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Die Autorin

The Man with the Horn - Die Geschichte eines beschwingten Lebens

 

Wir schreiben das Jahr 1920. In Brockville, Ontario, kommt ein Junge mit Namen Kennedy Norton Young zur Welt. Für seine Eltern Victoria und Albert war er ein absolutes Wunschkind. Lange mussten sie auf diesen Moment warten, doch jetzt wo der stolze Vater seinen Sohn in den Armen hielt war für beide der schönste Tag in ihrem Leben. Der kleine Mann wurde nach Strich und Faden verwöhnt. Albert Young war ein angesehener Arzt in Brockville und konnte ihm alles bieten was er nur wollte. Für Albert stand jetzt schon fest, dass sein Junge mal in seine Fußstapfen treten würde. Doch wie sich heraus stellen sollte, dachte der Junge überhaupt nicht daran... doch dazu später.

 

Seine Kindheit war harmonisch und liebevoll, seine Mutter vergötterte ihn und achtete sehr genau darauf,was ihr Sohn so alles trieb. Am liebsten war es ihr, wenn er in ihrem stattlichen Haus, das etwas außerhalb der Stadt lag, spielte und am besten gar nicht erst nach draußen ging. Glaubte sie doch, dass niemand von den Nachbarskindern der richtige Umgang für ihn wäre. Kennedy, der von seinen Eltern nur Kenny genannt wurde, wuchs mit klassischer Musik auf. Victoria, die gerne Pianistin geworden wäre, hörte daher viel Klaviermusik, die durchs ganze Haus zu hören war. Schnell war dadurch seine Liebe zur Musik geweckt worden. Als er sechs Jahre alt war begann Victoria ihm das Klavierspielen beizubringen. Sehr bald bemerkte sie die besondere Begabung ihres Sohnes ein Instrument zu erlernen und es perfekt zu beherrschen. Albert missfiel es ein wenig, dass er ständig am Klavier saß und übte.

»Ich möchte nicht, dass der Junge seine Zeit mit Klavier spielen verbringt. Ich habe schließlich andere Pläne für ihn«, sagte er zu Viktoria.

»Er ist doch erst ein Kind von sechs Jahren«, antworte sie ihm lächelnd.

Ein halbes Jahr später begann für Kenny der Ernst des Lebens. Die Schulzeit begann und so allmählich sollte sich sein Leben langsam aber sicher verändern. Albert fuhr seinen Sohn selbstverständlich mit seinem schicken Wagen, das beste und teuerste Auto, was man zu jener Zeit haben konnte, zur Schule, obwohl diese bequem auch zu Fuß zu erreichen gewesen wäre. So ging es Tag für Tag und die Jahre vergingen. Kenny war mittlerweile zwölf Jahre alt und war immer seltener zu Hause, was seine Mutter nicht sehr freute, da sie nach wie vor sehr besorgt um ihn war. Er kränkelte oft und war auch sonst für sein Alter ein bisschen zu klein und zu schwach. Doch das Leben außerhalb der gewohnten vier Wände war viel zu spannend für ihn, also zog es ihn hinaus. Freunde hatte er wenig. Wie auch, wenn seine Mutter es vermied ihn mit anderen Kindern in Kontakt zu bringen? Mit zwei Jungs aus seiner Klasse zog er durch die Straßen von Brockville. Es war ein langweiliges Provinznest, in dem nicht viel los war. Da war ihnen jede Abwechslung willkommen. Sie streunerten durch die Straßen und klauten Äpfel vom Obstladen, der auf ihrem Weg lag und wenn der Ladenbesitzer heraus kam, um sie zu verprügeln, nahmen sie die Beine in die Hand und liefen wie der Blitz davon. Der dicke Kerl musste meist nach wenigen Metern die Verfolgung aufgeben. Sie waren schon auf dem Weg nach Hause, da erblickten sie vor der hiesigen Town Hall ein Plakat, das ihr Interesse erweckte. Zu lesen stand dort in großen Buchstaben "The famous Duke Ellington Jungle Band is playing tonight. Don't miss it". Die drei schauten sich an, keiner hatte je was von Duke Ellington gehört, aber das konnte man ja ändern. Also nahmen sie sich vor, am Abend von zu Hause fort zu schleichen und sich diese Band anzuhören.

Man aß zu Abend, plauderte über dies und das und als Kenny mit dem Essen fertig war, sagte er: »Vater, darf ich aufstehen und zu Bett gehen? Ich bin sehr müde«.

Der Vater nickte wortlos und aß weiter. Kenny erhob sich von seinem Platz gab seiner Mutter einen Kuss auf die Wange und wünschte beiden eine gute Nacht. Schnell lief er die Treppe hoch in sein Zimmer, doch ans Zubettgehen dachte er nicht. Er öffnete das Fenster, direkt daneben stand eine uralte Eiche, er kletterte geschickt an ihr herunter und landete sicher auf dem Boden. Das war schließlich nicht das erste Mal, dass er heimlich das Haus verließ. Er lief die Straße herunter bis zur Kreuzung, dort wartete bereits sein bester Freund Mark.

»Mensch, da bist du ja endlich, dachte schon du kommst gar nicht mehr«, zog er ihn auf.

»Sorry, aber ging nicht schneller, musste erst noch zu Abend essen«, sagte Kenny noch völlig außer Atem. Dann machten sich die zwei auf den Weg in die Town Hall. Sie waren mächtig gespannt, was sie dort erwarten würde.

Die beiden Jungs hatten nicht einen Cent in der Tasche und überlegten schon wie sie unbemerkt dort rein kämen. Außerdem hatten zwei Bengel in ihrem Alter um diese Zeit überhaupt nichts mehr dort zu suchen. Kenny war klar, sollte man ihn erwischen und von der Polizei nach Hause gebracht werden, dann würde ihn sein Vater windelweich schlagen. Am Ziel angekommen, schlichen die beiden unbemerkt um die Stadthalle herum und suchten einen geeigneten Platz um dort unbemerkt einzudringen. Mark entdeckte eine alte Holztüre, die wohl für Lieferanten gedacht war. Dort wollten sie ihr Glück versuchen. Kenny drückte die Klinke herunter und war enttäuscht. Klar war sie verschlossen, wäre ja auch zu schön gewesen. Mark versuchte mit seinem alten rostigen Taschenmesser die Türe zu öffnen, doch leider ohne Erfolg. Sie wollten schon entmutigt aufgeben, da sprach sie jemand an.

»Was macht ihr da an der Türe?«, sagte die dunkle kräftige Stimme.

Die beiden erschraken. Hatte man sie tatsächlich erwischt, drohte ihnen jetzt die Tracht Prügel ihres Lebens? So viele Fragen schossen durch Kennys Kopf. Mark versuchte irgendwas zu sagen, doch es kam nur ein unverständliches Stammeln dabei heraus.

Der Mann hielt eine Laterne in der Hand zündete das Licht an und fuchtelte damit vor Kennys Gesicht herum. Jetzt konnten ihn auch die beiden Jungs sehen. Es war Isak, der schwarze Hausmeister der Town Hall. Ein riesenhafter, aber sanftmütiger Kerl. Er grinste über das ganze Gesicht, so dass seine weißen Zähne im Schein der Laterne blitzten. Die Erleichterung der beiden war groß und so erzählten sie ihm was ihr Vorhaben gewesen sei. Isak lachte und konnte die beiden gut verstehen.

»Kommt mal mit ihr Lausebengel«, grinste er, schloss die Türe auf und ging mit ihnen hinein, bis sie hinter der Bühne waren. Dort zeigte er ihnen einen Platz, wo sie unbemerkt dem Konzert lauschen konnten, nämlich direkt unter der Bühne. Die beiden konnten ihr Glück nicht fassen und bedankten sich vielmals bei Isak, der auch bald darauf wieder seinem Job nachgehen musste.

Gleich ging es los. Sie hörten über sich Schritte, die Musiker betraten die Bühne, es kam Applaus auf. Der Duke gab mit dem Fuß den Takt an und dann legten sie los. Mark und Kenny waren begeistert, so eine Musik hatten sie noch nie im Leben gehört. Sie lauschten Bubber Miley, wie er Töne aus seiner Trompete zauberte, die man Growl Stil nannte, indem er die Ventile seiner Trompete nur halb herunter drückte. Tricky Sam Nantons Posaune folgte mit einem ebenso fantastischen Solo. Kenny wurde in diesem Moment klar, dass er nichts anderes mehr machen möchte, als solche Musik zu spielen. Der Saal, nur mit schwarzem Publikum besetzt, tobte und nach knapp zwei Stunden war das Konzert beendet. Die beiden machten sich rasch auf dem Weg nach Hause. Isak hatte ihnen die Türe offen gelassen, so konnten sie problemlos das Gebäude verlassen. Völlig berauscht von den neuen Klängen kletterte Kenny den Baum hoch, ab durchs Fenster und rasch ins Bett. An Schlaf war allerdings nicht zu denken, zu sehr war er noch berauscht vom Jungle Style der Ellington Band. Ohne es zu ahnen, war es das letzte Mal, dass sie Bubber Miley hörten, der kurz darauf an den Folgen seines starken Alkoholmissbrauchs und einer Tuberkulose starb.


Unnötig zu erwähnen, dass der folgende Schultag fast komplett an ihm vorüber ging, so dass er gar nicht mit bekam, wie sein Klassenlehrer sich erfolglos bemühte, ihm sein Wissen näher zu bringen. All das interessierte ihn gar nicht mehr, in seinem Kopf hämmerte fortan nur eines und das war der Jazz. Mark war übrigens an dem Tag erst gar nicht erschienen. Sein Vater war früh verstorben und die Mutter kaum zu Hause, weil sie die Familie alleine ernähren musste. So konnte er ein recht freies Leben führen um das Kenny ihn sehr beneidete. Wenn er seinem Vater erzählen würde, dass er Musiker werden möchte, hätte er ihn womöglich mit Schimpf und Schande aus dem Haus geworfen.

Seine schulischen Leistungen nahmen rapide ab. Anstatt zu lernen, trieb er sich lieber mit seinem besten Freund Mark herum. Marks Mutter hatte einige Jazzplatten, die die beiden Jungs mit Begeisterung  hörten. Besonders Bix Beiderbecke hatte es Kenny sehr angetan. Er liebte diesen glasklaren Klang seiner Trompete und stellte sich vor, selber einmal so spielen zu können. Bix war ein Jahr zuvor an einer Lungenentzündung gestorben. Mark, der eine uralte Gitarre besaß, klimperte dazu ein bisschen mit.

»Mensch!«, sagte Kenny, »Wenn man doch bloß an eine alte Trompete käme. Ich könnte bei Dir üben, bis ich so gut wie Bix bin«, lachte er.

»Beim alten Smith im Laden hab ich eine gesehen«, meinte Mark. »Lass uns hin gehen und schauen, ob sie noch da ist.«

Das ließ sich Kenny nicht zweimal sagen. Sie hörten die Platte zu Ende und machten sich auf den Weg.


Der alte Smith hatte so ziemlich alles in seinem Laden, von der Wäscheklammer bis zur Uniform aus dem Bürgerkrieg und unter anderem auch ein ziemlich verbeultes Kornett, das wirklich schon bessere Tage gesehen hatte. Es stand etwas abseits im Fenster. Mark und Kenny drückten sich am Schaufenster die Nasen platt.

»Da! Siehst du, Kenny? Es ist noch da«, sagte Mark freudig erregt.

Die Jungs zögerten nicht lange und betraten den Laden.

»Na, was kann ich denn Gutes für euch tun?«, krächzte der alte Smith. Er muss so um die siebzig gewesen sein, sein Haar war schneeweiß und das Laufen fiel ihm sichtlich schwer.

»Mister Smith, wir interessieren uns für das Kornett dort«, sagte Kenny.

»So so«, sagte Smith. »Eine sehr gute Wahl, das ist ein ganz besonderes Stück. Ich würde es dir für 10 Dollar überlassen.«

»10 Dollar?«, sagte Kenny entsetzt. »Bis ich die zusammen habe bin ich alt und grau«, meinte er enttäuscht.

»Hören sie mal, Mister Smith«, grummelte Mark, »Das Ding ist höchstens 2 Dollar wert, sie alter Halsabschneider.«

Der alte Kerl wollte Mark gerade eine langen, doch dann ließ er es bleiben. Es gefiel ihm, wie er im Kontra gegeben hatte.

»Ho ho Junge, du gefällst mir, bist nicht auf den Mund gefallen, wirst sicher mal deinen Weg machen «, lachte Smith. »Gut, weil ihr es seid, sagen wir 3 Dollar und keinen Cent weniger!«

Die beiden schauten sich kurz an und Kenny meinte: »Abgemacht, das Geschäft gilt! Ich kann ihnen 1 Dollar als Vorschuss geben, den Rest bezahle ich in Raten.«

Der alte Smith war einverstanden und drückte Kenny das verbeulte Horn in die Hand.


Seine Augen funkelten beim Anblick des Kornetts. Zugegeben, es sah schon ziemlich erbärmlich aus. Die goldene Farbe war längst abgeblättert, man konnte sie nur noch erahnen. Der Schalltrichter war übersät mit Beulen und die Ventile quietschten, wenn man sie herunter drückte. Doch das alles war ihm egal. Stolz wie Oscar lief er mit seinem Horn durch die Straßen und versuchte verzweifelt dem Ding ein paar Töne zu entlocken, was ihm aber vorerst nicht gelingen wollte. Mit zu sich nach Hause konnte er sein Horn auf keinen Fall nehmen, also deponierte er es kurzerhand bei Mark. Dort würde es niemanden stören und so konnte er in jeder freien Minute üben.

In der Schule ließ er sich immer seltener blicken, was zur Folge hatte, dass der Direktor seinem Vater einen Brief über häufiges Wegbleiben seines Sohnes schrieb. Beim Lesen des Briefes verfinsterte sich die Miene des Vaters zusehends.

»Wenn der Junge nach Hause kommt, gibt es eine Tracht Prügel, die er sein Leben lang nicht vergessen wird!«, brüllte er seine Frau an.

Gesagt, getan, als Kenny nichts ahnend das Elternhaus betrat, stand sein Vater schon im Wohnzimmer und fuchtelte mit dem Brief vor Kennys Gesicht herum.

»Hast du eine Erklärung hier für?«, fuhr er ihn scharf an.

Kenny wurde leichenblass und bekam kaum ein gescheites Wort heraus. Er bekam eine schallende Ohrfeige, dass er auf der Stelle zu Boden fiel.

»Um Gottes willen!«, schrie Viktoria, »Lass doch den armen Jungen in Ruhe.«

Doch ihr Bitten und Betteln half ihm nicht. Sein Vater packte ihn an den Ohren und zog ihn somit hoch. Kenny jaulte vor Schmerz, die Tränen schossen ihm aus den Augen. Sein Vater verpasste ihm noch links und rechts zwei Ohrfeigen und schickte ihn dann auf sein Zimmer.

»Der Nichtsnutz bekommt drei Monate Hausarrest, nach der Schule geht es sofort nach Hause!«, brüllte er Viktoria an. »Du bist mir dafür verantwortlich, dass mein Befehl durchgeführt wird.«

Viktoria wagte nicht ihrem Mann zu widersprechen. Womöglich hätte er sie auch noch verprügelt, so fügte sie sich in ihr Schicksal.


Es folgte für Kenny eine trostlose Zeit, denn es gab keine Möglichkeit dem Hausarrest zu entkommen. Zu sehr stand er unter Bobachtung seines strengen Vaters. Er vermisste das gemeinsame Platten hören mit Mark. Doch eins war sicher: Sobald das hier vorbei war, ging es wieder los! Der Hausarrest wirkte Wunder, seine schulischen Leistungen wurden besser und besser und auch die Laune seines Vaters Albert besserte sich zusehends. Kenny übte fleißig das Klavierspielen mit Mutter Victoria. Er machte gute Fortschritte, was ihr besonders gut gefiel. Nur ab und zu baute er ein paar für sie ungewohnte Töne ein, die er auf den Platten gehört hatte und nun versuchte sie in sein Spiel zu intrigieren. Von Victoria erntete er aber nur einen strengen Blick und die Aufforderung, er solle sich doch gefälligst an die Noten halten. Doch für Kenny waren Noten fortan bloß eine unverbindliche Empfehlung.

Endlich! Die Zeit des Stubenhockens war vorbei, Kenny hatte sich zu einem wahrhaften Streber entwickelt und eine gute Note folgte der anderen. Seine Eltern waren mächtig stolz und so hob schließlich sein Vater den Arrest wieder auf. Gleich nach dem Gong, der das Ende des Unterrichts bedeutete, rannte er schleunigst zu Mark, der schon voller Ungeduld auf ihn wartete.

»Na, du alter Streber?«, begrüßte er ihn freudig.

»Mensch hör bloß auf... Du weißt nicht, was ich für eine üble Zeit hinter mir habe«, sagte er zerknirscht. »Den ganzen Tag zu Hause, während hier draußen das wahre Leben tobt. Jeden Tag Bach auf dem Klavier spielen bis mir die Finger schmerzten.«

Mark schaute ihn grinsend an. »Na, ich denke, ich habe da was für deine Aufmunterung.«

Sprachs und legte sogleich eine neue Platte auf das alte Grammophon. Was Kenny da hörte, raubte ihm fast den Atem. So eine Trompete hatte er noch nie gehört.

»Wer zum Teufel ist das?«, fragte er.

»Louis Armstrong. Mensch, noch nie was von ihm gehört?«, antwortete Mark.

Nein, dieser Name war ihm gänzlich unbekannt.

»Das ist der West End Blues«, sprach Mark.

»Wow, das ist ja noch besser als das was Bix gespielt hat«, dachte Kenny. »Das sind die perfektesten drei Minuten Musik, die ich je hörte«, meinte Kenny völlig überwältigt zu Mark.

Er wusste nicht, wie oft sie diese Platte an diesem Tag noch gehört hatten. Auf dem Weg nach Hause hatte er den Klang dieses Horns noch immer im Kopf. Und er sollte für immer dort bleiben.


***


1934. Kenny war gerade 14 geworden, die Schule hatte er mit Bravour gemeistert, nun sollte es aufs Junior College gehen. Eine Vorstellung, die ihm so gar nicht behagte, war er doch der Meinung, er hätte erstmal genug Wissen um im Leben zurecht zu kommen. Natürlich war sein Vater da völlig anderer Meinung und so kam es immer öfter zu Streitigkeiten zwischen den beiden. Viel lieber hing er mit Mark ab und spielte auf dem verbeulten Kornett. Sein Spiel wurde stetig besser und er überlegte bei einer Band vorzuspielen. Da er aber noch zu jung war wurde daraus erstmal nichts. So blieb den beiden nur das Zuhören, wenn mal wieder eine Band im Ort war und in den  hiesigen Lokalen ein paar Gigs hatte.

Mark, der ein Jahr älter war, hatte beschlossen nach New York zu gehen. Er könne bei einer lokalen Band als Gitarrist mitgehen. Kenny war zu tiefst geschockt, als er ihm die Nachricht freudig erzählte. Klar freute er sich sehr für ihn, doch was würde dann aus ihm werden?

»Komm doch einfach mit, Kenny«, sagte er.

»Meine Eltern würden das nie erlauben. Mein Vater würde es glatt fertig bringen und mich in ein Internat sperren, irgendwo am Ende der Welt.«

Als der Tag des Abschieds kam, konnte Kenny die ein oder andere Träne nicht unterdrücken. Man reichte sich die Hand und drückte sich zum Abschied.

»Pass auf dich auf und schreib mir alles was du in New York erlebst, hörst du?«, sagte Kenny traurig.

»Klar, mach ich und ich schicke dir auch meine erste eigene Platte«, lachte Mark.

Dann gab er ihm noch die Platten seiner Mutter und stieg in den Tourbus, der sicher auch schon bessere Zeiten gesehen hatte. Lange schaute er dem alten Bus nach bis nur noch eine kleine Staubwolke zu sehen war. Mit den Platten unter dem Arm machte er sich traurig auf den Weg nach Hause. Wie sehr er doch seinen Freund Mark beneidete. Gerne wäre er mit ihm nach New York gegangen. Aber eines war im klar, hier in diesem elenden Provinznest würde er nicht länger bleiben!


Es vergingen einige Wochen, fast glaubte er schon nicht mehr daran, da war er dann doch endlich da. Der lang ersehnte Brief aus New York von seinem Freund Mark. Er nahm ihn schnell aus dem Briefkasten, rannte wie der Blitz zum Haus, riss die Türe auf, fast rannte er noch seine Mutter über den Haufen. Mit einem Sorry auf den Lippen ging es rasch die Treppe hoch und ab in sein Zimmer. Er warf sich sofort auf sein Bett und öffnete, man konnte schon sagen er zelebrierte feierlich die Öffnung des Briefes. Gierig verschlang er die Zeilen die sein Freund ihm schrieb.

»Lieber Kenny, ich bin gut in New York angekommen, Du glaubst nicht was hier los ist! Menschengewimmel, Straßenlärm und überall Musik. Hier gibt es eine Straße, die nennt sich 52nd Street. Hier pulsiert das Leben. Aus jeder Bar ertönt Musik, Klänge die ich vorher niemals hörte.«

Kenny war begeistert, das wollte er auch erleben, wollte auch ein Teil dieser Stadt sein. Schnell las er weiter, wollte er doch wissen was Mark alles erlebt hatte.

»Ich habe mich von der Band getrennt. Das lief nicht so gut. Die sind zurück nach Kanada. Aber ich werde mich hier alleine durchschlagen und mein Glück selbst in die Hand nehmen.«

Er las Zeile um Zeile, je mehr er las, desto größer wurde sein Verlangen das Weite zu suchen. Er wusste, dass er nur dort glücklich werden konnte, doch an die Schattenseiten des Lebens dachte er damals noch nicht. Beim Abendessen erzählte er freudig von diesem Brief, doch nur er konnte sich darüber freuen. Sein Vater Albert sagte bloß schroff: »Dieser Mark ist ein Taugenichts, als Musiker sein Geld zu verdienen, das sagt doch alles. In der Gosse wird er landen! Nun iss weiter und erwähne diesen unnützen Bengel in diesem Haus nicht mehr.«

Das bestärkte Kenny nur noch mehr seinen Traum zu verwirklichen, doch es sollte noch eine lange Zeit dauern, bis es so weit war.


***


1936. Kenny war 16 und noch immer hockte er in diesem gottverdammten Nest. Briefe von Mark kamen immer seltener an und er machte sich wirklich Sorgen um seinen alten Freund. Wenn er schrieb, dann nur wenige Zeilen, dass es ihm gut ginge und er viele Gigs spielen würde, doch Kenny konnte das alles nicht recht glauben. Die Euphorie der ersten Briefe war vollends verschwunden. Das Verhältnis zu seinem Vater stand auch mal wieder auf der Kippe, weil er ihn erwischt hatte, als er heimlich Marks alte Platten hörte.

»Hörst du schon wieder diese Urwaldmusik, dieses Negergedudel möchte ich in meinem Haus nicht mehr hören!«, schrie er ihn an, nahm die Platten und zerbrach sie in zwei Teile.

Das war für Kenny der Punkt an dem er handeln musste. Er sprang auf und verpasste seinem Vater einen Kinnhaken, dass dieser augenblicklich zu Boden ging. Kenny war über seine Reaktion erschrocken und blickte auf den am Boden liegenden Vater, der ihn ebenfalls erstaunt ansah.

»Du packst deine Sachen und verlässt dieses Haus! Ich will dich nicht wieder hier sehen!«, brüllte er ihn an, nachdem er sich wieder hoch gerappelt hatte.

»Nichts lieber als das!«, sagte Kenny trotzig. »Keinen Moment länger halte ich es hier mehr aus und zurück komme ich ganz sicher nicht.«

Er packte ein paar Sachen ein, ging die Treppe herunter, wo Victoria, seine Mutter, stand.

»Es tut mir leid, Mom«, sagte er mit Tränen in den Augen. »Aber Vater zwingt mich dazu Es ist nicht mehr möglich für mich mit ihm unter einem Dach zu leben.«

Er nahm seine Mutter noch einmal in den Arm, dann verließ er das Haus. Victoria lief ihm nach, doch Albert packte sie am Arm und sagte: »Lass ihn nur, in ein paar Tagen steht er wieder vor der Türe. Ich kenne ihn nur zu gut, er wird es nie da draußen schaffen.«


Er hatte sich ein bisschen Geld zusammen gespart, um sich ein Ticket für den Bus kaufen zu können. Er wollte es seinem Vater zeigen und ihm beweisen, dass er es schaffen wird, dass man seinen Namen überall mit Respekt nennen wird. Das Wetter war an diesem Tag schlecht, es regnete und dicker Nebel zog auf.

»An so einem Tag gehen selbst die Vögel zu Fuß«, scherzte ein Mann der neben ihm stand und ebenfalls auf den Fernbus nach New York wartete. »Na, mein Junge? Willst wohl weg aus diesem Nest?«

»Ja, Sir«,  sagte Kenny.

»Nun mal nicht so förmlich, mein Name ist Dave.«

»Angenehm, ich bin Kenny«

Die beiden reichten sich die Hand und beschlossen die Reise gemeinsam fort zu setzen. Kenny und Dave waren durchnässt und ziemlich durchgefroren als endlich der Bus kam. Jeder packte seine paar Habseligkeiten und stieg in den Bus. Kenny ergatterte sich einen Fensterplatz, sein neuer Freund Dave setzte sich daneben. Dave, der schon so um die dreißig sein musste, lachte und klopfte Kenny auf die Schultern.

»Jetzt geht es los, Junge, weg aus diesem Nest.«

Kenny nickte und lächelte ein wenig. So ganz wohl war ihm plötzlich nicht mehr. Ganz alleine auf sich gestellt zu sein ist eine Situation, die er bis dato noch nie gekannt hatte. So begann für ihn eine Fahrt ins Ungewisse. Dann schlossen sich die Türen und der Bus rollte los in Richtung New York. Er blickte noch mal aus dem Fenster, sah noch einmal die Plätze, an denen er sich mit Mark herumgetrieben hatte und ein Gefühl der Angst überkam ihn wieder. Doch jetzt kneifen und wieder zurück nach Hause gehen, wo ihn sein Vater erwarten würde und ihm Versagen vorwerfen würde....Nein, das käme nicht für ihn in Frage!

Noch ein letztes Mal warf er einen Blick zurück, dann entfernte sich der Bus mehr und mehr von seinem Heimatort in Richtung New York. Dave plauderte unentwegt über seine großen Pläne, die er hatte und während er ihm zuhörte, fielen ihm die Augen allmählich zu. Dave grinste, als er Kenny leise schnarchen hörte und beschloss es ihm gleich zu tun. So vergingen einige Stunden und als er wach wurde, war es draußen schon stockdunkel. Seine neuer Freund schlief immer noch tief und fest und so sah Kenny hinaus in die Nacht und hing seinen Gedanken nach. Was wohl jetzt sein Vater machen würde, als er bemerkte, dass er seine Sachen gepackt hatte und fort war? Und seine Mutter erst! Sie weinte sich ganz bestimmt jetzt die Augen aus. So schmerzlich das alles auch war, er war der Meinung das Richtige getan zu haben.

Als der Morgen graute, machte der Bus einen Halt. Kenny gab Dave einen Stupser mit, so dass dieser aus seinem Tiefschlaf abrupt erwachte.

»Sind wir schon da?«, fragte er Kenny halb verschlafen.

»Nein, bloß einen Zwischenstopp zum Beine vertreten«, sagte er.

Dave sprang auf und verließ eiligst den Bus. Kenny kam kaum nach. Warum hatte er es so eilig? Er wusste nicht einmal wie das Nest hieß in dem sie gelandet waren. Da er Dave aus den Augen verloren hatte und ihm noch eine Stunde zur Weiterfahrt blieb, beschloss er, sich in einem der kleinen Lokale was zu essen zu besorgen. Einen großen Teller Bohnen mit Speck, das wäre jetzt das Richtige, dachte er. Als er sich mal ordentlich satt gegessen hatte, schlenderte er noch durch einen kleinen Park, der sich ganz in der Nähe befand. Da saß er ganz plötzlich, sein neuer Freund Dave. Seine Blick war in den Himmel gerichtet und er schien ihn gar nicht zu bemerken.

»Hey Dave, bist Du am Träumen?«, fragte Kenny. Doch es kam keine Antwort. Er blickte genauer hin und sah wie verdreht Daves Augen waren. »Hey Mann, was ist los?«, sagte Kenny und schüttelte ihn ordentlich durch.

Da erst wurde er aus seiner Lethargie gerissen und schaute ihn verdutzt an. »Hey Kenny alter Junge, Du bist es«, sagte er. »Hier nimm von dem Zeugs, das ist allererste Sahne.«

Kenny schüttelte den Kopf und winkte ab. »Was zum Teufel ist das?«

»Mein lieber Freund... das ist Kokain. Noch nie davon gehört?«

Wieder schüttelte er seinen Kopf und verneinte.

»Mensch, das Zeugs bringt Dich in eine andere Welt«, lachte Dave und rappelte sich mühsam wieder hoch.

»Komm jetzt«, sagte Kenny streng, »Wir müssen los, sonst fährt der Bus noch ohne uns.«

Nach diesem Vorfall saßen beide wortlos da und blickten aus dem Fenster. Sie redeten kaum noch ein Wort zusammen während der Reise. Bis Dave das Schweigen brach und zu ihm sagte: »Hey Kenny, hoffe du bist nicht sauer wegen eben. Das Zeugs ist echt harmlos, du kommst auf einen echt tollen Trip... bist in einer anderen Welt. Das hab ich vollkommen im Griff und kann jederzeit damit aufhören«, fügte er noch hinzu.

Kenny nickte bloß und schaute anteilnahmslos aus dem Fenster.

»Dann eben nicht, wirst schon irgendwann auf den Geschmack kommen«, brummte Dave vor sich hin.

Die Fahrt Richtung New York war quälend lang, es gab viel Zeit zum Nachdenken, was wohl Mark jetzt machen würde. Ob er ihn überhaupt finden würde? In seinem letzten Brief an ihn schrieb er, dass er viel in der 52nd Street wäre, wo er ein paar kleinere Gigs spielen würde. Er schwärmte so von dieser Straße, dass dort alle spielen würden, die Rang und Namen hätten. Kenny war voller Vorfreude und konnte es kaum erwarten das Ziel seiner Träume zu erreichen....New York.

Zuhause herrschte tiefste Depression, sein Vater war außer sich und wie Kenny es erahnt hatte, weinte Victoria den ganzen Tag. Sie aß und trank nichts mehr und hatte mit dem Leben abgeschlossen. Sein Vater Albert hatte ihn verstoßen und wollte nicht, dass sein Name in seinem Haus jemals wieder genannt wird. 

In den Morgenstunden war es endlich so weit. Der Bus erreichte sein Ziel und fuhr in den Busbahnhof von New York ein. Kenny der sich so danach gesehnt hatte, verschlief diesen Moment. Er träumte wie er als großer Musiker zurück nach Hause kam und seine Eltern ihn stolz in die Arme nahmen, als er plötzlich einen heftigen Stoß in die Seite bekam.

»Hey, du Schlafmütze«, grinste ihn Dave an. »Wir sind am Ziel....New York liegt uns zu Füßen.« 

Kenny schlug überrascht die Augen auf, schnappte sich sein bisschen Gepäck und rannte aus dem Bus, so dass ihm Dave kaum folgen konnte.

»New Yooooork, ich komme«, schrie er, riss dabei die Arme hoch und drehte sich wie wild im Kreis. Die Leute die drum herum standen mussten ihn für übergeschnappt halten, doch das war ihm in diesem Moment völlig egal.

»Hey Mann, beruhige dich«, sagte Dave. »Die nehmen dich sonst noch fest«, lachte er.

»Ach sollen sie nur, ich bin der glücklichste Mensch auf Erden!«, grinste Kenny und drehte sich unbeirrt weiter.

»Mensch hab ich einen Hunger... komm Kenny, lass uns erstmal was essen gehen.«

»Geh Du nur, ich versuche meinen Freund Mark zu finden«, sagte Kenny, der nicht vorhatte noch weiter mit Dave zusammen zu bleiben.

»Wie du meinst, dann wünsche ich dir viel Erfolg bei der berühmten Suche nach der Nadel im Heuhaufen«, lachte Dave laut, nahm seinen Kram und steuerte das nächste Restaurant an.

Da stand er nun inmitten von New York, Menschen wo hin das Auge blickte und doch war er in diesem Moment der einsamste Mensch von allen. Wie sollte er bloß hier seinen Freund Mark finden? Er hatte nur die 52nd Street als Hinweis, doch wo lag diese ominöse Straße? Sollte er nicht doch lieber erst einmal mit Dave zusammen bleiben? Er war älter und kam gut im Leben zurecht. So beschloss er Dave zu folgen und betrat das Lokal in dem er verschwunden war.

Da saß er und verdrückte gerade ein riesiges Steak und spülte alles mit einem großen Glas Bier herunter. Er grinste, als er Kenny durch die Türe kommen sah.

»Na, du kommst wohl doch nicht ohne mich aus«, lachte er und nickte mit dem Kopf als Zeichen, dass er sich setzen solle. Der Bedienung gab er Anweisung das gleiche noch mal für seinen Kumpel zu bringen. Kenny musste zugeben das sein Magen mächtig am knurren war und haute ordentlich rein, als die Kellnerin ihm sein Steak brachte.

»So, jetzt suchen wir uns erstmal eine Bleibe, dann machen wir uns auf die Suche nach deinem Freund und dieser 52nd Street. Die muss ja zu finden sein«, sagte Dave und lehnte sich pappsatt zurück.

Kenny spürte die Wirkung des Bieres, war es doch sein erstes gewesen, was er natürlich Dave gegenüber niemals zugeben würde, und hatte doch alle Mühe halbwegs gerade zu laufen. Selbstverständlich bemerke Dave das und konnte sich ein Lachen kaum verkneifen. Er bezahlte die Rechnung und fragte die Kellnerin, ob sie wüsste, wo man billig eine Wohnung bekäme. Sie gab ihm einen Zettel mit einer Adresse. Dort sollten sich die beiden mal melden. Also verließen sie das Lokal um ihr Glück in dieser großen Stadt zu suchen.


Ihre neue Bleibe war nicht gerade das Paradies auf Erden, doch Dave war das egal. Er war keinen Luxus gewohnt und schien recht zufrieden zu sein. Kenny dagegen fühlte sich in dieser dunklen muffigen Bude nicht recht wohl. Das war schon ein Unterschied zu seinem gepflegten Elternhaus, doch was soll’s? Hauptsache ein Dach über’m Kopf! Er öffnete das Fenster um ein bisschen frische Luft ins Zimmer zu lassen und blickte hinunter auf das emsige Treiben auf den Straßen New Yorks. Jeder rannte ziellos umher, so kam es ihm jedenfalls vor. Autos fuhren kreuz und quer und hupten wie wild, wenn es mal nicht weiter ging. Sirenen von Polizei und Feuerwehr schienen ohne Ende zu heulen. Wieder bekam er dieses beängstige Gefühl, ob er wohl das Richtige getan hatte.

Am Abend, der Lärm der Stadt hatte in keinster Weise nachgelassen, nahm er sein verbeultes Kornett heraus, setzte sich auf das Fenstersims und spielte gedankenverloren "Solitude", das er mal auf eine von Marks Platten gehört hatte.

»Du spielst nicht schlecht«, meinte Dave, der bereits im Bett lag. »Aber jetzt mach Schluss... ich will pennen. Wir haben morgen einen langen Tag vor uns.«

Nachdem sein letzter Ton verklungen war, begab auch Kenny sich zu Bett. Dave schnarchte bereits so laut, dass er sich seine Decke bis über den Kopf zog, um wenigstens ein bisschen Schlaf zu bekommen. Er fiel in einen tiefen traumlosen Schlaf aus dem er abrupt erwachte, als er draußen den Lärm der erwachenden Stadt wahrnahm. Hupen, Polizeisirenen... all das kannte er aus seinem verschlafen Heimatort gar nicht. Ob er sich daran je gewöhnen würde? Wenn er nun schon mal wach war, dann sprang er auch sogleich mit frischem Schwung aus dem Bett. Dave schien das alles nicht zu kümmern. Er schlief wie ein Baby und sein Schnarchen hatte in keinster Weise nachgelassen. Kenny zog sich an und setzte sich auf sein Bett, denn viel mehr Möglichkeiten sich zu setzen gab es in dem kleinen muffigen Zimmer nicht. So beschloss er auf eigene Faust diesen Moloch, der sich New York nannte, zu erkunden. Er stand auf, griff sich seinen Mantel und den Koffer mit seinem Horn und verließ leise das Zimmer. Selbst wenn er die Türe zugeknallt hätte, Dave wäre davon sicher nicht wach geworden.

Da stand er nun, alleine inmitten von einem Meer aus Menschen und Maschinen. Noch konnte er sich so gar nicht vorstellen, hier sein Leben zu führen. Alles war ihm fremd, laut und hektisch. Für einen Jungen aus der Provinz eine völlig andere Welt. Kenny zog den Kragen seines Mantels hoch und lief einfach drauf los. In seiner Hand hielt er fest seinen Instrumentenkoffer, der sein wertvollster Besitz war. Obwohl das verbeulte Horn nicht einen Cent mehr wert war und recht mitleidig aus sah, war es für ihn doch ein wahrer Schatz. Nachdem er stundenlang durch die Straßen geirrt war, bekam er Hunger, hatte aber keinen Cent in der Tasche und der Magen knurrte gar sehr. So lief er noch ein paar Meter, bis er den Central Park erreichte. Hier setzte er sich auf eine der zahlreichen Bänke und biss herzhaft in eine Stulle, die er in einem Abfallkorb fand. Wenn das seine Eltern sehen würden, dachte er, sein Vater würde ihn als Herumtreiber und Taugenichts beschimpfen. Doch er war weit weg und Kenny ließ sich das Brot schmecken.

Dann setzte er sein Horn an die Lippen und spielte gedankenverloren "Solitude". Er bemerkte dabei gar nicht, dass sich eine junge Frau zu ihm auf die Bank setzte und seinem Spiel lauschte.

»Du bist gut«, sagte sie, als er zu Ende gespielt hatte.

Kenny war überrascht, hatte er sie doch gar nicht bemerkt.

»Danke sehr«, sagte er ein bisschen verlegen und wurde rot dabei, was der jungen Dame nicht verborgen blieb. Sie lächelte.

»Ich heiße Peggy«, stellte sie sich vor.

»Ähm, mein Name ist Kenny«, brachte er noch so eben heraus.

Und wieder lächelte sie ihn an. Die beiden unterhielten sich noch eine ganze Weile, Kenny taute allmählich auf und erzählte ihr seine Geschichte. Dann stand sie auf, gab ihm die Hand und ging.

»Ach, wenn Du mal spielen möchtest... hier ich gebe Dir eine Adresse. Ein cooler Club. Da bin ich auch öfters«, sagte sie, schrieb die Adresse auf ein Stück Papier, das sie ihm reichte, lächelte und ging.

Kenny war glücklich. Sollte jetzt das Leben losgehen, auf das er so gehofft hatte? Er hatte Peggy getroffen, es gab eine Möglichkeit für ihn zu spielen. Was sollte denn jetzt noch schief gehen? Kenny spielte noch ein paar Töne dann machte er sich auf den Weg nach Hause. Dort angekommen hatte sich Dave auch zwischenzeitlich aus dem Bett bewegt und kochte sich einen Kaffee.

»Na, Du strahlst ja. Ist dir das große Glück über den Weg gelaufen?«, grinste Dave ihn an.

»Kann man so sagen. Ich habe im Central Park ein nettes Mädchen getroffen. Sie gab mir eine Adresse, da will ich gleich heute Abend mal hin.«

»Hoho Junge, du gehst ja ran. Kaum in New York und schon laufen dir die Mädchen nach«, lachte Dave und nahm einen kräftigen Schluck Kaffee.

Es dauerte quälend lange, bis der Abend kam. Kenny saß wie so oft auf dem Fenstersims und spielte auf seinem alten Horn, das aber immer noch recht erstaunlich klang. Kenny hatte es auch gründlich gereinigt, was auch sehr vonnöten war. Dave war schon seit einiger Zeit unterwegs um sich etwas zu besorgen, Kenny wusste nur allzu gut, was das war, doch er hatte anderes im Kopf und schließlich war Dave alt genug und wusste, was er tat. Er schlüpfte in seine besten Klamotten, auch wenn diese so allmählich ein bisschen zu klein wurden, und machte sich auf den Weg zu dem Club in dem Peggy des öfteren zu finden war.

Mittlerweile war es schon spät am Abend, als er endlich sein Ziel, die 52nd Street, wo der Club sich befinden sollte, erreichte. Schon als er um die Ecke bog schallte ihm diese Musik entgegen, die er so liebte. Hier wird sein Zuhause werden, das war im fortan klar. Voller Enthusiasmus lief er die Straße entlang. Große Namen leuchteten in Neonbuchstaben hell und spiegelten sich auf dem nassen Asphalt wider. Wird auch einmal sein Name dort leuchten, oder auf einen der unzähligen Plakate zu lesen sein?

The Three Deuces. Da war es, das Lokal, von dem Peggy ihm erzählt hatte. Eilig lief er drauf zu und betrat es auch sogleich. Er setzte sich vorne an einen der Tische um direkten Blick auf die Bühne zu haben. Noch war niemand zu sehen, doch dann kam er. Vorsichtig wurde er von einer Person zu seinem Piano geführt, dann nahm er Platz und spielte. Was Kenny da hörte haute ihn schlichtweg um. Sowas hatte er noch nie gehört  und er fragte den Kellner, der gerade zu seinem Tisch kam und wissen wollte, was er trinken möchte, wer das denn sei.

»Man, den kennst du nicht? Das ist Art Tatum. Bist wohl neu hier?«

Kenny war wie elektrisiert und konnte seine Augen nicht mehr von dem Mann am Piano lassen. Von nun an wird er ihm folgen und seinem fantastischen Spiel lauschen, so oft es ging. Peggy hatte er an diesem Abend nicht getroffen.


***


1938. Kenny ist inzwischen 18 Jahre alt und hält sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser. Fast jeden Tag hängte er in einem der vielen Clubs in der 52nd Street herum. Ab und an durfte er mal bei einer Session mitspielen, aber das ist es nicht, was er sich erhofft hatte. Der Frust sitzt tief und er begann seinen Ärger mit Alkohol zu bekämpfen. So viel, dass er oft mitten auf der Straße lag und die Leute beschimpfte, die an ihm vorübergingen, oder ihm helfen wollten. Seinen Freund Mark hatte er immer noch nicht gefunden und Dave war inzwischen so auf Drogen, dass er öfter im Gefängnis saß wegen kleinerer Diebstähle, sodass er die Wohnung für sich alleine hatte. Wenn die Einsamkeit zu groß wurde, bat Peggy  ihn darum, ein paar Tage bei ihr zu wohnen, bis er wieder halbwegs bei sich war. Sie machte sich große Sorgen  um Kenny. Wenn er nicht bald wieder auf die Beine kam würde es böse für  ihn enden.

Als er mal wieder bei einer Band mitspielen durfte, saß ganz vorne ein Mann am Tisch, der  ihn genau beobachtete und sehr von seinem Spiel angetan war. In der Pause winkte er Kenny zu, er solle sich doch mal kurz zu ihm an den Tisch setzen.

»Hallo«, sagte der Fremde. »Ich höre dir schon eine Weile zu. Hast du schon mal in einer Big Band gespielt?«, fragte er. Kenny verneinte. »Ich würde dich gerne engagieren, wenn du Lust darauf hast. Wir spielen demnächst  in der Carnegie Hall. Da ist mir ein Trompeter ausgefallen, den  ich  unbedingt ersetzen muss.«

Kenny konnte es gar nicht glauben und willigte natürlich sofort ein.

»Ähm... Mister, darf ich fragen wer Sie sind?«, stammelte er.

Der Mann grinste und war schon verwundert, das er ihn nicht kannte.

»Mein Name ist Benny Goodman.«

Kenny konnte es kaum glauben, dass ausgerechnet Benny Goodman ihn in seiner Band haben wollte! Umso peinlicher war es ihm, dass er ihn nicht erkannt hatte. Der Name war ihm natürlich ein Begriff, doch hatte er sein Gesicht niemals zuvor gesehen. Mister Goodman und Kenny machten einen Termin für ein Probespielen aus, verabschiedeten sich und Kenny ging mit einem nicht mehr enden wollenden Grinsen im Gesicht nach Hause. Da Dave nur noch selten zu Hause war gehörte ihm quasi die Wohnung alleine. Wie immer am Abend setzte er sich aufs Fenstersims, setzte sein Horn an die Lippen und spielte. Das war schon so zu seiner Gewohnheit geworden, dass die anderen Mieter des Hauses nur darauf warteten, um noch vor dem Zubettgehen ein Gratiskonzert zu bekommen.

Am nächsten Morgen machte er sich so gut es ging zurecht, um einen guten Eindruck bei Benny zu machen. Unnötig zu erwähnen, dass er in der Nacht kein Auge zugemacht hatte und hastig eine Tasse Kaffee nach der anderen trank. Dann verließ er eiligst seine Wohnung um pünktlich zum Probespielen zu kommen. Fast hätte er in der Eile noch sein Horn vergessen, so aufgedreht war er. Dann machte er sich auf nach Manhattan, wo sich die Carnegie Hall befand. Als er die altehrwürdige Halle betrat, hörte er schon die ersten Töne der Band und wie Benny seine Jungs auf das Konzert heiß machte. Kenny erstarrte fast vor Ehrfurcht, wer hatte hier schon alles gespielt, Tschaikowsky hatte hier persönlich ein paar seiner Werke dirigiert und nun darf er auch hier spielen, wenn er auch nur einer unter Vielen war. Er war sich sicher, seine Mutter wäre in diesem Augenblick stolz auf ihn.

»Hey Junge, da bist du ja und recht pünktlich, das gefällt mir«, lachte Benny, als er ihn schüchtern vor der Bühne stehen sah. »Komm rauf und setz Dich. Lass mich hören, was Du drauf hast.«

Kenny hatte ordentlich die Hosen voll. Als er die Bühne betrat, zitterten seine Beine wie Espenlaub. Er konnte es kaum glauben neben Ziggy Elman und Harry James Platz zu nehmen. Die beiden grüßten höflich und baten ihn sich zu setzen.

»Das wird schon«, sagte Harry und klopfte ihm beruhigend auf die Schulter.

»Wir spielen "Don´t be that Way"«, sagte Benny, gab den Takt vor und die Band legte los. Kenny hatte nur einen kurzen Blick auf die Noten geworfen, dann musste er funktionieren. Nachdem Harry und Ziggy ihre Soli beendet hatten, war er an der Reihe. Die ersten Töne waren noch zaghaft, doch dann holte er aus seinem Horn alles raus, dass selbst ein Harry James ins stauen kam. Noch am selben Tag unterschrieb er seinen ersten Vertrag als Musiker und das bei der Band von Benny Goodman! 

Überglücklich verließ er die Proben und konnte es kaum erwarten Peggy davon zu berichten. Er hatte vor sie am Abend zum Essen einzuladen und ihr dann alles zu erzählen. Da er es aber bis zum Abend nicht aushalten konnte, machte er sich auf zu ihrer Wohnung. Er läutete und Peggy öffnete ihm lächelnd die Türe. Ihre Wohnung war voll mit Menschen, die er nicht kannte. Man feierte, trank, hörte Musik und diskutierte über dies und das. Peggy wirkte aufgedreht und bot ihm schließlich an auch mal von dem weißen Zeugs zu probieren, das sie gerade genommen hatte. Kenny war geschockt, das hätte er nicht gedacht und lehnte ab.

»Ach du«, sagte Peggy. »Du Spielverderber, hast doch bloß Schiss«, lachte sie ihn aus.

Kenny zögerte. Eigentlich wollte er gleich wieder gehen, doch wollte er es sich nicht mit ihr verscherzen und machte diesen für ihn verhängnisvollen Fehler. 

Alles um ihn herum versank in einem Meer aus bunten Farben. Er hatte das Gefühl fliegen zu können. Stimmen nahm er nur von Ferne wahr. Obwohl ihm Peggy direkt gegenüber saß. Nun hatte es auch von ihm Besitz ergriffen. Dieses weiße Pulver, vor dem man ihn immer gewarnt hatte. 

»Hey Ken«, hörte er eine ihm vertraute Stimme sagen.

»Wach auf, du musst gleich los zur letzten Probe vor deinem großen Auftritt«, es war Peggy die ihn wach rüttelte.

Kenny war wie erschlagen. Er lief ins Bad schaute in den Spiegel und steckte seinen Kopf unter eiskaltes Wasser, damit er wieder klar wurde. Er fühlte sich wie erschlagen und schwor dieses Zeug nie wieder zu nehmen. Kenny beeilte sich, um nicht zu spät zu kommen. Sas konnte Benny auf den Tod nicht leiden. Er hatte an diesem Abend nicht seinen besten Tag, so etliche Patzer brachten ihm böse Blicke ein und er riss sich zusammen, die Proben zu einem einigermaßen guten Ende zu führen.

»Junge, lass das Zeugs aus deinem Körper«, sagte Benny nach der Probe zu ihm. »Ich muss dir nur in die Augen schauen, um zu sehen was Sache ist. Und versuch gar nicht erst zu leugnen.«

Kenny nickte nur und verließ mit hängendem Kopf die Halle. Er vermied jeglichen Kontakt zu Peggy und ihren interlektuellen Freunden, bis er das große Konzert hinter sich hatte.

Die Carnegie Hall war bis auf den letzten Platz gefüllt, die Spannung lag spürbar in der Luft. Benny Goodman war sichtlich nervös und lief wie ein Tiger hinter der Bühne auf und ab. Auch Kenny hatte die Hosen gestrichen voll. Dieser Abend musste ein voller Erfolg werden. Dann war es soweit. Die Musiker wurden auf die Bühne gebeten. Harry James, der direkt neben Kenny stand, sagte zu ihm: »Ich fühle mich wie eine Hure in der Kirche«, grinste kurz und stieg die Stufen zur Bühne hoch.

Kenny folgte ihm mit zitternden Knien. Applaus tönte auf, als man die Bühne betrat. Jeder Musiker nahm seinen Platz ein, dann wurde es still. Die Spannung war nervenzerreißend und als Benny die Bühne betrat, tobte der Saal. Er machte eine kurze Verbeugung, gab ein Zeichen und dann legten sie los. Man gab sein bestes, doch irgendwie spürte man im ganzen Orchester die Nervosität. Bis Gene Krupa es satt hatte. Er trommelte die Band nach vorne und es wurde ein riesiger Erfolg für Benny Goodman und seine Band. Kenny war stolz auch ein Teil davon gewesen zu sein. Er sammelte jeden Artikel, den er nur finden konnte und steckte sie in ein Kuvert um es später einmal seinen Eltern zu schicken. Er verdiente nicht schlecht bei Benny und konnte sich mit der Zeit eine bessere Wohnung leisten. Längst hatte er seinen Freund Mark vergessen auch von Dave gab es keine Spur mehr. Er hing mit Peggy und ihren Freunden ab und nahm immer öfter dieses Pulver, was er doch eigentlich nie mehr anrühren wollte. Stolz hielt er den Mitschnitt vom Carnegie Hall Concert in den Händen und hielt es jedem unter die Nase, damit sie alle seinen Namen lesen konnten. Kenny Norton Young.


***


1940. Kenny war inzwischen 20 Jahre alt und beinahe 2 Jahre bei Benny Goodman. Doch durch die Drogen wurde er immer unzuverlässiger und Benny zählte ihn ein ums andere Mal an. Als er wieder einmal zu spät kam und unter dem Einfluss von Kokain stand, reichte es ihm. Er warf ihn kurzerhand aus der Band. Da stand er nun wieder. Ohne Einnahmequelle. Sollte das schon sein Ende sein?

Die Drogen nahmen immer mehr Platz in seinem Leben ein. Sein Horn hatte er lange nicht mehr angerührt. Meist lungerte er mit Peggy und ihren Freunden auf langweiligen Partys rum. Er trank zu viel und das Kokain tat sein übriges. Ab und an prahlte er noch damit mal bei Benny gespielt zu haben, doch hatte er den Eindruck, so wirklich glaubte ihm das niemand. 

Als er wieder mal betrunken von einer dieser Partys kam, beschloss er noch einen Abstecher durch die 52nd Street zu machen. Es regnete und die Lichtreklame spiegelte sich in den Pfützen wider. Kenny schob den Kragen seines Mantels hoch und schlenderte die Straße entlang. Überall herrschte noch reger Betrieb, Jazz strömte ihn aus allen Lokalen entgegen. Doch vor dem Three Deuces blieb er stehen. Was zum Teufel war das, was er dort hörte? Die Musik war so völlig anders, als das, was er bisher kannte. Kenny war verblüfft und trat ein. Die Musiker auf der Bühne waren fantastisch, die Rhythmusgruppe spielte viel freier als man es bislang kannte. Und dann dieses wahnsinnige Tempo. Kenny war wie elektrisiert. 

»Wer zum Henker ist der Kerl an der Trompete?«, fragte er einen der Kellner.

»Das ist Dizzy Gillespie«, bekam er als Antwort.

Kenny bestellte noch ein Bier und setzte sich direkt an die Bühne um das alles genau zu sehen, was dort ab ging. Dizzy war unglaublich, seine Backen waren so dick, während er spielte, dass Kenny befürchtete, sie würden platzen. Er blieb die ganze Nacht und als die Band den letzten Song gespielt hatte und man von der Bühne kam, fragte Kenny den völlig erschöpften Dizzy: »Hey Mann, was ist das für ein Zeug, was ihr da spielt?«

»We call it Bop«, sagte Dizzy nur knapp und verschwand nach draußen vor die Türe.

Kenny trank sein Bier aus und eilte ebenfalls nach draußen, wo Dizzy und die anderen standen und sich genüsslich eine Zigarette gönnten.

»Das war großartig«, sagte Kenny und erwähnte, dass er ebenfalls Musiker sei und bereits bei Benny Goodman gespielt habe.

»Wenn du willst, kannst du morgen Abend mit einsteigen«, sagte ihm Dizzy.

»Das sind Max, unser Drummer. Sas ist Curley, der Mann am Bass und der Verrückte da hinten ist Thelonious, unser Pianist«, stelle er seine Band vor. »Unser Mann am Altsaxofon ist mal wieder nicht erschienen, aber wenn er da ist, ist er unglaublich« grinste Dizzy.

Kenny grüßte jeden der Jungs und war froh, wieder mal sein Horn aus dem Koffer holen zu können. Er verabschiedete sich und machte sich direkt auf den Weg nach Hause. Für heute Abend musste er noch ordentlich üben, zu lange blieb sein Horn stumm, doch das sollte sich jetzt ändern.

Kenny war nun fast jeden Abend in der 52nd Street. Überall, wo jemand gebraucht wurde, stieg er mit ein und passte sein Spiel dem neuen Stil an. Zu dieser Zeit nahm er kaum noch Drogen zu sich, nur ab und zu mal einen Joint. Zu sehr war er fasziniert von dieser neuen Musik, die dort jetzt überall aus den Lokalen klang. Auch das Publikum, das zu Beginn dem Bebop noch recht skeptisch zugetan war, weil man nicht recht wusste, was man damit anfangen sollte, denn zum Tanzen war das gänzlich ungeeignet. Stattdessen saß man zusammen und bestaunte das Können der einzelnen Solisten, zu denen mittlerweile auch Kenny gehörte. Dizzy Gillespie oder Charlie Parker waren die Stars der neuen Musik-Ära. Jeder wollte so spielen wie sie und natürlich eiferte auch Kenny ihnen nach, soweit das mit seinem alten Kornett überhaupt möglich war. Also beschloss er sich von dem Geld, das er bei den Sessions einnahm, eine Trompete zu kaufen. Läden, wo man Instrumente erwerben konnte, gab es in New York mehr als genug.


***


1941. Kenny feierte mit Peggy und ein paar ihrer und seiner Freunde seinen 21.Geburtstag. Am Morgen saß er in seinem Appartement und schrieb wie so oft einen Brief an seine Eltern, auch wenn nicht ein einziges Mal eine Antwort zurück kam. Wie immer legte er noch ein paar Platten dazu, auf denen er zu hören war und sein Name auf dem Label gedruckt stand. Dann brachte er das Paket zur Post und am Abend traf man sich im Three Deuces, wo er einen Auftritt hatte. Peggy saß mit ihren Freunden am Tisch direkt an der Bühne und schaute ihm zu, wie er rasend schnelle Töne seinem Horn entlockte. Das Publikum war begeistert und es gab Standing Ovations. Peggy war mächtig stolz auf ihn und als er für eine kleine Pause von der Bühne kam, gab sie ihm einen fetten Kuss.

Kenny gönnte sich vor dem Club noch eine Zigarette bevor es weiter ging, als ihn ein Mann ansprach.

»Sie spielen verdammt gut«, sagte er und streckte ihn seine Hand entgegen. Kenny reichte ihm darauf auch seine Hand und grinste dabei. »Ich suche neue Talente für das Bluebird Label. Was halten sie davon? Wir könnten unter ihrem Namen eine Band zusammen stellen und ein paar Songs einspielen«, sagte der Mann. »Ach... ich vergaß mich vorzustellen. Mein Name ist Thomas Johnston.«

Kenny war sofort bereit das Angebot an zu nehmen und zögerte erst gar nicht lange. Seine eigene Band und eine Platte unter seinem Namen, das war schon immer sein Traum. Man ging wieder rein und Kenny unterschrieb am Tisch, wo Peggy und ihre Freunde saßen, den ersten Plattenvertrag. Das musste natürlich ordentlich gefeiert werden. Kenny gab eine Runde nach der anderen bis der Morgen graute.


Ein paar Wochen später befand er sich im Studio und spielte einige Songs ein. Das Zusammenspiel mit den neuen Musikern klappte bestens und so spielte er alle Songs mit nur einen Take ein. Der Aufnahmeleiter war sehr zufrieden und Kenny bekam ein fettes Honorar für die Aufnahmen. Mehr als er jemals verdient hatte. Die Platten verkauften sich gut und Kenny verdiente sehr gut daran, so dass er das Geld mit vollen Händen ausgab. Ein Auto durfte da natürlich nicht fehlen, damit holte er so oft es ging Peggy ab und fuhr mit ihr durch die Straßen New Yorks. Stolz zeigte er ihr ein Plakat vor einem der Lokale in der 52nd Street, auf dem er und seine Band angekündigt wurden. A new Horn in Town ...The Kenny Norton Young Quintett. Wenn das seine Eltern jetzt lesen könnten, sie wären sicher stolz auf ihn. Er hatte es geschafft, das wurde ihm mehr und mehr klar.


Das Jahr 1941 neigte sich dem Ende zu, Kenny genoss seinen Erfolg und lebte gut vom Verkauf seiner Platten. Es gab keinen Club in New York in dem er noch nicht gespielt hatte. Sein Apartment befand sich direkt gegenüber vom Central Park, so genoss er jeden Morgen diesen Blick, wenn es noch still war auf den Straßen und im Park kaum Menschen unterwegs waren. Er war gerade dabei sich eine Tasse Kaffee zu gönnen, als es an seiner Türe schellte wie verrückt. Kenny stellte den Kaffee zur Seite und machte sich eiligst daran die Türe zu öffnen. Das muss ja wichtig sein, wenn jemand so wild läutete. Als er die Türe öffnete stand völlig aufgelöst Peggy davor.

»Hast du es schon im Radio gehört?«, sagte sie zu ihm.

»Was soll ich denn gehört haben?«, gab er ihr als Antwort zurück.

»Die Japaner haben Pearl Harbor angegriffen!«, sagte sie völlig außer Atem. »Es wird Krieg geben.« 

Dann musste sie sich erstmal setzen. Sie war den ganzen Weg zu ihm gerannt und nun ging ihr die Luft aus. Kenny schaltete unterdessen sein Radio an und lauschte den Durchsagen des Sprechers. Es war von zerstörten Schiffen und unzähligen Toten die Rede. Die beiden waren entsetzt. Und für Kenny war es klar, dass er sich freiwillig melden würde um sein Land zu verteidigen. Noch am selben Tag suchte er die dafür zuständigen Behörden auf. Als er das Gebäude betrat hatte sich bereits eine lange Schlange gebildet. Alles Männer, die sich zum Dienst an der Waffe melden wollten. Er reihte sich ein und musste fast zwei Stunden stehen, bis er endlich an der Reihe war. Es wurden seine Personalien aufgenommen und ihm wurde mitgeteilt, da er ja Kanadier sei, müsse er sich dort melden. Etwas enttäuscht ging er wieder heim, wo Peggy bereits auf ihn wartete. Er berichtete ihr alles und sagte ihr, dass er sich gleich Morgen auf den Weg nach Kanada machen wolle. Es wäre sein erster Besuch, nachdem er damals sein Zuhause verlassen hatte. Da er gut verdient hatte, konnte er sich einen Flug leisten und musste nicht mehr mit dem Bus fahren.


Da stand er nun wieder auf kanadischen Boden und ein komisches Gefühl überkam ihn. Sollte er es wagen seinen Eltern einen Besuch abzustatten? Tausend Gedanken quälten ihn, doch zuerst wollte er sich freiwillig melden, dafür war er ja auch hierher gekommen. Nach einigem Suchen fand er schließlich die Behörde. Auch hier waren lange Schlangen von jungen Männern, wieder reihte er sich ein und wartete geduldig, bis er dran war. Durch die lange Steherei schmerzte sein Rücken sehr. Ein Problem, das er seit frühester Jugend hatte. Dann war er an der Reihe. Der junge Mann, der am Tisch saß um die Personalien auf zu nehmen schaute ihn an und fragte erstaunt: »Kenny? Kenny Young?«

»Mark, bist du das?«, fragte Kenny freudig.

Mark stand auf und umarmte seinen alten Freund aus Kindertagen.

»Ich geh da schnell rein und danach reden wir«, sagte Kenny über das ganze Gesicht grinsend.

Der Arzt untersuchte ihn gründlich, musterte seinen Rücken und schaute sich seine Arme an, ob er Einstiche von irgendwelchen Nadeln erkennen konnte, dann bekam er die niederschmetternde Nachricht "UNTAUGLICH". Kenny war tief enttäuscht, doch seine Schädigung an der Wirbelsäule machte es unmöglich ihn als Soldat zu rekrutieren. Mit hängendem Kopf verließ er das Zimmer. Mark, der auf ihn wartete, ahnte was passiert ist und klopfte ihm tröstend auf die Schulter. Er hatte Dienstschluss und lud Kenny auf ein Bier ein um alles über ihn zu erfahren.

Sie betraten eine nahegelegene Kneipe, setzten sich und bestellten erst einmal jeder ein großes Bier, was genüsslich getrunken wurde. Dann wollte Mark alles wissen. Kenny erzählte was ihm alles widerfahren sei und dass er nach ihm gesucht hätte, wie er bei Benny Goodman gespielt hatte und Dizzy Gillespie und all die anderen getroffen hatte, zu denen er nun auch gehörte. Stolz erzählte er von seinen eigenen Platten und Mark grinste dabei und meinte: »Glaubst du wirklich, ich habe deine Platten nicht? Jede einzelne, hab sie hundert mal gespielt«, sagte er ihm, was Kenny schon ein wenig stolz machte.

Dann war Mark an der Reihe und erzählte ihm, wie es ihm ergangen ist in New York. Dass er nicht gut genug war für ein Leben als Musiker, wie er ansehen musste, dass einige seiner Freunde an den Drogen, die sie nahmen, starben oder ein Opfer des Alkohols wurden, weil der Druck einfach zu groß war, immer das Beste zu geben, um noch kreativer zu sein, als der andere und das Abend für Abend. Marks Erzählungen machten Kenny nachdenklich. War er nicht auch auf dem besten Weg so zu enden?

Die beiden redeten noch fast die ganze Nacht, bis der Lokalbesitzer die Zwei aufforderte zu gehen, er wolle ja schließlich auch mal ins Bett. Kenny verabschiedete sich von Mark und schlenderte die Straßen entlang, wo er als Kind so oft ging. Viele Erinnerungen kamen in ihm hoch. Sollte er zum Haus seiner Eltern gehen? Vieles ging ihm durch den Kopf und so bemerkte er gar nicht, dass er plötzlich vor seinem Elternhaus stand. Es war alles dunkel, kein Mensch war weit und breit zu sehen, nur das Bellen eines Hundes aus der Ferne war zu vernehmen. Die Kälte der Nacht drang durch seinen Mantel, er stand frierend da und schaute regungslos auf das Haus, das einmal sein Zuhause war. Er wusste nicht, wie lange er dort gestanden hatte, als plötzlich im Haus ein Licht anging. Das musste Vater sein. Er stand immer als erster auf und wartete darauf, dass der Zeitungsjunge die Zeitung brachte, die er immer als erstes las, während er dabei frühstückte. Sollte er rüber gehen und klingeln? Er beschloss es nicht zu tun, zog den Kragen seines Mantels hoch und ging...


Ohne Mark noch einmal zu treffen, verließ er seine Heimatstadt. Es sollten einige Jahre vergehen bis er zurück kehrte. In New York angekommen erwartete ihn der übliche Trubel, keine Spur mehr von der gemütlichen Ruhe der Kleinstadt. Hier herrschte wie seit eh und je Hektik und Lärm. Jeder hatte es eilig, um zu seiner Arbeit zu kommen, Autos hupten wie wild, wenn es mal nicht weiter ging. Kenny beeilte sich in sein Appartement zu kommen um diesen höllischen Lärm zu entrinnen. Er schloss die Türe auf, knallte sie zu und kippte sich erstmal einen Whiskey runter, legte sich auf sein Bett und fiel in einen tiefen Schlaf. Er wusste nicht wie lange er geschlafen hatte, als das Telefon ihn aus seinen Träumen riss. Noch halb im Schlaf nahm er den Hörer ab und erkannte sofort Peggys Stimme, die ihn daran erinnerte, dass er am Abend eine Session hatte, die er doch bitte nicht vergessen solle. Er murmelte irgendwas in den Hörer und legte dann auf. Mit hängendem Kopf saß er auf dem Bettrand und grübelte darüber nach, ob er das alles hier nicht wollte. Der Missbrauch von Drogen setzte ihm zu und der Konsum von Alkohol wurde immer mehr in letzter Zeit. Ihm fielen die Worte von Mark ein und er wusste, dass er auf dem selben Weg war. Dazu kam, dass er deprimiert war, weil ihn die Army nicht genommen hatte. So saß er noch eine ganze Weile da, dann schnappte er sich den Trompetenkoffer, holte sein Horn heraus und spielte. Fast eine Stunde saß er da und spielte, hörte nicht das Klingeln des Telefons und auch nicht das Klopfen an der Türe. Bis Peggy ihn aus seiner Lethargie riss. Sie hatte einen Schlüssel zu seiner Wohnung und machte sich Sorgen, weil er am Telefon so komisch klang.

»Hey, was ist los?«, fragte sie ihn besorgt. 

Kenny legte behutsam sein Horn aufs Bett und schaute sie an.

»Alles gut Sweetheart, mir geht es prima«, lachte er. »Ich habe ein wenig geübt, hatte lange nicht gespielt.«

Die beiden verbrachten den Tag zusammen und am Abend begleitete sie ihn ins Three Deuces, wo er wie immer ein Feuerwerk abbrannte. Das Publikum feierte ihn und er war wieder ganz der Alte. Man jammte bis zum Morgen bei reichlich Alkohol und Kokain. Vergessen waren alle seine Gedanken über ein anderes Leben, vergessen die Worte die Mark ihm sagte. Er war wieder da,wo er aufgehört hatte. Er genoss seinen Ruhm auch wenn er ihn eines Tages umbringen würde.

Amerika hatte Nazi-Deutschland den Krieg erklärt und immer mehr junge Männer zogen in den Krieg. Das große Big-Band-Sterben begann, da viele Musiker an die Front mussten. Die Zeit der Small Bands war gekommen und Kenny schwamm erfolgreich mit der Welle mit. Er schrieb jeden Monat einen Brief an seine Eltern, dass er es geschafft hätte und sein Name groß auf der Leuchtreklame der verschiedensten Clubs stand. Er schickte ihnen auch weiterhin seine Platten in der Hoffnung, dass sie eines Tages antworten würden und endlich akzeptierten,  dass er Jazzmusiker geworden war....doch er erhielt nie eine Antwort.

Während die Welt brannte, spielte Kenny Abend für Abend in den angesagtesten Clubs in der 52nd Street bis in den frühen Morgen. Danach zog er mit seinen Freunden noch durch einige Bars um zu trinken und um sich zu berauschen. Seine Alkoholexzesse wurden immer intensiver und seit geraumer Zeit nahm er auch Heroin, was ihn unberechenbar machte. Er vergaß ganze Termine und schlief auf der Bühne einfach ein, so dass es oft vorkam, dass ihn einer seiner Musiker wecken musste, wenn er mit seinem Solo an der Reihe war. Doch dann war er hellwach und spielte wie der Teufel, als ob nie was gewesen wäre.

Nach einer weiteren durchzechten Nacht machte sich Kenny zusammen mit Peggy und einigen ihrer Freunde auf den Weg zu seinem Appartement, wo sie noch weiter feiern wollten. Alle waren bester Laune, der Alkohol und die Drogen sorgten für die heitere Stimmung. Man erreichte das Ziel und Kenny verzog sich sofort mit Peggy in sein Schlafzimmer. Während man sich nebenan bei seiner Musik unterhielt und das Tanzbein schwang, wollte Kenny ein bisschen Spaß mit Peggy, doch diese war nicht in der Stimmung und lehnte ab. Kenny der durch den Konsum von Heroin aggressiv wurde, packte Peggy und warf sie auf sein Bett.

»Hör sofort damit auf!«, rief sie in Panik. »Ich will das jetzt nicht!«

Doch Kenny wurde immer wilder und begann sie zu schlagen. Peggy verpasste ihm eine saftige Ohrfeige, die das Fass zum überlaufen brachte. Kenny packte sie und legte seine Hände um ihren Hals und drückte zu. Wie von Sinnen schaute er sie dabei an und drückte immer fester. Ihr wurde schwarz vor Augen und sie schloss bereits mit dem Leben ab, als in letzter Sekunde einer ihrer Freunde ins Zimmer trat und das Schlimmste verhindern konnte. Er stieß Kenny von ihr weg, riss sie vom Bett hoch und zerrte sie aus dem Zimmer. Dann schloss er die Türe ab, so dass Kenny nicht fliehen konnte. Peggy japste verzweifelt nach Luft, während Kenny wie von Sinnen gegen die Türe hämmerte. Er schrie und tobte bis die herbei gerufene Polizei eintrat und ihn in Handschellen abführte. Das war der bisherige Tiefpunkt in seinem Leben. Kenny musste für ein Jahr ins Gefängnis.


Ein halbes Jahr saß er nun schon im Gefängnis. Viele seiner Freunde hatten sich von ihm abgewandt. Er las viel und hatte in der Gefängnisbibliothek einen recht akzeptablen Job  gefunden, um das halbe Jahr, das er dort noch verbringen musste, gut zu überstehen. Das Schlimmste war der Entzug gewesen. Er bekam Krämpfe, jeder seiner Muskeln - so hatte er das Gefühl - würde in Stücke gerissen. Er lag tagelang schweißgebadet auf seiner Pritsche, musste sich ständig übergeben und zitterte am ganzen Leib. Kaum jemand der Wärter nahm Notiz von ihm, zu sehr war man es gewohnt, wenn Junkies eingeliefert wurden. Nur der Gefängnisarzt schaute ab und an mal nach ihm. Doch dann eines Morgens hatte er es geschafft. Er fühlte sich sehr schwach, doch die Schmerzen waren verschwunden. Sein Körper hatte das Gift besiegt.... Kenny war clean.

Er fühlte sich wie neu geboren, verhielt sich vorbildlich und schwor in seinem ganzen Leben nie wieder dieses Teufelszeugs anzufassen. Dann hatte er es geschafft. Die Tore öffneten sich und Kenny verließ das Gefängnis als ein freier Mann. Außer den Sachen, die er am Leibe trug, hatte er nichts mehr. Sein Horn hatte er seit seiner Verhaftung nicht mehr angerührt und er hatte auch nicht vor es jemals wieder zu tun. Er nahm sich ein Taxi, fuhr in seine alte Wohnung, schnappte sich einen Koffer und nahm nur das Nötigste mit. Er wollte gerade gehen und die Türe schließen, da sah er ihn in einer Ecke stehen. Den kleinen Koffer mit seiner Trompete. Kurz hielt er inne, dann griff er nach ihm und verließ die Wohnung für immer.


Er fand in Harlem eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung, die schon möbliert war und nicht viel kostete. Den Koffer mit seinem Horn stellte er in eine Ecke und rührte ihn eine Zeitlang nicht mehr an. Wenn es Nacht wurde ging er aus dem Haus und schlich durch die 52nd Street. Seinen Hut tief ins Gesicht gezogen und in seinem Mantel gehüllt lief er umher. Noch immer drangen vertraute Töne aus allen Lokalen, die Musik, die er so liebte. Charlie Parker, Dizzy Gillespie, ein junger Kerl namens Miles Davis begeisterten die Leute Abend für Abend. So ging es Tag für Tag, wenn die Nacht dem Tag zu weichen begann, ging er zurück in seine Wohnung und verkroch sich, bis es wieder dunkel wurde. Er war ein Nachtmensch geworden und scheute das Tageslicht, wie der Teufel das Weihwasser. Doch der Drang in ihm wieder zu spielen wurde immer größer, bis er sich eines Nachts den Koffer schnappte und sich aufmachte zu einem schäbigen Jazzclub in der 118. Straße in Harlem. Minton´s Playhouse wurde 1938 gegründet und bot allen Musikern die Gelegenheit hier Jam Sessions zu veranstalten. Weg von der Enge der Big Bands, frei zu improvisieren und seine Ideen raus zu lassen.

Als Kenny den Club betrat waren nur wenige Gäste anwesend. Er setzte sich nah an die Bühne und hörte zu wie dort gejammt wurde, dass die Bude bebte. Thelonious Monk, Kenny Clarke, Coleman Hawkins waren Stammgäste hier, spielten sich die Seele aus dem Leib. 

»Hey Leute, ist das nicht Kenny Norton?«, rief Monk den anderen zu.

»Komm Junge, lange nichts von Dir gehört, ab auf die Bühne mit Dir«, hörte man Don Byas sagen.

Kenny zögerte für einen Moment, doch dann packte er sein Horn aus und mit einem Satz stand er bei den Jungs auf der Bühne, wo er lange nicht gestanden hatte. Er setzte sein Horn an die Lippen und dann spielte er, als ob er nie fort gewesen wäre. Er spielte bis zum frühen Morgen und fühlte sich wie ein neuer Mensch, als er das Lokal verließ und seit langem wieder lächeln konnte....Kenny war Back on the Scene.

1946. Der Krieg war fast ein Jahr schon vorüber, Millionen Menschen hatten ihr Leben lassen müssen, doch jetzt war man hungrig auf´s Leben. Der Bebop hatte längst in den Clubs Fuß gefasst und die Menschen strömten nur in die Lokale um die Musiker zu sehen, die diese Musik spielten. Kenny war nun 26 Jahre alt und gehörte dazu. Er trug hippe Kleidung, dazu meist eine dunkle Brille, auf dem Kopf lässig eine Baskenmütze. Abend für Abend spielte er in Minton´s Playhouse oder trieb sich in der 52nd Street herum. Die neue Musik war überall zu hören, hektisch, laut und immer schneller. Nicht jeder konnte was damit anfangen. Bebop galt als Untanzbar, so stand man vor der Bühne und schaute zu seinen Idolen empor.

Kenny kam in den frühen Morgenstunden nach Hause, die ganze Nacht hatte er gejammt und freute sich schon auf sein Bett. Er schaute noch rasch in den Postkasten und entnahm diesem einen Brief, der aus seiner Heimat in Kanada stammte. Rasch riss er den Umschlag auf und las, dass seine Eltern gestorben sind. Entsetzt ließ er den Brief zu Boden fallen, schloss die Haustüre auf und griff zur Whiskeyflasche, die immer mehr sein treuer Begleiter wurde. Drogen hatte er seit seinem Entzug nicht mehr angerührt, doch vom Alkohol kam er nie ganz los. Er trank die halbe Flasche leer und fiel in einen traumlosen Schlaf.

Als er wieder zu sich kam hielt er den Kopf unter eiskaltem Wasser, machte sich zurecht und besorgte sich noch für den selben Tag ein Ticket nach Kanada. Er schaute aus dem Fenster und sah die Landschaft an sich vorüberziehen. Wie gerne hätte er seine Eltern noch einmal gesehen, mit ihnen geredet und sie um Verzeihung gebeten. Das alles war jetzt nicht mehr möglich. Die Fahrt kam ihm wie eine ganze Ewigkeit vor, doch irgendwann erreichte der Bus sein Ziel. Kenny stieg aus, schaute sich um und stellte fest, dass sich in diesem Nest rein gar nichts verändert hatte. Er ging langsam die Hauptstraße hinunter und lief geradewegs zu seinem Elternhaus. Beim letzten Besuch traute er sich nicht hinein zu gehen, doch dieses Mal war alles anders. Als er vor der Eingangstüre stand glaubte er Stimmen zu hören. Er glaubte seine Mutter zu hören, wie sie ihn ermahnte richtig Klavier zu spielen, so als wenn es gestern wäre. Was wäre aus ihm geworden, wäre er nicht gegangen?

Er konnte diesen Gedanken nicht zu Ende führen, weil ihm jemand auf die Schulter tippte. Kenny drehte sich um und blickte in das Gesicht von Mark.

»Hallo alter Junge«, sagte er. »Mein aufrichtiges Beileid zum Tod deiner Eltern«, fügte er noch rasch hinzu.

Kenny nickte nur kurz und umarmte Mark so sehr, dass er kaum noch Luft bekam.

»Ich habe dich die Straße lang laufen sehen und bin dir gefolgt. Ich habe den Schlüssel zum Haus, damit du alles erledigen kannst«, sagte er mit ernster Stimme.

Die beiden betraten das Haus und es sah beinahe so aus, wie er es vor etlichen Jahren verlassen hatte. Mark erzählte ihm, dass sein Vater schon eine Weile verstorben sei, doch niemand wusste wo man Kenny erreichen konnte. Seine Mum sei erst vor kurzem gestorben, sagte Mark ihm. Kenny hörte sich alles anteilnahmslos an und nickte bloß mit dem Kopf. Mark stand auf legte ihm seine Hand auf die Schulter und sagte: »Ich lasse dich jetzt erstmal alleine. Morgen komme ich und helfe dir bei der Hausauflösung.« 

Dann ging er zur Türe und verschwand. Kenny saß noch eine ganze Weile so da, stand dann auf und ging durch das ganze Haus. So viele Erinnerungen an seine Kindheit kamen in ihm hoch, er stand in seinem Zimmer und sah sich wie so oft durch das Fenster nach draußen schleichen, wenn er mal wieder Hausarrest hatte. Und in einer Ecke neben seinem Bett standen die Pakete mit seinen Platten, die er seinen Eltern voller Stolz einst schickte. Sie waren ungeöffnet und wurden nie gespielt.

Kenny war tief gekränkt. Er nahm die Platten und warf sie wütend an die Wand, wo sie in tausend Teile zersprangen. Er setzte sich in Vaters alten Lehnstuhl, trank drei Tage durch, dann stand er auf und verließ sein Elternhaus auf Nimmerwiedersehen. Er fuhr zurück nach New York, überließ den Verkauf des Hauses seinem Freund Mark. Er solle ihm irgendwann das Geld schicken, es war ihm nicht mehr wichtig. Er beschloss sich nur noch auf seine Musik zu konzentrieren bis sie ihn ruinieren würde. 


Zurück in New York spielte er Abend für Abend in den angesagtesten Clubs, trank viel und rauchte eine Zigarette nach der anderen.  Er nahm öfter mal ein Mädchen mit nach Hause, doch eine feste Beziehung wie einst mit Peggy hatte er keine mehr. Er war ein rastloser Mensch geworden, oft sah man ihn am Ufer des Hudson Rivers sitzen und gegen den Wind anspielen. Ganz alleine und gedankenverloren, bis der Tag erwachte und er nach Hause schlich, wo er den Tag über schlief um am Abend wieder zu spielen. Seine Gesundheit war nicht mehr die Beste, Magenprobleme machten ihm zu schaffen und seine Lippen waren arg strapaziert von den vielen Auftritten, so dass er unter Ansatzproblemen litt. Auch quälten ihn seit einiger Zeit Depressionen. Sein Arzt riet ihm dringend dazu eine längere Pause einzulegen.

Kenny beschloss nach Kalifornien ins Camarillo State Mental Hospital zu gehen, um dort wieder zu Kräften zu kommen. Er genoss die Zeit dort, spielte in der Hospital Band und züchtete dort Rosen, um die er sich liebevoll kümmerte. Er machte oft lange Spaziergänge ohne überhaupt mal an seine Musik zu denken. Nach seiner Entlassung ließ er sich in Los Angeles nieder. Er besuchte wieder öfters Clubs und hörte, dass hier eine neue Art Jazz gespielt wurde, viel entspannter als der Bebop, Die Cool Jazzer sahen ihre Musik als Gegenbewegung zum hektischen Bebop. Kenny gefiel diese Art Jazz. Sie war introvertiert und man betrachtete sie als eine Art Kunst in der später auch klassische Elemente mit einflossen. Er lernte Musiker wie Chet Baker, Gerry Mulligan oder Lee Konitz kennen, man spielte zusammen und entwickelte immer neue Ideen um den Jazz interessanter zu machen. Diese unterkühlte Art kam gut bei den Studenten an und Kenny war auch hier bald ein gefragter Mann. Hier konnte er auch sein lyrisches Spiel unter Beweis stellen, was die Frauen besonders mochten. So dauerte es auch nicht lange, als Kenny eine Einladung aus Paris bekam, zu einem der vielen Jazz Festivals. Zu gerne nahm er das Angebot an, wollte er doch immer schon gerne mal nach Europa, um dort den Menschen seine Musik zu präsentieren.

Voller Vorfreude bestieg Kenny das Flugzeug das ihn nach Europa bringen sollte. Schon einige seiner Musikerkollegen haben sich dort niedergelassen. Weil sie dort respektiert wurden, besonders die farbigen unter ihnen. Hier wurden sie wie Menschen behandelt, was in Amerika unmöglich schien. Kenny kannte diese Probleme nicht, so genoss er den Flug und war gespannt, was ihn dort erwarten sollte.

 

***

Um Mitternacht landete die Maschine in Paris. Kenny hatte viel geschlafen während des Fluges, schnappte sich sein Gepäck und verließ eiligen Fußes den Flieger. Einige der ganz Großen waren mit an Bord, Charlie Parker, Miles Davis, Kenny Clarke, man traf sich und ging dem Ausgang entgegen, wo man bereits seit Stunden auf sie wartete. Freudig wurde man begrüßt und schnell zum Hotel gebracht, wo alle zusammen untergebracht wurden, wo es keinen Unterschied machte, ob man schwarz oder weiß war. Da die Bar noch offen war, genehmigte man sich noch einen Drink bevor man doch hundemüde ins Bett ging.

Kenny hatte sich kaum zu Bett begeben, da fiel er auch schon in einen traumlosen tiefen Schlaf aus dem ihn das Zimmermädchen ziemlich unsanft weckte. Er sprang aus dem Bett, zog sich an und begab sich rasch ins Restaurant um sich für den Tag zu stärken. Er bestellte sich ein großes Frühstück und ließ es sich ordentlich schmecken. Ohne es direkt zu bemerken stand plötzlich eine junge Frau neben ihn. Sie wirkte schüchtern und musste all ihren Mut zusammen nehmen um ihn an zu sprechen.

»Bonjour... sind Sie Kenny Norten, der berühmte Jazztrompeter?«, sagte sie mit ihrem schlechten Englisch.

»Ja«, sagte Kenny und schaute sich die junge Dame aufmerksam an.

»Dürfte ich Sie um ein Autogramm bitten?«

Kenny zögerte keine Sekunde, griff sich die Serviette und schrieb seinen Namen darauf.

»Wie ist Ihr Name?«, fragte er.

»Ninette«, sagte sie zaghaft.

»Darf ich Sie zum Frühstück einladen?«, grinste er und bat sie doch Platz zu nehmen.

Ninette war nervös, sie zögerte erst, doch dann willigte sie ein.

Die beiden saßen noch eine ganze Weile zusammen, plauderten über dies und das. Kenny mochte ihr Englisch mit dem französischen Akzent. Er konnte gar nicht aufhören in ihre strahlend blauen Augen zu blicken. Also stimmte es doch, dachte er im Stillen, Paris ist die Stadt der Liebe.


Die Auftritte beim Paris Jazz Festival waren grandios. Die Franzosen waren verrückt nach dieser Musik aus Amerika. All die ganz großen Namen, die man sonst nur von der Schallplatte kannte, waren dort zu erleben. Kenny fühlte sich wie ein Superstar. Überall wo er hin kam wurde er von Frauen umlagert die unbedingt ein Autogramm von ihm wollten. Da ließ er sich natürlich nicht lange bitten und erfüllte geduldig jeden Autogrammwunsch, bis die lLetzte glücklich von dannen zog. Doch so hübsch auch alle diese Mädchen waren, eine ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.... Ninette.

So oft es ging traf man sich, bummelte durch die Straßen von Paris oder saß in irgendeiner der unzähligen Brasserien und trank Kaffee. Ninette zeigte ihm alle Sehenswürdigkeiten die es nur gab. Auf dem Eiffelturm genoss er den atemberaubenden Blick über ganz Paris. Wie musste das erst sein am Abend, wenn die Stadt vom Meer der Lichter erleuchtet wird, sein? Für ihn stand eines fest, hier wollte er sich niederlassen und mit Ninette ein neues Leben beginnen. Ganz besonders hatte es ihm das Künstlerviertel im Stadtteil Montmartre angetan. Dort traf er viele bedeutende Maler, Autoren und Sänger, man saß zusammen bei so manchem Glas Wein und plauderte über Gott und die Welt. Ninette hatte ihm dort eine kleine Wohnung besorgen können. Dort fühlte er sich wohl, oft sah man ihn auf dem kleinen Balkon stehen und Trompete spielen. 

»Bravo! Bravo, Kenny!«, rief man ihm zu, wenn er ein Stück beendet hatte. Er verbeugte sich dann, grinste und verschwand wieder in seine Wohnung. Er war so zufrieden wie lange nicht mehr in seinem Leben. Von Drogen und übermäßigem Alkoholgenuss wollte er nichts mehr wissen. Rasch hatte er eine kleine Gruppe zusammengestellt und trat so oft es ging in den vielen kleinen Jazzkellern auf. Ninette war stets an seiner Seite und hatte immer ein Auge auf ihn, denn die Mädchen kamen in die Clubs nur um ihn zu sehen und zu hören. Aber ihre Sorge war völlig unbegründet , denn er hatte eh nur Augen für sie.

Kenny hatte es sich gerade bei einem Gläschen Wein gemütlich gemacht und lauschte die neuesten Platten aus Amerika, als Ninette strahlend zur Tür hinein kam.

»Kenny«, sagte sie lächelnd und mit leiser Stimme. »Ich komme gerade vom Arzt.«

Kenny zuckte zusammen. »Es ist doch hoffentlich alles ok?«, sagte er mit zitternder Stimme.

»Alles gut, mach Dir keine Sorgen. Aber du wirst bald Vater«, lachte sie.

Kenny stand da mit offenem Mund, wie vom Donner gerührt. Dann löste sich seine Starre und er nahm sie strahlend in den Arm.

»Ist das wahr, ist das wirklich wahr? Wird es ein Junge … oder doch ein Mädchen?«

Ninette lachte laut. »Mensch Kenny«, sagte sie, »Das kann man doch jetzt noch gar nicht sagen zu diesem Zeitpunkt.«

Er hielt sie einfach nur fest, als wolle er sie nie mehr los lassen.

»Ninette, Du machst mich zum glücklichsten Menschen auf diesem Planeten«, sagte er und ein paar Tränen kullerten ihm über die Wange.


1950. Kenny war gerade 30 geworden und stolzer Vater einer Tochter. Die Kleine war sein Ein und Alles und ein Leben ohne sie konnte und wollte er sich nicht mehr vorstellen. Nur noch gelegentlich griff er zu seinem Horn und ließ sich überreden einen Gig zu spielen, wenn gerade mal einige seiner alten Freunde aus den Staaten in Paris waren. Dann kamen sie in sein Haus und er und Ninette feierten bis in den Morgen mit ihnen zusammen.  Seine alten Platten hörte er schon lange nicht mehr, das waren Relikte aus vergangenen nicht immer schönen Jahren.

Kenny hatte Arbeit in einem kleinen Bücherladen gefunden. Es machte ihm Spaß und er blühte dort richtig auf. Als er gerade wieder im Laden war, kam eine Nachbarin ganz aufgeregt zu ihm und sagte völlig außer Atem, dass er schnell nach Hause kommen solle, der Kleinen ginge es nicht gut. Rasch schloss er den Laden ab und lief so schnell er nur konnte nach Hause. Als er dort ankam, sah er noch wie der Krankenwagen davon fuhr und um die Ecke verschwand.

»Ninette ist mit ins Krankenhaus gefahren«, sagte eine Nachbarin zu ihm.

Er nickte nur und schnappte sich sein Rad und fuhr los, als ob der Teufel ihm im Nacken säße. Er fuhr wie von Sinnen, der Schweiß rann an seinem Körper herab, sein Herz schlug ihm bis zum Hals und die Lungen brannten wie Feuer. Fast eine Stunde hatte er benötigt, dann hatte er, völlig erschöpft, sein Ziel erreicht. Er warf das Rad achtlos in die Ecke und rannte ins Hospital. Im Foyer sah er Ninette sitzen, ihre Hände in ihrem Schoß gelegt hockte sie wie ein Häufchen Elend da. Tränen rannen ihr über das Gesicht. 

»Was ist los, wo ist unsere Juliette?«, stammelte er.

»Sie... sie bekam plötzlich hohes Fieber und ihre Zunge wurde ganz rot«, sagte Ninette völlig aufgelöst.

»Was sagen die Ärzte? Weiß man schon was es ist?«

»Der Arzt meinte, es könne Scharlach sein.«

Kenny war entsetzt und hockte sich zu Ninette. Dann begann das endlos lange Warten. Er ging raus und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Wie lange sollte er denn noch warten, das muss doch mal ein Ende nehmen? Er war der Verzweiflung nahe, als endlich Ninette zu ihm kam und sagte, dass sie nun zu ihr aufs Zimmer könnten.

Rasch nahm er sie an die Hand und sie liefen die Treppen hoch zum Zimmer in dem ihre kleine Juliette lag. Sie war blass und schlief. Kenny trat an ihr Bettchen und gab ihr einen sanften Kuss auf die Stirn. Dann verließen die beiden das Zimmer wieder. Der Verdacht des Arztes hatte sich bestätigt, sie war an Scharlach erkrankt. Jeden Tag fuhren die Zwei ins Krankenhaus, um nach ihr zu sehen und täglich ging es ihr besser, bis sie die Kleine wieder mit nach Hause nehmen durften.

»Herr Norton«, sagte der Arzt. »Sie muss sich noch schonen. Die Krankheit hat ihr Herz angegriffen. Sie darf nicht  draußen spielen, bis sich alles wieder erholt hat.«

Kenny nickte und reichte dem Arzt die Hand. Er bedankte sich für alles und war froh, die Kleine wieder bei sich zu haben.


1951. Kenny hatte wieder damit begonnen einige Gigs zu spielen, der Gesundheitszustand der kleinen Juliette verlangte das einfach. Soweit ging es ihr gut, doch sie kränkelte sehr oft und die teure Medizin konnten er und Ninette sich auf Dauer nicht leisten. Kenny übte emsig um bald wieder auf den Stand von früher zu kommen, sein Klang war warm und gefühlvoll. Er hatte einfach diesen warmen Ton, den sonst niemand außer ihm hatte. Er musste auch nicht lange warten, bis er Anfragen bekam und er zögerte auch nicht, diese anzunehmen. So schlug er sich recht gut durch und konnte eine Menge Geld zusammen spielen.

 

Ein großer Jazz-Impresario fragte bei ihm an, ob er nicht Lust hätte eine große Tournee durch die Staaten zu machen, alle Konzerte würden in großen Hallen stattfinden und ihm eine Menge Geld einbringen. Er würde ihn als den Trompeten-Star besonders hervorheben. Kenny musste nicht lange überlegen und sagte zu. Ninette war darüber sehr betrübt. Er war nicht da, wenn was mit der Kleinen sein sollte, doch Kenny versicherte ihr, dass er sofort zurück käme, würde es Juliette nicht gut gehen.

 

Es war ein regnerischer Tag, als er sich von Ninette und der Kleinen verabschiedete. Er konnte die ein oder andere Träne nicht unterdrücken. Juliette hatte eine leichte Erkältung und hustete ständig, was ihn ein wenig beunruhigte, doch er hatte einen Vertrag und den musste er einhalten. So stieg er ins Taxi, was bereits vor dem Haus wartete und fuhr eiligst zum Flughafen, von wo aus es in die Staaten ging. Es kribbelte schon mächtig in ihm, lange hatte er nicht mehr drüben gespielt und er hoffte sehr, das man ihn dort nicht vergessen hatte. Aber seine Sorgen waren unbegründet, bei der Ankunft in New York wurde er stürmisch bejubelt. Er schaffte es gerade noch vom Flughafengebäude in eins der Taxen zu springen, um sich vor den kreischenden Mädchen in Sicherheit zu bringen.

 

»Willkommen zurück«, lachte der Taxifahrer.

 

Kenny grinste über das ganze Gesicht und konnte es kaum erwarten mit den anderen Cats von damals wieder auf der Bühne zu stehen. Alle die großen Namen standen auf dem Plakat, Charlie Parker, Dizzy Gillespie, Oscar Peterson, Lester Young, auch Billie Holiday und Ella Fitzgerald waren mit dabei und da stand sein Name "Kenny Norton" in großen Lettern über all den anderen. Ein wenig Stolz kam schon in ihm auf. Das erste Konzert fand in der altehrwürdigen Carnegie Hall statt, wo er einst mit Benny Goodman gespielt hatte und sich seine ersten Lorbeeren verdient hatte. Erinnerungen kamen in ihm hoch. Das alles lag schon so lange zurück, obwohl er doch gerade mal 31 Jahre alt war. Wie nicht anders zu erwarten wurde der Auftritt ein voller Erfolg. Die Halle war ausverkauft und das Publikum tobte vor Begeisterung nach jedem Stück. Kenny lieferte sich heiße Duelle mit Dizzy, dass es keinen mehr auf seinem Sitz hielt. So ging es Abend für Abend, sie zogen von einer Stadt zur anderen. Bis, ja... bis ihn ein Telegramm von Ninette erreichte. Kenny las die paar Zeilen und brach in Tränen aus.

 

»Mein lieber Mann.....komm bitte heim.....Juliette ist verstorben...... in Liebe Ninette.«

 

Kenny war wie versteinert und schickte ihr ein Telegramm nach dem anderen, eins verwirrender wie das andere.

 

»Ninette meine Liebe....ich bin so unfassbar traurig......warte auf mich......ich komme.....Kenny«

 

»Ninette mache nichts bevor ich da bin......Kenny«

 

In dieser Nacht betrank er sich wie noch nie in seinem Leben. Er packte, sobald er wieder bei klarem Verstand war, seinen Koffer und flog so schnell es ging zurück nach Paris.

 

 

Wortlos fielen sich Kenny und Ninette in die Arme, ihre Tränen sagten mehr als jedes Wort es jemals hätte sagen können. Schon zwei Tage später fand die Beerdigung der kleinen Juliette statt. Es goss wie aus Eimern, als ob der Himmel ebenfalls sehr traurig war, dass ein junges Leben so früh enden musste. Die beiden standen noch lange am offenen Grab, als alle anderen längst eine schützende Behausung aufgesucht hatten. Während Ninette noch zum Leichenschmaus ging, zog Kenny sich den Kragen seines Mantels hoch und ging ziellos durch den Regen von Paris. Erst spät am Abend kehrte er heim, roch stark nach Zigaretten und Alkohol. Ohne ein Wort zu sagen legte er sich ins Bett und schlief. Sprechen sollte er in den nächsten Tagen eh kaum, es gab nichts mehr zu sagen, wie er meinte. Zwischen Ninette und Ihm kam es immer häufiger zum Streit, oft blieb er Tage weg und trank wieder mehr als gewohnt, er rauchte stark und griff auch hin und wieder zu Drogen, die er jahrelang nicht angerührt hatte. Als er es schaffte eine Woche lang nicht einen Tag mehr nüchtern zu sein, hatte Ninette es satt. Sie stellte ihm die Koffer vor die Türe und wollte ihn nicht mehr sehen. Kenny, der mal wieder spät nach Hause kam und sein Horn neben den Koffern stehen sah, nahm alles wortlos hin, griff seine Sachen und verließ das Haus. Sie sollten sich nicht wiedersehen.

 

Kenny lebte noch ein Jahr, mehr recht als schlecht, bei einem Musikerkollegen in Paris, dann beschloss er Frankreich zu verlassen. Alles hier erinnerte ihn an Juliette, an eine Zeit im Leben, wo er sorglos und glücklich war. Bereits einen Tag später kaufte er sich vom letzten Geld, was er noch besaß, ein Flugticket zurück nach Amerika. Da stand er nun wieder, hier wo alles einmal begann, hier wo er zu Ruhm gelangte, wo man ihm zugehört hatte und er seine Musik spielen konnte, die er so liebte. Alles das schien ihm eine Ewigkeit her. Was wollte er hier eigentlich noch? Kannte man ihn überhaupt noch? Längst waren andere Musiker auf der Szene. Ob er da noch reinpassen würde? Kenny machte einen Versuch und steuerte Mintons Playhouse an, hier wo er viele Erfolge gefeiert hatte. Er sah schon ein wenig heruntergekommen aus, sein Mantel hatte wahrlich schon bessere Zeiten erlebt und eine Rasur hätte ihm sicherlich auch nicht geschadet. Er betrat den Club und schaute sich um. Viel hatte sich nicht verändert, so lief er direkt ins Büro des Clubbesitzers. Kenny klopfte an die Türe und eine Stimme rief polternd »Herein!«

 

Dem alten Minton fiel fast seine Zigarre aus dem Mund, als er Kenny in der Türe stehen sah.

 

»Norton, alter Junge, bist du es wirklich«, lachte er.

 

Kenny nickte nur und setzte sich hin ohne dass man ihn dazu aufforderte.

 

»Da bin ich aber von den Socken, dass ich dich nochmal hier sehen darf. Aber sag, was führt dich zu mir?«, sagte Minton.

 

»Ich dachte, ich schau mal rein und frage, ob Du vielleicht einen Job für mich hast? Würde gerne mal wieder hier spielen«, antwortete Kenny.

 

»Na, klar habe ich einen Job. Wäre ja schön blöde, wenn ich mir das entgehen lassen würde.«

 

Kenny unterschrieb bei Mintons einen Vertrag, in dem er sich verpflichtete jeden Abend zwei Gigs zu spielen, Essen und Trinken inbegriffen.

 

Die Nachricht, dass Kenny Norton wieder in der Stadt sei, verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Jeden Abend war der Club gerammelt voll, sodass man anstehen musste, wollte man ihn einmal selbst erleben. Kenny war zu diesem Zeitpunkt besser denn je, er war begeistert, dass man ihn nicht vergessen hatte. Seine Platten verkauften sich ebenfalls bestens, so dass er gut davon leben konnte. Er nahm eine Reihe Platten für das Verve Label auf, die sich ebenfalls gut verkauften und sein Name war wieder in aller Munde, so wie er es damals war, bevor er nach Paris ging.

 

***

 

1955. Kenny war 35 Jahre alt, durch den reichlichen Genuss von Alkohol und die Einnahme etlicher Drogen wirkte er viel älter. Seine Gesundheit war schwer angeschlagen und so kam es, dass er öfter mal einen Auftritt im Mintons nicht antreten konnte oder ihn einfach schlichtweg vergaß. Er wurde immer unzuverlässiger und verkam mehr und mehr. Um sich Drogen zu beschaffen versetzte er sogar sein Horn, was er dann später, wenn er wieder flüssig war, zurückkaufte. Zwei Flaschen Whiskey am Tag waren bei ihm keine Seltenheit und so torkelte er dann auf die Bühne, ließ sein Horn fallen und brachte kaum einen vernünftigen Ton heraus. Irgendwann reichte es dem alten Minton und er feuerte ihn kurzerhand. Auch seine Freunde und Fans zogen sich von ihm zurück. Kenny war am Ende. Das wusste er so gut, wie kein anderer. Irgendwie hatte er es immer wieder geschafft auf die Beine zu kommen, doch dieses Mal konnte und wollte er nicht mehr. Er zog sich von allem zurück, hauste in einer schäbigen Einzimmerwohnung, in der nur ein Tisch, ein Stuhl und ein Bett stand. Dort wurde er nach zwei Monaten, als keine Miete mehr kam, gefunden. Kenny lag regungslos auf seinem Bett, neben ihm eine leere Flasche Whiskey und sein Horn.

 

Ninette erfuhr erst Jahre später von seinem Tod, als man sie ausfindig machte und ihr den kleinen Koffer mit seinem Horn übergeben konnte. Bis zu ihrem Tod bewahrte sie ihn auf und hielt ihn in Ehren.

Impressum

Texte: Vanessa Moonlight
Cover: Fizzy Lemon
Tag der Veröffentlichung: 23.03.2024

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