Cover

Eine kleine Übung im schlechten Schreiben: Wie man Spannung vermeidet durch falsche Auswahl der Informationen




Auf dem Schulweg wurde sie plötzlich von einem bösen Monster überfallen. Sie stand auf einem kleinen idyllischen Feldweg. Rechts neben ihr lag eine grüne Wiese, die von verschiedenen kleinen Blümchen übersät war: rote Mohnblumen, blaue Kornblumen, so blau wie das Meer an einem heißen Sommertag, wenn man nass geschwitzt war und eine Abkühlung suchte, so blau wie die Sehnsucht, so blau wie die Augen ihres Klassenkameraden Jonas, der ihr gestern zugelächelt hatte und in den sie heimlich verknallt war und das schon seit so vielen Jahren, ja schon seit sie an der Schule war, und daneben weiße Margeriten, Gladiolen, Orchideen, Wegwarten, Ginster, Veilchen, Gänseblümchen, Hahnenfuß, Glockenblumen, Rosen, Pfingstrosen, Heckenrosen, Flieder, Sommerflieder, Bartnelken, Lilien, Nelken, Klee aller Art, Löwenzahn und Rittersporn. Auf ihrer linken Seite waren kleine Sträucher mit verschiedenen Früchten und zweihundert Meter weiter befand sich ein kleines schattiges Wäldchen. In die andere Richtung lagen die Weihern. Das Monster sprang auf sie und dachte: Oh, die sieht lecker aus, und sie dachte: Oh verflixt, was soll ich tun, und weinte und dachte an zuhause, an ihre Eltern und ihren Bruder und an Jonas und an ihre Katze und ihre Freundin Isabella und ihre Englischlehrerin, die immer so nett zu ihr war, und an die freundliche Kassiererin im Schreibwarengeschäft, bei der sie immer ihre Stifte kaufte, und an ihre Tante Ingeborg, die immer sagte, sie solle sich die Haare schneiden, obwohl ihre Haare gar nicht so lang waren, weil sie sie ja regelmäßig schneiden ließ und sich mit der Friseurin, die turmhohe knallrote Haare hatte, weil sie fand, dass man als Friseurin bunte Haare haben musste, über die neuesten Entwicklungen in den Telenovelas, die sie beide so gerne guckten, unterhielt, und ihre Oma Walburga, die ihr immer Schokolade aufzwang, an ihren Opa Egon, der immer auf dem Klo saß, an ihre verstorbene Oma Waltraud, die sie nie kennengelernt hatte, die aber im ganzen Dorf für ihre Kuchen bekannt gewesen war, an ihre frühere beste Freundin Valentina, an den ekligen ehemaligen Klassenkameraden Daniel, der sich immer über ihre Nase lustig gemacht hatte, an ihren Cousin Fritz, an ihre Cousine Anne, an ihre Cousine Lisa, an ihre Cousine Rosa und deren Mann Ferdinand sowie die drei Kinder Anita, Diane und Nick, an die Freundin ihrer Cousine Rosa, an den Ex-Mann ihrer Tante Gertrud, an ihre Kindergärtnerin, die sie nie hatte leiden können, weil die immer so böse geguckt hatte, wenn sie morgens ankam, an den alten Hausmeister, der mittlerweile gestorben war, an den Mann, der ihre Fahrkarten kontrolliert hatte, an den alten Busfahrer, an eine Frau, die sie in der Einkaufsstraße gerammt hatte, an den Müllmann, an den Postboten, an den Hund ihres Nachbarn, an die Freundin des Hundes ihres Nachbarn und ihre Schreibtischlampe. Doch kurz bevor das Monster sie ganz essen konnte, kam Jonas daher und schlug es nieder.
Er sah heute wieder so ungeheuer gut aus, mit seinen dunkelblonden Haaren und den strahlend grünen Augen, so grün wie der Wald und die Wiesen, so grün wie die Ampel, an der sie vor ungefähr zwei Minuten vorbeigelaufen war. Sie hatte geglaubt, sie noch rechtzeitig erreichen zu können, aber die Ampel war rot geworden, bevor sie sie erreichte, und sie musste warten, bis sie wieder grün wurde, und sie wartete so lange und neben ihr standen eine alte Frau und ein alter Mann und sie wartete immer noch.
„Alles in Ordnung?“, fragte Jonas.
„Ja.“ Sie lächelte und war froh, dass sie dieses Abenteuer mit dem Monster überlebt hatte. Jonas und sie kamen zusammen, aber sie trennten sich drei Wochen später wieder und zehn Jahre später heiratete sie einen BWL-Studenten und im ersten Jahr ihrer Ehe kauften sie einen neuen Flachbildfernseher.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 23.02.2020

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /