Cover

XXL Leseprobe

 

H. T. Riethausen

 

 

Judasengel

 

 

 

 

Queer

 

 

Printausgabe, erschienen 2015
3. überarbeitete Auflage 2021

ISBN: 978-3-95949-469-4

Copyright © 2021 MAIN Verlag,
Eutiner Straße 24,
18109 Rostock

www.main-verlag.de
www.facebook.com/MAIN.Verlag
order@main-verlag.de

Text © H. T. Riethausen

 

Umschlaggestaltung: © Antonio Kuklik, MAIN Verlag
Umschlagmotiv: © Antonio Kuklik nach einem Foto von H. T. Riethausen
Rückseite: nach einem Foto von Claudio Divizia (shutterstock 455939425)

Druck: Eisermann Media GmbH

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

Die Handlung, die handelnden Personen, Orte und Begebenheiten dieses Buchs sind frei erfunden.
Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, ebenso wie ihre Handlungen sind rein fiktiv, nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

 

E-Book, erschienen 2015

ISBN: 978-3-95949-470-0
3. überarbeitete Auflage 2021

Copyright © 2021 MAIN Verlag,
Eutiner Straße 24,
18109 Rostock

www.main-verlag.de
www.facebook.com/MAIN.Verlag
order@main-verlag.de

Text © H. T. Riethausen

Umschlaggestaltung: © Antonio Kuklik, MAIN Verlag
Umschlagmotiv: © Antonio Kuklik nach einem Foto von H. T. Riethausen


Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.


Die Handlung, die handelnden Personen, Orte und Begebenheiten
dieses Buchs sind frei erfunden.
Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, ebenso wie ihre Handlungen sind rein fiktiv,
nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.


Wer ein E-Book kauft, erwirbt nicht das Buch an sich, sondern nur ein zeitlich unbegrenztes Nutzungsrecht an dem Text, der als Datei auf dem E-Book-Reader landet.
Mit anderen Worten: Verlag und/oder Autor erlauben Ihnen, den Text gegen eine Gebühr auf einen E-Book-Reader zu laden und dort zu lesen. Das Nutzungsrecht lässt sich durch Verkaufen, Tauschen oder Verschenken nicht an Dritte übertragen.

 

Inhalt

Gewidmet Horst Kraazberg und anderen Betroffenen, die 1950 bis 1951 in Frankfurt am Main bei den Homosexuellen-Prozessen von der amtlichen Willkür auf   dem Altar der angeblichen Gerechtigkeit geopfert wurden.

Die Verfolgung von Homosexuellen war keineswegs mit dem Kriegsende 1945 abgeschlossen.

Das Verhalten von Gesetz und Behörden in den 50er- und 60er-Jahren gegenüber den Homosexuellen war nur gemäßigt besser als das des NS-Regimes.

 

 

 

 

»Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei selbst zum Ungeheuer wird.«

Friedrich Nietzsche Philosoph (1844 – 1900)

 

Befreiende Trümmer

 

Frankfurt, 1. April 1944.

 

Er bahnte sich den Weg durch die Neue Kräme – oder durch das, was nach den Bombenangriffen der letzten Woche davon übrig geblieben war. Haushoch stapelten sich die Trümmer. Immer noch stiegen feine Rauchsäulen empor. Die Feuerwehr war damit überfordert, alle Feuer zu löschen, denn sie kam nicht zu allen Brandherden durch. Übrig geblieben war ein einziges, riesiges Trümmerfeld, durch das sich lediglich Pfade ihren Weg bahnten. In diesem Chaos war nur noch einer zu Hause: der Tod. Einstürzende Mauern hatten die begraben, die von Luftangriffen im Haus überrascht worden waren. Wer in Hohlräumen hatte doch überleben können, war durch tödliche Flammen gestorben. Der Weg zwischen den Ruinen hindurch glich einem gefährlichen Slalom. Immer wieder hörte man gewaltiges Poltern. In jedem Moment konnte eine der verkohlten Mauern in sich zusammenfallen. Aber das hatte ihn nicht davon abhalten können. Er musste Gewissheit haben!

Es wurde langsam hell.

Er kletterte über einen Schutthaufen und erblickte die Kleinmarkthalle. Verkohlte Träger der Dachkonstruktion ragten auf wie das abgenagte Gerippe eines verendeten Tieres. Die geschwärzten Mauern waren nur noch Fassade. Er schauderte bei diesem Anblick und arbeitete sich weiter. Irgendwo da vorne konnte er einen Menschen erkennen, der durch die Trümmer irrte. Vielleicht jemand, der hoffte, dass ein nahestehender Mensch überlebt haben mochte. Die, für andere hoffnungsvolle, Vorstellung erschreckte ihn und ließ ihn sein Tempo beschleunigen. Endlich erreichte er den Platz, an dem sich die Bockgasse befunden haben musste. Der einstige Straßenverlauf war nur noch zu erahnen. Mehrmals umrundete er suchend den Bereich und rekonstruierte vor seinem inneren Auge das frühere, unzerstörte Bild. Je sicherer er wurde, dass sich hier die gesuchte Adresse befunden hatte, desto besser wurde seine Laune. Kritisch betrachtete er die Trümmer. Hier konnte keiner überlebt haben. Er atmete erleichtert auf. Jetzt war er am Ziel.

Stück für Stück hatte er seine Spuren verwischt. Für die meisten war er ein Gesicht ohne Namen gewesen. Nach und nach waren verräterische Zeugen verschwunden – nicht ganz ohne sein Mittun. Nur einer hatte sich ihm widersetzt und zum Handel gezwungen – jahrelang. Wenige Wochen vor den verheerenden Bomben hatte derjenige ihn aufgesucht und sich nach Neuigkeiten aus dem Krieg erkundigt – speziell diesen einen Namen betreffend. Tage später waren die Verlustmeldungen eingetroffen und auch jener Name war verzeichnet gewesen. Daraufhin hatte er den letzten Schritt eingeleitet, der ihn von seiner Freiheit noch trennte. Er hatte dafür gesorgt, dass der letzte Zeuge verschwand. Jetzt war niemand mehr übrig, der sein Doppelleben hätte enthüllen können. Und die allerletzten Hinweise waren nun dicht vor ihm in Feuer und Asche versunken.

Er stieg den Schuttberg hinauf und starrte auf die Trümmerlandschaft, die einst die Frankfurter Altstadt gewesen war. Im Osten erhoben sich Staufenmauer und dahinter das mächtige Gebäude des Amtsgerichtes. Im Süden ragte wie ein Mahnmal in einer Felsenwüste der Domturm auf. Weit im Westen sah man die dunklen Mauern des Bahnhofsviertels, das mehr Glück gehabt hatte. Auch im nördlichen Bereich war die Zerstörung nicht so groß gewesen. Langsam stieg er die Geröllhalde wieder hinab und war fast schon an deren Fuß angelangt, als ihn plötzlich jemand an der Hose packte. Der unerwartete Halt brachte ihn zu Fall und er stürzte nach vorne. Er prallte unsanft auf und stieß sich die Schulter an einer Kante. Er rechnete mit einem Angriff, schrie auf und hielt sich schützend die Hände vors Gesicht. Aber nichts geschah.

Langsam senkte er die Hände, aber konnte keinen Angreifer wahrnehmen. Dann begriff er.

Aus dem Hügel ragte eine Spitze hervor, an der seine Hose hängen geblieben war. Umständlich löste er das Ende seines Hosenbeins, richtete sich wieder auf und betrachtete die verantwortliche Falle. Das spitze Ende war der Ausläufer einer Pickelhaube, die zur Hälfte aus dem Schutt ragte und durch den Sturz nach vorne gerissen worden war. Neugierig und ärgerlich zugleich zerrte er sie heraus und stieß im gleichen Augenblick einen Schrei aus. Sein erstarrter Blick galt nicht dem Helm in seiner Hand, sondern dem, was sich darunter befand: Dutzende von rötlichen Tonkacheln, auf denen immer das gleiche Motiv prangte: ein Strauß blauer Kornblumen!

Ungläubig riss er die Augen auf und rang nach Atem. Er schreckte aus seiner Erstarrung und ließ den Fund fallen. Hastig sah er sich um, suchte eine Lücke zwischen Schuttbergen und eilte durch die Trümmer wieder in Richtung Neue Kräme. Dort wandte er sich noch einmal um und blickte zurück. Die ganze Situation war ihm in die Knochen gefahren. War es das schlechte Gewissen, das ihn plagte? Ein unheimlicher Gruß aus der Vergangenheit? Oder ein unheilvolles Omen?

 

Geöffnete Pforten

 

Samstag, 27. Mai 1950.

 

Der Name der kleinen Straße »Luginsland« wirkte wie Hohn. Fünf Jahre nach Kriegsende sah Frankfurt nicht mehr idyllisch aus. Nur wenige Häuser waren intakt geblieben, zwängten sich zwischen beschädigte Gebäude, Ruinen, Trümmer und trostlose, vom Schutt gereinigte, Flächen. Nicht nur die Stadt lag in Scherben, auch das Leben der Menschen. Einer von ihnen war Hasso Kronstein.

Er stand vor dem Eingang der Gaststätte am Ende der Straße. Die Tür stand offen und ließ die Kühle des Abends eindringen – und musikalische Klänge hinaus. Der mittelgroße Mann lauschte der Musik. Haar und Vollbart waren so dunkelgrau wie der abgetragene Anzug.

Schritte näherten sich von der Goethestraße her. Hasso Kronstein sah auf und erblickte ein ungleiches Paar, das langsam näher kam. Ein braunhaariger, vollbärtiger Bär von einem Mann wurde begleitet von einem schlanken, rothaarigen Jungen. Hasso begrüßte sie vor der offenen Tür. Zusammen beobachteten sie die Szenerie im Inneren der Gaststätte. Zum Klang von Klavier, Geige und Klarinette probte ein älterer Sänger mit Stirnglatze und grauem Haar ein Lied. Er stand gebückt, aber seine Stimme schien nichts von ihrer Kraft eingebüßt zu haben. Mit voller Inbrunst schmetterte er den Gesang, als befänden sich im Raum mehr als nur vielleicht das Dutzend Zuhörer. Sänger und Musiker standen auf einem Podest am Ende des mittelgroßen Raumes, der mit Girlanden und Blumen prächtig dekoriert war. Zwischen allem stand eine große Frau, die es mit Hasso Kronsteins muskulösem Begleiter aufnehmen konnte. Mit ihrer üppigen Gestalt und den auffälligen Rundungen war sie die geballte Weiblichkeit in Person. Sie trug ein weites, leuchtend rotes Gewand, das gut zu ihren rotbraunen Haaren passte. Zufrieden sah sie zu, wie ein Angestellter ein Schild in den Kachelofen schob. Ihre Stimme klang hell und mächtig wie eine Fanfare.

»War längst überfällig. Der Felsenkeller feiert seine Wiederauferstehung! Freya war gestern!«

Ein Räuspern in einer Gesangspause lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Eingangstür. Mit einem lauten Stöhnen trat der Muskelprotz ein und kam auf sie zu.

»Betty! Ist das nicht übertrieben? Zwischen dem Grünzeug muss man wirklich auf die Suche gehen!«

Sie schüttelte den Kopf.

»Es ist genau richtig, Emmerich! Jeder soll sehen, dass der Felsenkeller zu seiner alten Pracht zurückkehrt. Außerdem – nicht nur Ihr müsst dann suchen! Die Pforten sind wieder geöffnet, aber man weiß nie, wen man damit einlässt! Du verstehst?«

»Du meinst, …?« Sie nickte wissend.

»Ich rechne fest damit. Ich war überrascht, wie leicht ich die Tanzerlaubnis bekommen habe.«

Unverständnis stand in den Augen des rothaarigen Jungen.

»Das ist doch alles vorbei. Schau doch, was im Taunus-Thor los ist. Lediglich die MP machen da ihre Patrouille – gelegentlich. Die schauen einfach nur und gehen wieder. Da passiert nie etwas!«

Die Wirtin sah den Jungen mahnend an.

»Es ist mir gleich, was im Taunus-Thor passiert. Ich bleibe sauber! Haben wir uns verstanden? Ich habe gelernt, vorsichtig zu sein. Nach den geschlagenen Wunden braucht es lange, bis man wieder vertrauen kann. Und manche Schrammen werden wohl nie wieder heilen.«

Sie sah zu Hasso hinüber, der am Türrahmen lehnte und gedankenversunken den Sänger betrachtete. Emmerich stöhnte auf.

»Volker fehlt uns allen und wird unvergessen bleiben. Aber er ist eben nicht mehr da. Sich an die Vergangenheit zu klammern, macht ihn nicht wieder lebendig. Das Leben geht weiter und wer zurückschaut – an dem geht es vorbei! Hasso sieht nur den Verlust und verliert dadurch nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Zukunft!«

Betty schüttelte den Kopf.

»Ich habe den Bruder verloren, aber er die Liebe des Lebens. Solche Wunden heilen nur langsam. Lass ihm Zeit.«

Das Muskelpaket verdrehte die Augen.

»Wie lange denn noch? Volker ist seit sechs Jahren tot!«

Er zuckte erschrocken zusammen, als er sah, dass seine Worte getroffen hatten wie eine Peitsche.

»Verzeihung, ich wollte es nicht so hart ausdrücken, aber es tut mir weh, zu sehen wie er sich quält.«

Sie lächelte gezwungen.

»Du hast nur die Wahrheit gesagt. Hasso hat Volker sechzehn Jahre gekannt. Was noch schlimmer ist: er kann nicht an seinem Grab sitzen! Das ist fast so, als habe es ihn nie gegeben. Vielleicht zwingt er sich deswegen, ihn in seiner Erinnerung wachzuhalten!«

Sie sah tröstend zu Hasso hinüber, der immer noch geistesabwesend dem Sänger lauschte.

»Mein süßer, heiß geliebter Iwan!

Du liegst den ganzen Tag am Diwan! Sagst mir täglich und stündlich, schriftlich und mündlich …«

Mit einem lauten Schrei brauste die Wirtin wie eine Lokomotive in Richtung des Podestes. Jäh brachen die Musiker ab. Fassungslos gaffte sie den Sänger an.

»Das kannst Du nicht machen! Das ist unmöglich!«

»Das war einer meiner größten Erfolge!«

»Vor zwanzig Jahren! Mit der Tanzerlaubnis für Männer mache ich schon die Sitte auf mich aufmerksam. Ich habe keine Lust noch ins politische Kreuzfeuer zu kommen, weil jemand glaubt, ich sympathisiere mit den Kommunisten. Dieses Lied ist gestrichen! Haben wir uns verstanden?«

Einige der Anwesenden lachten, andere murrten. Hasso Kronstein war jetzt auch eingetreten und schritt grinsend auf sie zu.

»Hasso, das ist nicht komisch! Wenn sie mir die Konzession entziehen, verliert ihr auch einen Zufluchtsort. Vergiss das nicht!«

Ihr Blick erstarrte. Sie taxierte ihn von unten bis oben. Ihre Miene spiegelte Entrüstung wider.

»Warum hast Du den alten Anzug an? Was ist mit dem Neuen, den ich Dir heute Morgen zum Geburtstag geschenkt habe?«

»Mach nicht so einen Wirbel, das ist mein einundvierzigster Geburtstag, nicht der hundertste!«

Ihr eindringlicher Blick ließ ihm keine Wahl. Er verschwand und kehrte im dunkelblauen Anzug zurück. Emmerich, der den Raum nach seinem Begleiter durchsucht hatte, betrachtete Hasso zufrieden.

»Fabelhaft! Betty sagt, die halbe Stadt wird da sein! Ich bin sicher, Du wirst fündig werden.«

Der Angesprochene unterbrach ihn mit einer unwirschen Geste.

»Ich bin kein Mann für Spielereien. Wenn Du Dich darauf einlässt, ist das Dein Bier!«

»Was soll denn das heißen?«

Hasso machte eine Kopfbewegung in den Raum hinein.

»Wie hieß Dein Bekannter, der schon wieder weg ist? Oder all die anderen? Wie oft hast Du Dich ausgeheult über deren Unzuverlässigkeit?

Wenn es ihnen zwischen den Beinen brennt, sind sie sofort bereit, einen Treffpunkt auszumachen. Wie viele von denen sind dann ein zweites Mal erschienen, wie ausgemacht? Nur wenige! Weil ihnen das Wetter nicht gepasst hat oder sie zu faul waren, das Zimmer zu verlassen. Weil sie Schiss hatten: vor dem Ertapptwerden; vor Verantwortung und Folgen ihres Verhaltens oder vor der eigenen Courage!«

Emmerich protestierte.

»Alle sind aber nicht so!«

»Ich weiß. Ich hatte einen von den Ausnahmen!«

Das Muskelpaket sah den Freund an – einen hämischen Ausdruck im Gesicht.

»Womit wir wieder beim Thema des Tages sind. Heute hast Du Dir sogar viel Zeit gelassen!«

Hassos braune Augen schimmerten grünlich – ein untrügliches Zeichen, dass zur Vorsicht mahnte. Minutenlang musterte der Freund ihn schweigend und murmelte eine Entschuldigung.

»Vergleiche nicht jeden mit ihm! Dem hält niemand stand! Gib anderen und Dir selbst eine Chance!«

»Wozu? Damit sie ihn wieder einsperren und umbringen? Ich will das nicht noch mal durchmachen!«

»Hasso! Der Krieg ist vorbei, die Regierung hat sich geändert! Das wird sich nicht wiederholen!«

»Vielleicht haben wir eine neue Regierung! Aber es sind noch immer die gleichen Menschen!«

Der Einwurf schien den Kraftberg zu verunsichern.

»Glaubst Du, der Alliierte Kontrollrat würde so etwas zulassen?«

»Ich hoffe nicht. Das Lokal trägt wieder den alten Namen! Betty hat eine Tanzerlaubnis für Männer! Vielleicht ist das ein Hoffnungsschimmer. Aber wer von uns weiß schon, was auf ihn zukommt!«

#

Die bleigrauen Haare ließen Konrad Große älter aussehen, als er mit vierzig Jahren tatsächlich war. Entgegen seinen Befürchtungen minderte das seine äußere Erscheinung nicht, sondern machte ihn nur interessanter. Das war Paulas Meinung nach zwölf Jahren Ehe. Er betrachtete sie bewundernd. Mit ihren offenen, schulterlangen Haaren sah sie fast aus wie ein junges Mädchen und nicht wie eine Frau, die ihren achtunddreißigsten Geburtstag feierte. Die dunkelblonden Strähnen bildeten einen herrlichen Kontrast zum blauen Kleid. Schwärmerisch strich ihr Blick über die blühenden Wiesen um sie herum. Sie wandte den Kopf und ihre Augen begannen zu strahlen. Ihre Mutter hielt die siebenjährige Enkelin an der Hand. Mit den grauen Haaren, dem violetten Kleid und grauer Strickjacke sah sie aus wie eine Großmutter aus dem Bilderbuch. Daneben schritt Paulas Vater. Für seine fünfundsechzig Jahre wirkte er mit dem weißen Haar erschreckend alt. Sein Blick ruhte auf dem zweijährigen, schlafenden Enkel im Kinderwagen. Liebevoll betrachtete Paula ihren Vater. Die kleine Welt seiner Familie war sehr wichtig für ihn. Vermutlich fand er hierin Trost für all das, was er durchgemacht hatte. Sie wusste nicht, weshalb man ihn damals abgeholt hatte. Es hatte nie eine Verhandlung gegeben. Mit sechsundzwanzig Jahren längst kein Kind mehr, hatte sie damals hartnäckig versucht, Hintergründe und Verbleib zu erfahren. Sie hatte nur Hinweise auf staatsfeindliches Verhalten bekommen. Wut, Verzweiflung und Trauer hatten sie gepackt und vermutlich hätten ihre Wutanfälle sie ebenfalls in Schwierigkeiten gebracht, wäre sie damals nicht auf den jungen Polizisten gestoßen, der sie ein Jahr später abgeführt hatte – zum Altar. Erst bei Kriegsende hatten die Amerikaner ihren Vater befreit. In den sieben Jahren der Abwesenheit war er um Jahrzehnte gealtert. Keiner hatte zu fragen gewagt, wie es ihm ergangen sei. Man war viel zu froh, dass er wieder gekommen war – im Gegensatz zu vielen, deren Spuren sich im Nichts verloren. Konrad Großes Blick strich nachdenklich über seine Familie. Er hatte den Ausflug nicht nur wegen Paulas Geburtstag vorgeschlagen, sondern auch, weil er der Familie etwas beichten musste. Er ahnte, dass diese Mitteilung nicht freudig aufgenommen werden würde und hoffte verzweifelt, die richtigen Worte zu finden!

#

Irgendwo in Sachsenhausen hörte man die Glocke einer Kirche sieben Mal schlagen. Vor Hasso Kronstein stieg der Hang des Lerchesberges an. Wie Inseln im Meer thronten zwischen weitläufigen Streuobstwiesen einzelne Heckenwirtschaften oder Gärtnereien – so wie der Gartenbaubetrieb Killian, in dem der Einundvierzigjährige seit drei Jahren beschäftigt war. Nebelschleier stiegen aus dem taunassen Untergrund. Hasso hatte das Tor erreicht und betrat den Hof. Die Zufahrt wurde flankiert vom Wohnhaus auf der einen und einem flachen Anbau auf der anderen Seite. An die Rückseite des Wohnhauses schlossen sich Pferdestall und Gewächshäuser an. Der Anbau beherbergte die Küche und diente als Speisesaal für Familie und Belegschaft. Im Innern des Raumes traf Hasso auf eine hagere Frau, deren Haltung trotz des hohen Alters immer noch kerzengerade war. Tiefe Falten hatten sich in ihr Gesicht eingegraben. Ihre veilchenblauen Augen leuchteten genauso wie das stahlgraue Haar, das straff nach hinten gebunden war und in einem Haarknoten endete. Er begrüßte sie höflich und sah sich ihrem vorwurfsvollen Blick gegenüber.

»Haben Sie Ihr freies Pfingstwochenende gut verbracht, während wir gearbeitet haben?«

Bevor er etwas erwidern konnte, näherten sich schwere Schritte. Hasso atmete erleichtert auf beim Anblick eines stämmigen Mannes mit spärlichen, silbergrauen Haaren. Jener lächelte ihm freundlich zu und wandte sich mit ernster Miene an die alte Frau.

»Man hört Dich über den halben Hof! Ich habe ihm das Wochenende frei gegeben! Wir haben die Arbeit doch geschafft! Außerdem haben wir jetzt Falk!« Der Name wirbelte im Angestellten Fragen auf.

»Wer ist Falk?«

Die alte Dame verdrehte die Augen und stöhnte.

»Mein anderer Enkel! Ich bezweifle, dass er eine Hilfe ist. Auf den Markt mitnehmen kann man ihn mit seinem Benehmen jedenfalls nicht. Er vergrault uns die Kunden!«

Der ältere Mann schüttelte missbilligend den Kopf.

»Er war nicht für den Markt gedacht, sondern für die Gärtnerei. Wo ist er überhaupt? Schläft er noch?« Sie lachte abfällig.

»Der? Der ist schon längst in der Gärtnerei. Wer weiß, ob der Nichtsnutz überhaupt geschlafen hat. Er ist schließlich gewohnt, sich nachts draußen herumzutreiben!«

Für einen kurzen Moment schloss Hasso die Augen. Irgend so ein Flegel ohne Manieren sollte ihm zur Hand gehen? Das konnte heiter werden. Als er nach dem Frühstück durch die Gewächshäuser ging, hörte er Geräusche aus dem hinteren Glashaus. Durch die Scheiben erkannte er einen Schatten und öffnete die Tür. Polternd fiel eine Kiste mit Geranien zu Boden.

Er hatte einen unreifen Jungen erwartet, doch das Bild, das sich ihm bot, war weit davon entfernt. In der Morgensonne schimmerte braunes, gewelltes Haar. Einzelne Strähnen hingen in die Stirn. Das ovale Gesicht mit der kräftigen Nase und den vollen Lippen wurde von Augen beherrscht, deren Braun so unergründlich war wie die vielschichtige Miene, die Neugier und Unsicherheit, vor allem aber Misstrauen verriet. Die obere Hälfte des Hemdes war aufgeknöpft und man konnte die leicht behaarte, muskulöse Brust sehen. Der Junge ballte die kräftigen, langen Finger zu Fäusten. Hassos Blick kroch an den behaarten Armen empor, von deren Kraft die hervortretenden Sehnen zeugten. Kraftvoll und energisch klang auch die angenehme Stimme.

»Was gibt es da zu glotzen? Sie haben die Tür aufgerissen und mir ist die Kiste runtergefallen, weil ich erschrocken bin!«

Hasso setzte gekränkt zu einer Antwort an, aber dann wurde ihm klar, dass der andere Recht hatte.

»Entschuldigung, wenn ich Dich erschreckt habe! Du musst Falk sein!«

»Und Sie sind der Gärtner?«

Der Angestellte war pikiert. Der Klang glich dem der Herrschaft mit einem Dienstboten.

»Ja, ich bin derjenige, dem Du helfen sollst!«

Zu Hassos Bedauern hatte der Ton schärfer geklungen als gewollt und er versuchte gegenzulenken.

»Es ist großartig, mit Pflanzen zu arbeiten und ihr Wachstum zu verfolgen.« Falk strich achtlos über die Blätter einer Geranie.

»Was ist an dem Grünzeug großartig?«

»Du glaubst gar nicht, wie prachtvoll dieses Grünzeug blühen kann!« Spöttisch sah der Jüngere den Gärtner an.

»Und Sie glauben gar nicht, wie egal mir das ist!«

Mitleidig sah Hasso ihn an. Wie sehr musste er verletzt sein, um keine Freude empfinden zu können?

»Ich dachte früher genauso. Aber dann fand ich es toll, dass mein Tun neues Leben entstehen ließ. Eine Geranie konnte nur wachsen und blühen, weil ich zuvor einen Steckling eingetopft habe.«

Die Miene des Jungen war schwer einzuschätzen – irgendwo zwischen Spott und Bewunderung.

»Sie hätten Pfarrer werden sollen, nicht Gärtner!«

»Ist Liebe zum Leben nicht auch eine Form von Gebet?« Falk stieß einen abwertenden Ton aus.

»Lassen wir das! Ich soll Ihnen in der Gärtnerei helfen und keine Philosophiestunden nehmen!«

Hasso warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. Eine dumpfe Ahnung sagte ihm, dass ihm der Junge noch Ärger einbringen würde.

#

»Die haben Adolf verloren – nicht den Krieg! Denken Sie daran!« Immer noch hallte in Konrad Großes Kopf die Stimme des Polizeipräsidenten, der, wie er auch, Sozialdemokrat war. Vermutlich hatte er dieser Tatsache seine Versetzung zur Kriminalpolizei zu verdanken. Er war noch nicht sicher, ob es eine Verbesserung war. Zumal er keine Erfahrung im Bereich »Sitte und Moral« hatte. Er fühlte sich nicht wohl. Er vermisste die alte Uniform, die er als Hauptwachtmeister der Verkehrspolizei getragen hatte. In den letzten Jahren hatte er das Gebäude im Kettenhofweg nur bei vereinzelten Besuchen kennengelernt. Es war ein provisorischer Ersatz für das, im Krieg teilzerstörte, Präsidium in der Friedrich-Ebert-Straße. Er fragte

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: H. T. Riethausen
Bildmaterialien: © Antonio Kuklik nach einem Foto von H. T. Riethausen
Cover: © Antonio Kuklik
Lektorat: Main Verlag
Korrektorat: Main Verlag
Satz: Main Verlag
Tag der Veröffentlichung: 11.07.2021
ISBN: 978-3-7487-8806-5

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Gewidmet Horst Kraazberg und anderen Betroffenen, die 1950 bis 1951 in Frankfurt am Main bei den Homosexuellen-Prozessen von der amtlichen Willkür auf dem Altar der angeblichen Gerechtigkeit geopfert wurden. Die Verfolgung von Homosexuellen war keineswegs mit dem Kriegsende 1945 abgeschlossen. Das Verhalten von Gesetz und Behörden in den 50er- und 60er-Jahren gegenüber den Homosexuellen war nur gemäßigt besser als das des NS-Regimes.

Nächste Seite
Seite 1 /