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Vom Leben, Dichten und Vergessenwerden

Eine anstrengende Reise liegt hinter mir: Ich bin nach Berlin ins Jahr 1928 gereist. Da stehe ich auf dem Kurfürstendamm und beobachte das rege Treiben. Vorbei am Ku'damm 27. Hier wirbt Kempinski für sein zweistöckiges Weinrestaurant, in dem es zum halben Preis halbe Portionen anbietet. Das Haus Nummer 66 beinhaltet eine Mercedes-Filiale des berühmten Rennfahrers Caracciola. Das bekannte Wäschehaus Grünfeld präsentiert sich hier in seiner Filiale mit gläsernem Aufzug. Das später berühmte „Café Kranzler“ gibt es noch nicht; dafür aber befinden sich in den Erdgeschossen der Miethäuser Cafés, Restaurants, Geschäfte, Kinos und Theater. Hier pulsiert das Leben, Frauen sitzen zigaretterauchend mit Bubikopf in der Öffentlichkeit; das wird von Gestrigen auch gerne als dekadent, unmoralisch, ja undeutsch, empfunden. Aber die Zeit lässt sich nicht aufhalten. Und hier auf dem Ku'damm ist man ihr immer einen Schritt voraus; man gibt sich modern und international, originell, avantgardistisch, erotisch und geistvoll. Man ist *up to date*, wie es zu dieser Zeit genannt wird. Und anders als üblich in elitären Wohngegenden, tummelt sich hier auch das Volk. Es darf sich nicht nur an den pompösen Schaufensterauslagen die Nasen platt drücken, sondern sitzt auch neben der feinen Herrschaft im Kaffeehaus und atmet für wenige Momente den Hauch von Vornehmheit und Luxus ein. Der Berliner Journalist Hardy Worm spottet darüber: „Der Kurfürstendamm ist das, was der Berliner ‚feine Jejend’ nennt. Wo Regierungsräte, Hochstapler, Bankdirektoren, Schieber, Schauspielerinnen und Kokotten wohnen; derjenige, der am Kurfürstendamm haust, und sei es auch nur im Gartenhaus vier Treppen hoch, gilt als feiner Mensch, als gutsituierter Mensch. Und wenn er einen telefonischen Nebenanschluss hat, ist er ein kreditfähiger Mensch. Für Leute, die vorwärtskommen wollen, ist es also notwendig, am Kurfürstendamm zu wohnen. Zumindest aber in Berlin W.“

 

Flanieren auf dem Kurfürstendamm. Links von mir steht die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, die nicht als sakraler Bau errichtet wurde, sondern vielmehr der Repräsentation kaiserlicher Macht dienen sollte. Sie wurde auf ausdrücklichen Wunsch von Kaiser Wilhelm II. zusammen mit den beiden Romanischen Häusern und den Ausstellungshallen am Zoo als „Romanisches Forum“ entworfen. Die Wünsche der Herrscher werden in Stein gemeißelt – das ist zu allen Zeiten so. Einige dieser steinernen Herrscher-Begehren überdauern die Zeit – dieser hier wird nur zirka 48 Jahre später nach seiner Errichtung durch den entfachten Welten-Wahnsinn eines Führers in einer Nacht zerstört. So werden aus Repräsentationsbauten Mahnmale.

 

Ich laufe weiter Richtung Osten und erreiche nun, schräg gegenüber der Kirche, mein eigentliches Ziel: das Zweite romanische Haus. Dort direkt am Auguste-Viktoria-Platz zwischen Tauentzienstraße und Budapester Straße befindet sich im Erdgeschoss dieses Wohnhauses das „Romanische Café“.

 

Der Publizist Walther Kiaulehn schreibt dazu: „Die Tradition des ‚Romanischen’ wurzelte im alten ‚Café des Westens’ am Kurfürstendamm, von den Bürgern ‚Café Größenwahn’ genannt. Der Besitzer hatte eines Tages den Spottnamen satt und kündigte Malern und Schriftstellern ihr Stammquartier, und so zogen sie ins ‚Romanische’ um, in das bis dahin überhaupt kein Mensch gegangen war.“

 

Da steht es vor mir! Das prächtig wirkende 1899 im neoromanischen Stil fertiggestellte Gebäude, welches dominiert wird durch zwei, links und rechts befindliche, turmartige Eckbauten mit Pyramidendächern. Ein Runderker befindet sich in der Mitte der Hauptfront. Zier des Giebels, wie könnte es anders sein, ist der Reichsadler.

 

Ich betrete das Kaffeehaus, welches seit zwölf Jahren das „Romanische Café“ heißt. Ein Herr mit blütenweißer Schürze, weißem Hemd, steifer Fliege kommt auf mich zu. Sein Haar glänzt von der Pomade und sitzt perfekt. Obwohl der Oberkellner ganz nonchalant ist, macht er in mir sofort den hier Fremden, den Gewöhnlichen aus; deshalb geleitet er mich in den vorderen rechteckigen Raum und platziert mich im sogenannten ‚Nichtschwimmerbassin’. Ich setze mich an einen der etwa siebzig dort stehenden Marmortische, entdecke die mächtige Säule im Raum und die hohe Fensterfront – und bin ein wenig enttäuscht über das lieblose und düster wirkende Lokal. Der Ober fragt mich: “Was darf es sein, der Herr?“ Während der distanzierte Ober meine Bestellung entgegen nimmt, wird er von einem der Gäste gerufen: „Eduarr...!“. Der Ober wendet seinen Blick zum rufenden Gast und eilt zu einem Gewölbe mit etwa zwanzig Tischen, dem ‚Bassin für Schwimmer’. Da sitzen sie - die Stammgäste: die bereits erfolgreichen Schriftsteller, Maler, Schauspieler, Regisseure, Journalisten, Kritiker, Mäzene und Verleger. Hier ist der Marktplatz, auf dem jeder versucht, sein geistiges Gut gegen Veröffentlichung, Ausstellung, Anstellung, und damit gegen Geld einzutauschen.

 

Erich Kästner beschreibt die Atmosphäre in der *Neue[n] Leipziger Zeitung* April 1928 u.a. so: „Das Romanische Café ist der Wartesaal der Talente. Es gibt Leute, die hier seit zwanzig Jahren, Tag für Tag, aufs Talent warten. Sie beherrschen, wenn nichts sonst, so doch die Kunst des Wartens in verblüffendem Maße. (...) Es ist ein infernalisches Gewirr von Charakterköpfen und solchen, die es sein wollen. Der erste Eindruck, den man hat: Haare, Mähnen, Locken, die bedeutend ins Gesicht fallen. Der zweite Eindruck: Wie oft wird hier die Leibwäsche gewechselt? Dieser zweite Eindruck ist vielleicht in vielen Fällen unberechtigt. Aber nichts ist ja bezeichnender für das Gesehene, dass man ihn trotzdem hat .(...) Jeder kennt jeden. Man begrüßt sich jovial oder - eine andere Methode - nur ganz nebenbei, um das Gehirn nicht beim Dichten und Denken zu unterbrechen. Man setzt sich von einem Tisch zum anderen; erstens, um sich Klatsch zu erzählen, und zuweilen zweitens, um dem Kellner, der Bestellungen entgegennimmt, zu erklären, man sitze nur en passant hier. Man borgt sich erfolglos an. Man liest Berge von Zeitungen. Man wartet, dass das Glück hinter den Stuhl tritt und sagt: ‚Mein Herr, Sie sind engagiert!’

Man wartet. Inzwischen vertreibt man sich die Zeit. (...)

Kann man sich, nach der bisherigen Beschreibung, ein ungefähres Bild vom ‚Romanischen’ machen, wenn noch hinzugefügt wird, dass es auch das ‚Rachmonische’ genannt wird und dass außer den skizzierten Typen Artisten, Tanzmusiker, Boxer und Neger herumsitzen?“

 

An einem der Tische im ‚Schwimmerbassin’ sitzt Bertolt Brecht. Soeben hatte seine „Dreigroschenoper“ ihre Uraufführung im „Theater am Schiffbauerdamm“. Diese Oper ist ein Novum und sorgt für Aufsehen, denn plötzlich stehen Dirnen und Bettler als Protagonisten auf der Bühne. Hierher kommt Brecht oft mit seinem Freund Arnolt Bronnen. Beide mit der Stadtbahn – Bronnen, der ein Monokel trägt, selbstverständlich erster Klasse, Brecht, der (noch) ein armer Poet ist, zweiter Klasse. Auf dem Bahnsteig am Wittenbergplatz treffen sie wieder zusammen, um gemeinsam hier Erbsensuppe zu speisen – Bronnen ohne, Brecht mit Speck.

 

*Eduarr* hat mir eine Tasse Bohnenkaffee serviert, die ich nun genüsslich trinke, während ich die Gäste an den Nebentischen, aber vor allem die ‚Schwimmer’ beobachte. Es wird diskutiert, lamentiert, gelacht, gestritten, philosophiert ... Der eine oder andere sitzt abseits und notiert etwas auf Papier; das neueste Feuilleton macht die Runde und wird wohlwollend oder abschätzend kommentiert. Neue Sachlichkeit trifft Expressionismus, die Dadaisten contra die Impressionisten, Kubismus und Konstruktivismus widerstreiten ... Hier wird Kunst und Geist gelebt!

 

Als ich das „Romanische Café“ verlasse, steht *Eduarr* lässig am Seiteneingang und raucht eine Zigarette.

Ich spreche ihn mit meinem freundlichsten Reporter-Ton an: „Hallo, Herr *Eduarr*! Bei soviel Betrieb ist eine kleine Pause notwenig, oder?“

„Ja“, sagt *Eduarr* , „aba Sie können mir Willy nennen ...“

Stirnerunzelnd sehe ich ihn an.

„Na ja ...“, führt er aus, „*Eduarr* ist mein Künstlername, soßusarjen ... Ick heiße Willy ... eijentlich Wilhelm, wie unser Kaiser ...“

„Verständlich“, sage ich, „dass man in einem Künstlercafé als Bedienung einen Künstlernamen trägt ...“

„Bedienung?! Woll’Se mir beleidijen? Ick bin keene Bedienung, ick bin, wat man ßu jut deutsch *jute alte Schule* nennt. Ick war schon hier, bevor der Bruno Fiering 'n Kaffeehaus für die Künstlers jemacht hat; ick sach’ nur „Hotel Kaiserhof“, wenn’Se versteh’n, wat ick meene?“

„Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht ...“, antworte ich.

„Mensch „Hotel Kaiserhof“! Dit is’ det erste Luxushotel in Berlin jewesen ... Und da ha’ick jelernt ... Da bin ick besonders stolz drauf, weil ick eijentlich aus’m Prenzlauer Kiez komme, Arbeeterviertel, versteh’n’Se?. Aber der alte Mohringer, der stadtbeste Oberkellner, hat mir als Lehrling jenommen ... Harte, aber jute Schule ... Nach der Lehre bin ick dann hierher in die Konditorei vom „Hotel Kaiserhof“ und jetze bin ick *Eduarr*! Weeste?! ... So, nun muss ick aba wieder ßu meene Jäste, wa ...“

„Klar! Danke für unser kurzes Gespräch, Willy!“, sage ich noch schnell, während Willy als *Eduarr*, ganz contenance, zur Arbeit schreitet.

 

Auf meiner Rückreise ins Jahr 2012 notiere ich noch das: Die goldenen zwanziger Jahre enden, wie so vieles, mit dem Machtantritt der Nazis 1933. Die meisten Stammgäste des „Romanischen Cafés“ emigrieren, und wer nicht ins Ausland flieht, wird mit innerer Emigration versuchen, die braune Zeit zu überstehen. Der deutsche Schriftsteller Wolfgang Koeppen schreibt zum Verfall des Cafés nach 1933: „Wir sahen die Terrasse und das Kaffeehaus weggehen, verschwinden mit seiner Geistesfracht … und die Gäste des Cafés zerstreuten sich in alle Welt oder wurden gefangen oder wurden getötet oder brachten sich um oder duckten sich und saßen noch im Café bei mäßiger Lektüre und schämten sich der geduldeten Presse und des großen Verrats.“

Bleibt mir noch anzumerken: Das Gebäude des Zweiten romanischen Hauses, in dem sich das legendäre Café befand, wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. An dieser Stelle befindet sich heute das Europa-Center. Der nunmehr Wissende wird bei seinem nächsten Berlin-Besuch diese Gegend wohl anders betrachten? Und so werden auch die Vergessenen nicht vergessen.

 

Quellenangaben

 

 

http://www.berlin.de/ba-charlottenburg-wilmersdorf/bezirk/lexikon/geschichtekudamm.html#3

 

http://www.berlin.de/ba-charlottenburg-wilmersdorf/bezirk/lexikon/romanischehaeuser.html

 

http://de.wikipedia.org/wiki/Romanisches_Caf%C3%A9

 

http://www.zlb.de/projekte/kaestner/adressen/romanisches.htm

 

André Müller, Gerd Semmer, Geschichten vom Herrn B., Gesammelte Brecht-Anekdoten, Reclam 1980, S. 9

Impressum

Texte: Signe Winter
Bildmaterialien: https://www.google.de/search?q=romanische+cafe+berlin&tbm=isch&tbo=u&source=univ&sa=X&ved=0ahUKEwiqmt-P36baAhVJKFAKHd6GDEoQsAQIQA&biw=1366&bih=651#imgrc=CesRk5X15z9rsM:
Lektorat: Signe Winter
Tag der Veröffentlichung: 07.04.2018

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