbte, ursprünglich hellblaue Unterhose mit einmal weiß gewesenen Sternchen, aus der zwei lange dünne Beinchen kamen. Die gesamte Haut war undefinierbar gelblich, weiß oder bräunlich. Ein eiskalter Schauer lief ihm bei dessen Anblick über den Rücken. Irgendwie gelang es ihm, sich nichts anmerken zu lassen, die Fassung zu wahren und freundlich zu fragen, warum er von ihm zu sehen gewünscht wurde. „Ich will, dass du wieder ausziehst!“, versetzte er ihm trocken einen Stich ins Herz. Das war schlimm! Und in Panik geraten, kroch er zu Kreuze, nicht zu wissen, was er sich zu Schulden habe kommen lassen. Er habe doch nichts verbrochen. Am Tag bei der Arbeit, abends mucksmäuschenstill, belästige er ganz bestimmt niemanden. Tränen liefen und er rang sich durch, bis zu dem hoch und heiligen Versprechen, wirklich keinem zur Last zu fallen. Damit hatte Herr Dr. Madaus ihn in der Hand. Gnädig gestimmt erlaubte er ihm, bleiben zu dürfen, was seinen Preis forderte. „Aber die Miete ist teurer. Deshalb ist die Kaution höher. Und 25,- Mark Strom muss ich auch monatlich Verlangen.“ Damit keine Probleme zu haben, versicherte er Herrn Dr. Madaus, es nie bereuen zu müssen, ihn bei sich wohnen zu lassen; natürlich überblickte er nicht, dass damit die Zeichen auf Sturm standen. Am 4. Juni wurde der Einheitsmietvertrag abgeschlossen, was für ihn hieß, den Gürtel enger zu schnallen als zuvor ausgerechnet.
Daran, dass Herr Dr. Madaus in seiner Abwesenheit in seinem Zimmer schnüffelte, nahm er keinen Anstoß. Statt dessen bildete er sich ein, seinen Vermieter friedlich zu stimmen und das Gute in ihm anregen zu lassen, gerate dieser über diesen Umweg an die Bücher von Heinz Zahrnt „Warum ich glaube“ (Meine Sache mit Gott) und „Jesus aus Nazareth“ (Ein Leben), von Elisabeth Küppler-Ross „Über den Tod und das Leben danach“ und „Aids“ (Eine Herausforderung zur Menschlichkeit“, vom ABZ-Verlag aus Zürich, wo seit 1959 eine Beatrix in einer Geistigen Loge sich als Tieftrancemedium zur Verfügung stellte und so es zu Büchern kam wie „Woher, Wohin“, „Neue Erkenntnisse zu Leben und Wirken Jesu“, „Direkte Meditationen von Lene und Josef aus der Geistwelt“... Für Herrn Dr. Madaus, ein überzeugter Atheist, war das Öl aufs Feuer gießen. Das sich über seinem Haupte zusammenbrauende Unheil erkannte er nicht, viel zu sehr war er dahinter, Gott zu finden, weshalb er sich wieder einmal in einer fanatisch religiösen Gemeinde vorfand. Es war Wollys Frau, zu er den Kontakt herstellte, die über seine Veranlagung im Bilde war. In den vergangenen Jahren hatte sie die Sekte gewechselt. Das Buch „Der Verkehr mit der Geisterwelt Gottes“ zur Prüfung der Priesterin übergeben, hatte er sich sagen zu lassen, dass dieses ein Machwerk des Teufel sei. Im Ringen, ob er oder die anderen, die Wiedergeburt und Karma ablehnten, im Recht sind, musste er sich obendrein gegen eine Austreibung behaupten seiner ihm deutlich gemachten besessenen Veranlagung, die mit Zungenreden im engsten Kreise aus ihm geheilt werden könne, indem sich Vergessenheit über diesen Teil seines bisherigen Daseins lege. Dann könne er Heiraten (in solchen Situationen bemerkte er stets, dass bereits eine da war, die ein Auge auf ihn geworfen hatte), Kinder kriegen und brauche nie mehr zu sündigen. Bald so verunsichert und weich gekocht, unterzog er sich vertrauensvoll dieser Prozedur. Heraus kam das Gegenteil! Mehrere Tage vergingen, bis er die über ihn gekommene Triebsucht wieder in die eigene Kontrolle bekam. Inzwischen waren die anderen Untermieter Herrn Dr. Madaus’, den bisher zwei Schlaganfälle ins Krankenhaus befördert hatten, Schikanen leid und zogen aus. Er aber vertraute auf Gott, erduldete, hoffte, hörte auf zu kochen und zu backen und betrieb seine Körperhygiene bloß noch am Waschbecken. Und in so manchem fürchterlichen Wortgefecht stellte er sich erfolgreich auf die Hinterbeine. Ein neues Mädchen, dem so leicht nicht die Butter vom Brot zu nehmen war, zog ein. Es wurde vorerst zum Blitzableiter von Herrn Dr. Madaus. Eines abends kam es empört auf sein Zimmer. Herr Dr. Madaus hatte sie zu sich ans Bett gerufen und ihr vorgeschlagen, unter seine Decke zu schlüpfen, dafür brauche sie nicht die ganze Miete zu zahlen. Selbstbewusst habe sie ihm die Stirn geboten. Herr Dr. Madaus, dem es ein Vergnügen zu bereiten schien, anderen besonders vulgär, obszön und bis unter die Gürtellinie primitiv zu kommen, brauchte nicht lange, bis sie entnervt das Weite suchte. Nun galt seine Aufmerksamkeit ihm wieder. Irgendwie musste der doch heraus zu ekeln sein! Nach einem nächsten Streit gewöhnte er es sich an, sein Zimmer abzuschließen, ob zu Hause oder nicht, was Herrn Dr. Madaus in Zorn, Wut und Rage brachte. Zur Abwechslung kündigte er ihm aus dem Grund, zu wissen, dass er schwul sei; mit so einem wolle er auf gar keinen Fall unter einem Dach hausen. Verzweifelt und flehend sich an Gott wendend, brachte ein dritter Schlaganfall Herrn Dr. Madaus, der ein medizinisches Wunder war, am folgenden Tag ins Krankenhaus. Damit bekam er, im Glauben gestärkt, erhört worden zu sein, etwas Zeit, sich zu erholen. Und Kochen und Backen –es war Vorweihnachtszeit, lag auch wieder drin. Diesmal kam Herr Dr. Madaus nicht nach 2, 3 Wochen zurück. War der, sein sehnlichster Wunsch, gestorben?
Jedenfalls erholte er sich körperlich, backte Weihnachtsplätzchen und tanzte dabei in Hochform singend durch sein Zimmer, durch den Flur, durch die Küche; die Wohnung war sein. Für ein gutes Omen bewertete er die einmalige Begegnung mit Wolfgang. Zusammen verbrachten sie die halbe Nacht, in der es zum letzten Mal zu Intimität kam. 2 ½ Jahre nach Beginn ihrer Freundschaft war es zum ersten Mal dazu gekommen. Stets seinem Prinzip, mit keinem ins Bett zu gehen, dessen Freundin oder Frau er kannte, treu geblieben, hatte er es in Bokelrehm nie dazu kommen lassen, weshalb es ihm auch in jener Nacht gegen den Strich gegangen wäre, erfuhr er schließlich, dass Wolfgang und Andrea in Hamburg wieder festen Boden unter den Füßen bekommen hatten. Aber die Vertrautheit mit Wolfgang tat sehr gut. Nach der Abstinenz eines ½ Jahres sehnte er sich geradezu nach körperlicher Nähe. Und bei Jörg schwor er ein ganzes Jahr dem sexuellen Bedürfnis ab. Zum einen wollte er das Jörg nicht antun, hin und wieder Fremde anzubringen, schon gar keine Ausländer, und zum anderen erkannte er die große Chance, etwas gegen seine Verdorbenheit unternehmen zu können. Sollte es ihm überhaupt gelingen, einen ordentlichen Roman auf Papier zu bringen, brauchte er sein gesamtes Potenzial an Konzentration.
Seit Jahren schickte ihm seine Mutter zum Heiligen Abend aus Süddeutschland ein Paket. Und ihr ausnahmsweise einen Wunschzettel geschrieben, bekam er so alle Gegenstände zum Heiligen Abendmahl zusammen; einer Idee nachgegangen aus „Der Verkehr mit der Geisterwelt Gottes“. Zusätzlich schickte ihm seine Schwester das Taschenbuch „Karma und Wiedergeburt“ (Die Schicksalsstufen des Menschen als Weg zu seiner Vollendung und Vollkommenheit) von Christmas Humphreys. Und ausgerechnet dieses Büchlein sollte es sein, seine lebenslange Suche nach Sinn und Zweck des Daseins die folgenden Jahre von Erfolg zu krönen.
Mit Schüttelfrost und hohem Fieber rief er nach den Weihnachtsfeiertagen in der Firma an und fand, welch Wunder, im Nachbarhaus Herrn Dr. Madaus’ eine Arztpraxis. Allein im Warteraum, sprach ihn die Arzthelferin, Frau Prater, auf seine Lektüre von Christmas Humphreys hin an. Es entspann sich ein angeregtes Gespräch, während dem ihm erstmals der Name Dr. Rudolf Steiner zu Ohren kam. Beim Verlassen der Praxis gab Frau Prater ihm einen Buchtipp mit. Zwei Straßen weiter, in der Rudolf Steiner Buchhandlung, kaufte er sich ein Exemplar „Das Johannes Evangelium“. Etwa neunzig Seiten las er daraus und warf es mit der Behauptung „Das ist der reinste Mist!“ in die Ecke. Die Schriften des ABZ-Verlages schmeckten ihm besser. Sie erleuchteten, hoben vom weltlichen Getriebe ab, versetzten in himmelhochjauchzende Stimmung, war er zu Tode betrübt oder von Depressionen geplagt. Auf den Gedanken, damit in einer Verdrehung der Tatsachen zu stecken, kam er nicht. Nein! Der liebe Gott meinte es sogar ganz besonders gut mit ihm. Beim Aufräumen und Saubermachen Herrn Dr. Madaus’ Räumen gerieten ihm 3000,- DM in die Hände. Und die versetzten ihn in helle Aufregung. Es gab eine höhere Gerechtigkeit, die ihn für seine Treue zu Gott belohnte. Dieses Geld war für die Kaution bestimmt, die er brauchte für eine eigene Wohnung, sobald ihm zugetragen wurde, dass der Teufel seinen Liebling geholt habe. Dann konnte er auch den Hausrat der Küche, von dem keiner Gebrauch machte, mitgehen lassen. Der liebe Gott, der es ihm ganz einfach schuldig war, so viel wie er sein Leben lang schon erduldete, hatte allein für ihn das alles zusammenkommen lassen, als Lohn, dem Teufel so brav Widerstand geleistet zu haben. Komischerweise fühlte er sich Tag auf Tag unwohler. Sein Gewissen machte ihm zu schaffen. Und im Gespräch mit Heike, die seit Monaten in Finkenwerder lebte, sah er in den 3000,- DM die größte Versuchung, der er sich je zuvor ausgeliefert hatte. Und sich für schuldig befunden, machte er sich eilig auf den Weg. Keine Sekunde länger wollte er das Geld, das in seinem Zimmer war, bei sich behalten. Es musste dahin zurück, woher er es genommen. Schon vom Bus aus, kurz vor seiner auszusteigenden Haltestelle, sah er Licht in Herrn Dr. Madaus’ Räumen. An diesem Abend war er zurück gekommen! Kaum in der Wohnung, klopfte er mit dem Geld in der Hand bei seinem Vermieter an und erklärte: „ Ich habe ihr Geld bei mir aufbewahrt.“ „Das habe ich mir schon gedacht,“ entgegnete Herr Dr. Madaus ungewohnt freundlich. Was für ein Segen, aus sich selbst heraus in allerletzter Minute das Unrecht seiner verdrehten Fantasie eingesehen zu haben.
Der ganze Zirkus ging von vorne los. Neue Untermieter kamen. Seine Miete wurde erhöht. Und einige Mark mehr Strom verlangte Herr Dr. Madaus, der die Zeiten des Küchenaufenthaltes für jeden festlegte und sich nach Lust und Laune der Lebensmittel seiner Untergebenen bediente. Sprach jemand ihn daraufhin an, beschuldigte er nicht Anwesende. Manchmal ließ er einfach den Schlüssel der Wohnungstür von innen stecken, so dass es vorkam, eine halbe Ewigkeit klingeln und klopfen und rufen zu müssen, bis er auftauchte, aufmachte und wortlos in seinen Gemächern verschwand. Und keiner konnte es sich erlauben, außerhalb seines Zimmers etwas zu vergessen. Entweder war der Gegenstand so verlegt, dass er nach längerer Suche zu finden oder für immer verschwunden war. Sein Name war dann Hase und wusste von nichts. Und seine jüngste Angewohnheit war, genau dann am Morgen sich ins Bad einzuschließen, wenn andere eilig das Haus zu verlassen hatten. Ab und an war auch der Strom ausgeschaltet. Da blieb einem nichts anderes übrig, als Sicherungen zu besorgen. Wurde es vergessen, diese herauszudrehen, hatte man das Nachsehen. Das machten die anderen nicht lange mit!
Kurz vor Ostern landete Herr Dr. Madaus wieder im Krankenhaus. Wer sollte es ihm verdenken, dass er glaubte, Gott sähe gnädig auf ihn. Die täglichen Konfrontationen mit Herrn Dr. Madaus hatten aus ihm ein seelisches Wrack gemacht. Und das schlug sich körperlich nieder. Unangenehmes Jucken über der Brust, zu den Seiten, auf dem Rücken in Höhe des Herzens zwangen ihn, sich ständig zu kratzen. Das wurde so schlimm, dass er in der Karwoche, nachdem er diese Bescherung einem Vorgesetzten der Firma zeigte, zum Arzt ging. Gürtelrose! Krank geschrieben! Es folgte Ostern! Er betete zu Jesus und verließ sich auf seine unsichtbaren heilenden Kräfte. Drei Wochen lang, bevor der Arzt in seine Praxis kam, verpasste Frau Prater ihm jeden Morgen eine Spritze, mit der Zusicherung, dass sie bloß Vitamin B beinhalte, in den Allerwertesten. Und sie nutzte die Gunst der Stunde, über Dinge zu reden, von denen er sein leb Tag nichts gehört hatte. Da rein, da raus war sein Motto. Aber ihr Wesen wurde ihm immer angenehmer. Ihre ausstrahlende Lebensfreude und positive Einstellung sprachen ihn an, obwohl er sie für überdreht fand. Kam es vor, dass der Arzt mitten hinein platzte, sprach sie kein Wort mehr über die anthroposophische Geisteswissenschaft. Zum Thema wurde nun Herr Dr. Madaus, der einmal befreundet war mit dem Arzt, der ein außerordentliches Interesse für die Klagen seines Patienten vorgab und aus der Vergangenheit Haarsträubendes berichtete, von dem so einiges bisher nicht einmal Frau Prater gewusst hatte. Die Gürtelrose heilte und er konnte wieder zur Arbeit gehen. Aber nichts war mehr wie zuvor! Er gab sein allabendliches Biertrinken auf und hörte auf zu rauchen. Seinen Seelentiefen war etwas nahegebracht worden, von denen sie mehr wollten. „Das ist meine Bibel“, meinte Frau Prater einmal über Rudolf Steiners „Geisteswissenschaft im Umriss“, die er sich am 18 April 1989 von ihr lieh, zu lesen begann und, währenddessen Herr Dr. Madaus wieder kam, am 27. April damit durch war. Es war mehr als eine unbewusste Ahnung, die ihm das Gefühl einer zuverlässigen Sicherheit vermittelte, dass es in die Endrunde ging. Aus heutiger Sicht betrachtet, standen sich personifiziert Luzifer in ihm und Satan, das heißt Ahriman in Herrn Dr. Madaus gegenüber, die sich den Schlachtruf: „Auf ins Finale!“ über den Kriegsschauplatz entgegen schleuderten.
Trotz halbseitiger Lähmung und einer Pflegerin, die vormittags kam, erholte sich Herr Dr. Madaus zusehendst. Bis zur Eskalierung brauchte es kaum Stunden. Mit Zettelwirtschaft wurde nun kommuniziert. Kam er von der Arbeit lag irgend ein Wisch vor seiner Tür. Ging er zur Arbeit, legte er einen Wisch vor Herrn Dr. Madaus’ Tür. Und sprach dieser mal wieder eine fristlose Kündigung aus, erklärte jener sie für nicht rechtens.
Es war Frühling und das Wetter spielte mit. Die Sonne strahlte. Die Pflanzenwelt blühte. Das steckte ihn an. Er ging viel in seiner Freizeit spazieren und verschlang ansonsten eine Schrift nach der anderen von Dr. Rudolf Steiner, ständig vergleichend mit dem, was er fast ein Jahr lang vom ABZ-Verlag in sich hineingefressen hatte bis in annähernde Somnambulismus-Zustände. Kamen Widersprüche vor, geriet er in Zweifel. Und eine Merkwürdigkeit fiel ihm auf. Während dem Lesen packte ihn der Stoff, der, kaum war ein Buch durchgelesen, wie weggewischt schien. Wäre er gefragt worden, was er da so interessiert stundenlang Tag für Tag lese, nichts hätte er davon wiedergeben können. Der Frage hingegen, warum er trotzdem weiter mache, wäre er keiner klaren Antwort schuldig geblieben. Er wollte es genau wissen. Nichts Halbes und nichts Ganzes machen. Speziell in der Suche nach der Lösung, warum die anthroposophische Geisteswissenschaft aus Jesus und Christus von Grund auf verschiedene Themen machte. Kein Vertreter konventioneller Glaubensgemeinschaften offenbarte ihm je diese Problematik. Instinktiv empfand er, sich vor Gott und der Welt zu Rudolf Steiner bekennen zu wollen. Und er ging den offiziellen Schritt, aus der Kirche auszutreten, was er schon vor Jahren tun wollte.
Mittlerweile hatte sich die Lage der Kontrahenten dramatisch zugespitzt. Aus Unterhaltungen zwischen Tür und Angel mit Herrn Dr. Madaus’ Pflegerin, die Mitleid hatte, sah er ein, auf kurz oder lang den kürzeren zu ziehen. Mit Pauken und Trompeten setzte der Schlussakkord ein. Per Einschreiben bekam er am 23.05 zum 31.05 eine ordentliche Kündigung, die ihm den Boden unter den Füßen wegzog. Er trank abends wieder Bier, rauchte und lief von Pontius zu Pilatus. Wie gut, dass ihm Frau Prater mit Rat und Tat zur Seite stand, ihm gut zuredete und ihn an einem Sonntag zur Messe der Christengemeinschaft mitnahm. Am 29.05. bekam er von der SAGA-Gesellschaft zum 1.06. die Aussicht auf eine Wohnung. Der Haken war: 3 Monatsmieten im voraus, das waren 917,- DM Kaution, zusätzlich der 1. Monatmiete. Aber woher nehmen, wenn nicht stehlen? Es war unumgänglich! Er schrieb diesen Bittbrief:
2000 Hamburg 13, den 30.05.89
6 Uhr
Liebe Frau Prater!
Ob ich will oder nicht: nun muss ich auf Ihr Angebot vor knapp 2 Monaten eingehen; aber ich finde es auch in Ordnung, wenn Sie nein sagen, nur möchte ich nicht aus falschem Stolz heraus es sein lassen, Ihre Hilfe anzunehmen; auch wenn es in finanzieller Hinsicht ist!
Donnerstag, 25.05., war ich in Heimfeld, bei der Gesellschaft Süderelbe. Dort klärte man mich nicht nur auf, dass es hoffnungslos sei, von ihnen eine Wohnung vermittelt zu bekommen, sondern dort wurde mir auch beigebracht, dass es nichts nütze, Mitglied zu werden. Freitag dann besorgte ich mir einen § 5 Schein. Gestern nun, am 29.05., war ich bei der SAGA, und tatsächlich bekam ich einen Wohnungsschein, in Finkenwerder liegend, wo ich heute morgen (30.05.) nun um 8 Uhr sein muss, wo mir der Verwalter die Wohnung zeigt; und mit „etwas Glück“ kann ich danach, vor der Arbeit, bei SAGA noch den Mietvertrag unterschreiben; die Wohnung nämlich ist tatsächlich ab 1.06. zu beziehen.
Nun aber wende ich mich an Sie. Zwar komme ich morgen, 31.05., um 8 Uhr bei Ihnen „vorbei“; doch wollte ich Ihnen heute schon erklären, wie es bei mir aussieht, dass alles fast nicht zu glauben „schnell“ und „gut“ voranging; wie es mir „mein Gefühl“ letzte Woche sagte, dass ich ruhig bleiben soll. Falls Sie, Frau Prater, nein zu der finanziellen Hilfe sagen, wäre ich Ihnen überhaupt nicht böse, wir kennen uns ja schließlich kaum, und es wäre ja doch ein Wunder, dass mir auf diese Art Hilfe zu käme. Zwar würde ich es irgendwie schaffen, wenn auch dann einige Monate mein Konto und durch Vorschuss bei der Arbeit finanziell es „schlechter“ aussehe, wegen meiner Gehaltspfändung seit 1987, ich käme irgendwie bestimmt zurecht, doch irgendwie täte die Hilfe mir gut, weil ich dann nicht irgendwie spüren würde diesen plötzlichen Umzug.
Bis morgen also, Frau Prater, und machen Sie sich keine Gedanken, wenn Sie nein sagen –ach so, ich müsste 917,- DM Kaution hinterlegen, von der SAGA aus. Die Papiere zeige ich Ihnen selbstverständlich morgen. Das soll als „Sparbuch“ nicht zu pfänden sein und als Sperrkonto eingerichtet werden, weil SAGA so viel Negatives erlebt hat mit Mietern, die die Miete nicht zahlten; darum ist das nun so eingerichtet.
Na, ich komme morgen früh bei Ihnen in der Praxis vorbei. Ich wollte wenigstens, dass Sie jetzt schon Bescheid wissen, nicht dass ich morgen früh mit der Tür ins Haus falle!
Erst einmal tausend Dank für die Besorgung der Mietwohnzentrale, das war bereits eine große Erleichterung, da ich mich überhaupt nicht verrückt machen musste. Als ich allerdings gestern mit dem „Wohnzettel“ wegging von SAGA, fiel mir wohl ein Stein vom Herzen.So, ich mache jetzt Schluss, Frau Prater; es ist 6 Uhr 10 und ich muss gleich aus dem Haus, um pünktlich um 8 Uhr bei dem Verwalter in Finkenwerder zu sein!
Tschüß erst einmal (Ich bin noch etwas aufgeregt, wie schnell alles ging, dass ich nun, nach einer Woche, schon eine Wohnung besichtigen kann). (Ich habe die ganzen Tage in meinem „Hinterkopf“ den Gedanken, dass alles so sein sollte, den Druck meine ich, das so Schnelle plötzlich, weil ich sonst wohl noch Monate hier geblieben wäre, doch mein Schicksal wollte es wohl so; irgendwie jedenfalls denke ich, dass alles so recht ist, sogar der Brief hier jetzt, denke ich gerade).
Schönen Tag, Frau Prater, bis morgen!
Dass ihm das letzte Jahr in der Teufelsküche den Rest gegeben und tiefe Wunden zugefügt hatte, offenbarte sich erst in seinen eigenen vier Wänden. Er war an seine Grenzen gestoßen worden. Die vielen Jahre der Entbehrungen auf ganzer Linie trugen ihren Teil dazu bei. Und die Arbeit, die immer mehr wurde, machte keinen Halt davor. Monatelang war er nur ein lebender Leichnam. Mit letzten Kräften schleppte er sich regelmäßig in seine Behausung, wo er, bis zu seinem 26. Lebensjahr Nichtraucher gewesen, wieder zum Kettenraucher wurde und mit Bier sich in ungesunden Schlaf brachte. Die einzigen Lichtblicke zum guten Glauben hin, Freude am Leben, Liebe zu seinem Dasein zu finden, holte er sich aus seiner unermüdlichen Beschäftigung mit Dr. Rudolf Steiner und dessen anthroposophischen Erkenntnissen. Heike stand ihm zur Seite und ihre Freundin Carmen, die beide ebenfalls zu esoterischen Themen eine positive Einstellung entwickelten. Zu dritt trafen sie sich jeden Samstag zum Frühstück. Es waren diese Stunden, für die es sich lohnte, die Woche auszuhalten. Und am Sonntag holte Frau Prater ihn in ihrem Wagen ab. Es ging zur Messe in die Christengemeinschaft in Harburg. Hernach wurde er zum Essen oder zum Kaffeetrinken mit Kuchen eingeladen. Beinahe ein Jahr benötigte er noch bis zur Einsicht, allem vom ABZ-Verlag (einem Ableger der Johannes Greber Memorial Foundation, in Teaneck, N. J. 07666, 139 Hillside Avenue) in sich Aufgenommenem abschwören zu müssen. Sollte die Gottessaat in ihm aufgehen, war die letzte Bastion, Luzifer in sich selbst, zu bezwingen! Die Verweichlichung seiner Seele von Kindheit an war in fortgeschrittenem Stadium, dem er Einhalt gebieten wollte. Eine Chance auf Heilung, falls überhaupt, leuchtete ihm darin ein, sich mit Ahriman in sich selbst auseinander setzen zu lernen, mit dem Aufgeben von Trinken und Rauchen. Kleine und große Erfolgserlebnisse bestätigten ihm sein Denken und Fühlen. Vom März 1996 bis zum Februar 1997 ganz dem Phänomen „Kaspar Hauser“ ergeben, wurde ihm im Sommer 1997 mit R. die Liebe seines Lebens ins Dasein geführt. Jetzt war er erst recht nicht mehr zu bremsen! Obwohl er wieder rauchte und an den Abenden Bier trank, er, der bis zu seinem 22. Lebensjahr Antialkoholiker war. Um der Verweichlichung seiner Seele grundlegend den Garaus zu machen, nahm er sich im Januar 1998 in letzter Konsequenz vor, nicht mehr zu weinen. Irgendwie musste doch das Gleichgewicht zwischen Luzifer, Ahriman und Christus, in dessen Sinne: wachet und betet, dauerhaft herbeizuführen sein. Und sie schlug an, diese Selbst-Therapie. Er raucht weniger, trinkt nicht mehr und sein Dasein ist ihm jeder Tag neu wert!
9. Sein schönstes und sein schlimmstes Geheimnis
Knabenspiele waren nicht mein Ding. Auf dem Spielfeld den Fußball einem anderen abzujagen? Der absolute Horror für mich. Sich spielerisch, ab der 3. oder 4. Klasse, im Schulhof oder auf der Treppe, ging es zur Pause oder von derselben zurück, grob da anzufassen, wo wir Jungen die empfindlichste Stelle haben, war mir unmöglich mit zu machen. Der reinen Neugierde hingegen, es vorsichtig zu tun und zärtlich, ausgewählt bei diesem oder jenem, davor scheute ich mich. Also blieb ich außen vor. Vom Anfang meiner Schulzeit an. Bis heute wahrscheinlich. Knabenspiele lagen mir nie. Stand zu Weihnachten auf meinem Wunschzettel eine Ritterburg oder ein Mikroskop und brachte mir das Christkind diese Spielsachen, konnte ich nicht viel damit anfangen. Eine Puppe mit langen Haaren, zum Kämmen und Herrichten zu einem Zopf oder zum Stylen verschiedener Hochfrisuren oder einfach als langes wallendes Haar über die Schulter herabhängen zu lassen, das hätte mir rechte Freude gemacht. Mein Elternhaus jedoch wusste, was sich für Jungen gehört, vier waren wir irgendwann einmal von dieser Sorte, und was sich für Mädchen gehört, von denen wir immerhin wenigstens eines in unsere Großfamilie abbekamen. Auf diesem Umweg kam für mich doch noch ein Puppenwagen ins Haus und was so alles dazu gehört, bekommen kleine Mädchen ihre Spielsachen. Als Ältester hatte ich die jüngeren Geschwister zu hüten, von denen mir am liebsten meine Schwester war, die ihr Puppenreich mit mir teilte. Und kein Erwachsener kam auf die Idee, mich deshalb schief anzusehen. Mir selbst muss dieser Ausgleich sehr viel gegeben haben. Draußen nämlich, wo ich inmitten von Jungen in der Schule oder im Tageshort, in der Freizeit oder in Jugendherbergen, Sommerlagern mich mit meiner männlichen Geburt konfrontiert sah, litt ich stets. Dazu die ewigen Moralpredigten vom Vater, von der Mutter, wie sich ein Junge in diesen und jenen Situationen zu verhalten habe –die Verwandten: Oma, Opa, Onkels, Tanten standen da in nichts hinterher: „Du willst doch mal ein Mann werden!“ lässt nicht zu, beim Gesamtblick über meine Zeit im Elternhaus, sagen zu können: „Ich hatte eine schöne Kindheit“. Äußerlich betrachtet! Die Wahrheit schließlich ist: Ich hatte eine schöne Kindheit! Aber das war kein Verdienst irgend eines Erwachsenen um mich her. Denen gegenüber entwickelte sich in mir bereits im zartesten Knabenalter ein sehr gespanntes Verhältnis; als sieben jähriger bereits und mit jedem dazu kommenden weiteren Jahr führte das zu einem immer größer werdendem Misstrauen, machte ein Erwachsener nur den Mund auf. Mit 10 Jahren war ich so weit: Da rein! Da raus! Und in mir lebte eine eigene Welt der Liebe und des Glaubens an das Gute in der Welt, die es für mich irgendwo gab. Nur mit Sicherheit nicht bei den Erwachsenen!
Ersatz für die in meinem unmittelbaren Lebenskreis weit und breit sich nicht darbietenden Ideal Vorstellungen von herzensreiner Güte, wahrhaftiger Liebe, echtem Verständnis für einen anders gearteten Menschschlag als dem alltäglichen, holte ich mir aus Märchen und aus dem Film- und Fernsehangebot. Untertauchend in Glanz und Glimmer einer prächtigen Scheinwelt, ergriff eine Herz Schmerz Schnulze mein ein und alles. Zarah Leanders „Nur nicht aus Liebe weinen“, „Davon geht die Welt nicht unter“ und viele ihrer Lieder kannte ich in- und auswendig und sang sie regelmäßig vor mich her. Webte zwischen zwei Menschen ein zartes sich Verlieben ineinander, wurde sich schüchtern geküsst, kam es zu sanften Berührungen, war die Achtung voreinander ehrfürchtig, ging ich selig auf in meinem Seelenelement, das bei weiblicher Schönheit nur so dahinschmelzte. Besonders die Sissi Filme waren dazu geeignet. Und absolutester Favorit war „Vom Winde verweht“. Allein Scarletts wegen sehe ich mich im Verlauf einiger Jahre über zehn Mal ins Kino gehen; ihre Kleider hatten es mir angetan. In diesem Zusammenhang sehe ich klein Rüdiger in träumender versponnener Gedankenlosigkeit, fernab seiner natürlichen Geburt, ein Junge zu sein. In solchen Augenblicken wusste sich klein Rüdiger Abhilfe zu verschaffen. War er allein zu Hause, die Mutter und der Vater bei der Arbeit, der 3 ½ Jahre jüngere Bruder im Kindergarten, dann wagte er es -den Hocker aus der Küche mit sich schleppend-, ein verbotenes Reich zu betreten, dass das elterliche Schlafzimmer war mit dem Kleiderschrank. Und dessen Flügeltür mühelos geöffnet, den Hocker vor der Garderobe abgestellt, begab sich klein Rüdiger darauf. Es bedurfte einiges an Anstrengung, die Bügeln mit Anzüge, Sakkos, Hosen etc. des Vaters und Röcke, Kostüme, Sommer- und Winterpracht der Mutter auf dieser einzigen Stange zusammengepfercht wegzudrücken, um das Abendkleid aus Atlasseide, dessen Dekollete` ein breiter Kragen aus Brokat zierte, an sich zu nehmen. Und mit unregelmäßigen Atemstößen und wild klopfendem Herzchen, machte sich klein Rüdiger selig unter der Last seines Besitzes, das tiefblau und weinrot ineinander schimmerte, an die Frisieranrichte der Mutter zu schaffen. Eine Angelegenheit mit Seltenheitswert. Gar zu sehr fürchtete er, erwischt zu werden, sollte ein Elternteil früher als angekündigt nach Hause kommen. Aber da war diese erst kürzlich gefallene Bemerkung der Mutter, auf seine Bitte hin, einmal wieder das schöne Kleid anzuziehen und mit ihm auszugehen. „Junge,“ hatte sie geantwortet, „ich werd’ mich doch nicht zum Gespött der Leute machen. Dieser alte Fetzen ist längst aus der Mode gekommen. Nur gut, dass du mich daran erinnerst. Bis zur nächsten Altkleidersammlung ist es nicht mehr lange hin.“ Das tat weh. Ausgerechnet sein Lieblingskleid sollte aus dem Hause geschafft werden. Und deshalb wollte er selbst, vielleicht zum letzten mal, es tragen, wenn schon nicht die Mutter gewillt war, ihm diesen sehnsüchtigen Wunsch zu erfüllen. Wie gern sah er sie in dieser Abendrobe. Dann war sie erst recht die schönste Frau der Welt, die er, war er groß genug, heiraten wollte.
Das schimmernde Gewand übergezogen, das Gesichtchen ungeschickt mit Make up und Lippenstift bedacht, hebt klein Rüdiger das ihm viel zu große lange Kleid mit den Händchen an, begibt sich, im Begriff, seine Verwandlung zu vervollständigen, in den Flur und kramt aus der Schuhkommode die zu dem Kleid passenden hochhackigen Pomps hervor. Für sein weiteres Vorhaben geht es nun in die Toilette, wo er mit dem Papier von der Rolle die Spitzen der Pomps ausfüllt, mit seinen Füßchen hineinschlüpft und die Fersen mit dem Toilettenpier ausstopft. Die Brüste dann füllt er in der Küche aus, wozu Geschirrhandtücher recht gut geeignet sind. Und siehe da: aus klein Rüdiger ist eine feine Dame geworden, die allerdings Mühe hat, beim Gang zum Spiegel zur Selbstbewunderung, nicht aus den Latschen zu kippen. „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?“ „Ihr natürlich!“, hört sich die feine Dame selbst sprechen und begibt sich, zufriedengestellt, durch die Wohnräume, die zu einem Palast werden, in dem vornehme Damen zur höheren Gesellschaft gehören. In blühender Fantasie tritt nun ein gepflegter Herr auf die feine Dame zu. „Sie sind so wunderschön, Gnädigste!“, hört klein Rüdiger das Kompliment an sich gerichtet. „Dürfte ich sie bitten, mit mir zu tanzen.“ „Aber gerne doch sie wunder-, wunderschöner Mann,“ antwortet die Gnädigste, wirft sich dem Gentlemen in die Arme und schwebt selbstvergessen im Walzer –von der Mutter gelernt- über das Parkett eines prächtigen Saales mit dem Mann fürs Leben davon... Die Geburt des Halbschwesterchen im August 1963 machte klein Rüdiger zum großen Bruder. Und wie verhext trat an die Stelle seines schönsten Geheimnisses ein schlimmes, das ihn immer öfter unter die Bettdecke trieb. Doppelt und dreifach musste er dabei auf der Hut sein, sich nicht erwischen zu lassen. Noch überwogen die schönen Fantasien, die ihn zum Bücherwurm machten; die üblen, die urplötzlich sein kindliches Wesen ergreifen konnten und –für Minuten ihnen ausgeliefert- ganz in Besitz nahmen, waren selten -noch. Ab der Pubertät überwogen die schlimmen Fantasien die schönen, die er ausglich, indem er kurze Schicksalsromane, Märchen und Gedichte schrieb; Kindheitswerke, die aus heutiger Sicht betrachtet nicht der Rede wert sind, seiner Seelennot dazumal allerdings heilsam entgegen wirkten, wie auch seine Bewunderung gegenüber dem schönen Geschlecht, das das Privileg hatte, Röcke und Kleider zu tragen.
1972/73 bekam ich Einblicke in eine bezaubernde Welt. Erst Jahre später –karmisch hatte es mich nach Norddeutschland verschlagen-, leuchtete mir langsam die Seelennot ein der Schicksale von Menschen wie Claudia und Sabrina. Mit 17/18 Jahren jedoch entzückten mich diese Herren-Damen, mit denen Werner, der seit 1976 in München lebt, sehr gut befreundet war. Es war im Treffpunkt, in dem Werner mich ansprach. Er hatte mich tanzen gesehen. Zuerst fand ich das komisch, mit einem Mann im Fox Trott und Wiener Walzer übers Parkett zu fliegen, nur dass ein Mädchen kaum so gut zu führen war. Und wie von selbst ergab es sich, dass wir in Kürze zu einem verschworenen Tanzpaar wurden. Irgendwann nahm mich Werner mit zu Claudia und Sabrina, deren Mutter, Frau Kramer, aufopfernd und uneingeschränkt Verständnis aufbrachte, obwohl sie ihre Zwillinge viel lieber als Männer gesehen hätte, die sie zur Welt brachte
Sabrina war mehr der häusliche Typ und selten zum Ausgehen zu bewegen. Claudia hingegen bevorzugte die Geselligkeit, für die sie besonders die Samstagnachmittage benutzte, sich zurecht zu machen. Und manchmal verwandelte sich auch Werner. Dann wurde das Gesicht mit Wachs bedeckt, Beine, Arme, Brust rasiert, Fuß- und Fingernägel lackiert, Perücken auf Büsten frisiert, Wachs vom Gesicht entfernt, Augenbrauen gezupft, lange Wimpern aufgeklebt, Make up, Rouge, Lippenstift aufgetragen, in ausgewählten Seidenstrümpfe, Kleidern, Blusen, Pomps geschlüpft... Stunden vergingen so mit Kaffeetrinken bei Klatsch und Tratsch und Gerüchten breittreten, währenddem ich mich nicht satt sehen konnte an all den weiblichen Handhabungen, bis es ausging in die Szene nach Heidelberg oder Frankfurt oder bloß in den Treffpunkt, wo mir -als ein einziger Kerl übrig geblieben- die Rolle, Hahn im Korb der Herren-Damen zu sein, sehr gefiel. Außer einmal! Es war Faschingszeit. Und angesteckt von dem Spaß der Verwandlung –den ernsten Charakter und die inner-seelische Not solcher Lebensformen erkannte ich, wie oben erwähnt, erst viele Jahre darauf-, entschloss ich mich, am Faschingsmontag auch mal als Frau im Treffpunkt einzukehren. „Nie wieder!“, wurde mir zum Ergebnis daraus, so unwohl fühlte ich mich in dieser Haut, in der ich es nicht lange aushielt und zum Durchfeiern der Nacht schnell nach Hause ging mich umzuziehen. Damit war aber das Problem meiner Männlichkeit, die mich mit mir persönlich befremdete, nicht vom Tisch. Klarheit darüber sollte mir erst im Sommer 1999 gegeben werden.
Aus der eigenen Angelegenheit klein Rüdigers schönstes Geheimnis wurde für mich eine prinzipiell äußerliche. In hinreißenden Emotionen profitierte ich davon, durfte ich gute Freundinnen von mir in atemberaubenden Kleidern, Midi- oder Maxiröcken bewundern. Leider wurde mir klein Rüdigers schlimmes Geheimnis ebenso zu einer prinzipiell äußeren Angelegenheit, die mir aber das Leben mehr und mehr vermieste, indem ich mit dem Älterwerden moralisch in erschreckender Weise abbaute, was heutzutage kaum der Rede Wert ist, berücksichtige ich die 80er Jahre, während diesen eine sittliche und moralische Entwicklung vorging, die mir die Hölle war und bis 1988 zur endgültigen Unerträglichkeit wurde. Entsetzt sah ich auf ein 34 jähriges Leben, von dem ich mir sagte: „Geht es die nächsten zehn Jahre so weiter, bin ich reif für die Klapsmühle. Oder ich nehme mir einen Strick“. In tiefster Verzweiflung fing ich zu suchen an, ob es möglich sei, sich bis ins Unterbewusstsein moralisch zu säubern? Und wenn ja, ob das überhaupt einen Sinn habe, sollte mit dem Tod tatsächlich alles vorbei sein? Aber dann gab es keinen Gott! Und musste ich die Existenz eines Gottes, eines Schöpfers leugnen, wäre die logische Konsequenz, dass dieser Jesus, der mir mein Leben lang keine Ruhe ließ, nur ein gewöhnlicher Mensch war. Ein kümmerlicher Ruinenrest von Idealen, die meine Kinderseele einmal ausfüllten, bevor schlimmste Geheimnisse in mir zum Ausbruch kamen im Zusammenhang wachsender Gewissheit, dass ich zu 100 % homosexuell veranlagt bin, lechzten nach Antworten. Aus den Fragen vorab sah ich ein: meine ich es ehrlich, muss ich gründlich und ernsthaft bemüht sein, mich selbstständig der Problembewältigung stellen: Tod, Gott, Jesus, meine Veranlagung –und andere, wozu mir die Möglichkeit gegeben war mit einem Buch, das elf Jahre zuvor auf mysteriöse Weise in meinen Besitz gelangte und mich bisher hinderte zu lesen, denn es war mir abstrus. Und stets vor Augen: Ist das die Wahrheit, werde ich meine Seele reinigen können, widerfuhr mir am 16. Oktober 1988 ein Durchbruch der Erleichterung, dass wirklich vor Gott alle Menschen in ihrem Urwesen gleich sind. Bald darauf gab mir mein Karma die Gelegenheit, mich mit Rudolf Steiner auseinander zu setzen; und jetzt ging’s erst richtig los! Höchste Höhen, tiefste Tiefen wechselten sich dramatisch ab, und ich geriet in Abgründe der Individualität, in denen ich oftmals befürchtete, verloren zu sein. Was für ein Segen, dass zwei echt gute Freundinnen, Heike und Carmen, mir zur Seite standen. Und bis in meine seelischen persönlich zu erreichenden Grundfesten forschte ich nach Rudolf Steiner. Nach zwei Jahren war mein Vertrauen in ihn unerschütterlich geworden, was zum Ergebnis hatte, dass ich mit der Anthroposophischen Geisteswissenschaft Antworten bekam, deren Fragen mir bereits als Kind vorlagen. Zusätzlich entdeckte ich, dass auf die Erwachsenen um mich her immer noch kein Verlass war. Wenn die bloß den Mund aufmachten...; speziell, was eine Lösung betraf zur Heilung heruntergekommener Seelen, die in jedem Fall nicht in der Gegenwart zu finden war.
Aus dem Geschichtsunterricht klein Rüdigers Schulzeit weiß ich so viel, dass er nichts mit bekam. Vergangenes der Menschheitsgeschichte schien ihm für die eigene Person bedeutungslos. Ganz Ohr wurde er allerdings, erzählten die Mutter oder ältere Menschen aus dem 2. Weltkrieg. Anekdoten daraus wurden ihm zum Anlass –von den Erwachsenen abgeguckt, nostalgisch von der guten alten Zeit zu schwärmen, und keine Woche verging, bis etwa zu seinem zehnten Lebensjahr, ohne zu hören von Haus aus oder von der Oma, oder im Tante Emma Laden oder bei einem Schwatz unter Waschweibern überall und nirgendwo, „Beim Führer hätt’s das nicht gegeben!“; und über Kriminelle, Pädophiliekranke, geistig und körperlich Behinderte, Arbeitslose, Schwule, Nutten, etc., „...die wären vergast worden...!“ Rein gedanklich kam er damit in kein Verständnis, also schaffte er sich in naiver blühender Fantasie eine Wunderwelt, in der er 3 Jahrzehnte verbrachte und um das eigene Wohl bedacht „Nie wieder Krieg!“ wünschte. Er lebte im Jetzt, hatte mit sich selbst genug Probleme, und erhoffte sich für die Zukunft nichts weiter als den Glückseligkeitszustand. Doch daraus wurde und wurde nichts. Und seine seelische Verfassung geriet in tiefe Abgründe, deren Metamorphose mich hervor brachten. Gleichzeitig kam Hilfe von oben: Ich fand zu Rudolf Steiner, von dem ich lernte, dass die Bewältigung von Gegenwartsproblemen in der Erkenntnis dessen läge, die Versäumnisse voran gegangener Generationen zu ergründen. Und weil mir die Anthroposophische Geisteswissenschaft zur vertrauensvollen Grundlage wurde, daran zu glauben, dass einmal alles gut werde, begann ich, bis zu jenem Zeitpunkt Versäumtes nachzuholen, unter besonderer Berücksichtigung intensivster Studie über das 3. Reich und was dazu führte; erst recht, als ich schwarz auf weiß vor die Augen bekam, wie Rudolf Steiner nach rechtsradikalen Übergriffen gegen seine Person in München 1922, von der Schweiz aus äußerte: „Wenn diese Herren an die Macht kommen, kann ich keinen Fuß mehr auf deutschen Boden setzen“. Schließlich –aus der Traumwelt klein Rüdigers unsanft herausgerissen, stimmte mich die Tatsache entsetzt, dass Andersartigkeit –nach einer Vergangenheit, die zum Himmel schreit- noch immer an den Rand der Gesellschaft getrieben wird und die Euthanasie Idee im vornehmen Stil, auf Grund moderner Gen Wissenschaft, die von Fall zu Fall sogar zur Abtreibung rät, heutzutage unverändert im Denken der Menschen herrscht. Und abwechselnd traurig, bestürzt, verständnislos, wütend, verzweifelt, enttäuscht lebte das dringende Bedürfnis in mir auf, so viel als nur möglich verstehen zu wollen. Konsequent! Und tut’s auch noch so weh. Es reichte mir, wie klein Rüdiger, über drei Jahrzehnte lang immer gleich sterben zu wollen, spitzten sich Lebenslagen in scheinbare Aussichtslosigkeit zu. Feigheit vor dem Feind lernte ich darin erkennen, die Furcht vor der Wahrheit, das sich nicht eingestehen wollen von begangenen Fehlern, sich den eigenen Schwächen gegenüber etwas vormachen. Die Kraft dafür holte ich mir Jahr um Jahr mehr aus der Karmalehre und dem Reinkarnationsgedanken, wodurch mir im Sommer 1999 ein aufklärendes Licht in das schönste und schlimmste Geheimnis von klein Rüdiger geworfen wurde (Ein Verdienst von Barbro Karlen, die mit ihrem Buch „...und die Wölfe heulten“ eine bis dahin mir nicht zu öffnen gewesene Seelentür wie von selbst aufstieß, um mir die Aufklärung der eigenen Zwischeninkarnation zu offenbaren) und ein Jahr darauf, wie und wann es zur Höhenangst kam, durch die klein Rüdiger fürchterlichste Torturen zu bestehen hatte, und die er mir vermacht hat.
Mit der Höhenangst muss ich weiterhin zu sehen, mich zu arrangieren; aus den Geheimnissen klein Rüdigers allerdings schöpfe ich heute meinen Selbstwert und die Überzeugung und Sicherheit meiner vorangegangenen Leben auf unserer alten Mutter Erde. Und über mein folgendes Erdenleben –meiner nächsten, nämlich regulären Inkarnation- weiß ich auch schon etwas beglückend Grundwesentliches mit Sicherheit!
10. Aufhellende Feinheiten der letzten 10 Jahren
Inmitten der Entstehung dieser Arbeit kam es im August 2000 zu einer Krise im engsten Freundeskreis. Jahre lang bildeten wir uns ein, etwas Besonderes zu sein. Was alltägliche profane Angelegenheiten sind, glaubten wir, darüber stehend: Uns kann das nicht passieren, so wie es Tag für Tag über den Bildschirm flimmert durch Talk Shows, in denen schmutzige Wäsche gewaschen wird, in denen übereinander hergezogen wird, weil aus Liebe Hass wurde, in denen einstmals befreundete Menschen, die durch dick und dünn gegangen sind, aufeinander lästern und kein gutes Haar mehr aneinander lassen, in denen sich gegenseitig, in aller Öffentlichkeit, verraten und verkauft wird. Nein! Dieser Glaube meines engen Freundeskreises, eine Krise sauber zu bewältigen, widerfährt uns eine solche wie sie in den besten Familien vorkommt, war pure Einbildung. Wie vor den Kopf geschlagen, stürzte mich diese Einsicht aus heiterem Himmel in die Tiefe schmerzlicher Betroffenheit. Und die weitere Arbeit an diesem Buch verhinderten quälende Fragen, was ich falsch gemacht haben könnte. Mit Schwächen und Fehlern meinerseits hielt ich nie hinterm Berg. Stets war ich davon überzeugt, dass echte Freundschaften nur möglich seien, steht man zu seinen Unvollkommenheiten. So, meinte ich, könne man später einmal auftretenden Missverständnissen von vornherein entgegen wirken. Gerade deshalb blieb meine Suche nach den Ursachen unserer Krise aussichtslos. Zurück blieb hauptsächlich Traurigkeit für das Verhalten meiner Freundin Carmen, mit der mich die letzten drei Jahre eine außergewöhnliche Vertraulichkeit verband, und die ich glaubte, nach 11 Jahren, zu kennen, statt dessen, um 180 Grad gedreht, warf sie meinem Wesen vor, perfide zu sein, wovon Heike, nach 2 Jahrzehnten Freundschaft, weniger überzeugt sein dürfte; immerhin machte ich erste Bekanntschaft mit Carmen durch Heike, die damals eine gute Freundin von ihr war. Nein! Die Lösung unserer urplötzlich ausbrechenden Krise war mir in der Gegenwart nicht aufzufinden, obwohl ausgerechnet Carmen zu dem Rädchen wurde im Getriebe meines Schicksals, das die Dimension in sich barg, meinem gesamten bis jetzt gelebten fast ½ Jahrhundert Sinn und Zweck zu geben.
Am 2.09.2000 wurden mir die Augen geöffnet und viele Fragen bekamen eine Antwort, nachdem Heike tags zuvor bei mir war. Sich selbst nicht eingestehend, musste ich nachher Einsehen, dass sie sich auf Carmens Seite geschlagen hatte, ohne es zu bemerken. Ich weiß, Heike kann nicht anders! Unparteiisch möchte sie es immer allen recht machen. Nur manchmal gibt es Situationen im Leben, die einen mit dem Rücken zur Wand stellen. Und dann geht es nicht anders: Man ist gezwungen, Farbe zu bekennen. Die einen erfahren Verlässlichkeit der Person, die anderen Enttäuschung; aber wenigstens weiß jeder, woran er ist. Ich für meinen Teil schreibe seit dem 02.09. an diesem Buch weiter wie geplant, mit der grundlegenden Veränderung, dass meine vorbereiteten „Stationen eines Lebens“ unbrauchbar geworden sind. An Stelle dieser kommen die „Aufhellenden Feinheiten der letzten 10 Jahren“, die mich in die Notwendigkeit versetzen, Wesentliches aus Tagebüchern und drei Briefe im Originalton für dieses Buch zu übernehmen. Schicksalsumstände, die hier zu erklären unwichtig sind, sorgten dafür, wenigstens diese Bruchstücke an Aufzeichnungen noch zu besitzen. Meinem Glauben zu Folge, dass alles einen tieferen Sinn hat, denke ich allerdings, dass durch die Offenbarung im Prolog, es zu vertreten ist –aber mit Sicherheit in engen Grenzen- ein wenig aus meiner privaten Intimsphäre meiner gegenwärtigen Inkarnation heraus zu treten. Um Außenstehenden den Überblick zu bewahren von damals und heute, werde ich es mit diesen Übergängen so halten, stets das gegenwärtige Datum ebenso wie das vergangene vorne an zu setzen. Ansonsten ist, so meine ich, bis hier her ein ordentlicher Gesamtüberblick vollzogen, um Seelen-offenen, nach Geist suchenden Menschen aus der Dynamik des Epilog, bzw „Des Schleiers Spalt weite Lüftung“ einen –hoffentlich bescheidenen, zur Demut führenden- Einblick in eine kaum zu fassende Wahrheit zu gewähren.
Den oben erwähnten drei Briefen, die mir für notwendig erscheinen, hier eingefügt zu werden, vorweg ein Aufsatze, den ich zu schreiben hatte am 16.11.1970 für die Berufsschule in Freudenstadt, mit dem Thema:
Was fange ich mit meinem verdienten Geld an!
Vor Wochen, als ich noch Volksschüler war, bekam ich wöchentlich 5,- DM. Mit diesem Taschengeld sollte ich nun auskommen, was mir nicht leicht fiel. Ein Tag, höchstens zwei, und das Geld war ausgegeben. Woche für Woche nahm ich mir vor, mein Geld anders einzuteilen. Dann kam ich in die Lehre. Plötzlich bekam ich monatlich 120,- DM. Einteilen war mein erster Gedanke. Ich besorgte mir ein Heft und begann, jede Ausgabe einzuschreiben. Doch dies gab ich bald auf. Es gab so viele Kleinigkeiten, dass ich gar nicht mehr so recht wusste, wo mein Geld hinkam.
Was fange ich mit meinem verdienten Geld an? Eine sehr schwierige Sache. Eigentlich kommt bei mir das Geld nicht an erster Stelle. Ich verdiene es so schwer und gebe es viel zu leicht aus. In Zukunft werde ich den größten Teil des Geldes auf die Sparkasse tragen. Warum? Um nicht zu viel über das Geld nachzudenken. Habe ich kein Geld in der Hand, so habe ich eine Sorge weniger. Vielleicht werde ich dann die Summe Geld einige Jahre später gebrauchen können. Jetzt auf jeden Fall weiß ich bestimmt nicht, was mit dem Geld anfangen und warum es zusammen kommen lassen. Ich brauche nichts Notwendiges und das Angenehme verlangt eben doch zu viel Geld.
16.09.99 15 Uhr 19 bis 15 Uhr 51
Sehr verehrte Frau Prater,
dass ich es wage, Ihnen zu schreiben, fällt mir nicht unbedingt leicht, weiß ich doch, dass ich bei Ihnen längst in Ungnade gefallen bin. Ich kann mir demnach auch also kaum vorstellen, dass Sie Wert darauf legen, uns mal zu sehen. Jedoch in meiner momentanen Ausweglosigkeit werfe ich alle Bedenken beiseite und wende mich bittend an Sie. Zweimal nämlich bin ich auf Schwindel herein gefallen. Das Warten in Gutgläubigkeit hat mich dadurch in eine finanzielle Schwierigkeit gebracht. Erst am 20.09 muss ich aufs Arbeitsamt, um mich vermitteln zu lassen. Doch dann muss man ja erst wieder einige Wochen arbeiten, um ein regelmäßiges Einkommen zu haben.
Von meiner Blauäugigkeit bin ich die letzte Zeit eminent kuriert, wenn auch vielleicht noch nicht gründlich; wie weit bis in mein Grundwesen lässt sich natürlich zum jetzigen Zeitpunkt nicht genau bestimmen. Auf jeden Fall arbeite ich seelisch-geistig seit Jahrzehnten bewusst daran, das unmoralische Fundament, das Sie mir vor über zwei Jahren zur Last legten, zum Erschüttern zu bringen, um ein ordentliches, selbst erkämpftes moralisches Fundament mir zu schaffen. Mitten in der Lebens-Schule-Einweihung bin ich für meine persönlichen Verhältnisse, so meine ich, um einiges weiter gekommen. Aber zufrieden? Zufrieden bin ich keineswegs! Was in meinen Möglichkeiten liegt, danach greife ich, das versuche ich, umzusetzen, darum kämpfe ich. In Ihren Augen, sehr verehrte Frau Prater, wäre dies vielleicht noch zu wenig. Sehe ich allerdings zurück, bis in meine Kindheit, und ziehe Bilanz, dann denke ich, hoffe ich zumindest, dass ich wenigstens „faustisch“ in der Gunst der Götter der Gnade teilhaftig werden dürfte:
...Wer immer strebsam sich bemüht, den können wir erlösen...
Wie gesagt, es ist mir nicht leicht gefallen, mich nach Tage langem hin und her zu entscheiden, mich an Sie zu wenden, mit der Bitte, mir mit DM 1000,- zu helfen... (U.s.w.)
Mit freundlichen Grüßen grüße ich Sie dankend, Ihr mal gewesener Herr Kugler
(11.09.2000, Ich bekam nie darauf etwas zu hören).
30.05.99
Hallo, liebe Carmen,
es ist 8 Uhr 34. Ich bin irgendwie noch betrunken. 7 Uhr bereits wachte ich auf, glaubte noch, schlafen zu können..., doch 7 Uhr 30 bin ich dann aufgestanden. Um ½ 7 (ca. 18 Uhr 30) etwa, gestern –nachdem ich R. auf dem Fahrrad mit einem Kollegen einige Male gesehen hatte- sah ich ein, dass er nicht kommt. Da packte es mich: ich schnappte meine 10 Dosen Bier, ging zum Deich -und erlebte dann da einen tatsächlich schönen Abend. Später kam R. sogar dazu, da hatte ich auch bereits ganz schön einen in der Krone. Doch ich konnte es später in der Wohnung kaum aushalten. Ich schnappte weitere 2 Fl. Bier und sah, ob R. zu Hause sei. Ich hatte nämlich das Gefühl, dass er beim Deich nur geblieben war, um mich zu beobachten. Tatsächlich ließ R. mich rein –und er verhielt sich unglaublich toll mir gegenüber. Und gerade nach ca. 1 ½ Std., als ich mich zum Gehen fertig machte (Mitternacht) klingelte es. Wir hatten –besser, R. hatte mir schon erklärt, wie wir es machen, falls es klingelt und er mich aus der Wohnung lasse ohne bemerkt zu werden...
Koks hat er einige Nasen genommen; mir bot er es auch an, doch davor schrecke ich zurück; nur das, was an der Karte hängen blieb, „sammelte“ er auf dem Finger und gab es mir auf die Zunge. Scheußlich. Das Zeug schmeckt fürchterlich bitter. Jedenfalls tat es mir gut, mal den Rahmen gesprengt haben! Sowohl beim Deich mal mitzutrinken (besonders Sabine und Bettina: „Wie? Du trinkst Bier?“), wie auch zu R. gegangen zu sein; selbst auf die Gefahr hin, er würde es wieder völlig missverstehen. Es war überhaupt angenehm anders, mal so zusammen gewesen zu sein ; ich mit Bier einen in der Krone, R. Koks und etwas Bier; beim Deich zwei, mit mir eins. Im Grunde war ich erstaunt, wie gut er reagierte, als ich vor seiner Wohnungstür stand –hatten wir uns doch gerade kurz zuvor wie Fremde beim Deich erlebt, wie er mich herein ließ und wie irgendwie großartig wir uns unterhielten.
9 Uhr 15, nach nun drei Bechern Kaffee, die Sonne ist mittlerweile auch durchgebrochen, will ich weiter schreiben. Eigentlich hatte ich vor, erst am Samstag, wenn wir uns wieder sehen, mit dem für mich wirklich heiklen Thema zu kommen, doch dann fiel mir gestern auf dem Weg von Dir nach Finkenwerder ein, dass Du ja dann die Woche darauf in Wedel arbeitest, und da weiß ich ja nicht, wie kompliziert es für Dich ist, nach Feierabend. (Aber überhaupt hatte ich einige Male das Gefühl, dass Du gestern spürtest, dass da etwas in mir vorgeht, doch ich wollte unbedingt noch eine Woche warten, weil ich eine unglaublich strenge Selbstbeobachtung an mir habe). Ja, dies ist „stichwortgemäß“ die Ahriman Konfrontation, in die ich schlagartig hinein gestellt war; und wieder und wieder die bald vergangenen 2 Jahre glaubte, sie im Griff zu haben. Ich liebte mein Leben so sehr, nie mit Geld konfrontiert gewesen zu sein. Das war auch der „Blitz“ am Freitagabend, als mir einleuchtete, wie ich über viele Jahre gelernt hatte, mit nur wenig Geld mein Leben führen gekonnt zu haben. Und dann musste ich rechnen, zählen, abwägen u.s.w.
Ich glaube, Du weißt, dass ich mich nicht drücke vor dem offenen Gespräch, direkt Dir gegenüber. Doch als ich gestern auf dem Nachhauseweg begriff, dass ich Dir heute morgen schreiben werde, hatte ich das Gefühl, dass es OK ist. So kannst Du auch, unbeeinflusst durch Spontanität, Dich selbst in Ruhe entscheiden, was Du davon hälst, dass ich Dich nochmals bitte um Geld, was einer der schwierigsten Lehrprozesse meines Lebens ist. Viele Illusionen konnten richtig gestellt werden, mehr und mehr wache ich auf, weniger und weniger –wie noch im Februar und März unbemerkt- verfalle ich der Idee, mit Geld –in Wahrheit innere Probleme- das mit R. auf die Reihe zu kriegen. Überhaupt weiß ich seit Freitagabend –„Blitz“-, wie groß meine Sehnsucht ist, wieder das Leben zu finden wie es meinem inneren Wesen entspricht: ohne Geld glücklich zu sein! Doch noch bin ich nicht ganz durch. Ich weiß auch, dass einiges auf mich noch zukommt, bedenke ich, in was R. sich doch alles hinein reißt. Warum auch immer mein Schicksal so ist wie es ist, wieso auch nun solch eine Konfrontation auf mich zukam, um so mich in Realitäten zu stellen, die ich komischerweise so nun nie erfahren hätte wie in den vergangenen bald zwei Jahren. Was soll ich sagen, Carmen? Ich glaube, Du hast da wirklich einen Einblick, um zu wissen, dass ich keinesfalls es wagen würde, dich auszunutzen. Dass Du aber auch siehst, schwarz auf weiß, dass ich tatsächlich in einem Aufwachprozess bin, habe ich mich (um es die folgenden Monaten wirklich auf die Reihe zu kriegen) am Pfingstmontag gestellt, was ich R. bisher gab; damals kam noch dazu die Sperre vom Arbeitsamt; Abschiebeandrohung;...)
(11.09.2000, es folgt eine finanzielle Auflistung, die hier unerheblich ist)!
9 Uhr 48, ich denke, liebe Carmen, Du kannst daran sehen, dass ich zu all den Kämpfen meiner Gefühle, meiner Triebe, meiner Sehnsüchte zusätzlich echt einen Kampf führe, der niemals in meinem Leben da war. Bei Geld stand ich erhaben darüber; und dann das: eine Konfrontation in bald zwei Jahren, von der ich noch vor einigen Wochen gar nicht wusste, worum es wirklich geht. Nach Ostern dann begriff und begriff und begriff ich...
.....In Freundschaft und ehrlich tiefer Liebe zu Dir, liebe Carmen, Dein Freund Rüdiger, 11 Uhr 25
31.01.99
12 Uhr 17 Liebe Carmen!
Als Du mich gestern zu Hause absetztest und ich kaum in der Wohnung war, brach ein Seelensturm in mir aus, dass ich nur eine Möglichkeit darin sah, zuzusehen, ob es mir gelinge, damit fertig zu werden, indem ich in meine Übung ging, mit dem Rücken auf dem Bett liegend in konzentrierter „Meditation“. Es brauchte solche Kräfte, mich diesem Seelensturm einerseits zu stellen, andererseits nicht mich von ihm bezwingen zu lassen, dass sogar die Augen tränten. Jedoch: nach 1 ½ Stunden war ich durch –und ich entdeckte erste Anzeichen einer Geisteskraft, die sich zu behaupten begann und dem Seelensturm die Regie abnahm. Später dann, während dem Film „Forrest Gump“ entdeckte ich, dass ich doch nun nüchtern, sachlich und konkret die weiteren Pläne angehen konnte, was das Wohnung nehmen mit R. angeht; deshalb nämlich, weil ich eine Angelegenheit durchgestanden hatte, das Durchsprechen mir Dir, liebe Carmen, was das Geld angeht. Ja, ich entdeckte, dass mich das Tage hindurch in eine Lähmung irgendwie versetzt hatte, wozu noch kam diese Tagebuch-Vernichtungs-Angelegenheit und mein Ziel, unbedingt R. den verdorbenen Geburtstag von 1998 in diesem Jahr wieder gut zu machen.
Um 23 Uhr ca. legte ich mich ins Bett, um von da aus weiter fern zu sehen. Jedoch begriff ich da, dieser Abend geht so nicht: ich muss Bier trinken. Ich stand auf und trank meine Biere.
Heute morgen nun kam ich ca. 9 Uhr 40 aus den Federn. Mittlerweile habe ich bereits die Treppe gemacht. Vorerst bin ich durchs Gröbste. Bereits letzte Nacht bzw. letzten Abend wusste ich, dass ich Dir schreibe, um Dir im voraus zu danken, dass ich jetzt um einiges entlastet bin, um freier das Kommende in mir durch zu gehen. So ist es also doch zu einem Brief an Dich gekommen, jedoch in umgekehrter Reihenfolge; mir kam nämlich die Idee in der vergangenen Woche, Dir zu schreiben, um des Geldes wegen. Doch mehr und mehr erkannte ich, dass etwas in mir sich davor drücken wollte. Ich wäre es so gern umgangen und dachte sogar, es noch eine Woche hinaus schieben zu können; aber in meinem Seelensturm gestern, mit meinem Biertrinken in der Nacht wurde mir klar: erst jetzt bin ich gewappnet, nüchtern und sachlich und konkret den Plan anzugehen, dass R. und ich eine gemeinsame Wohnung nehmen wollen. Und das verdanke ich Dir, Carmen!
Eine andere Art, mich zu bedanken, ist mir nicht eigen. Aber sie ist meine intimste, meine Herzens offenbarste, schreibe ich einen Brief. Für mich war Briefe schreiben immer schon ein besonders heiliger Akt; ein Greul war mir stets, wenn ich in Briefen mich verteidigen, behaupten, verletzen musste auf Grund Missverständnissen über meine Person, wegen meiner Lebensweise. Deshalb Briefe zu schreiben empfand ich stets für dekadent!... (U.s.w.) 12 Uhr 59. In tiefer Dankbarkeit, dass es Dich gibt, und dass Du bist wie Du bist, Dein Freund Rüdiger
Sehe ich heute am 12.09.2000 zurück, offenbart sich mir das Phänomen, ungefähr 8 Jahre für die Wahrheitssuche im Anthroposophischen gebraucht zu haben, während diesen ich abwechselnd in überspannten, in extremen, in fanatischen Phasen steckte. Mit genau meinem 43. Geburtstag, ab dem 19.02.97, vollzog sich ein Übergang, der mich, diese Jahre abschließend, in einen neuen Lebensabschnitt hinein führte; Tagebuch damals: 15 Uhr 01, 25.02.97: Ich bin noch mächtig krank. Es kommt mir fast vor, als hätte ich eine Mittelohrentzündung, auf Grund des Schmerzes auf der rechten Gesichtsseite. Die linke Kniescheibe wird auch eher schmerzvoller als heilender. Trotzdem. Es wird schon bergauf gehen. Ich denke, es geht sogar schon bergauf. Zum ersten mal, nach Monaten, landete ich unvorbereitet und absolut ungeplant bei Heike. Sie ist auch kräftig verschnupft. Ihre Nähe tat gut. Das Lauschen ihrer vielen Ereignisse war schön. Das Berichten meinerseits sehr angenehm. Es wird wieder. Wir finden wohl auf neuen Wegen uns wieder. Tief, tief sitzen die Gefühle in einer Echtheit, die kolossal ist. Heike dann beim Gehen in die Arme zu nehmen, ihr Küsschen auf die Wange und Stirn zu versetzen war schön. Fast 2 ½ Stunden war ich bei ihr...
14 Uhr 48, 24.02.97: Ich dachte, ich sei übern Berg. Aber heute bin ich wieder ganz der Krankheit erlegen. Und mein linkes Knie will auch nicht zur Ruhe kommen. Trotzdem. Was ich einkaufen wollte, habe ich erledigt, und wie vorgehabt, fotokopierte ich heute morgen die Briefe mit den Papieren, um die Post abzusenden an Mama, Werner und Frau Prater. Mein Kopf leidet ganz besonders unter dem seit Tagen Zurauchen. Morgen, so habe ich mir vorgenommen, ist auch das wieder abgeschlossen. Nur dachte ich bereits am Samstag, als ich wusste, mit dem Bier bin ich durch, dass ich Sonntag auch mit dem Nikotin durch sei. Schön war dann, dass völlig unerwartet, etwa um 15 Uhr, Carmen kam. Die hat auch schwer die Tage zuvor etwas durch gemacht, seit dem Nachmittag, an meinem Geburtstag, als wir uns ziemlich gründlich mit unserer Lebenslage auseinander setzten. Da ist schon viel Schmerz, viel Leid darüber, keinen Zugang bekommen zu haben in das anthroposophische Gesellschaftsleben, die solche wie uns wie einen Fremdkörper behandeln. 17 Uhr 47, Seit etwas über einer Stunde kommt es mir so vor: Ich komme mehr und mehr zurück. Das aber würde bedeuten: Ich war die letzten Tage gar nicht bei mir.
22 Uhr 22, 22.02.97: Nein! Das wird nichts! Dabei war ich heute wie umgedreht. Ich konnte schon das Notwendigste besorgen in der Wohnung, backte meinen Kuchen, erledigte außer der Gewohnheit die Haustreppe mit Keller, mit dem ich heute dran war und schrieb meine Briefschulden; alle drei, jedem auf seine charakterliche Art; einen sogar außer der Reihe, weil unverhofft Frau Prater nachträglich mir einen ganz lieben Geburtstagsgruß zukommen ließ. Nein! Es geht nicht! Ich trank neben dem Film „Die Reifeprüfung“ 2 Bier, irgendwie geschafft, rauchte und sah ein: diese Lebensform wird nicht wieder mein Leben bestimmen können. Nur! Was soll ich machen? So, wie ich im Exoterischen stehe, aber vom Esoterischen nicht angenommen werde?
Um diesen Abend ordentlich ausklingen zu lassen, nach nun einmal der Atmosphäre, in die ich mich brachte, werde ich wohl noch ein Bier trinken, noch rauchen. Aber morgen? Ich weiß, ich werde lesen, da ich ja in weiser Voraussicht die Treppe machte mit dem Keller, da ich morgen seit einiger Zeit –auch bereits vor Bier und Zigaretten- schwer am Morgen aus dem Bett komme, habe ich sonst nichts auf dem Zettel. Vielleicht schaffe ich etwas in der Wohnung. Das nämlich hat Monat für Monat mehr abgenommen: die Alltagspflichten zu erledigen. Ihnen nicht mehr nachkommen zu können, hat mich am meisten traurig gestimmt. Nun dachte ich, nehme ich am Leben teil, wie es eben in der Welt typisch und üblich ist, in der Welt, die ich erfuhr vor Anthroposophie, doch nur mit meinen Augen zu sehen fähig war. Was bleibt mir sonst übrig? Alles spricht dafür, dass ich von der geistigen Welt ausgeschlossen bin, im Esoterischen mich behaupten zu lernen. Ich sah nicht nur eine karmische Bestimmung darin, sondern auch eine Notwendigkeit, um Hochmut zu erfassen, und mich meiner Eitelkeit bewusst zu werden, dem ganz normalen Leben gegenüber. Denn ohne es wahrhaben zu wollen, stand ich dem schon viel höher gegenüber, als ich es mir hätte eingestehen können. Und eigentlich stelle ich fest, es geht gar nicht mehr darum, ob ich damit umzugehen verstehe, mit Alkohol und Nikotin. Nein! Sondern zu durchschauen, ob ich mich meinen Mitmenschen gegenüber besser machen will, trinke und rauche ich nicht. Morgen jedenfalls, und darauf freue ich mich, lese ich endlich wieder in Emil Bocks „Reisetagebücher“.
9 Uhr 54, 20.02.97: Ich weiß nicht, was passiert ist. Die Krankheit seit letzten Samstag, aus der ich noch nicht heraus bin, hat mir schwer zugesetzt. So zugesetzt, dass ich vermuten muss, eine geistige Macht hat sich in diesem Zustand meiner seelisch-körperlichen Schwäche meiner ermächtigt. Jedenfalls ist mein Kampfgeist gebrochen. Ich muss mich geschlagen geben. Als ich heute morgen aufwachte und noch liegen blieb im Fühlen des Bieres und der Zigaretten der letzten Nacht, nach fast zwei Jahren, meldete sich noch zusätzlich der Trieb, die Lust zur Onanie...
...als aber Carmen kam, und wir zusammen waren, ab 15 Uhr 21; über alles wieder wurde gesprochen, aber besonders konnte ich ihr bereits mitteilen, dass ich wohl wieder anfangen werde, zu rauchen und Bier zu trinken, was ja die letzte Nacht von mir umgesetzt wurde.
So im Bett liegend heute morgen, war es mir, als ob ich bereits konkret meinen demnächst in die Praxis übergehenden Abstieg sehe. Nicht noch einmal wird es so geschehen, dass ich, ohne das Leben zu kennen und ohne meinen eigenen Seelentrieb –ahnungslos durch Trieb und Alkohol und Zigaretten- am Leben zerschelle. Dieses mal wird es ganz bewusst zu beobachten sein. Ich kenne das Leben wie es in seiner Realität unveränderbar ist. Ich kenne die intimsten Forderungen meines Triebes, der unveränderbar ist. Ich füge mich. Ich kann nicht anders. Es geschah wie über Nacht: Ich habe keinen Kampfgeist mehr!
13.09.2000: Bis August 1997 befand ich mich in einer Art schwebendem Verfahren, das ich als solches selbstverständlich nicht durchschaute. Ständig drohte mir das Kippen der letzten 8 Jahre Selbsterziehung und Eigentherapie mit Heike und Carmen. War das ein Irrtum gewesen, daran zu glauben, mit anthroposophischen Methoden die Seele gründlich heilen zu können? Nach den in den Monaten April, Mai, Juni entstandenen „Spiegelbilder einer liebenden Seele“ zu beurteilen, sah es nicht so aus, obwohl ich mich die letzten 3 ½ Jahren in Tiefen des eigenen Abgrunds oft für verloren glaubte; dazu brachten mich schier an den Rand der Verzweiflung die vergeblichen Versuche, eine Beziehung zu führen. Das eine Mal von 1990 bis 1993, das andere Mal von 1994 bis 1997. Ich gab auf! Es war genug bis Juli 1997! Die Bereitschaft, mir in Selbsterkenntnis sämtliche Scheußlichkeiten über die eigene Person vorzuhalten, hatte meine letzten Kräfte gekostet und ich hielt mich endgültig für beziehungsunfähig, obwohl ich mich stets an diesen letzten Strohhalm geklammert hatte, dass die wahre Liebe eine reale Existenz sei, derer ich einmal teilhaftig werde. Diese Überzeugung verloren, stand mir ausgerechnet die moralische Versumpfung bevor, gegen die ich von Jugend an kämpfte. Aber jetzt sprach das Schicksal ein Wörtchen mit und führte R. Anfang August 1997 in mein Leben. Und ich fand, zwar ziemlich leidvoll, aber tief befreiend, heraus, meine Selbsterziehung weiterhin vorantreiben zu können, was hieß, dem Parasit in meinem Innenleben den Garaus zu machen, der mir –neben den eigenen Unvollkommenheiten, mit denen ich zur Genüge ausgelastet gewesen wäre- das Leben oft zur Hölle machte. Dieser Parasit, der mich durch Erziehung, traditionellen Ideen, gesellschaftlichen Vorstellungen etc. daran hinderte, selbstständig zu denken und zu fühlen und zu wollen. Dieser Parasit, der die Reinheit wahrhaftiger Sensibilität korrumpiert, damit diese Wahrheit uns nicht einleuchte, dass jede Beziehung, jede Freundschaft, jedes intime –geistige und/oder körperliche- Zusammenfinden von zwei Menschen unter einer eigenen karmischen Gesetzmäßigkeit steht, trotzdem jeder mit seinem Lebenslauf mannigfaltig verstrickt ist mit anderen und entgegen der anthroposophischen Geisteswissenschaft, die darüber aufklärt, dass die Reinkarnation von Menschen stets im menschlichen Bereich bleibe, viel lieber Seelenwanderungslehren, die Menschen in Tieren oder Pflanzen auf die Erde wieder kommen lassen, gehegt und gepflegt werden. Unweigerlich hätte mich diese Idee früher oder später unbemerkt von meiner Suche nach der Wahrheit abgebracht. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche, sehe ich heute die mich befremdenden Zeilen an, und die doch von mir her stammen vom 24.09.1990 (14 Uhr 48): Ich danke den Göttern, gerade jetzt, zum rechten Zeitpunkt, an genau diese geistigen Gesetze geführt worden zu sein. Weil: mein Innenleben ist in totaler Umwandlung, was jedoch noch sehr schmerzhaft in tiefstes Leid führen kann, in dieses gefühlstötende Selbstmitleid; und das nur mit innerster Anstrengung und Vertrauen fassen zur göttlich-geistigen Welt irgendwie zu bewältigen sein wird. Gott möge mir die Kraft geben, durchzustehen, durch zu halten, nicht den Halt zu verlieren, nicht vom Weg abzukommen in dieser so entsetzlich schweren und kaum erträglichen Innenlebensphase, wo es mir vorkommt, als streiten die guten und die bösen Mächte mitten in mir, in meinem Seelenleben. (13.09.2000: Hilfe war mir in jenen Tagen, dass ich an die Stelle eines Buches kam, in dem ich fand, dass sogar mein Lehrer, Rudolf Steiner, eine Zeit schwerster Seelennot durchmachte in den Jahren 1897 bis etwa 1899 in Berlin. Aus Fred Poeppig „Rudolf Steiner“, Seite 114: ...Auch Steiner musste diesen Abgrund in seiner vollen schaurigen Tiefe kennen lernen. Dass er ihn überwand, verdankte er dem in seinen Seelentiefen wirksamen Geistesstrom, der sich bereits durch ein rastlos dem Erkenntnisringen hingegebenes Leben so weit gestärkt hatte, dass er dem Abgrund nicht verfiel. Er hat diesen Strom als „moralische Phantasie“ bezeichnet, die unbewusst in der Seele die Stütze bildet, den Widersachermächten standzuhalten... und Seite 142: ...Steiner als „Alkoholiker“ auftritt, so muss man sich in das Milieu jener Jahre zurück versetzen, wo... Die Künstler vertrugen viel Alkohol, Steiner nicht..., Steiner versank in Depressionen. Das Leben schien seinen Sinn verloren zu haben. Um zu vergessen, mag er sich dem Alkohol hingegeben haben, vielleicht auch, um sein Seelenwesen stärker mit dem Leibe zu verbinden. Oft blieb er nachts fort. Nach einer in Verzweiflung zugebrachten Nacht, wo ihm zum Bewusstsein kam, welchen Einfluss der Alkohol auf das heutige Bewusstsein hat, trank er keinen Tropfen mehr. Wie in allen seinen Entscheidungen, war er auch hier radikal).
14.09.2000: Wieder einmal blieb mir auf meiner Suche nach dem: Erkenne dich selbst kein anderer Ausweg, als auf einen Erwachsenen zu hören. In der Erwartung, eine Enttäuschung zu erfahren, setzte ich mich mit Rudolf Steiners Schriften auseinander und las Bücher von Menschen, die direkt oder indirekt mit ihm zu tun oder sich mit ihm beschäftigt hatten. Es war so schön, so erhebend, darauf zu stoßen, dass es sich lohne, diesem Erwachsenen ganz mein Vertrauen zu schenken. Ja, ich erkannte einen Segen darin, vom Schicksal an diese außergewöhnliche Persönlichkeit herangeführt worden zu sein, die mir Einblicke gewährte in die Schöpfungsgeschichte, die mir seit meiner Kindheit an Hand der Bibel ein seelisches Bedürfnis war, verstehen zu mögen, wie auch: warum es das Böse auf der Welt gibt. Weder gewöhnliche, noch ausgezeichnete Menschen erteilten mir eine befriedigende Auskunft darüber. Nicht einmal Pastoren, die über Ewigkeit redeten, über Himmel und Hölle, über Gott und Teufel, und in ihrem „Wort zum Sonntag“, auf das ich im Elternhaus an den Samstagabenden gespannt wartete, viel über Tod und Erlösung. Und ergab sich die Gelegenheit, mich bei einem Prediger zu erkundigen, was uns nach dem Tod erwarte, wurde mir weis gemacht, dass das KEIN MENSCH wissen könne; 35 Jahre musste ich werden, um durch Rudolf Steiner mit dieser Behauptung eine der größten Lügengeschichten des 20. Jahrhunderts zu durchschauen. Dass sich eine unverantwortliche und anmaßende Unverschämtheit jeder herausnimmt, der angibt, kein Mensch könne wissen, was uns nach dem Tod erwarte. Sich das heraus zu nehmen, zu behaupten ist ungeheuerlich, da bereits vor dem 1. Weltkrieg die anthroposophische Geisteswissenschaft vorlag, deren Grund und Boden die Reinkarnation- und Karmalehre ist, und die bis in die jüngste Gegenwart herein die gebildete Welt im Großen und Ganzen ablehnt. Das ablehnt, was mir das Herz erwärmte und das Elend meiner Seele so weit bereits zu heilen vermochte, dass ich das Leben im allgemeinen annehmen konnte. Denn die Chance zu haben, Fehler gut zu machen, ist mir die größte Gnade und der erhabenste Liebesbeweis des Schöpfers an uns, mit dem Geschenk dieser Freiheit: dass jeder sich selbst gegenüber zur eigenen höchsten Instanz wird. Nicht Gott oder Jesus oder Christus oder sonstige Götter. Wir Menschen haben zu lernen, die Verantwortung zu übernehmen und gerade zu stehen für das, was wir untereinander anrichten; ob Schaden oder Segen bringend. Durch die Wiedergeburt regeln wir alles unter uns, ob das manchen passt oder nicht!
11. „Bei dir ist doch eine Schraube locker“
1935 kam meine Mutter auf die Welt. Wenige Jahre darauf wurde sie ins Kinderheim abgeschoben aus Gründen, die aufzuführen mir das Recht nicht zusteht. Zwischenzeitlich durfte sie nach Hause. Es war Krieg. Kinderreichtum, materielle Armut, unbeschreiblich geistiger Notstand eines seelenschadenden familienfeindlichen Umfeldes –der Vaterlandsverteidiger bald einer Frontverletzung erliegend, die Witwe kein Kind von Traurigkeit- lieferten meines Mutters Erziehungsberechtigung der staatlichen Gewalt aus, indem sie einige Kinderheime von Innen sah und meine Chance, geboren zu werden, gleich Null war, also schmuggelte ich mich ins Leben. Mit mir im 6. Monat schwanger zu sein, erfuhr meine Mutter, als sie 18 Jahre war; der Behörde einige Zeit erfolgreich aus den Maschen geschlüpft, lief sie, untergetaucht, für einige Tage meinem Erzeuger in die Arme. So brachte ich über sie, noch nicht volljährig und unverheiratet, Schande. Dem Bastard in Heidelberg das Leben geschenkt, blieb ich da in der Obhut von Schwestern einer Kinderpflegeabteilung. Zwei Jahre lang holte mich meine Mutter an den Wochenenden nach Ludwigshafen. Dann heiratete sie den ersten Besten, bekam mich ganz und ich erlebte eine typische Nachkriegsehe, in der der Mann seinen Wochenlohn die Kehle herunterkippte, im Vollrausch die Frau verprügelte und sich die sexuelle Befriedigung nahm, wann immer er wollte. Als Bedienung in einer Kneipe verdiente sich die junge Ehefrau die Haushaltskasse. Und nicht auf den Mund gefallen, war sie gern gesehen, was mit dem Ehegatten, in den eigenen vier Wänden, regelmäßig Eifersuchtsdramen herauf beschwor. Es gab Prügel, Vergewaltigung und Michael wurde geboren. Kugler trat auf und stand hinter ihr. Die Scheidung folgte. Und kaum war geheiratet trat das selbe Nachkriegsdilemma auf...
Ich war ein sich spät entwickelndes Kind im Laufen und in die Windeln machen. Mit dem Laufen klappte es irgendwann. Stubenrein wurde ich auch. Und wie! Bis etwa zur Einschulung konnte ich in weiß gekleidet werden; das geringste Stäubchen veranlasste mich, heulend zu Mama zu rennen um Säuberung flehend. Trotzdem: mit dem Sprechen haperte es. Dafür war ich vom Verständnis der Erwachsenen aus gesehen ein braves, stilles Kind, das Mutter, musste sie zum Friseur zum Beispiel, bedenkenlos in eine Ecke der Wohnung setzen konnte mit einer Illustrierte zur Beschäftigungstherapie. Kam sie später nach Hause, fand sie mich nicht von der Stelle gerührt vor und die Illustrierte war in kleine und kleinere und noch kleinere Fetzen zerpflückt. Natürlich wünschte man, mich endlich sprechen zu hören. Und mit einigen Lauten konnte ich ja dienen, von denen einer besonders beliebt war. Also tat ich ihnen den Gefallen. Und zur Belustigung aller antwortete ich auf die Frage: „Kind, wie heißt du?“ mit, „Rügaga!“. Die Gesellschaft hatte ihren Spaß, ich sonnte mich strahlend im Mittelpunkt des Gelächters und entwickelte mich zum Meister eines Stotterers; todunglücklich darüber, mich nicht mitteilen zu können und alles herunter zu schlucken, sogar den Ekel beim Fleischverzehr. Schließlich solle ich groß und stark werden. Mein Bruder hingegen war ein aufgewecktes, quirliges Kerlchen, das Kugler ebenso ins Herz geschlossen hatte, wie er mich ablehnte. Im Krieg zeugungsunfähig geworden, setzte er es sich in den Kopf, im Namen des Gesetzes Michaels Vater zu werden, und meine Mutter konnte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Indem es Michael zur Adoption nur im Doppelpack mit diesem Balg gab, der, ein Jahr zurückgestellt, mit 7 eingeschult wurde, stellte ein gemeinsamer Familienname -statt drei verschiedener- die Ehre meiner Mutter wieder her. Dazu kam, dass ich als ein sehr guter Schüler im ersten Schuljahr glänzte. Sogar Kugler war beeindruckt. Zum Stolz der Familie erklärt, wurde über meinen Kopf hinweg spekulativ ausgeklügelt, was ich alles werden könne. Einem Erdrutsch gleich, gelang mir im folgenden Schuljahr das genaue Gegenteil. Kugler wurde bestätigt darin, dass ich blöd sei, während die seit kurzem wieder arbeitende Mutter im Straßenbahnverkehr beim Hausaufgaben mit mir machen jedes mal knapp dem Wahnsinn entkam. Und manchmal rutschte ihr sogar die Hand aus, verstand ich nicht einmal das, was Bekloppte verstünden. Ich fiel in ihrer Gunst, litt und war –ging es um diesen neuen Mann, von dem Kugler erst nichts wusste, dann ahnte- dankbar, durfte ich für sie lügen, was ich lernte, für die eigenen Zwecke zu nutzen, besonders, wenn ich mal wieder mit Manfred Anslinger, meinem Klassenfreund, die Schule geschwänzt hatte. Zum Lügen kam das Stehlen. Es waren bloß Pfennigbeträge, die ich hin und wieder aus Mutters Geldbörse nahm, dessen Inhalt ihr vertraut war; wen wunderst, so arm wie wir waren. Stellte sie mich zur Rede, stritt ich stotternd und rot werdend alles ab.
„Nie wieder lasse ich mich von einem Mann schlagen!“, schwor Mutter hoch und heilig nach der Scheidung mit Kugler und fand mit meinem nächsten Vater, einem Gastarbeiter aus Jugoslawien, die große Liebe ihres Lebens. Und wirklich! Bis heute, mit ihm alt geworden, war es vorbei mit solchen Szenen, die aus meiner Kindheit einen Höllentrip machten, weil, nachts aus dem Schlaf gerissen, die Mutter nebenan ihr blaues Wunder erlebte. Kugler brüllte, niederträchtig beschimpfend. Die Mutter flehte wimmernd, er möge um Gottes willen der Kinder zuliebe aufhören. Mir, unter der Bettdecke verkrochen, tat jeder Hieb weh, der niederprallend Mutter nach Hilfe schreien ließ. Und grün und blau geschlagen, erregte sie tagelang allgemeines Mitleid, das mich der Angst aussetzte, selbst mal an der Reihe sein zu können. Das war überstanden! Aus einer 4 köpfigen Familie wurde eine 7 köpfige. Und heraus gekommen aus dem grauen Hinterhofsviertel Hemshof, landeten wir in einer sozial begünstigten Neubausiedlung, umgeben mit Rasenflächen, Grünanlagen, Spielplätzen, Parks in der Nähe zum Spazieren gehen. Ich hörte auf zu lügen und zu klauen; mit zwei, drei Rückfällen. Umso mehr las ich, liebte den Aufenthalt in der Bücherhalle, schrieb vom Guten, das sich im Kampf mit dem Bösen zu stellen habe in Gedichten, Märchen, die meine einzige Freundin, Michaela Klasen, wieder und wieder erzählt haben wollte, und Schauergeschichten, was Zündstoff bot der Familie, die von einem Dachschaden im Oberstübchen bei mir ausging. Zum Beweis dafür, blieben meine Noten mittelmäßig, die aber ausreichten, mich von einer Klasse in die nächste zu schleusen. Schwarz sah man für meine Zukunft. Überhaupt taugte ich nur dazu, die kleinen Geschwister zu hüten, mit ihnen zu spielen, zu toben, zu basteln. Und außer meine Brieffreundschaft mit Michael, die mich für vieles entschädigte, suchte keiner aus der Nachbarschaft eine freundschaftliche Nähe zu mir. Meinem Ruf, einen Sprung in der Schüssel zu haben, machte ich unbewusst alle Ehre, indem ich mich zum Suppenkasper machte während Spielen im Freiem mit Nachbarschaftskinder, im Freischwimmbad, beim Singen, bis zu meinem Stimmbruch, im Gesangsverein, auf Klassenfahrten, im Klassenzimmer, im Schulhof. Aber immer, wenn nach Schulschluss beim Haupteingang einige warteten, die meinten, mich verprügeln zu müssen, gelang es mir, weiß der Kuckuck wie, mich zu verdünnisieren, selbst wenn ein von mir entdeckter Schlupfwinkel ausfindig gemacht worden war, fand ich einen neuen; kriegten sie mich trotzdem in ihre Finger, wand ich meinen alten Trick aus dem Hemshof an. Auf dem Boden zusammen gekrümmt, die Arme über den Kopf gepresst und so das Gesicht geschützt, wurde ich zu einem erflehenden Etwas, das in „Weh“ und „Ach“ heulend um Gnade winselte. Und verzogen sich die Gegner im Glauben, es mir ordentlich gegeben zu haben, war ich auf meine schauspielerische Leistung stolz wie Nachbars Lumpi. Die letzten beiden Jahre kam unsere Klasse in eine andere Schule und ich hatte Ruhe vor diesen Prügelknaben; bis zu jenem, von dem zu erst kein Entkommen war, und der im „Schönblick“ auf mich wartete, in einem mir vom Arbeitsamt vermittelten Restaurantbetrieb zur Kochausbildung. Mein 3. und letzter Lehrbetrieb war das „Europahotel“ in Ludwigshafen, das mir, in Anrechnung der 1 ½ Jahren im „Schönblick“ und „Kurhotel Bareiss“, den Abschluss meines Berufs ermöglichte. Hier war ich oft glücklich, bis zu diesem neuem Küchenchef, der ein dreiviertel Jahr später den alten ablöste. Nun kam es ganz dick! Und einmal –ab dem 18. Lebensjahr stand ich auf der Arbeit in aller Zukunft offen zu meiner Veranlagung - aus lauter Jux und Tollerei mir von Claudia die Haare färben gelassen, rastete mein Küchenchef total aus, putzte mich vor versammelter Mannschaft runter und erklärte, „Beim Adolf hat’s das nicht gegeben“ und dass so was wie ich vergast worden wäre. Kummer gewohnt, dass Küchenchefs mich gern auf dem Kicker hatten, reizte dieser mich, zu lernen, Kontra zu geben. Und getreu dem Wort: wie es in den Wald ruft, so schalt es heraus, gewöhnte ich mir ein freches Mundwerk an; schlotterten mir die Knie auch noch so sehr. Im verbalen mich zu wehren -eine Ausdrucksweise ab unterhalb der Gürtellinie mochte ich nicht leiden-, musste ich mich davor hüten, zu weit zu gehen, aus Furcht vor körperlicher Gewalt; kam es nämlich dazu, zog ich, konvulsivischen Zuckungen meines Leibes ausgeliefert, den kürzeren. Hauptsächlich daran erkrankte meine Seele, keine geistvollen Gespräche führen zu können. Ich hätte gerne, doch in meinem Umfeld legte niemand Wert darauf. Unglücklich, konnte ich kaum mehr lesen, noch weniger schreiben, wurde hyperaktiv und gewöhnte mir an, fühlte ich mich unbeobachtet, laut vor mich her, Frust abbauend, zu schimpfen wie ein Rohrspatz. In Gesellschaft anderer redete ich viel Unsinn daher und wurde –immer mehr verunsichert- ein Schussel, der, ständig am Fuchteln, alles mögliche auf Tischen umstieß, darunter Flaschen und Gläser, deren ausgelehrte Inhalte den Unmut Anwesender meistens auf die Palme brachte. Bis zum 21. Lebensjahr war ich so weit, meinem Küchenchef vom „Zum goldenen Stern“, Herrn Metthews, insgeheim Recht zu geben, dass, redete er mir eine Woche lang ein, nichts weiter als ein Stück Holz zu sein, ich eines Morgens tatsächlich vorm Spiegel stünde und sagte: „Stimmt! Ich bin bloß ein Stück Holz.“ Aber dieser Küchenchef war wenigstens eine Seele von Mensch. Dem Motto nach: Sie stritten und versöhnten sich, warfen wir uns zwar verbal alles mögliche an den Kopf, doch zufrieden mit meiner Leistung, hielt er mir die Stange, wagte es ein anderer, mich zu beleidigen. Beim Bund bald darauf, fehlte mir ein gewisser notwendiger Ernst. Bereits nach Tagen war ich der Troddel der Kompanie. Die kreischenden, brüllenden Vorgesetzen, vom „Rotarsch“ bis zum Hauptmann im Kasernendasein, die Disziplin beim Grüßen, Stillstehen, Antreten, Marschieren, die Schießübungen auf freiem Felde, die Tarnbelehrungen auf Wald und Flur kamen mir kindisch vor. Ich schien auf einem Spielplatz zu sein für große Kinder, die leidenschaftlich gerne Krieg spielten. Gott sei Dank hatte ich Narrenfreiheit („Wenn ihr nicht rechtzeitig die Gasmaske bei Lachgas aufsetzt, werdet ihr wie Schütze Kugler“, erklärte unser Obergefreiter beim Belehren verschiedener Gase). Verweise und Strafandrohungen von Vorgesetzten prallten an mir ab; unfähig, Achtung und Respekt vor ihnen zu haben. Von Krieg –und sei’s bloß im Spiel- hielt ich nichts, was dazu führte, bloß ein dreiviertel Jahr dazu zu gehören. Für mich kam das Gute dabei heraus, Lutz kennen zu lernen. Einer Freundschaft zwischen uns stand nichts im Wege. Schon gar nicht meine Homosexualität. Meinen Wert schätzte er bei stundenlangen Gesprächen in Glück und Leid, und sein Freundeskreis akzeptierte mich wie ich war. Sogar seine Mutter suchte immer wieder einen kurzen Wortwechsel mit mir. Endlich! Nach 5 Jahren ein Umfeld, wo ich frei sprechen konnte über Gott und die Welt. Ein Jahr später kam Wolfgang dazu und Monate danach durfte ich außergewöhnlich Detlef lieben; eine mir vom Schicksal gewährte kurze Atempause zum Kräfte tanken, die nach 11 Jahren vollständig verbraucht waren, denn da war schon was Wahres dran, dass mich Arbeitskollegen, privat Bekannte und Freunde, Verwandte aus Ludwigshafen zum Traumtänzer abstempelten. Ihr Urteil stand fest! Und das, noch bevor ich den Kinderschuhen entwachsen war: „Bei dir ist doch eine Schraube locker“. Aber das sahen die Schicksalsmächte ganz anders. Aus guten Gründen –die für den gewöhnlich sterbenden Menschen auf Erden im Verborgenen liegen- unterstützten sie meinen Werdegang und hielten schützend ihre geistigen Hände über mich, um keinem eine Veranlassung zu ermöglichen, mich in die Klapsmühle zu stecken, denn in meinen Sternen stand geschrieben das werdende Heranreifen zur Vollmündigkeit, wozu mit meiner Geburt ein mehrstufiges Konzept ausgearbeitet wurde, aus dem heraus mich 1979 Detlef verließ, weil ich so weit war: LABIL! Eine Diagnose, die mir persönlich heute zuzugeben nur im Rückblick möglich ist. Und deshalb konnte ich mit dem Vorwurf der mir damals liebsten Menschen: auf dem sozialen Abstieg zu sein, nichts anfangen. Mit dem, dass ich nicht ganz dicht sei, eher. Doch das Vertrauen zu meinem inneren Schicksalsgefüge war stärker. Demnach nahm ich in Kauf, die bisherigen Freunde zu verlieren, die mich davon überzeugen wollten, nie ein Buch schreiben zu können, gäbe ich mich mit einem solchen Umgang von Menschen ab, die weit unter meinem Niveau stünden, die allerdings in letzter Konsequenz meine Rettung waren. Aus der katastrophalen seelischen Gestörtheit heraus sollte ich in die Möglichkeit geführt werden, mich menschlich neu aufzurichten. In meinem Fall hieß das: noch einmal ganz von unten anzufangen. Daher machte ich, in erst sporadisch großen Abständen, die mit der Zeit immer geringer wurden, schon 1975, noch in Ludwigshafen und Mannheim, oberflächliche Erfahrungen mit dem türkischen Menschenschlag. Ab dem Sommer 1985, nach Bokelrehm, im Siedepunkt angelangt, mussten weitere 12 Jahre übers Land ziehen, bis ich dieses Volkswesen nicht bloß dem Verstande nach, sondern vom Herzen aus lieb gewinnen konnte.
EPILOG
(Vom 22.09.2000)
Die Mutter war deutscher, der Vater jüdischer
Herkunft. „Ihr Kleines“ war ein Wunschkind und das
einzige einer großen Liebe, in der es gütevoll erzogen
und 9 Jahre wurde, als 1933 die Naziherrschaft in
Terror die Macht an sich riss. Zu einer Waisen
geworden, kam „die Kleine“ in der Familie
mütterlicherseits unter, wo sie nur noch wenig zu
lachen hatte, die folgenden Jahre schwer erziehbar
war, und man sie 1939 mittels des Euthanasie-
Programm Hitlers der Irrenanstalt übergab.
Nach Kriegsende, geistig gebrochen, auf die Strasse
gesetzt, irrte sie tagelang durch Schutt und Asche.
Das einst volle schöne schwarze Haar geschoren,
wuchs strähnig und schütter nach. Hier und da
bekam sie einen Bissen Brot, den sie kaum herunter
bekam, denn von den Zähnen waren nur wenige
übrig geblieben. Für gereichtes Wasser musste „die
Kleine“ die Hände aufhalten. Aus Furcht sich an
diesem leichenblassen, körperlich aufgedunsenen,
stummen Etwas anzustecken, vermied man das
Geben des eigenen Trinkgefäßes. Ansonsten mochte
niemand lange in diese Augen sehen, aus denen eine
Welt sprach, die das Gegenüber schauerte.
Gerade mal 21 geworden, stürzte sich „die Kleine“ in
den Tod und fiel durch eine lange Finsternis. 30 Jahre
wäre sie 1954 geworden, als sie in dem Jahr am
19.02. als Bastard Wiedergeboren wurde und den
Namen Rüdiger Siegfried Amann bekam.
Des Schleiers Spalt weite Lüftung
von
„Die späte Antwort Gottes“
Mein Schicksalsweg zur Anthroposophie war unausweichlich; nur so konnte es zu meiner vorliegenden Arbeit: „und noch ein Mysteriendrama“ kommen.
16 Monate insgesamt reifte (unerwartet) die Erkenntnis meines vorherigen Erdenlebens in meiner Seele. Zur Gewissheit wurde sie schließlich klar und eindeutig, während der Arbeit an dem nun vorliegenden Buch. Auf eine sehr schöne Weise durfte ich beim Überblick meines gegenwärtigen Daseins (beinahe ein ½ Jahrhundert) einen Einblick haben, wie vortrefflich Karma wirkt im persönlichen unmittelbaren Umfeld. Und da ich als ein leiser, stiller Mensch beim Schriftstellerischen gern in versöhnlichem positivem Stil schreibe, konnte mich der Gesamt-Eindruck meiner letzten (eigentlich regulären) Inkarnation vor der jetzigen nicht aus der Bahn werfen; speziell nicht die folgenden seelisch durchstürmten Tagen und Nächten nach dem definitiv sicheren unumstößlichen Einblick am Morgen des 22.09.2000 in die letzte Inkarnation, die meine gegenwärtige Zwischeninkarnation bestimmte; also fand ich mich wieder in meinen ganz normalen Alltag ein. Vermutlich bewahrte ein gnädiger Schutzgeist mich vor Details (mit wenigen wohl auszuhaltenden Ausnahmen), bedenke ich die Gefahren, vor denen ich bestimmt noch nicht ganz gefeit bin. So erfuhr ich aus der geistigen Welt, was mir mein jetziges Dasein plausibel machte und mich geistig und seelisch stärkte; doch denke ich, dass dies nicht geschah, um persönliche Eitelkeit zu nähren; vielmehr liegt die Vermutung nahe, dass andere, die auf ähnlicher Suche nach Lösungen ihres Schicksals sind, davon hören möchten, dass man Schritt für Schritt wirklich an die Wahrheit geführt wird, ist die Überzeugung von den wiederholten Erdenleben eine grundliegende in Geist und Seele.
Rüdiger Siegfried Kugler, geborener Amann
(Einige Monate, als Carmen mir die Freundschaft gekündigt hatte, kamen wir wieder zusammen. Unsere Freundschaft nahmen wir ganz neu an -mit Heike war ich seit einigen Wochen endgültig auseinander. Und wir gingen einen Weg, der uns bis heute dahin geführt hat, dass sie meine beste Freundin ist und ich ihr bester Freund. Und wir haben beide festen Boden unter den Füßen im Denken und Leben einer anthroposophischen Weltanschauung mitten im gewöhnlichen Alltag. Sie in dem ihren, ich in dem meinen)!
Tag der Veröffentlichung: 13.11.2011
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