Am Abend zieht die Kälte durch die Vororte der Stadt, eine sanfte Kälte, die einhergeht mit dem Sonnenuntergang, eine Kälte, die sich flüsternd leise über die Gärten legt und die Bewohner in ihre Häuser drängt, hinter vergitterte Fenster und scharfe Alarmanlagen. Das Verstummen der Vögel kündigt diese Kälte an, und kein Windhauch geht. Es ist ganz still. Die Stadt ist viel zu weit entfernt.
Ein Mann zieht den Schlüssel aus dem Vorhangschloss, er dreht sich um und steht sich selbst in seinem mächtigen Wohnzimmer gegenüber. Er verzagt nicht an der Einsamkeit. Sein Blick schweift über das Bücherregal, eines der wenigen Möbelstücke in einem Haus, das eher bewohnbar als bewohnt ist. Er greift einen schmalen, roten Band aus dem Regal, setzt sich und legt das Buch wieder aus den Händen. Die Unterschenkel, gleich über den Knöcheln, spüren die Kälte. Von draußen drängt sich die Nacht auf, auch wenn nur hinter Gittern, hinter geschlossenen Fenstern, aber in ihrer Unabänderlichkeit bedrohlich. Wie das Geräusch eines brechenden Astes in vollkommener Stille.
Schemenhaft nur noch ist die das Grundstück umgebende Mauer zu erkennen. Scherben von Sprite, Cola und Schweppesflaschen, einzementiert, bewehren das solide Bollwerk. Ein Draht mit messerscharfen Widerhaken ist schlampig in sich fortsetzenden Bögen am Mauersims befestigt. Hinter der Mauer fällt der Hang steil ab zu einem schwarzen Rinnsal, das faulig, langsam in Richtung der Verdammten der Städte fließt. Filigran sind in vier Linien Starkstrom führende, nackte Drähte am Ufer entlang gespannt.
Am Eckpfosten der Nordseite kommt es zu Funkenschlag, ein Knacken von Elektrizität, ausgelöst durch einen Eukalyptusast, den ein Greifvogel im Aufwind auf die äußerste Schutzeinrichtung hatte fallen lassen. Die zu vernachlässigende Ableitung elektrischer Spannung beeinflusst nicht die Funktionalität des Elektrozauns.
Über den Tisch des Sofaensembles hinweg stiert der Mann fortwährend hinaus in den nächtlichen Garten. Dann fällt sein Blick wieder auf das rote Buch, weiter auf die Rückseite eines Magazins, sein Blick bleibt hier hängen. Goldgelb glänzt Whisky im Glas eines Werbeträgers, der erhaben und souverän auf der Abbildung präsent ist. Ein lechzendes Geräusch durchbricht die Stille. Der Whisky steht in der Küche, neben dem Wasserfilter. The Famous Grouse, blended, die Flasche ist zur Hälfte leer. Der Mann greift in das Eiswürfelfach, seine Hand fühlt nur den kalten Plastikboden. Er bedauert, auf den Moment verzichten zu müssen, in dem die Eiswürfel in die Flüssigkeit fallen und ein Geräusch machen, nicht unähnlich dem, das gerade durch Entladung elektrischer Spannung von dem Pfeiler am nördlichen Rand seines Grundstücks vernehmbar ist.
Zurück auf dem Sofa betrachtet der Mann für einen Moment den Widerschein der Energiesparbeleuchtung in der im Glas schwankenden Flüssigkeit. Er schließt die Augen, führt das Glas an den Mund und fast tröpfchenweise lässt er das Destillat über seine Lippen strömen. Tief atmet er durch die Nase ein, ein Schauder durchfährt ihn. Die Wärme in der Kehle reicht nicht hinunter bis in die Unterschenkel. Auch ein zweiter Schluck kann daran nichts ändern.
Der Mann steht auf, der Bewegungsmelder hinter ihm sollte das mit einem kurzen, roten Aufblinken registrieren. Er geht ans Fenster und starrt hinaus. Erst jetzt nimmt er das Gebell der Nachbarhunde wahr. Aus allen Richtungen durchbricht es die Stille, seit fast drei Jahren (es bleiben ihm noch zwei Monate), jede Nacht, zu jeder Zeit, aus jedem Grund. Anfangs wacht er davon auf. Dann ist es Teil einer nachlässig flüchtigen Wahrnehmung der Wirklichkeit. Teil der Kulisse seines Lebens, hat Anteil am Sicherheitsempfinden.
Er sieht jetzt eine Gestalt durch seinen Garten gehen, das schwarze Gesicht von der Dunkelheit verschluckt, allenfalls ein Weiß in den Augen, ein Rot auf den Lippen, der Körper ummantelt von einer tiefblauen Daunenjacke, ein KK Emblem auf dem Oberarm. Den Bruchteil einer Sekunde schauen sich die beiden Männer an. Mechanisch fliegt eine Hand an die Stirn des Mannes, der in der Kälte ausharren muss. Dann zieht der ab, verkriecht sich in seine Hütte, unter das Wellblechdach und streckt die Beine mit den schweren Stiefeln von sich.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 15.01.2015
ISBN: 978-3-7368-7158-8
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