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Kapitel 1. - Das verhängnisvolle Erbe

Mit leerem Kopf starrte ich in das dunkle Loch. In das Loch, in dem gerade der Sarg meiner Großmutter langsam, aber sicher versank. Wie ein großer, höhnisch verzogener Mund lachte es mir entgegen. Das Gesicht meiner Großmutter tauchte vor meinen Augen auf, ich sah, wie sie mich sanft anlächelte. Heiße Tränen liefen mir über die eiskalten Wangen, tropften am Kinn hinunter und fielen auf das, noch mit Tau überzogene Gras. Bevor sie von uns ging, hatte sie nicht so gewirkt als würde sie uns in baldiger Zukunft verlassen. Sie war, wie immer, voller Leben gewesen, hatte mit uns gelacht, uns getröstet, wenn es sein musste und uns ihre Stärke geliehen. Doch nun war sie fort. Für immer. Ich hatte nicht einmal die Zeit gehabt ihr zu sagen, wie sehr ich sie geliebt hatte.

Die Sonne strahlte in mein Gesicht, doch wärmen tat sie mich nicht. Sollte es nicht in solchen Situationen normalerweise regnen? Es kam mir vor wie ein billiger Witz. Ich wandte mich ab und betrachtete die schwarze Masse, die sich um das Grab verteilt hatte. Ich empfand es als falsch, dass alle schwarz anhatten, da Oma die Farbe schon immer verabscheut hatte. Doch was sollte ich groß dazu sagen - ich selbst trug ja auch schwarz. Mein Blick wanderte weiter zu meinen Eltern - man sah meiner Mutter an, dass der Tod meiner Großmutter sie besonders getroffen hatte.

Sie schniefte in ihr Taschentuch und lehnte sich hilfesuchend gegen meinen Vater, der tröstend seinen Arm um sie gelegt hatte. Mit ihren wirren Haaren und ihren verquollenen Augen erkannte ich meine Mutter gar nicht mehr wieder. Schon immer war sie für mich die Managerin einer der größten Firmen gewesen; Immer ordentlichen blonden Zopf, hübsche, gebügelte weiße Bluse, eine schwarze Hose und schwarze Pumps mit mindestens fünf Zentimeter Absatz. Sie in diesem Zustand zu sehen erschütterte mich noch mehr als ich schon eh war und machte meinen Kloß im Hals nur noch größer. Als meine Mutter bemerkte, dass ich sie ansah, winkte sie mich zu sich rüber. Mit langsamen Schritten gesellte ich mich zu ihr. Sie legte ihre Hand auf meine Schulter und ich legte meine Hand um ihre Hüfte. So standen wir Seite an Seite, einander Halt gebend. Erst am Ende der Beerdigung ließen wir einander wieder los.

 

ζ

 

Ein Monat später

"Was ist das?", neugierig betrachtete ich das Paket in meiner Hand.
Es wog schwer in meiner Hand. Ich drehte es. Es war sorgsam verschnürt und obendrauf stand mein Name:

 

Careen

 

"Das hat dir deine Oma vererbt. ", sagte Mama.
Wie immer, wenn von Oma die Rede war, bekam ich einen Kloß im Hals. Ich nickte und lief die Treppe hoch. Oben in meinem Zimmer schloss ich die Tür hinter mir und setzte mich auch mein Himmelbett. Schnell, bevor die Tränen die Oberhand gewinnen konnten, riss ich das Papier auf. Sofort erkannte ich das Buch wieder. Oma's altes Märchenbuch. Das grüne Einband mit den goldenen Lättern leuchtete mir geheimnisvoll entgegen. Sanft strich ich über den kunstvoll bemalten Buchdeckel. Szenen aus Rotkäppchen und Rapunzel waren darauf dargestellt, die Sieben Zwerge tanzten auf einer Wiese und die Böse Hexe lächelte mir mit ihren schiefen Zähnen entgegen. Als ich das Buch aufschlug, fiel ein Brief aus den Seiten. Hastig und mit zittrigen Händen öffnete ich ihn. Als ich die Schrift meiner Oma erkannte, bekam ich feuchte Augen. Mit dem Handrücken wischte ich mir über sie und fing an das Geschriebene lesen.

 

Mein Mäuschen,

wenn du diese Zeilen liest, weile ich nicht mehr auf dieser Welt. Meine Seele hat diese Erde verlassen, doch

nur, um an einen besseren Ort zu kommen. Trauer nicht zu lange um mich, du bist eine junge schöne Frau

und das Leid der Trauer sollte dich nicht schon zu früh kennzeichnen.

 
Ich schüttelte lächelnd den Kopf. Es war typisch für meine Großmutter so zu denken.

 

Ich wünsche dir ein wunderschönes Leben. Wie du siehst, habe ich dir mein altes Märchenbuch vererbt, ich

hoffe es gefällt dir. Bitte behandle gut, es ist etwas ganz besonderes. Soweit ich dich kenne, wird es

sowieso irgendwann auf dem Boden oder unterm Bett landen, aber wer weiß, vielleicht schaffst du es ja

dann doch, es halbwegs intakt zu lassen um es weiter an deine Kinder weiterzuvererben.

 
Verlegen strich ich mir eine Strähne hinters Ohr. Oma kannte mich einfach zu gut. Ich schwor mir, Oma's Buch in mein Regal zu packen und es gut zu behandeln. Oma's Vorhersage sollte sich definitiv nicht bestätigen.

 

Vielleicht sehen wir uns irgendwann in einem anderen Leben wieder meine Kleine!

Deine, dich immer liebende Oma.

 
Lächelnd faltete ich das Papier wieder zusammen und legte es in den Umschlag zurück. Ich schlug das Buch auf und blätter durch ein paar Seiten. Das Märchenbuch enthielt neben dem Text auch noch wunderschön gezeichnete Bilder. Sie stellten Szenen aus den Geschichten dar und ich erkannte die Szene wieder, als Schneewittchen von der Bösen Hexe mithilfe eines Apfels vergiftet wurde. Auch andere Märchen, die man aus der Kindheit kannte, standen in diesem Buch geschrieben, doch es gab auch Geschichten, von denen ich noch nie was gehört hatte. Geschichten über Elfen und Trollen, Piraten und einem geheimnisvollen Baum, der in dem Buch als der Göttliche Baum bezeichnet wurde.

Besonders die Zeichnung eines Mädchens, die auf einem Hirsch durch einen Wald ritt faszinierte mich. Sie trug ein weißes Kleid, welches im Wind wehte. Am Ansatz des Kleides schien es leicht zu verblassen, so als würde sich der Stoff auflösen. Es wurde mit viel Detail gezeichnet und die Haare leuchteten silbern. Seltsamerweise gab es zu diesem Bild keine Geschichte - ich durchblätterte das Buch mehrmals, doch ich fand sie nicht. Die Tatsache, dass es keine Geschichte zu diesem Bild gab, reizte mich, also schlug ich das Buch wieder zu. Ich packte das Buch und den Brief auf meinen Schreibtisch - neben das Bild von meiner Großmutter und mir - und öffnete Fenster. Frische Luft wehte in das Zimmer herein und strich durch meine Haare.

Das Rauschen der Blätter im Wind und das Plätschern eines Baches in der Nähe des Hauses entspannten mich und ließen für einen Moment alle Sorgen von mir abfallen. Ich schloss meine Augen und atmete tief ein. Die Sonne schien mir ins Gesicht und wärmte mich. Plötzlich bekam ich das Gefühl, als würde alles wieder gut werden und ein Lächeln stahl sich in mein Gesicht. Erschrocken öffnete ich die Augen als der Wind plötzlich stärker wurde und es laut hinter mir knallte. Ich wirbelte herum und starrte auf die Ursache des Geräusches - vor mir lag das Buch aufgeschlagen und die Seiten blätterten wie wild im Wind. Ich bekam das eigenartige Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Ganz plötzlich lagen die Seiten wieder still, als wäre nichts passiert und auch der starke Wind hatte nachgelassen.

Das Buch war auf einer Seite aufgeschlagen, die ich bis jetzt noch gar nicht bemerkt hatte. Bis auf einen einzigen Satz war die Seite leer. Vorsichtig und auch leicht verwirrt trat ich näher. Der Satz war von meiner Oma verfasst worden.

 

Hoffentlich kann dir das Buch in ruhigen Zeiten die Langeweile vertreiben.

 

Wie recht sie damit hatte, hatte ich früher nicht gewusst. Aber dieses Buch vertrieb nicht einfach nur die Langeweile. Es krempelte mein Leben vollkommen um.

Kapitel 2. - Das Schicksal nimmt seinen Lauf

Die Tage vergingen und der Vorfall mit dem Buch geriet in Vergessenheit. Ich schob die Ursache auf den Wind, also verdrängte mein Gehirn die Erinnerung und ich begann an andere Dinge zu denken. Mit der Zeit verheilte auch das Loch, welches der Tod meiner Großmutter in meine Seele gerissen hatte. Ich dachte noch oft an sie, doch weinen tat ich nur noch selten. Der Alltag holte mich wieder ein, ich traf mich mit Freundinnen, ging ab und zu mal mit Freunden feiern, lernte für Prüfungen und lebte halt das Leben eines ganz normalen  sechzehnjährigen Teenagers.

Doch eines Tages war es schlagartig vorbei mit meinem friedvollen und ruhigen Leben und ich wurde in eine Story hineingezogen, von der ich nicht einmal geträumt hätte. Der Wecker schrillte los und zog mich aus meinen wirren Träumen, in denen ich mit den Sieben Zwergen um ein Lagerfeuer auf einer Lichtung tanzte und mit seltsamen Wesen über Wellen ritt. Ich schaltete den nervigen Wecker aus und blinzelte noch ein paar Mal an die Decke, bevor ich mich in Bewegung setzte. Verwirrt schüttelte ich den Kopf und fuhr mir durch das, vom Schlaf zerzauste, Haar. Noch im Halbschlaf schlug ich meine Blümchen-Decke zur Seite, stand mit einem Ächzen auf und taumelte den Flur zur Badezimmer-Tür entlang. Meine kleine Schwester war, als Frühaufsteherin, wie immer schon wach und turnte in ihrer süßen Schul-Uniform fröhlich durch das Haus. Als sie mich entdeckte, ließ sie sich trotz meines Zombie-Artigen Aussehens nicht abschrecken und wünschte mir einen guten Morgen.

»Guten Morgen.«, nuschelte ich müde zurück und fing an zu hopsen, als meine Füße den eiskalten Fliesenboden des Badezimmers berührten. Ich rettete mich auf den Klodeckel und nahm dankend die vorbereitete Zahnbürste inklusive Zahnpasta von meiner Schwester entgegen und putzte langsam, aber sorgfältig meine Zähne. Erst der scharfe Minze-Geschmack der Zahnpasta pustete den Dunst aus meinem Hirn.

Jetzt kam auch meine Mutter kam rein, und jetzt wurde es richtig eng im kleinen Badezimmer. Ich flüchtete in mein Zimmer und packte, mit der Zahnbürste im Mund, meine Schulsachen. Ein Blick auf die Uhr ließ mich leise fluchen. In acht Minuten würde der Schulbus kommen. Ich eilte zurück ins Badezimmer, wurde meine Zahnbürste los und wusch mein Gesicht. Als ich in den chaotischen Kleiderschrank sah, verwarf ich die Idee nach einem Outfit zu suchen, gleich wieder und zog mir den erstbesten Pullover, den ich zu fassen bekam, über und schlüpfte noch schnell in meine schwarze Lieblingsjeans. Für Make-up blieb keine Zeit mehr, dann musste ich mich halt in der Schule schminken. Ich packte meine Tasche und rannte die Treppe runter, mehrere Stufen gleichzeitig nehmend. Ich schaffte es gerade noch rechtzeitig zum Schulbus.

Während er losfuhr, versuchte ich, einen guten Platz zu finden, ohne von der Schülermasse zerdrückt zu werden. Einige fluchten, als ich ihnen auf die Füße trat, andere gaben es mir mit dem Ellbogen zurück, letztenendes schaffte ich es doch in eine halbwegs gemütliche Lage. Der Bus stank nach Schweißfüßen und Parfüm, und das Geschrei und Gekicher der Schüler tat in meinen Ohren weh. Nach einer halben Ewigkeit kam auch dieser Bus an der Schule an. Ich ließ mir Zeit und wartete, bis der Großteil der Masse schon ausgestiegen war, dann machte ich mich auch daran aus dem Bus zu kommen. Gähnend begrüßte ich meine Freundinnen und wir machten uns auf den Weg zum Unterricht. 

Gelangweilt streifte mein Blick durch das Klassenzimmer und meine Gedanken flogen von einem Thema zum anderen, ohne sich wirklich in ein Thema zu vertiefen. Die monotone Stimme meines Politik-Lehrers drang nur dumpf zu mir durch. Draußen trommelte der Regen gegen die Fensterscheiben und das Neonlicht über mir flackerte ein paar Mal, dann funktionierte es wieder. Ich beobachtete, wie zwei Mädchen sich heimlich die kümmerlichen Striche namens Augenbrauen zupften, sah zu, wie ein Junge einen Stifteturm baute und grinste leicht, als der Turm wieder in sich zusammenfiel und er leise fluchte. Mein Blick blieb am Fenster hängen und ich beobachtete die Regentropfen, die langsam herunterliefen und wie sofort weitere Tropfen folgten.

Das Schicksal nahm seinen Lauf, als ich mitten im Unterricht zum Büro des Direktors gerufen wurde. Ich fing an mir Sorgen zu machen, hatte ich vielleicht einmal zu oft eine Stunde geschwänzt? In meinem Kopf dachte ich mir Entschuldigungen aus, die ich zur Verteidigung nutzen könnte um das Donnerwetter eventuell zu vermindern. Doch im Büro des Direktors angekommen erwartete mich was ganz anderes, vielfach schlimmeres als eine Rüge vom Direktor.

Mama klang panisch, als ich ans Telefon ging. Sie versuchte etwas zu sagen, doch ihre Worte wurden immer wieder von Schluchzern unterbrochen. Ein Knoten bildete sich in meinem Magen und ich versuchte sie zu beruhigen, damit sie mir endlich sagen konnte, was denn los sei. Ich hörte ihren hektischen Atem und wie sie versuchte sich wieder unter Kontrolle zu bringen. Nervös fing ich an auf meinen Nägeln herumzukauen. Erst war es eine Weile still, dann sagte sie mit zittriger Stimme:

»Miriam... deine kleine Schwester... wir können sie nirgendwo finden. Hätte die Schule nicht angerufen, hätten wir es gar nicht gemerkt. Wir haben jeden erdenklichen Ort an dem sie sein könnte abgesucht aber keine Spur von ihr! Es scheint... als sei sie verschwunden, Careen, wie vom Erdboden verschluckt.« 
Alles in mir zog sich zusammen und das Atmen fiel mir schwer. Ich musste mich am Schreibtisch des Direktors abstützen und mein Blick fiel ins Leere. Gedanken schossen durch meinen Kopf, doch ich zwang mich dazu, erst einmal die Ruhe zu bewahren. Ich blinzelte hektisch, als ich wieder aus meinen Gedanken auftauchte.

»Mum?« Ich bemühte mich, meine Stimme so ruhig wie möglich zu halten. Als sie nicht antwortete, atmete ich einmal tief ein, bevor ich ihr antwortete.

»Miriam geht es bestimmt gut. Vielleicht schwänzt sie ja gerade zum ersten Mal in ihrem Leben. Ich meine sie ist ja inzwischen schon elf Jahre alt, da macht man halt ab und zu Blödsinn..« Ich versuchte es so scherzhaft wie möglich klingen zu lassen, doch meine Stimme versagte. Ich hatte sehr schlechtes Gefühl und in meinem Magen hatte sich ein schmerzhafter Klumpen gebildet. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.

»Versuch jetzt erstmal einen klaren Kopf zu behalten, ok? Möchtest du vielleicht, dass ich nach Hause komme?« Zur Antwort bekam ich nur ein Schluchzen.

»Jaaa?«, zog ich meine Frage lang.

»Ja..«, antwortete meine Mutter dann endlich schwach.

»Ich bin sofort bei dir.«

 

ζ

 

 Der Schuldirektor bot mir an, mich nach Hause zu fahren und dankend nahm ich sein Angebot an. Während der ganzen Fahrt war es still im Wagen und ich starrte nur aus dem Fenster. Meine Gedanken wirbelten durch den Kopf und ich ging etliche Situationen durch, die Miriam zugestoßen sein könnten. Ich reagierte panischer, als mir lieb war. Zuhause angekommen vergaß ich vollkommen, meinem Direktor für die Fahrt zu danken und eilte mit schnellen Schritten zur Haustür. Mit zittrigen Fingern zog ich die Schlüssel aus meiner Hosentasche und schloss die Tür auf.

Es war definitiv nicht normal, dass meine kleine Schwester einfach so verschwand und ich glaubte auch nicht, dass sie schwänzte, auch wenn ich es selbst behauptet hatte.. So etwas machte sie nicht. Miriam war schon immer der blonde Engel der Familie gewesen, ihre Liebenswürdigkeit und Verlässlichkeit waren schon von klein auf auffallend gewesen. Ihr Aussehen hatte sie von unserer Mutter - sie hatte ein breites Lächeln und klare blaue Augen mit kleinen Sommersprossen auf den Wangen. Im Gegensatz zu meiner kleinen Schwester hatte ich feuerrote Haare und grüne Augen, ganz nach unserem Vater. Trotz unseres verschiedenen Aussehens waren wir doch ein Herz und eine Seele.

Sie war die Einzige, die ich an mich heranließ, falls mich die Trauer über den Tod unserer Großmutter wieder überwältigte, und sie war auch die Einzige, der ich alle meine Geheimnisse anvertraute. Unsere Eltern waren schon immer sehr stolz darauf gewesen, dass wir uns als Geschwister so gut verstanden, da Geschwister sich normalerweise immer stritten. Bei uns war das nie so gewesen. Umso mehr schockierte es mich, zu hören, dass sie verschwunden war. Ich fand meine Eltern in der Küche. Sie saßen beide zusammengesunken am Küchentisch. Meine Mutter hatte ihre Gesicht in den Händen vergraben und mein Vater war auffällig blass. Man sah sofort, dass beide nahe eines Nervenzusammenbruchs standen. Ich ließ meinen Blick durch die Küche wandern. Der Kühlschrank war voll mit Magneten und Notizen, die rechte Seite des Kühlschranks war vollgeklebt mit Bildern, die Miriam und ich gezeichnet hatte. In der Spüle stand immer noch das Geschirr vom Frühstück heute morgen und Miriam's Lieblingstasse mit den Kaninchen darauf stand neben der Spüle. Alles sah so aus wie jeden Morgen.

»Vielleicht sollten wir ein wenig warten.«, sagte ich schließlich.

»Aber was, wenn ihr in der Zwischenzeit etwas passiert?«, jammerte Mum verzweifelt. »Vielleicht sollten wir die Polizei verständigen!«

»Selbst wenn wir das tun würden, momentan könnten sie uns nicht groß helfen«, antwortete mein Vater und fuhr fort: »Täglich werden unzählige Kinder als vermisst gemeldet und ungefähr drei Viertel von denen kommen am Ende des Tages wieder. Sobald es draußen dunkel und kalt wird, wollen doch alle heim. Wir sollten unserer Tochter etwas Zeit geben. Sie kommt schon wieder.«

»Aber ihr könnte alles mögliche zugestoßen sein! Was, wenn sie entführt wurde? Oder sogar ermordet?!« Meine Mutter klang immer panischer und das Wort "ermordet" schrie sie fast aus. Langsam begann ich mich vor Mum zu fürchten. Sie stand kurz davor zu hyperventilieren. Mein Vater versuchte sie zu beruhigen und rufte letztenendes doch die Polizei an. Für kurze Zeit verschwand er ins Wohnzimmer und ich setzte mich wortlos an den Tisch, die Hand meiner Mutter haltend. Einerseits um sie zu beruhigen, andererseits um auch mich zu beruhigen. Das Gefühl in meinem Bauch wurde von Sekunde zu Sekunde stärker, seitdem ich das Haus betreten hatte. Als Dad wiederkam, stand Mum so eilig auf, dass der Stuhl umkippte. Sie merkte es nicht einmal.

»Und, was haben sie gesagt?«

»Momentan können sie nicht viel tun, erstmal brauchen sie einen Anhaltspunkt um die Suche zu beginnen und den haben sie nicht.« Ich lauschte meinem Vater aufmerksam, doch plötzlich überfiel mich ein heftiger Krampf. Keuchend beugte ich über meine Beine und hielt mir meinen Bauch. Was ist hier los?, dachte ich verzweifelt. Die Stimmen meiner Eltern rückten in den Hintergrund. Nur verschwommen konnte ich vernehmen, wie sie meinen Namen riefen. Erst als meine Mutter ihre Hand auf meinen Rücken legte, tauchte ich aus dem dichten Nebel des Schmerzes auf. 

»Careen? Careen? Schatz, alles ok mit dir?«

 Ich schnappte nach Luft und sah mich panisch um. Was passierte mit mir?

 »Ich glaube, ich sollte mich hinlegen«, presste ich hervor und stand auf. Mein Vater wollte mir zu Hilfe eilen, doch ich hielt ihn mit einer Handbewegung auf. »Geht schon«, murmelte ich und taumelte zur Küchentür. Ich wollte allein sein. Die Schmerzen nahmen zu und als ich endlich in meinem Zimmer ankam, hatten sich die Schmerzen in meinem ganzen Körper ausgebreitet. Hitze flammte in meinen Eingeweiden und stöhnend beugte ich mich nach Vorne. Ich stolperte und landete auf allen Vieren. Mit meiner Hand stieß ich gegen etwas hartes, angenehmes, kühles. Mit einem Schlag verschwanden die Schmerzen und ich blickte überrascht hoch.

Was passiert hier?
Verwirrt und verängstigt rieb ich meinen Bauch, doch es gab keine Anzeichen mehr, dass ich eben gerade noch starke Schmerzen hatte. Alles schien wieder normal zu sein. Mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Bis eben noc stand ich unter Schmerzen, die kaum auszuhalten gewesen waren. Mit einem Schlag waren sie jedoch verschwunden. Sie verschwanden sofort, als ich etwas berührte. Schnell blickte ich mich um und entdeckte das Buch meiner Großmutter. Ich hatte es unter Schmerzen weggestoßen und halb ragte es unter dem Himmelbett hervor. Es war auf geschlagen und ich bekam ein seltsames Gefühl. Ich runzelte meine Stirn. Seltsam. Ich konnte mich nicht daran erinnern, es auf dem Boden gelassen zu haben. Im Gegenteil, ich konnte mich noch genau daran erinnern, dass ich es erst am Tag zuvor in das Bücherregal gelegt hatte.

Das seltsame Gefühl verstärkte sich, als ich mich dem Buch näherte und eine unsichtbare Kraft ließ mich einige Seiten umblättern, bis ich auf eine Seite kam, auf dem ein Bild gezeigt wurde.

Das ganze Bild war düster und dunkle Gestalten tanzten um ein Lagerfeuer herum. Der ganze Ort schien aus Ruinen zu bestehen und spärlich wuchsen kleine graue Pflanzen zwischen all den Steinen. Der Himmel war voller dunkler Wolken und der Maler des Bildes hatte nur mit dunklen Farben an diesem Bild gearbeitet. Sogar das Feuer schien bösartig in der Dunkelheit zu zucken. Ich wollte schon wieder den Blick von dem Bild abwenden, als etwas in mein Auge fiel. Zwischen zwei Gestalten sah man einen Fuß, oder eher gesagt, einen Pantoffel. Die Farben, mit dem dieser Pantoffel gemalt wurde, passten nicht zu den Nuancen, die für dieses Bild ausgewählt wurden und waren viel heller und freundlicher. Ich beugte mich über das Buch und sah mir den Pantoffel genauer an. Mir schien es, als wäre vorne am Pantoffel ein kleiner gestrickter Kaninchenkopf, mit Knöpfen als Augen, angenäht worden.

An irgendetwas erinnerte mich das, doch woran mich das erinnerte fiel mir nicht ein. Angestrengt versuchte ich mehr zu erkennen, doch es war mir nicht möglich noch etwas zu erkennen. Ich war mir jedoch sicher dass sich jemand hinter der einen gruseligen Gestalt verbarg. Ich wunderte mich, warum der Maler so sehr ins Detail mit dem Pantoffel gegangen war,  aber die Figur selbst nicht gezeichnet hatte, doch ich war zu aufgewühlt, um darüber großartig nachzudenken. Nachdenklich mit dem Gefühl, den Pantoffel irgendwo schonmal gesehen zu haben, nahm ich das Buch und setzte mich auf mein Bett. Ich nagte an meinen Fingernägeln, eine alte Gewohnheit, von der ich dachte, dass ich sie mir schon längst abgewöhnt hatte. Als ich merkte, was ich tat, hörte ich sofort wieder auf. Da durchfuhr mich die Erinnerung wie ein Blitz.

 

Die Glasscherben waren überall verteilt und Bluttropfen liefen auf den Boden. Meine ganze rechte Hand war voller Blut, das aus der kleinen Schnittwunde an meinem Zeigefinger quoll. Ich kaute an meinem Daumennagel meiner linken Hand. Was soll ich jetzt tun?!, dachte ich panisch und sah mir das Schlamassel an, dass ich angerichtet hatte.

Eigentlich hatte ich mir nur eine Schüssel Müsli machen wollen, doch dann stellte sich heraus, dass meine Lieblingsschüssel ausgerechnet unter zwei anderen Schüsseln war. So sturköpfig wie ich war, hatte ich unbedingt aus meiner Lieblingsschüssel essen wollen und hatte deshalb alle drei Schüsseln aus dem Schrank genommen, mit der Absicht, die anderen beiden Schüsseln dann wieder reinzustellen. Wie es der Zufall so wollte, waren mir alle drei Schüsseln aus der Hand gerutscht und waren mir auf den Boden gefallen. Hastig hatte ich mich runtergebeugt und angefangen die Scherben wieder aufzusammeln. Dabei schnitt ich mir in meine Hand und machte die Sache noch schlimmer als sie schon eh war. Leichte Panik breitete sich in mir aus und ich schniefte. Das Geräusch von Schlüsseln verkündete mir, dass Miriam von der Schule gekommen war.

»Miriaaaam«, rief ich und zog dabei ihren Namen in die Länge, wie immer wenn ich in einem Problem steckte und sie nach Hilfe fragte. Sie eilte in die Küche und blieb erschrocken stehen.

»Meine Güte, Reen, was hast du denn jetzt schon wieder angerichtet?«, fragte sie besorgt und eilte zu mir, sorgsam darauf bedacht nicht auf eine der Scherben zu treten. Fasziniert beobachtete ich, wie geschickt sie die Scherben mied und dabei fiel mir auf, dass sie Pantoffeln trug. Sie waren mit einem Strickmuster überarbeitet und an der Spitze krönte ein kleiner, gestrickter Kaninchenkopf mit glänzenden runden Knöpfen als Augen. 

»Die Pantoffel sind ja süß! Sind die neu?«, fragte ich sie.

 

Mir fiel es wieder ein. Dieser Pantoffel, ich wusste schon einmal wo ich ihn gesehen hatte! Er gehörte zu Miriam. Aufgeregt, weil ich herausgefunden hatte, wem der Pantoffel gehörte, merkte ich erst nach einer ganzen Weile, dass etwas nicht daran stimmte, Miriam's Pantoffel in diesem Märchenbuch zu sehen. Woher wusste der Maler, wie Miriam's Pantoffel aussah, und warum hatte er ihn da reingezeichnet? Oder warum hatte Miriam exakt die selben Pantoffel wie aus dem Buch? War das einfach nur ein Zufall? Verwirrt rieb ich mir die Stirn.

Erschrocken quiekte ich und stieß das Buch von meinem Schoß, als die Seite in meiner Hand anfing zu zittern und die Seiten wild anfingen sich von selbst umzublättern. Es war wie an dem Tag, als ich das Buch bekommen hatte und die Blätter sich im Wind bewegt hatten. Nur dieses Mal wehte kein Wind und mein Fenster war geschlossen.

Was hatte das zu bedeuten?! Ich krabbelte langsam rückwärts und stieß mit dem Rücken gegen die Komode. Auf einmal kamen die Seiten zur Ruhe und die Seiten präsentierten ein einziges, auf zwei Seiten gezeichnetes Bild. Es stellte einen Lichtung in einem Wald dar. Kleine bunte Vögel flogen durch die Äste, eine Gruppe Rehe wanderte zwischen den Bäumen und ein kleiner Bach floss durch das Bild. Über dem Wasser tanzten kleine hellblaue Wesen in kleinen Kreisen und auf einem, mit Moos überzogenen Stein am Bach saß ein Frosch, der sie dabei beobachtete. Das ganze Schauspiel wurde von dicken Ranken umrahmt. Goldene Blüten mit violetten Punkten wuchsen aus den Ranken. Ich schüttelte meinen Kopf. Was ist hier los? Ich hielt meine Hand an die Stirn um mich zu versichern, dass ich nicht an Fieber litt. Vielleicht lastete Miriam's Verschwinden zu sehr auf mir. Ich kniff meine Augen zusammen, als sich vor meinen Augen die Blütenblatter leicht anfingen, sich wie im Wind zu bewegen. Erneut schüttelte ich meinen Kopf und starrte nochmal genauer hin. Die Blätter bewegten sich diesmal nicht. 

Aber auch wenn sich die Blüten nicht mehr bewegten, so stellte sich immer noch die Frage - worin genau lag der Zusammenhang zwischen dem Pantoffel auf dem Bild des Buches und Miriam's Pantoffel? Ich wurde daraus einfach nicht schlau. Wenn ich jedoch meinen Eltern davon erzählen würde würden sie mich für verrückt halten, was mich nicht wundern würde, ich hielt mich ja selbst schon für verrückt. Noch einmal sah ich genau hin, um mich zu versichern, dass sich das Bild definitiv nicht bewegte. Ich beugte mich über das Buch und kniff meine Augen zusammen. Nein, das Bild bewegte sich definitiv nicht. Erleichtert atmete ich aus und richtete mich wieder auf. Es war mir nicht geheuer, dieses Buch. Ich sollte es erstmal in den Kleiderschrank packen, dachte ich und drehte mich um, um meinen Gürtel zu holen. Es schadete ja nicht, das Buch sicherheitshalber nochmal zuzuschnallen. Weit kam ich aber nicht, denn blitzschnell schossen die Ranken, die eben gerade noch das Bild umrahmt hatte, aus dem Buch, und umschlangen mich.

Vor Schreck schaffte ich es nicht einmal zu schreien und ich schlug verzweifelt um mich. Ich traf mit meinem Arm die Nachtlampe und warf sie auf den Boden. Der dicke Teppich vor meinem Bett verhinderte, dass die Nachtlampe splitterte, doch das Geräusch sollte trotzdem unten zuhören sein. Meine Füße waren noch frei und ich schaffte mich so zu wenden, dass ich nach den Ranken treten konnte, doch schon wurden auch meine Beine umschlungen und festgehalten. Eine fette Ranke wickelte sich um meinen Kopf und legte sich über meinen Mund. Verzweifelt huschte mein Blick durch das Zimmer - hatte man unten nichts mitbekommen?! - doch ich hörte nichts außer mein ersticktes Keuchen. Ich spürte, wie mein Körper seine Konsistenz verlor und weich wurde. Es war, als würde ich in einen Strudel gezogen werden. Die Situation ließ mich beinahe mein Bewusstsein verlieren: Stück für Stück wurde ich von dem Buch aufgesaugt.

Bitte was?!,  schrie eine Stimme in meinem Kopf. Ich wurde gerade von einem Buch aufgesaugt! Hilfe!, dachte ich und suchte nach Halt um zu verhindern, dass ich von dem Buch aufgesaugt wurde, doch der Sog war stark und unerbittlich. Letztendlich hielt ich mich am Buch selbst fest, doch ich riss nur ein paar Seiten aus und schon wurde auch noch der Rest meines Körpers von dem Buch aufgenommen. Jetzt ist es für vorbei für mich, dachte ich noch, bevor die Umrisse meines Zimmers verschwanden und es schwarz um mich herum wurde.

Kapitel 3. - Ein seltsamer Junge

Sonnenstrahlen kitzelten mein Gesicht und langsam drang das Zwitschern von Vögeln in mein Ohr. Ich verzog mein Gesicht. Ich musste gestern Nacht wohl vergessen haben die Vorhänge zuzuziehen. Seufzend drehte ich mich auf meine Seite und tastete nach meiner Decke, doch ich spürte nur etwas Weiches. Ich öffnete mit gerunzelter Stirn meine Augen und ich sah für kurze Zeit nur grün. Ich setzte mich fassungslos auf.

Wo zum Teufel bin ich? 
Ich hatte keine Ahnung, wie ich hier hingekommen war und ich konnte mich auch an nichts erinnern. Mit offenem Mund sah ich mir meine Umgebung genauer an.
Der Himmel über mir leuchtete in einem kräftigen Blau und kleine Wolkenfetzen zogen langsam über den Himmel. Ich befand mich auf einer kleinen Lichtung und um mich herum waren überall riesige Bäume und Büsche. Solche Bäume hatte ich noch nie gesehen, sie schienen dreifach so groß wie die normalen Bäume in dem naheliegenden Wald, bei dem ich wohnte. Ein natürlicher Schein umhüllte diese Bäume und ließ sie majestätisch und mystisch erscheinen. Auch die Tiere, die ich erblicken konnte, schienen nicht normal, ihr ganzes Aussehen ähnelte zwar den normalen Tieren, die ich bereits kannte, doch sie waren größer und lebhafter. Im Gegensatz zu den anderen Tieren in dem Wald, an welchem ich wohnte rannten sie nicht weg, sobald sie mich sahen. Ich schien ihnen keine Angst zu machen. Zwei Eichhörnchen verfolgten einander un sprangen zwischen den Bäumen herum und in der Nähe beobachtete mich ein kleiner Fuchs aus einem Gebüsch heraus. Als er bemerkte, dass ich ihn gesehen hatte, wandte er mir den Rücken zu und putzte sich, mich auffallend ignorierend. Ich schenkte ihm keine weitere Beachtung und sah mich weiter um.

Der Wind fuhr durch die großen Blätter der Bäume und eigenartige runde Blüten gaben helle Glockenklänge von sich, als sie im Wind wogen. Libellen und weitere bunt schillernde Insekten flogen über den zahllosen kleinen Bäche und eine kleine Schlange bahnte sich ihren Weg durch das Gras. Gleich darauf verschwand sie aus meinem Sichtfeld und immer noch fassungslos sah zu meiner Hand, die gerade in Moos ruhte. Träumte ich das Ganze nur? Noch nie hatte ich so einen realen Traum erlebt. Alles fühlte ich so echt an, sogar die Feuchte des Mooses konnte ich fühlen und den Wind, der mir sanft über die Wangen strich. Ich zwickte mir in den Arm und zuckte leicht zusammen.

Autsch. 
Das war merkwürdig, es tat seltsamerweise weh. Ich zuckte mit den Schultern, anscheinend konnte man doch in einem Traum Schmerzen verspüren. Es ließ sich nicht anders erklären, etwas anderes als ein Traum konnte das nicht sein. Gleich würde meine Mutter oder mein Vater mich wecken, mir sagen, dass ich zu spät für die Schule war und ich müsste mich wieder hetzen, um nicht zu spät zum Unterricht zu kommen. Im Laufe des Tages würde dieser verwirrende Traum in Vergessenheit geraten und ich würde keinen einzigen Gedanken mehr daran verschwenden. Ich fuhr mir durch die Haare.

Genau. So müsste es sein. 
Ich musste versuchen mich wach zu bekommen. Ich hob meine Hände ans Gesicht und klatschte mir mehrmals auf die Wangen.

Mach deine Augen auf!, versuchte ich meinem Bewusstsein zu befehligen und zwickte mich noch ein paar Mal. Als auch das nicht klappte, gab ich vorerst auf und rieb mir den schmerzenden Oberarm. Es brachte nichts, ich tat mir nur selbst weh. Ich kratzte mich am Kopf und schaute wieder hoch zum Himmel. 

Dann muss ich halt warten, bis ich aufwache. Solange muss ich halt hier sitzen bleiben. Wenn ich mich bewege, könnte sich dieser Traum noch zu einem Alptraum entwickeln. 
Ich gab zu, eine gewisse Angst herrschte schon in mir. Ich war an einem mysteriösen Ort, den ich bis jetzt noch nie gesehen hatte, alles wirkte so unwirklich und... anders. Trotzdem schien meine Angst von einem Gefühl der Ruhe unterdrückt zu werden. Meine eigenartige Stimmung machte mich selbst ganz kirre! Ich stieß einen langen Seufzer aus und lehnte mich zurück. Eine Bewegung aus dem Augenwinkel weckte meine Aufmerksamkeit. Ich sah genauer hin, doch erstmal geschah nichts. Ich war mir jedoch sicher, dass sich eben gerade dort etwas bewegt hatte.

Wie auf ein Stichwort fing das "Moos" an - jedenfalls hatte ich es für Moos gehalten - sich zu bewegen und ein Hügel von der Größe eines Fußballs erhob langsam sich aus der Erde. Zwei Schlitze teilten sich und gelbe Augen starrten mich an. Für eine Sekunde wurde es still, dann öffnete das Etwas seinen Mund und quarkte mich an. Mit einem spitzen Schrei sprang ich auf meine Füße und hechtete Hals über Kopf zu den Bäumen. Das Blut rauschte in meinen Ohren und meine Gedanken wirbelten in meinem Kopf.

Was war das gerade?! Verfolgt es mich? Will es mich auffressen?! Verdammt, ich will endlich aufwachen! Das Ganze ist doch verrückt!

Ehe ich mich versah, war die kleine Lichtung, an der ich aufgewacht war, verschwunden. Die Bäume zogen verschwommen an mir vorbei und Äste peitschten mir ins Gesicht, doch ich rannte ohne stehen zu bleiben, ohne eine Ahnung wohin ich rennen sollte. Der Lärm, den ich verursachte, verscheute wahrscheinlich sämtliche Tiere in meinem Umkreis. Innerhalb kürzester Zeit befand ich mich an einem unbekannten Ort. Nirgendswo konnte man sich auch nur ansatzsweise orientieren, es gab kein Zeichen von Zivilisation, nur Natur. Meine Beine trugen mich irgendwo hin. Zwischen den dichten Baumkronen drang nur spärlich Licht durch und die Dunkelheit schien sich mit jedem Schritt zu verdichten. Auch die Geräusche um mich herum wurden leiser bis letztendlich alles vollkommen still war. Die Vögel hörten auf zu zwitschern und der Wind hörte auf zu wehen. Einzig und allein das Knacken der Äste unter meinen Füßen und mein Keuchen war zu hören. 

»Mama...«, wimmerte ich mit Tränen in den Augen.

Ich will jetzt endlich aufwachen. 
Das beruhigende Gefühl, dass ich vorhin auf der Lichtung gespürt hatte war nun verschwunden und ich hatte furchtbare Angst. Ich wusste nicht, wie lange ich noch rannte, doch langsam ging mir die Kraft aus und immer öfter stolperte ich über Wurzeln und anderem Gestrüpp. An einem besonders großen Baum blieb ich stehen und stützte mich mit einem Arm ab. Heftig rang ich nach Luft. Ein Schweißfilm bedeckte mein Gesicht und ich hatte unsagbaren Durst. 

»Ich kann nicht mehr.«, murmelte ich grimmig und wischte mit meinem Ärmel übers Gesicht. Vom Rennen hatte sich mein Körper aufgewärmt und mir war unglaublich warm. Mein Gesicht brannte von den kleinen Kratzern und meine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding. Besorgt sah ich mir meine misshandelte Kleidung an und untersuchte sie nach Rissen. Mein Pullover war an mehreren Stellen aufgerissen und dreckig. Meine Jeans hatte Löcher und an meinen Schuhen klebten Blätter und Erde. Mum würde nicht gerade erfreut sein, wenn sie das Waschen müsste. 

Ach, Quatsch!
Mit einem Ruck richtete ich mich wieder auf. 

Das alles war immer noch ein Traum! Nichts weiter als die verrückte Vorstellungskraft meines Gehirns!
Vollkommen überzeugt war ich aber schon lange nicht mehr. Ich sah mich um. Wo war ich eigentlich? Als ich losgerannt war, hatte ich keine Ahnung, wohin ich eigentlich rannte und so befand ich mich jetzt irgendwo in diesem riesigen Wald. Ich wandte mich gerade um, um meinen Weg ins Nirgendwo fortzusetzen, als etwas knapp an meinem Ohr vorbeisirrte und mit einem Klock im Baum stecken blieb. Mit weit aufgerissenen Augen schielte ich zu dem Gegenstand, dass mich gerade beinahe aufgespießt hatte. Der Pfeil steckte tief im Stamm und vibrierte immernoch von der Wucht des Aufpralls. Langsam, schon fast in Zeitlupe drehte ich mich um, um zu sehen, wer nach meinem Tod trachtete. Selbst nach all der Zeit wundere ich mich noch über meine ruhige Reaktion damals. Es musste an dem Adrenalin liegen, dass zu der Zeit mit Höchstgeschwindigkeit durch mein Blut schoss.

Das Erste, was mir auffiel, war die knappe Bekleidung. Er hatte nur eine knielange Hose an und sein Oberkörper war frei. Ein Köcher war auf seinen Rücken geschnallt und er trug Armschutz an beiden Armen. In seiner einen Hand hielt er einen schlanken Bogen. Alles an der Person, die ein paar Meter zwischen den Bäumen stand, war braun und grün getarnt, sogar auf dem gebräunten Gesicht hatte man grüne und weiße Streifen gezeichnet. Sie verzierten seine Stirn, zogen sich über seine Wangen und gaben ihm einen gefährlichen Schein. Die Verzierungen liefen sogar über seinen ganzen Oberkörper und hörten kurz vor der Hose auf. Auf den ersten Blick hatte ich ihn beinahe übersehen, doch dann bewegte er sich mit einer fließenden Bewegung und zielte mit einem weiteren Pfeil auf mich. Erstarrt vor Furcht rührte ich keinen Muskel und konnte ihn nur anstarren. Er hatte bernstein-farbene Augen und den Blick eines Raubtieres. In seinen Augen lag der Glanz fester Entschlossenheit. Sollte ich mich bewegen, würde der Junge nicht zögern den Pfeil abzuschießen. 

Mein Leben hing am seidenen Faden.

 

ζ


Mein Herz hämmerte in der Brust und ich atmete nur flach. Mein Körper zitterte und meine Knie fühlten sich butter-weich an. Mir war, als könnte ich jeden Moment in Ohnmacht fallen.
Mehrere Sekunden, die mir vorkamen wie eine Ewigkeit sahen wir uns einfach nur an. Ich konnte mich nicht von seinem Blick mit diesen geheimnisvollen Augen lösen, sie zogen mich in einen Wirbel voller warmer Farben und doch schienen sie auf eine Art kalt. Mir war sofort klar, dass diese Augen Dinge gesehen haben mussten, die man keiner Person zumuten konnte. Schließlich senkte er den Bogen und steckte den Pfeil wieder in den Köcher. Stattdessen holte einen Strick aus der kleinen Tasche an seinem Oberschenkel und kam auf mich zu. Starr vor Angst konnte ich ihn nur dabei zusehen, wie er sich mir langsam näherte. Plötzlich meldete sich eine kleine Stimme in meinem Hinterkopf, die schrie, dass das die Gelegenheit war, um zu flüchten. Ohne noch groß nachzudenken, wirbelte ich herum und rannte, so schnell wie mich meine Beine tragen konnten. Ich hörte durch ein Fluchen auf einer, mir fremden Sprache, und ein Knacken, dass ich verfolgt wurde. Meine Panik verlieh mir ungeahnte Kräfte und ich rannte wortwörtlich um mein Leben. Das schnelle Keuchen hinter mir kam aber rasch näher und mich verließ der langsam den Mut. Ein Geräusch in der Luft ließ meinen Blick nach oben schießen, und ich sah gerade noch den Schatten des Seils, als er sich auch schon um mich wickelte, mich stolpern ließ und der Boden des Waldes sich mit rasanter Geschwindigkeit meinem Gesicht näherte. 
Es lag zwar jede Menge Laub auf dem Boden, doch der Aufprall war hart, und er raubte mir den Atem. Die Schmerzen durchzogen meinen ganzen Körper und Tränen sammelten sich in meinen Augen. 

Es ist vorbei, dachte ich noch, dann wurde alles um mich herum schwarz.

 

ζ

 

Ich wurde durch ein unsanftes Rütteln wach. Ich hing kopfüber und das ganze Blut fing langsam an sich in meinem Kopf zu sammeln. Meine Arme und Beine waren gefesselt und mein Mund verbunden. Der Junge hatte mich über seine Schulter geworfen und trug mich nun irgendwo hin. Ich begann leicht von der Stelle zu rutschen und erneut wurde ich unsanft in die alte Position gebracht. Grummelnd warf ich ihm ein paar unhöfliche Schimpfwörter an den Kopf, doch da er meine Sprache nicht zu sprechen schien, würde er sie eh nicht verstehen. Etwas berührte meine Schulter, und als ich meinen Kopf drehte, blickte mich ein toter Hase an und ich keuchte erstickt. Panisch fing ich an zu zappeln und ich hörte den Jungen erneut fluchen. Schließlich fing er an zu wanken und beide, er und ich, fielen zu Boden. Ich landete sanft auf ihm, doch er bekam alles ab. Wütend schubste er mich von sich runter und ich wimmerte, als ich auf einem blauen Fleck landete. Ich zuckte zusammen, als er mich erneut über seine Schulter werfen wollte, und er stoppte mitten in seiner Bewegung. Dann griff er unter meine Achseln und hievte mich vorsichtig hoch. Überrascht von der unerwarteten Sanftheit sah ich ihn an, doch er mied meinen Blick. Er ließ mich los und suchte nach dem Hasen, den er ebenfalls fallen gelassen hatte. Noch immer wurde mir leicht schlecht, als ich das tote Tier sah, doch diesmal ignorierte ich es einfach. Der Junge kramte ein Messer aus seiner Tasche und schnitt meine Beinfesseln durch, doch meine Armfesseln ließ er dran. Dann deutete er mir, ihm zu folgen.

Auch wenn es mir strebte, zu tun, was er wollte, trottete ich ihm hinterher. Ich wusste, ohne ihn würde ich diesen Wald nicht lange überleben. Wir wanderten den ganzen Tag und kamen schnell voran. Die Landschaft veränderte sich nicht und ich realisierte, wie groß dieser Wald wirklich sein musste. Die ganze Zeit über redete der Junge kein Wort mit mir und ignorierte mich größtenteils. Nur bei einem Felsen half er mir ihn zu erklimmen, da meine Arme schließlich noch verbunden waren. Sonst begegneten wir keinen großen Hindernissen. Ich merkte, dass der Junge sein Lauftempo erhöhte, als die Sonne langsam unterging. Es wurde langsam kühler und die Geräusche bekamen einen gruseligen Klang. Meine Füße taten weh und ich war kaum noch in der Lage zu laufen, als wir endlich eine kleine Lichtung erreichten, die dem Jungen anscheinend als Lagerplatz diente. Ein kleines Lager war aufgebaut, und ein freundliches Feuer prasselte vor sich hin. Bevor wir die Lichtung betraten, blieb der Junge stehen und flötete leise eine Melodie, die ein ungeübtes Ohr mit dem Zwitschern eines Vogels hätte verwechseln können. Jemand antwortete auf die Melodie mit einer anderen und hinter einem Gebüsch tauchte ein weiterer Junge auf. Er war ähnlich gekleidet wie der Junge, der mich hierhin verschleppt hatte und auch er hatte Verzierungen auf Gesicht, Arme und Oberkörper. Er war etwas schmächtiger und schien auch jünger. Erfreut eilte er auf uns zu und sagte etwas zu meinem Entführer. Sein Gesicht hatte einen fragenden Ausdruck und deutete auf das Feuer. Zur Antwort hielt mein Entführer dem Jungen den toten Hasen vor die Nase und deutete auf mich. Als der andere Junge mich endlich entdeckte, weiteten sich seine Augen und er stolperte fassungslos zurück. Er sagte etwas und legte seine Hand um einen kleinen Beutel um seinen Hals. Beleidigt blickte ich weg. 

So schlimm sehe ich nun auch nicht aus, dachte ich leicht verletzt und wollte mir durch die Haare streichen, doch meine Arme waren immer noch gefesselt. Mein Entführer fauchte ihn an und deutete zum Feuer. Eilig nickte der kleinere Junge und nahm den Hasen mit. Während er anscheinend das Abendessen vorbereitete, wurde ich zu einem Baum geführt und dran festgebunden. Ich hatte keine Kraft mich zu wehren, also ließ ich es einfach geschehen. Mein Bauch knurrte und ich wurde rot. Ich spürte den Blick meines Entführers auf mir und ich sah beschämt zu Boden. In dem Moment hätte es mir nichts ausgemacht, wenn sich der Boden aufgetan hätte. Ohne ein Wort wandte er sich um und ging zum Lagerfeuer rüber. In der Zwischenzeit hatte der andere Junge den Hasen schon gehäutet, die Eingeweide entfernt und das Fleisch in kleine Stücke geschnitten. Jetzt warf er die Fleischstücke in das kochende Wasser und schon bald blubberte eine gut riechende Suppe in dem kleinen Topf vor sich hin. Mein Magen knurrte immer lauter und mir war schon schlecht vor Hunger. Kleine Stiche fuhren mir durch den Magen und ich stand kurz davor über meine miserable Lage zu weinen. Meine Laune sank auf den Tiefpunkt, als ich die beiden Kerle essen sah und innerlich verfluchte ich sie mit den übelsten Flüchen. Wenn meine Großmutter sie hören würde, hätte sie sich wahrscheinlich im Grab umgedreht.

Plötzlich stand der kleinere von den Beiden auf und wusch seine Schüssel mit Wasser. Dann füllte er sie sich erneut mit Suppe und näherte sich mir vorsichtig. So ängstlich, wie er mich ansah, hätte ich ihn liebend gerne zu Tode erschrocken, doch die Gefahr, dass er die Suppe dann selbst essen würde, wäre zu groß, also konnte ich ihn nur mit Blicken durchbohren. Er wandt sich unter meinem Blick und er sagte etwas zu dem anderen Jungen, der darauf hin das erste Mal lachte. Sein Lachen entblößte spitze Zähne, die im Feuerschein weiß leuchteten. Ein Schauer überlief meinen Rücken, als ich sie sah. Es verlieh ihm einen dämonisches Aussehen und ich fühlte mich noch mehr eingeschüchtert als sonst schon. Der kleinere Junge löste meinen Knebel und die Armfesseln. Dann legte er die Schüssel auf den Boden und setzte sich in einiger Entfernung an einen Baum. So konnte ich in Ruhe essen, jedoch nicht weglaufen, sollte ich es planen. Ich beobachtete ihn noch so lange, bis er sich hingesetzt hatte und keine Anstalten machte, sich zu bewegen. Dann stürzte ich mich auf das Essen. Die Suppe verbrannte meine Lippen, doch ich hatte den ganzen Tag nichts gegessen und die Hitze in meinem Magen tat gut. Ich ignorierte den Fakt, dass ich gerade Hasenfleisch aß und verschlang den Rest der Suppe innerhalb von Minuten. Ich aß alles und vergeudete selbst die letzten Tropfen der Suppe nicht.

Mit hungrigem Blick sah ich hoch und hielt dem Jungen die Schüssel wieder hin.

»Mehr!«, verlangte ich. Der Junge lachte ungläubig und erhob sich aus seinem Sitz. Ich deutete auf die leere Schüssel, dann auf den Topf und sagte erneut:

»Mehr«
Dann deutete ich an, mehr Suppe essen zu wollen, in dem ich schaufelnde Bewegungen zu meinem Mund machte. Ich stellte die Schüssel wieder vor mir, sodass der Junge sie nehmen konnte und es klappte. Er nahm die Schüssel und füllte sie am Feuer wieder auf. Ich merkte, dass ich beobachtet wurde, und sah zu meinem Entführer, welcher mich mit einem undeutbaren Blick ansah. Er wandte seinen Blick ab und fuhr fort, an einem Stück Holz zu schleifen. Nach der zweiten Schüssel Suppe, die mir gewährt wurde, überkam mich die Erschöpfung und ich schlief ein. 

 

ζ

 

Mit einem Stöhnen wachte ich auf. Mein Nacken war steif, es war eiskalt und die Rinde stach in meinen Rücken. Irgendjemand hatte mich nachlässig zugedeckt, sodass ich nicht erfror, doch meine Zehen und Finger waren steif und meine Lippen trocken. Auch wenn es tagsüber warm war, nachts war es eiskalt. Dichter Nebel lag auf der Lichtung und der Wald schlief noch. Ich riss meine Augen auf, als ich bemerkte, dass ich alleine auf der Lichtung war. Nur eine geschwärzte Stelle, da wo gestern Nacht das Feuer gewesen war, zeugte davon, dass ich mir das Gestern nicht alles nur halluziniert hatte.

»Mist, Mist, Mist«, fluchte ich leise und immer wieder. Ich blickte mich um. Hatten sie mich hier zurück gelassen?!

»Hallo?« Meine Stimme klang rau und heiser. »Ist hier jemand?!«
Langsam wurde ich panisch. Noch nicht einmal losgebunden hatten sie mich, diese Penner! Wollten sie mich hier verrecken lassen oder wie?! Ich fluchte laut und warf den abwesenden Jungen alle Schimpfwörter an den Kopf, die mir einfielen. 

»Wie könnt ihr es wagen mich hier einfach alleine zulassen?!«, brüllte ich verzweifelt und ziemlich verärgert in die morgendliche Stille. Mein Ärger machte Traurigkeit platz und ich fing an zu weinen. 
Ein Rascheln ließ mich aufblicken. Bernstein-farbene Augen blitzten mich zornig an. Er schien erzürnt und er deutete mir an, still zu sein. Erleichterung durchströmte mich und ich konnte nicht anders - ich musste ihn anlächeln. Ich war so erleichtert, dass sie mich doch nicht allein gelassen hatten, dass ich die Tatsache, dass ich ihn nicht mochte, einfach ignorierte. Irgendetwas schien ihm Sorgen zu bereiten, denn er hatte einen gestressten Gesichtsausdruck und er wirkte hektisch. Innerhalb eines Augenblickes durchschnitt der Kerl meine Fesseln und warf mich regelrecht in den Sattel eines Tieres, dass ich bis jetzt noch gar nicht bemerkt hatte. Es schien eine Art Reittier zu sein, hatte große Ähnlichkeiten mit einem Hirsch, doch es wirkte robuster und es hatte ein Horn anstatt eines Geweihs. Auch dieses Tier hatte Bemalungen in den Farben des Waldes auf seinem kurzen schwarzen Fell und Stoff wurde um die Hufen gewickelt, wahrscheinlich um Lärm zu verhindern. Er schwang sich hinter mich in den Sattel und nahm die Zügel in die Hand.

»Wo gehen wir hi.. hmpf« Er schnitt mir meine Worte ab, indem er seine Hand fest auf meinen Mund drückte. Verzweifelt versuchte ich seine Hand von meinem Mund wegzubekommen und krallte mich mit meinen Fingern in seine Hand. Ich versuchte ihn zu kratzen, doch es kümmerte ihn wenig. Aufmerksam lauschte er in den Wald hinein, und er hatte seine Augenbrauen nachdenklich zusammengezogen. 

Ein plötzlicher Schuss in der Stille ließ auch mich innehalten. Was war denn das? Das klang wie ein Schuss aus einem Gewehr..  Ein erneuter Schuss ließ mich zusammenzucken. Weitere Schüsse folgten und in der Nähe erhob sich erschrocken ein Schwarm Vögel. Er zischte wütend und gab dem Tier ein Zeichen, loszureiten. Er reitete schnell und trieb das Tier immer weiter an. Der Wald zog mit unglaublicher Geschwindigkeit an uns vorbei und unter dem dünnen Stoff des Satteln konnte ich die Muskeln des Tieres arbeiten spüren. Mit der Zeit gesellte sich auch der zweite Junge wieder zu uns und auch er ritt ein stattliches Tier mit rotbraunem Fell. Die Strecke, die wir hinter uns legten, machte sich durch meinen schmerzenden Hintern bemerkbar. Immer wieder rieb er gegen den Sattel und bei jedem Aufprall auf den Boden zischte ich leise durch die Zähne. Der Reiter hinter mir verzog jedoch keine Miene und es zeigte sich deutlich, dass er an so etwas gewohnt war - ich nicht.

Durch ihre Unterhaltungen lernte ich die Namen der beiden Jungen kennen. Der Größere von den Beiden und mein Entführer hieß Kikenai und der Kleine Plajid. Mir fiel die Veränderung des Waldes erst auf, als wir schon mittendrin waren und unser Reittier an Geschwindigkeit verlor. Die Bäume standen hier in größeren Abständen und Sonne konnte auf den Waldboden dringen.

Kleine Häuser, die in Wirklichkeit wie kleine Erhebungen an den Bäumen aussahen klebten an den mächtigen Stämmen. Weiße, dünne Rauchfahnen, die aus den "Schornsteinen" dieser Häuser kamen deuteten auf intelligentes Leben hin. Zwischen den Bäumen waren Seile gespannt und kleine Brücken ermöglichten die Fortbewegung zwischen den Bäumen, ohne den Boden benutzen zu müssen. Ich konnte diese Konstruktionen nur mit offenem Mund anstarren. Sie waren mehrere dutzende Meter über dem Boden erbaut wurden, wie konnte das nur möglich sein? Kikenai stieg ab und führte das Tier nur noch. Erneut pfiff er eine Melodie, es war die selbe, die er auch gepfiffen hatte, als wir Plajid das erste Mal begegnet waren. Daraufhin antworteten ihm dutzende von Melodien und zwischen den Bäumen, wie aus Zauberhand, die Bewohner dieses Ortes hervor. Sie waren überall. Ich entdeckte andere Männer, Frauen und ihre Säuglinge, ältere Menschen und auch Kinder. Sie alle schienen auf Kikenai's und Plajid's Ankunft gewartet zu haben. Wie auch mein Entführer und sein Freund waren hier alle auf die selbe Weise gekleidet. Alle hatten dunkelbraune Haare.

Ich wurde von den meisten Menschen ignoriert und nur vereinzelt nahm ich furchtsame Blicke auf. Ich versuchte mich so klein wie möglich auf dem Reittier zu machen. Das Gefühl der Einsamkeit und Furchtsamkeit nahm in mir die Überhand. Plötzlich tippte jemand zaghaft an meinen Unterschenkel. Überrascht blickte ich auf und sah einem Mädchen in die bernstein-farbenen Augen. Erneut wurde ich in den Bann dieser wunderschönen Farbe gezogen, doch diesmal hielt der Effekt nicht lange. Sie hielt mir die Hand hin und bot mir an, mir vom Reittier herunterzuhelfen. Erst zögerte ich, doch dann nahm ich ihre Hilfe an und schwang mich steif vom Pferd. Alle Knochen schmerzten mir und ich fühlte mich elend.

 »Danke«, krächzte ich und meine Stimme verweigerte mir den Dienst, da ich während der ganzen restlichen Reise kein Wort mehr gesagt hatte. Bei dem Klang meiner Stimme drehte sich Kikenai überrascht um und als er mich mit dem Mädchen sah, stürzte er wutentbrannt auf uns zu. Ängstlich duckte ich mich, doch das Mädchen blickte ihn hoch erhobenen Hauptes in die Augen. Er sagte etwas und gestikulierte wild mit den Armen, doch sie blieb standhaft und antwortete ihm, ohne auch nur den Hauch von Angst zu zeigen. Dann zischte sie noch etwas, nahm meinen Arm und zog mich mit sich. Sie war etwas kleiner als ich und trotzdem wies sie ungeheure Stärke auf. Wir ließen Kikenai hinter uns und konnte seinen zornigen Blick noch lange in meinem Rücken spüren. Durch eine kleine Holzplattform konnte man nach oben gelangen, alles, was man dafür tun musste, war einen Schalter umzulegen. Das Ganze funktionierte nicht anders als ein Fahrstuhl. Schneller als erwartet waren wir oben angekommen und von hier wirkten die Häuser viel größer, als ich gedacht hatte. Nicht nur die Häuser, auch die Bäume schienen noch gewaltiger von hier oben. Ehrfürchtig blickte ich mich um und folgte dem Mädchen über Brücken und Seile. Schon bald hatte ich die Orientierung verloren. Wir liefen schon eine ganze Weile. Vor Erschöpfung begann ich zu schwanken, die Reise hierher hatte mir mehr Kraft gekostet, als ich dachte. 

»Wir sind bald da.«

Ich nickte dankbar und blieb dann abrupt stehen. Fassungslos sah ich sie an.

»Was hast du gerade gesagt?«, fragte ich das Mädchen.

»Ich meinte, wir sind gleich da.«, antwortete sie erneut, mit einem sanft klingenden Akzent. Auch sie blieb stehen und blickte mich geduldig an.

Ich fing an zu stottern, versuchte einen Satz zu formen, doch mir wollte einfach nicht einfallen, was ich dazu sagen konnte. Ich war fassungslos, überrascht, erschrocken und gleichzeitig auch ein wenig.. ein wenig wütend. Ich dachte, ich wäre die Einzige gewesen, die meine Sprache sprach und hatte mich so hilflos gefühlt.. Mein Zorn wuchs. Dieser Kikenai..

Wenn dieses Mädchen meine Sprache sprechen konnte, dann konnte er es bestimmt auch!

»Dieser Mistkerl!«, platzte es aus mir heraus. Verwirrt sah mich das Mädchen an, dann fing sie plötzlich an zu lachen. Auch sie hatte spitze Zähne und erst jetzt fiel mir die Ähnlichkeit zwischen Kikenai und ihr auf. Die Ähnlichkeit war sogar so groß, dass sie mich verblüffte. Wie um es zu bestätigen, dass die Beiden Geschwister waren, sagte sie lachend:

»Du meinst meinen Bruder nicht war?« Sie kicherte noch immer. »Ja, er kann manchmal echt gemein sein, aber so ist er halt. Tief in seinem Inneren ist er aber ganz in Ordnung.«

Mir ging ein Licht auf. Deswegen hatte sie eben gerade gegen ihn ankommen können, ohne dass er was sagen konnte. Sie war mit ihm aufgewachsen, natürlich hatte sie, als seine Schwester, keine Angst vor ihm. Ich nickte verständlich und brachte das Mädchen damit wieder zum lachen.

»Du bist echt lustig, weißt du das?« Jetzt musste auch ich lachen und mein ganzes Gesicht tat weh. Meine Wange pochte und signalisierte mir, dass ich wohl einen dicken, blauen Fleck in meinem Gesicht haben musste. Mit verzogenem Gesicht hielt ich meine Wange und besorgt trat sie näher. 

»Lass mal sehen.« Zischend sog sie die Luft ein, als sie mein Gesicht näher betrachtete.

»Typisch Jungs! Immer müssen sie so grob mit einem umgehen!« Ihre Wut ließ ihren Akzent noch stärker hervortreten und ich bestaunte ihre Niedlichkeit. Dieses Mädchen war mit diesem Grobian verwandt? Das konnte doch nicht sein.

»Komm, wir gehen weiter. Ist nicht mehr weit.« Sie lächelte und deutete mir, weiterzugehen. Als wir um einen riesigen Baum bogen, standen wir vor einem rot angestrichenen Eingang. Die Farbe wirkte hier unnatürlich und fehl am Platze.

»Hier rein.«, wies mir das Mädchen an und ging vor. 

In dem Haus war es überraschenderweise überhaupt nicht dunkel und vor allem groß. Mehrere Fenster ließen Licht in das Haus und enthüllten ein großräumig eingerichtetes Haus. 

Hier wohnen die Beiden also.

Die Küche und das Wohnzimmer waren mit dem Eingangsbereich verbunden.

Impressum

Texte: Diese Geschichte ist vollkommen fiktiv und stammt von mir.
Lektorat: Sanventura
Tag der Veröffentlichung: 10.06.2018

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch widme ich meinen Lesern.

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