Der kleine Mann stand traurig und verloren in einem großen, vornehm eingerichteten Büro vor dem Spiegel und betrachtete voller Abscheu sein Spiegelbild. Konnte es wahr sein? Er war doch immer stolz auf sein gepflegtes Äußeres gewesen, seine stattliche Figur und die vollen Haare, die ihm mit den wenigen grauen Strähnen das Image eines mächtigen, glanzvollen Gentlemans in den besten Jahren verliehen hatte.
Die jämmerliche Gestalt, die ihm aus dem Spiegel mit Abscheu entgegensah, hatte nichts von dieser Ausstrahlung.
Fassungslos starrte er auf die kahle Platte auf dem Kopf, die plumpen Gliedmaßen und den unförmigen Bauch, der sein weißes Hemd weit nach vorne wölbte. Der teure Anzug war ihm viel zu groß, und er musste die Hose festhalten, damit sie nicht herunterrutschte.
Wie konnte das nur geschehen? Was war mit ihm passiert? Und warum?
Auf dem Schreibtisch stand eine Vase mit Blumen. Am liebsten hätte er sie ergriffen und mit voller Wucht an die Wand geschleudert. Stattdessen beugte er sich über den Tisch und sog den Duft der Rosen in seine Nase. Wieviel Schönheit und Anmut doch in diesen makellosen Blumen zu sehen war und welch skurrilen Kontrast zu seinem deformierten Körper sie darstellten.
Er nahm eine Rose aus der Vase, hielt sie in der Hand, als könnte er sich an ihrer Schönheit festhalten, und begann hemmungslos zu schluchzen.
Ilonka war wieder einmal in Schwierigkeiten. Sie war keine schlechte Schülerin, im Gegenteil. Sie war clever und das Lernen fiel ihr nicht schwer. Meistens waren es die anderen Schülerinnen, die vor der Unterrichtsstunde noch schnell ihre Hausaufgaben abschrieben.
Aber dieses Mal waren die Aufgaben in Geschichte nur ätzend gewesen.
Eine Weile hatte sie über das Leben im Mittelalter gegrübelt, versucht die blödsinnigen Fragen zu beantworten und hatte dann stattdessen einen kurzen Aufsatz darüber geschrieben, warum sie es einfach sch... dämlich fand, dass Frauen im Mittelalter keine Rechte hatten, in die Ehe mit irgendeinem Kerl gezwungen wurden und im schlimmsten Fall als Hexe verbrannt wurden, wenn sie ihre Meinung laut und deutlich sagten.
Das Wort, das mit 'sch' begann, hatte sie dick und fett durchgestrichen. Ihre Lehrerin Frau Thalmann hätte sie nur zur Primakova ins Rektorat geschickt und sie hätte wieder eine Strafarbeit aufgehalst bekommen.
"Ilonka Schneider", sprach sie die Lehrerin an, "hast du das Thema nicht verstanden oder wolltest du uns mutwillig zeigen, wie wenig dich das Thema interessiert?"
"Ich hab das Thema gut verstanden", antwortete Ilonka trotzig, "das Leben im Mittelalter war zum Kotzen für die meisten Menschen. Und für die Frauen war es besonders..."
"Schweig!" fauchte die Lehrerin sie an, "Abmarsch ins Rektorat! Dein rebellisches Benehmen werden wir dir schon noch austreiben!"
* * *
Wenig später saß sie in einem kleinen Raum auf einem harten Stuhl und starrte auf die kahle Wand. Strafarrest war eine gemeine Bestrafung und sie schaffte es immer wieder, in dem kahlen Raum zu landen, auch wenn sie sich die größte Mühe gab, sich zu benehmen.
Recht haben und den eigenen Standpunkt vertreten war offensichtlich nicht sehr hilfreich in dieser grässlichen Einrichtung.
Es war nicht das erste Mal, und sie wollte sich ja auch bessern und eine artige Schülerin sein. Die Chance, das Kinderheim verlassen zu dürfen, erschien ihr viel höher, wenn sie mit guten Noten in ihrem Zeugnis punkten konnte.
Fast noch schlimmer war, dass sie die Biologie-Stunde verpasste. Die Mendelschen Vererbungsregeln faszinierten sie ungeheuer. Es interessierte sie brennend, wie groß der Einfluss der Gene war, die sie von ihren Eltern geerbt hatte. Welche Eigenschaften hatte sie von ihnen wohl mitbekommen und was war das Ergebnis ihrer verkorksten Erziehung hier in der Anstalt?
Wieder einmal dachte sie an die Eltern, die sie niemals gekannt hatte. Waren sie bei einem Unfall ums Leben gekommen? Hatten sie ihre Tochter nicht gewollt und sie einfach im Waisenhaus abgegeben? Würden sie eines Tages kommen und sie abholen?
Sie seufzte. Alle Kinder in 'Hoffnungstal' hatten diese Illusion in ihrem Kopf. Es war ein kleiner Funke Hoffnung, der sie am Leben hielt und Mut zum Durchhalten schenkte, auch wenn die Chancen gering waren, dass der Wunschtraum in Erfüllung ging.
Ilonka hörte einen Schlüssel in der Tür. Ob sie schon raus durfte? Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Hier herumzusitzen war so schrecklich öde und es blieben ihr nur ihre Gedanken, um sich zu beschäftigen. Selbst ein Mathebuch wäre eine willkommene Lektüre gewesen.
"Deine Medizin", sagte die Lehrerin, die ihr den Becher mit der klaren Flüssigkeit reichte. Seit sie sich erinnern konnte, musste sie das Medikament einmal
im Monat schlucken. Es machte ihr nichts aus, es schmeckte wie Leitungswasser.
Sie leerte den Becher in einem Zug, denn die Lehrerin sah ihr zu und versicherte sich, dass sie die Arznei auch tatsächlich einnahm. Die Chance, den Inhalt des Bechers ins Waschbecken zu kippen oder damit die Blumen zu gießen war gleich Null.
Inzwischen erinnerte sie sich nicht einmal mehr, wozu sie das Zeug ständig einnehmen musste. Dazu die ganzen medizinischen Tests und Untersuchungen, die schrecklich nervten.
Offensichtlich war sie krank. Aber was für eine Krankheit hatte sie? Hoffentlich nichts, an dem sie unter Schmerzen kläglich krepierte. Eigentlich fühlte sie sich ganz gesund und konnte keine Symptome einer tödlichen Krankheit spüren, doch das musste nichts heißen.
Vermutlich hatte es auch wenig Sinn, jemanden aus dem Heim danach zu fragen. Solche Fragen waren unbequem und sie wusste, sie würde doch keine Antwort bekommen.
Trotzdem musste sie es herausfinden. Irgendwie würde sie schon Antworten auf ihre Fragen bekommen, auch wenn sie keine Idee hatte, wie sie das anstellen sollte. Am besten war es aber, wenn keiner davon wusste. Sie würde sonst doch wieder eingesperrt werden und ihre Zeit totschlagen müssen.
Die Tür fiel hinter ihrer Lehrerin ins Schloss und wurde verriegelt. Jetzt war sie wieder alleine.
* * *
Es dauerte nicht lange bis die Türe erneut aufgerissen wurde und sie Gesellschaft bekam: Anastasia, ihre beste Freundin, wurde unsanft in die Zelle gestoßen und auf den Boden neben ihr geschubst.
Dann fiel die Türe mit einem lauten Schlag hinter ihr zu.
"Anastasia!" begrüßte sie ihre Freundin, "willkommen in der Hölle."
Das Mädchen hatte eine geschwollene Backe. Vermutlich hatte sie eine heftige Ohrfeige bekommen. Zum Glück war sie hart im Nehmen und steckte Schläge und andere körperliche Züchtigungen viel besser ein als Ilonka.
"Schön dich zu sehen, Ilonka", grinste sie, "ich wollte dir ein wenig Gesellschaft leisten."
Das Mädchen war unglaublich. Trotz der Züchtigung zeigte sie Stärke und hatte ihren Humor nicht verloren.
"Ha ha, ich glaube kaum, dass die Primakova dich zu mir geschickt hat, damit ich ein bisschen Unterhaltung habe", wandte Ilonka ein und Anastasia grinste frech.
"He, können wir noch einen Stuhl haben?" rief Anastasia laut und hämmerte gegen die verschlossene Türe. Die beiden Mädchen kicherten und fielen sich in die Arme.
* * *
Es war eigentlich nicht Anastasias Art, auf diese Weise zu protestieren. Sie hatte Geduld und Ausdauer. Normalerweise ließ sie sich nicht so einfach einschüchtern, sondern hatte immer einen flotten Spruch parat.
Jetzt ging sie in dem engen Zimmer auf und ab, weniger aus Nervosität als wegen ihrem ungeheuren Bewegungsdrang.
Sport war ihre Leidenschaft. Sie war eine gute Schwimmerin, lief zwischendurch mal 20 Kilometer nur so zum Spaß oder turnte an den Geräten in der Sporthalle bis zur Erschöpfung.
Eingesperrt zu sein bereitete ihr körperliche Qualen. Sie hatte inzwischen ausgiebige Dehnübungen gemacht, Liegestützen und Kniebeugen.
"Ich könnte eine Dusche vertragen, jammerte sie.
"Ich auch", seufzte Ilonka, "oder eine Tafel Schokolade." Sie liebte Süßigkeiten über alles, während ihre Freundin lieber mit frischem Obst ihren Hunger nach Süßem stillte.
"Ich habe noch Schokolade gebunkert", sagte Anastasia, "die teilen wir uns, wenn wir wieder frei sind."
"So lang will ich nicht warten", antwortete Ilonka ernst, "wir sind niemals frei, solange wir hier im Heim sind."
Punkt halb zehn gingen in 'Hoffnungstal' die Lichter aus. Wer danach noch im Haus herumgeisterte, musste mit einer Strafe rechnen.
Anastasia kroch zu Ilonka ins Bett, bepackt mit einer großen Tüte voller Süßigkeiten.
"Ich hoffe, das reicht uns", grinste sie.
"Bis Weihnachten bestimmt", flüsterte Ilonka, "oder bis Weihnachten nächstes Jahr, wenn du mir nicht hilfst."
"Ausnahmsweise", lachte ihre Freundin, "wenn ich fett werde, können sie schon keine Olympiasiegerin aus mir machen."
"Was wäre das für ein Jammer! Ich will dich oben auf dem Siegerpodest sehen, die Goldmedaille um den Hals und fröhlich winkend."
Die beiden Mädchen öffneten beim Schein einer Taschenlampe die Tüte.
"Gummibärchen", las Ilonka auf der Verpackung.
"Lakritzschnecken."
"Brausepulver."
"Schokolade. Eine XXL-Packung!"
"Mach sie auf!"
"Irgendeine Sorte, die du essen willst?"
"Braun und süß", lachte Ilonka.
Es war ein Festessen. Die beiden Mädchen machten sich über den Berg von Schokolade her und genossen die süße Köstlichkeit, als hätten sie seit Tagen nichts mehr zu essen bekommen.
"Ich hatte noch Schokolinsen, doch die hab ich mit Beatrix getauscht", sagte Anastasia mit vollem Mund.
"Das kann nicht mehr passieren", antwortete Ilonka, "sie ist letzten Donnerstag verschwunden. Bestimmt hat sie jetzt ihre eigenen Süßigkeiten, ein Zimmer mit Himmelbett und einem eigenen Fernseher."
"Vielleicht." Anastasia war sich nicht so sicher. "Ist dir aufgefallen, wie viele Kinder in letzter Zeit verschwunden sind?"
"Offensichtlich suchen viele Leute nach einem Adoptivkind. Ich freue mich jedes Mal, wenn eine von uns adoptiert wird. Ich möchte auch ein richtiges Zuhause haben."
"Bist du sicher, dass die Kinder wirklich adoptiert werden und in einer glücklichen Familie leben?" beharrte Anastasia, "Carina behauptet, dass sie in einem russischen Freudenhaus landen."
Das klang wirklich nach einer Horrorgeschichte. Ein Schauer des Grusels überkam sie, doch wenn sie darüber nachdachte, erschien es wie eine wilde Spekulation.
"Ach was, ich glaube, Carina liest zu viele miese Geschichten", ermutigte sie Anastasia - und sich selbst.
Carina war 11 Jahre alt, blond und hübsch. Sie träumte davon, eines Tages als Fotomodell entdeckt zu werden und berühmt zu werden. Ilonka hatte sie hin und wieder dabei ertappt, wie sie vor dem Spiegel stand, sich versonnen betrachtete, lächelte und so tat, als würde sie vor einer Kamera posieren.
"Hast du das Paar gesehen, das Evelyn neulich abgeholt hat? Ich fand, die sahen ziemlich gruslig aus", fuhr Anastassia fort, noch immer nicht ganz überzeugt von Ilonkas beruhigenden Worten.
"Na ja, du weißt nicht, an wen du gerätst. Aber viel schlimmer als hier kann es ja nicht werden, oder?"
"Das stimmt allerdings...", gab Anastasia zu.
Schweigend saßen sie in ihren geblümten Nachthemden, die alle Mädchen im Heim zum Schlafen trugen, auf dem Bett. Inzwischen hatten beide so viel Schokolade, Lakritzschnecken und Kaubonbons genascht, dass sie nicht mehr konnten.
"Wir müssen von hier verschwinden", sagte Anastasia schließlich, "ich mach das nicht mehr mit. Wir haben uns das schon viel zu lange gefallen lassen."
"Du hast recht", antwortete Ilonka, "hauen wir ab. Alles ist besser als dieses Irrenhaus."
"Dann bist du dabei?"
"Auf jeden Fall!"
* * *
Am liebsten wären die beiden natürlich sofort verschwunden, doch ihnen war klar, dass sie nicht weit gekommen wären, wenn sie einfach Hals über Kopf losgezogen wären.
Zuerst packten sie ein paar Sachen in die Rucksäcke: Klamotten, Zahnbürste, ein Handtuch, die Lieblingsschuhe, das wenige Ersparte, das nicht von der Heimleitung für sie verwaltet wurde, damit sie sich "später einmal" einen Wunsch erfüllen konnten (oder um Sachen zu ersetzen, die gelegentlich zu Bruch gingen), ein wenig Proviant, den sie heimlich aus dem Esszimmer geschmuggelt hatten, Obst und natürlich Schokolade.
Natürlich konnten sie nicht mit dem Rucksack auf dem Rücken durch die Einfahrt zum Gelände des Heims spazieren, durch das die Angestellten und der Transporter für die Insassen herein und wieder hinaus kamen. Sie ließen daher die Rucksäcke aus einem der Fenster, das nicht vergittert war, im ersten Stock herunter und warfen sie dann über den
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Bildmaterialien: Jenni Eales
Cover: Jenni Eales
Tag der Veröffentlichung: 03.03.2023
ISBN: 978-3-7554-3413-9
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