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R.E.V.E. - 3. Noctua erwacht

 

 

 

V. Crystazia Chronik

1. Zurück in Melisar

 

 

 

Schweres Parfüm vermischte sich mit Blütenduft. Er hatte sich innerhalb der Samtvorhänge des Himmelbetts verfangen. Glutrote Strahlen fielen durch einen schmalen Spalt auf die zerwühlten Bettlaken. Die Luft prickelte verheißungsvoll. Ylexyel betrachtete den roten Schein der Juwelen. Die Rubine funkelten.

»Das sind wunderschöne Ohrringe.« Chastava schmiegte sich an ihn.

»Das sind sie.« Ylexyel betrachtete das Lichtspiel der Edelsteine.

»Ich würde sie gerne tragen.« Sie sah ihn aus ihren schönen Augen an. Blau wie eine wolkenlose Nacht. Tiefgründig und verführerisch.

»Ich kann sie dir nicht geben«, erwiderte Ylexyel ruhig.

»Warum nicht?«, säuselte Chastava. Er bemerkte, dass sich unter der Schicht aus benebelndem Parfüm Wut aufstaute. Kochende Eifersucht, die sich wie eine hässliche Staubschicht auf ihre Makellosigkeit legte.

»Sie sind nicht für dich bestimmt.« Er fuhr mit seinen Lippen über ihre honigblonden Wellen.

»Ich verstehe dich nicht.« Chastava befreite sich aus seiner Umarmung.

»Das tun nur wenige«, seufzte er.

»Ich weiß nicht, warum ich hier bin. Ich habe es satt, ein Ersatz zu sein.«

»Du bist kein Ersatz.«

»Warum werde ich dann das Gefühl nicht los, dass du auf jemanden wartest?«

»Wie kommst du auf solche Ideen?« Ylexyel lachte auf.

»Selbst jetzt blickst du immer wieder zur Tür.« Chastava verschränkte die Arme vor der Brust und rückte noch weiter von ihm ab.

Ylexyel strich sich eine braune Locke aus der Stirn und ließ sich auf die Kissen seines Himmelbettes sinken. Er hielt die Ohrringe auf Augenhöhe und versuchte, in die Tiefen der roten Kristalle zu blicken.

Chastava hatte recht.

Er wartete.

Auf den letzten Teil der Juwelen.

Auf das Diadem.

 

 

***

 

 

Reifen in Regenbogentönen drehten sich in rascher Abfolge. Rivanee und Elaris flogen hindurch. Sie hatte den Sphärenkorridor noch nie so farbenfroh erlebt. Riesige Blüten tauchten auf ihrer linken Seite auf und verschmolzen wieder mit dem Hintergrund.

Rivanee hielt sich im Geist an dem Band fest, das Sento ihr gereicht hatte. Sie war verblüfft, was ihr bester Freund vollbracht hatte. Um sie herum explodierten Farben in rascher Geschwindigkeit. Staunend betrachtete sie die Formenspiele des Korridors und versuchte, sich jeden Moment einzuprägen.

»Brems ab«, rief ihr Elaris zu.

Doch es war bereits zu spät. Mit einem Ruck endete ihr Flug. Sie landete auf hartem Untergrund und verlor das Gleichgewicht. Elaris hielt sie fest, bevor sie zu Boden stürzen konnte.

»Danke«, murmelte sie und sah auf.

Sie war überrascht, Sento zu sehen. Neben ihm stand Zarea und hielt Maro im Arm.

»Eigentlich solltet ihr in Zareas Zimmer ankommen, aber Sentos Komprimierung ist aus dem Ruder gelaufen«, beschwerte sich der Kater.

Rivanee kicherte. Sie waren im Park gelandet, der sich mindestens einen halben Kilometer von Zareas Haus entfernt befand.

»Sei nicht so mürrisch. Ich finde, dass er gute Arbeit geleistet hat.« Rivanee verpasste dem bronzenen Tier eine leichte Kopfnuss.

»Das sehe ich genauso. « Sento drückte Rivanee kurz an sich.

»Von dir will ich gar nicht anfangen.« Maro sprang auf den Boden. »Dass du heil zurückgekommen bist, gleicht einem Wunder.«

»Beruhige dich. Ich bin ja wieder da.« Rivanee verdrehte die Augen.

»Du siehst irgendwie anders aus.« Zarea betrachtete sie eingehend.

»Was meinst du?« Rivanee versuchte, sich vor dem prüfenden Blick ihrer Freundin zu verstecken.

»Ich weiß es nicht genau. Ich habe das Gefühl, dein Haar ist länger geworden.«

Rivanee schüttelte ihre Haare. Sie fühlten sich schwerer an und endeten nicht mehr kurz über ihren Schultern, sondern reichten bis zu ihren Schulterblättern.

Warum war ihr das bisher nicht aufgefallen?

»Ich werde sie wieder kürzer schneiden.« Rivanee versuchte, ihre Haare zu einem Zopf zu flechten. Sie waren wirklich länger als gewohnt.

»Ich finde lange Haare sehr schön«, meinte Elaris.

»Vielleicht schneide ich sie auch nicht.« Rivanee wurde verlegen. Die Erinnerung an seine Lippen auf ihrer Stirn fiel ihr wieder ein.

Wenn er ihr nahe kam, trank sie sein Licht.

»Da ist noch mehr.« Zarea trat dichter an sie heran. »Es sind deine Augen. Ihr Grün ist intensiver geworden.«

»Kannst du mir kurz deinen Spiegel leihen?« Eiskalte Finger griffen nach Rivanees Hals. Das kurze Glücksgefühl zerfiel zu Asche. Das Atmen fiel ihr auf einmal sehr schwer. Zarea reichte ihr einen aufklappbaren Spiegel.

Rivanee sah hinein. Die Kälte kroch in ihre Glieder. Ihre Augen besaßen tatsächlich ein leuchtenderes Grün als sonst.

Doch das war nicht alles. Sie erkannte sich nicht wieder. Sie sah Rivanee und gleichzeitig eine völlig andere Person. Ihre Gesichtszüge waren die gleichen, doch etwas hatte sich gewandelt. Sie konnte nicht sagen, was es war, aber es beunruhigte sie zutiefst.

Dort hinter den grünen Fenstern befand sich eine andere Gestalt. Ein Wesen, das ihr völlig fremd war.

»Ist alles in Ordnung?« Elaris Stimme strich wie eine Feder über ihre Haut. Mit aller Kraft riss sich Rivanee von ihrem Spiegelblick los.

»Ja.« Sie nickte und gab Zarea den Spiegel zurück.

Mit einem Mal kam ihr ein seltsamer Gedanke. Ihre Veränderung musste mit dieser grünen Flüssigkeit zusammenhängen, die ihr der graue Engel verabreicht hatte. Iuven hatte sie nach Feream gelockt, um sie dem grauen Engel auszuliefern. Nein, einer noch viel dunkleren Macht, die dahinterstand.

»In einer halben Stunde beginnt die Schule.« Sento tippte auf seine Armbanduhr. »Ich habe schon viel zu viel vom Unterricht verpasst.«

»Ich glaube, du schaffst es, im Handumdrehen den Stoff nachzuholen.« Rivanee verdrehte die Augen. Sie war wieder in Melisar. In einer Welt, in der alles in gewohnten Bahnen lief. Ihre eigene Welt hingegen stand schon lange auf dem Kopf.

Rivanee starrte lustlos auf ihr Mathematikbuch. In einigen Minuten würde die Stunde beginnen. Frau Almors schrieb etwas ins Klassenbuch. Rivanee fragte sich, ob sie beim letzten Mal Hausaufgaben aufbekommen hatten.

Und wenn schon. Sie würde sich schon eine Ausrede einfallen lassen, wenn sie an die Reihe kam. Darin war sie geübt. Ihre Gedanken kreisten um ihre Veränderungen. Wie konnte es sein, dass ihr Haar auf einmal so lang geworden war? Was war mit ihren Augen geschehen? Sie hatte heute Morgen einen kleinen Spiegel aus der Kommode ihrer Mutter mitgehen lassen und musste sich zwingen, nicht alle fünf Minuten hineinzuschauen. Sie wollte Zeugin jeder noch so winzigen Veränderung sein.

»Endlich ist er wieder da.« Lina stupste sie an.

»Wer?« Rivanee sah auf und verfing sich in Vincanes kühlem Blick.

»Was für eine Ehre, Vincane Sevas mal wieder in meinem Unterricht begrüßen zu dürfen.« Frau Almors ließ den Kugelschreiber geräuschvoll auf den Tisch fallen. »Selbst gute Noten entschuldigen keine Fehlstunden.«

»Ich konnte aus privaten Gründen nicht zum Unterricht kommen. Verzeihen Sie vielmals.« Vincane verbeugte sich leicht vor der Lehrerin. Rivanee war überrascht von dieser Geste. Seit wann entschuldigte sich dieser gefühllose Typ?

Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Elaris ihn mit ernsten Augen und zusammengepressten Lippen betrachtete. Seine Finger umklammerten den Hefter so stark, dass das Plastik Dellen bekam. Auch Sento schien nicht sonderlich erfreut zu sein, den Blonden zu sehen. Warum waren die beiden so angespannt?

»Wenn du weiterhin so gute Zensuren bekommst, sehe ich darüber hinweg.« Rote Flecken prangten auf den Wangen der Lehrerin. Rivanee prustete los. Sie hatte noch nie erlebt, wie ihre Mathelehrerin errötete.

»Da gibt es nichts zu lachen, Rivanee Lennet. Du könntest dir ein Beispiel an ihm nehmen.« Frau Almors rückte ihr Kleid zurecht.

»In diesem Leben werde ich sicherlich kein Mathematik-Genie mehr«, konterte Rivanee.

»Noch gebe ich die Hoffnung nicht auf.« Die Lehrerin trat an die Tafel und nahm Kreide in die Hand.

Vincane setzte sich in die Reihe vor ihr und packte seine Sachen aus. Lina rückte mit ihrem Stuhl vor. Rivanee fürchtete schon, sie würde sich die Luftzufuhr abschneiden, wenn sie so eingeklemmt dasaß. Lina hingegen hatte ganz andere Sorgen. Sie versuchte besonders süß und verführerisch zu wirken. Rasch zog sie ihren Lippenstift nach und kontrollierte ihre Schminke im Bildschirm ihres Telefons.

»Der ist den Aufwand gar nicht wert«, murmelte Rivanee.

»Du solltest dir deine bissigen Kommentare lieber verkneifen und im Unterricht aufpassen. Dann bekommst du vielleicht auch bessere Noten.« Vincane drehte sich zu ihnen um. Das helle Haar fiel ihm schräg in die Stirn. Seine hellblauen Augen sahen sie von oben herab an.

»Du hast mir auch gefehlt.« Rivanee streckte die Zunge heraus.

»Ich weiß, deswegen bin ich auch hergekommen.« Vincane grinste.

Rivanee war sprachlos. Sie hatte ihn erst einmal so breit lächeln sehen. Dieser Ausdruck verwandelte ihn in einen komplett anderen Menschen. Das Eis in seiner Mimik schmolz und offenbarte eine seltene Facette seines Wesens.

Er wirkte beinahe sympathisch.

»Du ...« Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.

»Vincane, könntest du mir Nachhilfe in Mathematik geben?«, platzte Lina heraus.

»Ich habe im Moment leider keine Zeit.«

»Wirklich nicht? Ich wäre dir so dankbar dafür.« Lina klimperte mit ihren getuschten Wimpern.

Rivanee seufzte.

»Ich werde in meinem Kalender nachsehen.« Vincane schien um keine Ausrede verlegen zu sein.

Rivanee lachte in sich hinein. Diese Situation hier war absurd. Ob Lina immer noch so von ihm fasziniert sein würde, wenn sie die Wahrheit über seine Herkunft erfuhr?

»Elaris, bitte löse die Aufgabe an der Tafel. Alle anderen bearbeiten sie selbstständig in ihren Heftern.« Frau Almors klopfte die Kreide von ihren Händen. Sie betonte die letzten Worte mit einem scharfen Blick auf Lukas. Er half gerne der halben Klasse mit Lösungen aus.

»Kannst du mir einen Stift leihen?« Statt sich umzudrehen, lehnte sich Vincane noch weiter nach hinten. Bevor Rivanee antworten konnte, begann er bereits, in ihrer Federtasche zu wühlen.

»Hey.« Rivanee war verärgert über diese Dreistigkeit. Es sah Vincane gar nicht ähnlich, so impulsiv zu reagieren. Elaris drehte sich zu ihnen um. Seine Mundwinkel waren noch schmaler als die Striche, die er aufgemalt hatte. Was ging durch seinen Kopf?

»Ich sagte selbstständig«, fauchte die Mathelehrerin. Lina knallte ihr Buch auf den Tisch. Schatten huschten über Elaris Bernsteinaugen.

»Du solltest auf sie hören, Rivanee«, zischte Lina. Sie blätterte wie wild durch die Seiten, als ob sie dort die Lösung für ihr Problem finden würde.

»Was ist nur los mit euch allen? « Rivanee schüttelte den Kopf. Sie war froh, als diese Stunde vorbei war. Aber die anderen Stunden zogen sich dahin wie zähes Kaugummi. Rivanee blickte immer wieder auf die Uhr über der Tafel. Die Zeit wollte einfach nicht vergehen. Nicht einmal Sentos Witze in der letzten Stunde konnten die Zeit beschleunigen. Gedanken schwirrten durch Rivanees Kopf. Immer wieder drehte sie die Haarspitzen um ihre Finger. Ob es einem ihrer Mitschüler aufgefallen war?

Sie hatte sich die unmöglichsten Theorien zusammengesponnen. Vielleicht verging die Zeit in Traumsphären schneller oder der Aufenthalt dort, wirkte sich irgendwie auf ihren Körper aus. Doch das erklärte noch lange nicht, warum ihre Augen sich veränderten. Endlich klingelte es. Zarea, Sento, Elaris und Rivanee gingen gemeinsam hinaus.

»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte Rivanee gerade heraus.

»Ich werde Kontakt mit Evyana aufnehmen. Sie befindet sich zurzeit in Nehala. Der Welt der Wächter«, erklärte Elaris.

»Bis dahin solltet ihr vermeiden, in Schwierigkeiten zu geraten. « Maro sprang hinter dem Baum hervor und strich um Zareas Füße.

»Ich habe sowieso keine Zeit. Mein Vater braucht mich. Seit diesem seltsamen Besucher ist er wie durch den Wind«, meinte Sento. Rivanee erinnerte sich. Ihr bester Freund hatte von der grauen Feder erzählt, die sein Vater auf dem Schreibtisch gefunden hatte. Außerdem hatte er ihm diesen Universalschlüssel hinterlassen, der fast alle Türen von Melisar öffnete.

Rivanee taumelte. Es musste der graue Engel sein. Die Feder war sein Symbol. Also musste er bereits hier gewesen sein. Lauerte er im Verborgenen und wartete nur auf den richtigen Augenblick um zuzuschlagen? Wenn Iuven mit ihm zusammenarbeitete, war er sicher in der Nähe. Waren sie hier in Melisar überhaupt noch sicher?

»Der Schleier wird immer dünner, aber noch hält er.« Elaris las in ihren Gefühlen.

Rivanee spürte einen starken Druck hinter ihrer Stirn. Sie war auf einmal sehr müde. Je mehr sie über all die Veränderungen nachdachte, desto schläfriger wurde sie.

»Ich sollte nach Hause gehen.« Sie strich sich die Haare hinters Ohr. Die neue Länge war ihr immer noch nicht vertraut.

»Ich melde mich nachher bei dir.« Zarea nickte ihr kurz zu.

»Wenn etwas ist, ruf einfach an.« Sento hielt sein Telefon in die Luft.

»Danke.« Rivanee war froh, solche Freunde zu haben. Sie trennten sich am Schultor. Rivanee sah Elaris hinterher. Maro schlich neben ihm her. Nur zu gerne hätte sie herausgefunden, worüber sich die beiden unterhielten. Noch viel lieber hätte sie ein paar Minuten allein mit ihm verbracht. Seitdem er sich ihr auf diese neue, seltsame Art genähert hatte, wusste sie nicht, wie sie reagieren sollte.

Es war zu viel auf einmal geschehen. Sie gähnte herzhaft.

»Träumst du mal wieder mit offenen Augen, Schlafmütze?« Mit einem Satz sprang Vincane von der Schulmauer und richtete sich vor ihr auf.

»Hat man denn überhaupt keine Ruhe mehr vor dir?«, meinte Rivanee genervt.

»Sieht ganz danach aus.« Vincane lächelte verschmitzt.

»Was ist nur los mit dir? Du verhältst dich so untypisch.« Rivanee runzelte die Stirn. Sein Lächeln verunsicherte sie. »Wo warst du überhaupt?«

»In Tumanth.« Vincane lehnte sich lässig an die Mauer.

»Tumanth? Wo soll das sein?«

»Diese Stadt befindet sich nicht auf der Erde.« Vincane rückte weiter vor.

»Du bist ja auch kein Mensch, nicht wahr? Ich meine, du siehst zwar aus wie einer, aber ...« Rivanee verlor den Faden. Sein intensiver Blick zersetzte ihre Worte. Sie wunderte sich darüber, dass er auf einmal so viel von sich preisgab.

»Soll ich es dir zeigen?«, wisperte er.

»Irgendwann vielleicht.« Rivanee blinzelte und floh vor seiner eindringlichen Starre. Die roten Ziegel der alten Mauer erschienen ihr auf einmal viel interessanter.

»Ich weiß, dass du darauf brennst, mehr über mich zu erfahren. Du versuchst schon lange, hinter mein Geheimnis zu kommen.«

»Du bist ziemlich von dir überzeugt.« Rivanee verdrehte die Augen.

»Es ist ein einmaliges Angebot.« Vincane legte den Kopf schräg.

»Ich kann darauf verzichten.« Rivanee klang nicht so abweisend, wie sie sich wünschte. Er hatte mit seiner Vermutung ins Schwarze getroffen. Seit ihrer ersten Begegnung brannte sie darauf, mehr über ihn zu erfahren. Bisher hatte Vincane sich immer sehr kühl und verschlossen gegeben. Seine plötzliche Offenheit verwirrte sie. Welche Ziele verfolgte er damit?

»Wie ich sehe, hast du wirklich kein Interesse.« Vincane beugte sich plötzlich vor. Rivanee hielt den Atem an, als seine Haare ihre Wange streiften. Sein Duft berauschte sie. Die Frische des Waldes vermischte sich mit einer leicht süßen Nuance. Seine Hand berührte ihr Haar. Rivanee zitterte.

»Ein Käfer hat sich in deinen Haaren verfangen.« Das kleine Insekt krabbelte über seinen Zeigefinger, suchte den höchsten Ort und flog davon.

Rivanee wusste nicht, was sie sagen sollte. Seine Nähe verwischte jeden klaren Gedanken.

»Wir sehen uns.« Vincane nickte ihr kurz zu und wandte sich zum Gehen. Rivanee nagte an ihrer Unterlippe. Sie wusste, dass sie nach Hause gehen sollte. Sie musste sich ausruhen und Zeit mit ihrer Familie verbringen. Das war die richtige Entscheidung.

»Warte.«

Sie rief dieses Wort nicht. Sie flüsterte es.

Vincane blieb stehen und drehte sich langsam um. Als sie sein Profil sah, wusste sie, dass sie verloren hatte.

»Ich freue mich, dass du es dir anders überlegt hast.«

 

 

***

 

 

»Wir haben den Standort des Diadems lokalisiert«, erklärte Ladivelle.

»Der letzte Teil der Kronjuwelen befindet sich in Anthrazy«, fügte Minaven hinzu. Die Worte landeten wie Regentropfen in Evyanas Geist. Gänsehaut legte sich über ihre Arme.

»Wir müssen es schaffen, das Diadem zu bekommen, bevor es dem schwarzen Adel in die Finger gerät«, sagte Giral.

»Was geschieht, wenn sie es haben?«, wollte Evyana wissen. Eine dunkle Vorahnung beschlich sie.

»Wenn die Juwelen wieder vollständig in ihrem Besitz sind, können sie das Portal nach Noctua öffnen.« Ladivelle legte die Stirn in Falten.

»Das darf nicht geschehen.« Evyana wurde die Schwere dieser Lage immer bewusster. Wieder standen sie an einem Wendepunkt. Die Gezeitenwende stand kurz bevor. Die Geschichte durfte sich nicht wiederholen. Nicht noch einmal.

»Wir haben leider erst vor kurzem herausgefunden, dass der schwarze Adel sich auf die Suche nach dem Schmuck gemacht hat«, meinte Minaven.

»Das Seltsame dabei ist, dass sie einen Iphilem damit beauftragt haben. Dieser agiert jedoch nicht selbst, sondern schickt einen Diener aus.« Ladivelle fuhr sich durch die Haare.

»Einen Diener mit unglaublicher Macht. Er scheint stärker als der Iphilem selbst zu sein.« Minaven fiel das Sprechen schwer. Evyana spürte, dass die beiden unruhig wurden.

»Wir können ihn nicht einordnen. Er verschließt sich vor unserer Wahrnehmung. Schaut es euch selbst an.« Ladivelle malte einen Kreis in die Luft.

Silberne Staubkörnchen erschienen in seinem Inneren. Sie setzten sich zusammen und bildeten eine Spiegelfläche. Für einen kurzen Augenblick sah Evyana sich selbst. Die Müdigkeit hatte sich in ihre Züge geschlichen. Sie wirkte erschöpft.

Giral fing ihren Blick auf. In seinen Augen spiegelte sich Sorge und Zartheit. Evyana spürte die Stärke, die von ihm ausging. Wie Flügel bettete sich seine warme Energie um ihre Schultern. Das Spiegelbild verblasste. Auf dem silbernen Grund entstand ein Bild.

Evyana erkannte einen dunklen Korridor. Er war nur spärlich erhellt. Lichtkugeln hingen an der gewölbten Decke und spendeten karges Licht. Evyana spähte in alle Winkel des Tunnels.

Auf einmal tauchte er auf. Die Kapuze hing ihm tief ins Gesicht und verbarg sein Antlitz. Sein Mantel reichte ihm bis zu den Sohlen. Es war der Vermummte, den sie in Triso gesehen hatte.

»Iuven«, murmelte sie.

»Du bist ihm begegnet?« Ladivelle zog eine Braue hoch.

»Er ist sehr stark. Ich konnte nichts über ihn herausfinden. Ihn umgibt eine Schicht, die ich nicht durchdringen kann. Es ist genauso wie bei ...«

Ein Donnergrollen übertönte ihre letzten Worte.

»Schon wieder.« Minaven blickte Giral an.

»Das bedeutet, dass sie ein weiteres Siegel aufgebrochen haben.« Der Wächter blickte auf den Brunnen im Zentrum des Tempels. Die Oberfläche kräuselte sich leicht.

 

2. In Tumanth

 

 

 

Die Zweige knackten unter Rivanees Schuhen. Sie kickte einen herabgefallenen Ast beiseite und beschleunigte ihre Schritte. Vincane war wie immer zu schnell. Sie hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten.

»Warum wartest du nicht?«, rief sie ihm hinterher.

»Oh, verzeih mir.« Vincane wurde nur widerwillig langsamer. Irrte sie sich oder wirkte er irgendwie gehetzt? Schließlich holte sie ihn ein.

»Hast du es eilig?« Sie beäugte ihn von der Seite und wurde das Gefühl nicht los, dass er sich anders als sonst benahm.

»Nein, ich mag es nur nicht, wie eine Schildkröte dahinzukriechen.«

»Schon gut.« Die Spannung vertrieb Rivanees Zweifel.

Vincane ging in die Hocke und legte seine Handflächen auf den Boden. Er wischte Blätter und Sand beiseite.

Rivanee beobachtete gespannt, was er tat. Schon immer hatte sie sich gefragt, von wo er nach Melisar kam und wohin er wieder verschwand. Vincane hob die Hände ein Stück an. Weißblaue Linien bildeten sich auf seinen Fingerkuppen und verbanden sich mit dem Grund. Das Licht breitete sich wie ein Teppich aus und erfasste Rivanee und Vincane.

Die Wärme drang durch ihre Füße hinauf in ihren Körper. Der Waldboden wurde durchlässig. Rivanee sank in den Lichtsee hinein. Die Bäume um sie herum wurden von einem Funkenmeer verschluckt. Diese Reise war anders als ihre Flüge durch den Sphärenkorridor.

Dunkelgrauer Sternenstaub überdeckte die hellen Partikel. Er legte sich wie Watte um sie herum. Wo war Vincane? Sie wollte nach ihm rufen.

»Wir sind gleich da.« Seine Stimme hallte durch endlosen Raum. Kaum hatte er das letzte Wort ausgesprochen, als der Staub davongeweht wurde.

»Willkommen in Tumanth.«

Rivanee blickte sich um. Sie befand sich in einer Welt, die aus Wolken erbaut war. Nebelschlangen ringelten sich um ihre Beine und turmhohe Wolkenwände bauten sich plötzlich vor ihr auf.

»Hier lebst du also.« Rivanee berührte das luftige Weiß und teilte es in der Mitte durch.

»Vorübergehend«, erwiderte Vincane knapp. Auch hier in seiner Welt verlangsamte er seinen Schritt nicht.

»Wohin rennen wir eigentlich so?«

»Du wirst es schon bald erfahren.«

Rivanee wusste, dass es keinen Sinn machte weiterzubohren. Vincane verfiel wieder in seine gewohnte Schweigsamkeit. Der Zweifel flüsterte leise Worte in ihre Ohren. Warum war sie überhaupt hergekommen? Ein eisiger Hauch strich über ihren Nacken. Rivanee drehte sich um.

Wurden sie beobachtet?

»Ist irgendetwas?« Vincane sah nach ihr.

»Nein, nichts.« Rivanee schüttelte die seltsame Empfindung ab und schloss zu ihm auf. Sie betrachtete Vincane verstohlen von der Seite. Konnte es sein, dass sein Haar am Ansatz dunkler als sonst war?

»Das ist gut, denn du solltest dich an Tumanth gewöhnen.« Sein Blick nahm sie gefangen. In das helle Blau seiner Augen mischten sich graue Punkte.

Sie hatte sich an unterschiedlichen Farben gewöhnt. In seiner Iris wechselte sich ein Eismeer mit einem bodenlosen See ab. Doch Grau waren seine Augen bisher noch nie gewesen. Das kalte Prickeln breitete sich über ihren Körper aus. Irgendetwas stimmte anz und gar nicht.

»Du wirst eine längere Zeit hier verbringen.« Vincane umklammerte ihren Arm.

»Was soll das? Lass mich los!« schrie Rivanee. Sein Griff war hart wie Granit.

»Warum denn, es gibt doch noch so viel zu sehen.«

 

 

***

 

 

Fohazar hatte wieder etwas Neues herausgefunden. Es gab einen geheimen Pfad, der in die heiligen Hallen von Crystazia führte und hier in Tumanth begann. Er wusste selbst nicht, wie er auf diesen Hinweis gestoßen war.

Eigentlich war es Vincane gewesen. Er hatte in den alten Schriftstücken gelesen, ohne die Sprache zu kennen. Vor kurzem hatten sie ihn zu dem weißen Haus mit der Kuppel geführt. Seit einigen Tagen untersuchte Fohazar dieses Gebäude mit der großen Kristallplatte im Erdgeschoss.

Am interessantesten fand er jedoch das zweite Stockwerk. Außer Säulenwerk und einem Fenster in der Kuppel gab es hier scheinbar nichts Interessantes. Doch heute Morgen hatte er eine Entdeckung gemacht. Das Dachfenster war der Eingang zu einem Seitenarm des Korridors. Laut Aufzeichnungen führte dieser Korridor zur Crystazia-Chronik, Fohazar hatte noch nicht herausgefunden, wie er diesen Zugang öffnen konnte. Er brauchte nur noch einen weiteren Hinweis, um dieses Geheimnis zu lüften. Er konnte es kaum erwarten, seine Schriftrollen und Bücher aufs Neue zu durchforsten. Vielleicht würde Vincane auch dieses Mal wieder e inen entscheidenden Hinweis liefern. Fohazar tauchte durch eine Nebelwand und bekam große Augen.

Vincane befand sich am Ende dieser Straße und ging in Richtung des Marktes. Er war nicht allein. Ein Mädchen mit braunen Haaren befand sich an seiner Seite. Fohazar kniff die Augen zusammen und versuchte, das Gesicht der jungen Frau auszumachen. Er hatte sie hier in Tumanth noch nie gesehen und doch glaubte er, sich an ihr Gesicht zu erinnern. Woher mochte sie wohl stammen? Kurz überlegte er, ob er Vincane rufen sollte. Doch er entschied sich dagegen. Die beiden waren zu weit weg.

Er würde Vincane ausfragen, wenn er wieder heimkam und er schwor sich, seinen Mitbewohner so lange mit Fragen zu löchern, bis er eine zufriedenstellende Antwort erhielt. Eine weitere Möglichkeit wäre es, ihn mit einem Kuchen zu bestechen. Fohazar erreichte sein Haus und betrat den Flur. Aus dem hinteren Teil des Gebäudes drang aufgeregtes Papierrascheln.

War jemand eingebrochen? Hektisch sprach er einen Schutzzauber und lief ins Wohnzimmer. Seine Kinnlade klappte nach unten.

»Was ist?«, rief Vincane.

»Wie bist du so schnell hergekommen.« Fohazar starrte ihn entgeistert an.

»Wovon sprichst du? Ich bin heute gar nicht aus dem Haus gegangen.« Vincane runzelte die Stirn.

»Ich habe dich doch noch vor wenigen Minuten draußen gesehen.«

»Unmöglich.« Vincane versteifte sich.

»So wahr ich hier stehe«, röchelte Fohazar.

Vincane klappte das Buch zu, das er gerade gelesen hatte.

»Willst du damit sagen, dass mein Doppelgänger durch Tumanth geistert?«

»Er war nicht allein.« Fohazar rang nach Worten. »Ein Mädchen mit seltsamen grünen Augen war bei ihm.«

Der Boden unter Vincanes Füßen wurde weggerissen. Er stützte sich an der Wand ab, um nicht zu stürzen.

Rivanee war hier.

»Dieser Loire steckt dahinter«, zischte er. Das füchsische Gesicht des Händlers tauchte vor ihm auf und verhöhnte ihn. Dieser zwielichtige Kerl hatte es irgendwie geschafft Rivanee hierherzulocken.

Warum gerade sie?

»Loire, mein Lieblingshändler?« Fohazar schien es nicht begreifen zu wollen.

»Du solltest den Menschen nicht so leichtfertig vertrauen.«

»Aber er hat mir so viele wertvolle Reliquien geliefert.«

»Er tut es nur, weil er sich einen Nutzen davon verspricht. Ich vermute, dass er schon längst von dem Haus weiß. Er benutzt dich, du sollst ihm die nötigen Informationen liefern. Niemand in ganz Tumanth kennt sich damit so gut aus wie du. Er wusste es und hat dir wichtige Hinweise zugespielt. Er selbst ist auf der Jagd nach der Crystazia-Chronik.« Vincane rieb sich das Kinn. Die Unruhe schlug wie eine Welle auf ihn ein.

Fohazar rang nach Worten. In seinen Zügen spiegelte sich die bittere Erkenntnis hintergangen worden zu sein.

»Geh ihm aus dem Weg. Er kann uns sehr gefährlich werden«, fuhr Vincane fort. Dieser undurchsichtige Händler plante etwas.

Was hatte er mit Rivanee vor?

»Ich werde mich auf die Suche nach meinem zweiten Ich machen«, knurrte Vincane grimmig.

 

 

***

 

 

»Ich habe genug von Tumanth gesehen, ich will wieder auf die Erde.« Rivanee bäumte sich auf und versuchte Vincanes Griff zu entfliehen.

»Das Spannendste kommt erst noch.«

»Du bist genauso wie er.« Rivanee ließ die Schultern hängen. Sie wurde hintergangen. Zum zweiten Mal. Sie verfluchte ihre Dummheit.

»Wer?« Vincane schien keine Ahnung zu haben, wovon sie sprach.

»Iuven. Der Kapuzenträger.«

»Wer soll das sein?«

»Willst du mich für dumm verkaufen?« Rivanee verstand die Welt nicht mehr. Ihr Begleiter führte sich wieder höchst eigenartig auf. Viel eigenartiger, als sie es von ihm gewohnt war. »Seit wann färbst du eigentlich deine Haare? Ich dachte, du wärst von Natur aus blond.«

Vincane fuhr sich fluchend durch seinen Schopf. Der braune Ansatz war deutlich zu sehen. Es war die Absurdität dieser Situation, die Rivanee zum Lachen brachte.

»Ich kann dir einen guten Friseur in Melisar empfehlen.«

»Schweig still, dumme Göre.« Vincanes Stimme klang auf einmal viel höher und femininer als sonst und eine Züge bekamen etwas Boshaftes. Das Blau seiner Augen wurde immer stumpfer, seine markanten Gesichtszüge verschwammen wie tropfendes Wachs.

Die Erkenntnis traf Rivanee wie Flammen auf Öl.

»Du bist nicht Vincane.«

»Das erste Anzeichen von Intelligenz.« Die Stimme ihres Gegenübers nahm einen immer weiblicheren Ton an.

»Lass mich gehen, wer auch immer du bist.« Mit Furcht und Erstaunen beobachtete Rivanee die Verwandlung.

»Ich glaube, ich weiß etwas Besseres.«

Ehe Rivanee das Gesicht der Person ausmachen konnte, wurde ihr schwarz vor Augen.

 

 

Sie erwachte in einem kleinen Raum. Helles Licht fiel durch ein winziges Fenster hoch oben an der Wand. Kissen landeten auf dem Boden, als sie sich von der weichen Unterlage erhob. Sie hatte auf einem breiten Sessel geschlafen. Mit wackligen Beinen schritt sie zur Tür und drückte den Griff hinunter.

Sie war eingesperrt. Mit Kraft stemmte sie sich gegen die Tür.

Wieder nichts.

Rivanee sah sich um. Außer dem Sessel und einem runden Tisch gab es nichts in diesem Raum. Sie untersuchte die weißen Wände. Es war unmöglich, an ihnen hochzuklettern. Mit Wehmut blickte sie den Wolken nach, die sich am Fenster vorbeischoben.

Ihre Häscher hatten ganze Arbeit geleistet. Rivanee kauerte sich auf den gepolsterten Stuhl und zog die Beine an. Wie war sie nur in diese Lage geraten? Der falsche Vincane hatte sie an der Nase herumgeführt. Warum war es ihr nicht sofort aufgefallen? Sie zerknüllte ein Kissen in ihrer Hand.

Wie konnte sie nur so naiv sein? Sie schwor sich, in Zukunft vorsichtiger zu sein. Wenn es eine Zukunft für sie gab. Rivanee schluckte diesen Gedanken hinunter. Sie hatte nicht den Hauch einer Ahnung, warum man sie eingesperrt hatte. Hier, in einer fremden Welt. Gehörte Tumanth zu den Obsidiansphären? Sie hatte keine Ahnung.

»Maro«, flüsterte Rivanee.

Stille antwortete ihr. Der bronzene Kater hörte sie nicht. Rivanee vergrub ihren Kopf in den Kissen. Die Aussichtslosigkeit dieser Situation nagte an ihren Nerven. Wie war sie in eine solche Situation geraten? Sie feuerte ein Kissen gegen die Wand.

Plötzlich senkte sich die Klinke der Tür. Rivanee krallte ihre Hände in den weichen Kissenstoff.

»Du bist wach.«

Eine hübsche junge Frau mit einem langen braunen Zopf trat ein. Sie war groß gewachsen und sah sportlich aus. Mit wachen grauen Augen musterte sie Rivanee.

»Du hast dich als Vincane ausgegeben.« Rivanee erkannte das helle Braun ihrer Haare und die Gesichtszüge.

»Du hast es erraten.« Die Frau klatschte in die Hände.

»Aber warum?«

»Das wirst du bald erfahren.«

»Ich will zurück auf die Erde.«

Die Frau schüttelte den Kopf.

»Komm mit.«

Rivanee machte keine Anstalten aufzustehen.

»Wenn du dich nicht freiwillig bewegst, werde ich dich wieder ins Land der Träume schicken.«

»Schon gut.« Rivanee verspürte nicht die geringste Lust auf einen erneuten Ohnmachtsanfall. Widerwillig erhob sie sich.

»Denk gar nicht daran zu fliehen.« Die Frau wedelte mit einem ausgestreckten Zeigefinger vor Rivanees Nase herum. »Du wirst den Ausgang sowieso nicht finden.« Sie trat aus dem Raum und machte eine Drehung. »Es gibt hier so viele Wege, doch nur einer führt dich in die Freiheit.«

Steine sackten in Rivanees Magen. Ihre Begleiterin hatte nicht übertrieben. Sie standen in einer Rotunda, die von Säulen umgeben war. Von diesem Zentrum aus gingen neun Korridore aus. Als Rivanee sich umdrehte, war die Tür zu ihrem Gefängnis verschwunden.

»Wie findest du den Weg?«

»Ich habe einen Kompass.« Die Frau fischte einen Anhänger aus ihrer Tasche heraus. Ein bernsteinfarbiges Amulett mit eingravierten Kreisen baumelte von einer Lederkette. Hoffnung keimte in Rivanee auf. Vielleicht gab es eine winzige Chance, aus diesem Gefängnis zu fliehen.

»Wie heißt du eigentlich?« Sie musste versuchen, eine gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Wenn es ihr gelang an den Kompass zu kommen ...

»Faruna.« Die junge Frau lächelte spitz. »Ich sollte vielleicht noch erwähnen, dass der Kompass jeden deiner Fluchtversuche spürt. Also versuche es gar nicht erst.«

Rivanee stutzte. Faruna schien ebenfalls die Fähigkeit zu besitzen, sie zu durchschauen. Standen ihre Gedanken ihr wirklich ins Gesicht geschrieben? Sie musste vorsichtiger sein.

»Wie du heißt, habe ich ja bereits herausgefunden«, meinte die junge Frau.

»Warum bin ich hier?«

»Das wirst du sehr bald erfahren.«

»Warum sagst du es mir nicht?«

Faruna schwieg. Nur die Schritte der beiden hallten durch den endlosen Korridor. Rivanee versuchte, sich ein paar Anhaltspunkte einzuprägen. Vielleicht konnte sie sich den Weg merken. Unauffällig riss sie ein Stück ihres Taschentuchs ab, knüllte es zusammen und warf es in die Ecke.

»Keine Panik. Deine Neugier wird bald gestillt werden. Vielleicht sollte ich mein Aussehen ändern, damit du keine Angst mehr hast.« Faruna grinste verschlagen. Kaum hatte sie das letzte Wort ausgesprochen, als sie von silbrigen Rauchschwaden umschlossen wurde. Wenige Sekunden später stand Vincane vor ihr. Rivanee war fasziniert von dieser Verwandlung. Dieses Mal stimmte alles. Von der athletischen Statur über die stechenden Augen bis hin zum hellen Haaransatz.

»Mach deinen Mund zu, sonst krabbeln noch Spinnen hinein.« Der falsche Vincane zwinkerte ihr zu.

Rivanee schüttelte den Kopf.

»Ich frage mich, warum er dir folgt.« Farunas Augen wanderten abschätzig über ihren Körper.

Rivanee verschränkte die Arme vor ihrer Brust. Sie mochte Farunas bösen Blick nicht.

»Wer?«

»Du weißt genau, von wem ich rede.« Faruna deutete mit beiden Händen auf ihr Gesicht.

»Er folgt mir nicht.«

»Natürlich. Uns erschließen sich nur noch nicht seine Beweggründe.« Der falsche Vincane schnalzte mit der Zunge.

Rivanee öffnete den Mund, um darauf etwas zu erwidern, klappte ihn aber wieder zu. Was wusste sie schon über Vincane? Er war mit Abstand der wortkargste und unnahbarste Mensch, der ihr je begegnet war.

»Ich weiß nicht, warum er auf die Erde gekommen ist. Ich habe auch keine Ahnung, was er in den Obsidiansphären sucht«, sagte sie wahrheitsgemäß.

»Du weißt es also nicht.« Faruna schien ihr nicht glauben zu wollen. Rivanees Blick richtete sich wieder auf die Tasche des falschen Vincane. Dort lag das Bernsteinamulett. Sie musste es irgendwie bekommen, ohne Farunas Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

»Gleich sind wir da.« Die Gestaltwandlerin riss Rivanee aus ihren Überlegungen. Der Flur mündete in eine große Vorhalle.

Hier gab es zwei massive mit Schnitzereien und goldenen Ornamenten verzierte Türen. Sie waren das Schmuckvollste in diesem grauen Raum, der nicht einmal ein Fenster besaß.

Auf einmal ertönte ein lautes Donnergrollen. Der Boden unter ihren Füßen vibrierte.

»Schon wieder?« Faruna blickte sich hilfesuchend um.

»Was ist das für ein Erdbeben?« Rivanee knallte gegen eine Wand. Ihr Hinterkopf pochte vor Schmerz.

»Ein weiteres Siegel wurde gebrochen«, zischte der falsche Vincane.

»Was für ein Siegel?« Rivanee gähnte. Die Wände wackelten und die Decke wölbte sich bedrohlich nach unten. Doch, statt vor Angst zu schreien, wurde sie schläfrig. Sie konnte nichts dagegen tun, dass ihre Lider immer schwerer wurden.

 

 

***

 

Vor Äonen

Cinael erstarrte in seiner Bewegung.

Er war stark genug, um sich gegen jede Bedrohung zu stellen. Schneller als der Wind, wenn die Gefahr ihm zu nahekommen sollte. Und unsichtbar wie Luft.

Doch diese Augen sahen ihn zwischen den Säulen des Atriums stehen. Grün wie schimmernde Smaragde blickten sie durch die Blätterwand und trafen ihn wie Pfeile.

Unmöglich. Sie konnten ihn nicht sehen.

Sein Schutz war perfekt. Und doch betrachteten sie ihn.

Neugierig.

Seelenruhig.

Aufmerksam.

Cinael verlor sich in den Facetten der Smaragde. Die glänzenden Welten rauschten an ihm vorbei. Er tauchte durch glitzernde Schleier hinein in eine unbekannte Dimension. Er stürzte in ein grünes Meer und wurde von dessen Sog erfasst. Was geschah mit ihm?

»Cinael.«

Minavens Stimme hallte wie ein Echo zu ihm herüber. Der Wirbel zog ihn weiter davon. Wohin trug er ihn? Cinael wehrte sich nicht dagegen. Er wollte noch tiefer tauchen.

»Cinael«, wiederholte Minaven mit Nachdruck.

Sein Name hallte durch das Smaragdmeer und ließ jeden Tropfen verdampfen. Cinael blinzelte und befand sich wieder vor den Kristallmauern Noctuas.

»Du bist aus der Illusion zurückgekehrt.«

»Sie war so seltsam. So intensiv«, wisperte Cinael. Obwohl er auf festem Untergrund stand, glaubte er zu sinken. Diese Augen hatten sich in sein Gedächtnis gebrannt. Wer hatte sich hinter dem Baum im Zentrum des Atriums versteckt?

»Meine Illusion hat mich in eine Wüste geführt. Ich war kurz davor zu verdursten. Diese Einbildung war so plastisch, dass ich fast selbst daran glaubte.« Minaven schien es nicht fassen zu können.

»Sie sind Meister der Manipulation.«

»Die anderen befinden sich immer noch in den Scheinwelten.« Minaven runzelte die Stirn.

»Sie sind stark. Sie finden den Weg zurück.« Cinael zweifelte keine Sekunde daran. Gleichzeitig tauchte ein Ziehen in seiner Brust auf.

Er sehnte sich danach, diese Augen noch einmal zu sehen. Auch wenn sie einer Illusion entsprungen waren.

 

 

 

3. Loires Vorschlag

 

 

 

Zwei Vincanes kämpften miteinander. Es war so, als wäre sein Spiegelbild zum Leben erwacht.

Rivanee träumte wohl immer noch. Dieser Traum war beinahe noch seltsamer, als der davor. Die beiden Vincanes rangen miteinander. Wobei einer von ihnen deutlich stärker zu sein schien.

Das Einzige, was sie unterschied, waren ihre Augen. Einer der beiden Vincanes hatte graue Augen.

Die Gestaltwandlerin. Rivanee fuhr sich über die Stirn. Ihr Kopf pochte immer noch stark. Der Schmerz war beinahe abgeklungen. Sie lag im Vorraum mit den beiden großen Türen.

Es war kein Traum. Faruna duellierte sich mit Vincane. Er war es tatsächlich. Sein kalter konzentrierter Blick war unnachahmlich. Die beiden schienen keine Notiz von ihr zu nehmen. Sie musste diese Chance nutzen und Vincane helfen. Dem echten, fügte sie in Gedanken hinzu. Sie kroch ein Stückchen von der Wand weg und bewegte sich so langsam, dass es den Kämpfenden nicht auffiel. Die beiden waren so sehr in ihre Hiebe und Ausweichmanöver vertieft, dass sie keine Augen für winzige Veränderungen in ihrer Umgebung hatten.

Gut so. Faruna lief der Schweiß von der Stirn. Das Gefecht strengte sie an. Beinahe tat sie Rivanee ein wenig leid. Doch Faruna hatte sie entführt und in dieses seltsame Haus gesperrt, also musste sie nun wohl oder übel die Konsequenzen tragen.

Rivanee versuchte, den Kampf auszublenden und konzentrierte sich. Sie malte einen Kreis vor ihrem inneren Auge. Die Energien, die sie zusammenfügte, sollten Faruna einen langen und traumlosen Schlaf schenken.

Weiße Wirbel tauchten in schwarze Himmel hinein. Orange Dreiecke und kupferne Kreise verbanden sich zu komplexen Formen.

Das, was Rivanee heraufbeschwören wollte, war komplizierter, als sie gedacht hatte. Doch sie lenkte sich nicht ab. Jeder Zweifel war ein Hindernis. Mittlerweile konnte sie ihre Konzentration lange aufrechterhalten. Die Obsidiansphären hatten sie gelehrt, mit den Kräften ihres Geistes zu experimentierten. Jetzt war es an der Zeit, eine Stufe emporzuklettern und etwas Schwierigeres auszuprobieren. Die Energieballung nahm langsam Form an. Blitze knisterten zwischen Rivanees zusammengelegten Fingern. Dann war die Symbiose aller ätherischen Bestandteile komplett.

Rivanee entließ den leuchtenden Ball. Er raste auf Faruna zu. Sie riss den Mund vor Schreck auf. Ihre Illusion bekam Risse. Der falsche Vincane hatte auf einmal lange braune Haare und eine schmale Statur.

»Das wirst du bereuen«, schrie sie und versuchte vor dem Leuchtfeuer zu fliehen, aber sie war zu langsam. Der Ball schluckte sie wie ein hungriges Raubtier. Fassungslos starrte Rivanee auf das gleißende Licht. Hatte sie womöglich zu viel Energie in die Materialisation gegeben? Sie wollte Faruna keinesfalls verletzen oder ihr noch Schlimmeres antun. Der echte Vincane betrachtete sie mit einer unergründlichen Miene.

»Habe ich etwas falsch gemacht?« Rivanee biss sich auf die Unterlippe. Das Licht erlosch und Faruna sackte zusammen. Rivanee ging zu ihr. Ein großer Stein fiel von ihrem Herzen, als sie den regelmäßigen Atem der jungen Frau vernahm.

Rivanee blickte wieder zu Vincane. Er stand immer noch wie eine Marmorstatue neben ihr und sah sie an. Er war es wirklich. Seine Augen waren wieder zu einem Gewässer ohne Boden geworden. Wenn sie ihn zu lange ansah, drohte sie darin zu versinken.

»Danke, dass du mir geholfen hast.« Rivanee musste diese Stille überbrücken.

»Du hast dich verändert.« Er legte den Kopf schräg.

Rivanee fasste ihre Haarspitzen an und nickte. Langsam hatte sie sich an die neue Haarlänge gewöhnt. Vincane blinzelte nicht. Sein Blick analysierte jeden Millimeter ihres Gesichtes. Er glitt von ihrem Kinn über ihre Lippen. Hinauf zu den Wangenknochen.

Unruhig vergrub Rivanee die Hände in ihren Taschen. Er suchte etwas in ihrem Gesicht. Seine Augen wanderten weiter hinauf. Tastend. Forschend. Die Intensität seines Ausdrucks machte sie verlegen. Er bannte sie mit seiner Starre. Rivanee schluckte und senkte den Blick.

»Sie hat einen Kompass bei sich. Wir brauchen ihn, um aus diesem Haus zu kommen.« Rasch machte sie sich daran, die Taschen der schlafenden Faruna zu durchsuchen.

Sie schaute in alle Fächer der Umhängetasche, aber das runde Amulett war nicht zu finden.

»Suchst du das hier?« Vincane hielt das Lederband mit der Bernsteinscheibe in seiner Hand. Rivanees Augen betrachteten den durchscheinenden Anhänger, während Vincanes Blick sie wieder wie ein Magnet anzuziehen drohte.

»Genau das«, keuchte sie.

 

 

***

 

 

Im lichtlosen Sanktuarium rührte sich etwas. Schon seit längerem. Dort unten befand sich jemand. Es war das mächtigste Mitglied des schwarzen Adels.

Noch drei Siegel. Ylexyel spürte die Macht in seinen Händen. Durch seine Adern strömte immer noch ein schwacher Rest aller dunklen Talente.

Chastava und die anderen hatten sie ihm zukommen lassen, damit er das nächste Siegel brach. Sie waren weit gekommen, aber er wusste, dass die letzten drei Hindernisse sich schwerer öffnen ließen. Sie waren Cinaels Vermächtnis. Kurz bevor er spurlos verschwunden war, hatte er sie errichtet.

Drei Siegel mit der Kraft von Ciere. Dem höchsten Reich.

Um diese Barriere zu überwinden, brauchte er noch

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 06.02.2019
ISBN: 978-3-7438-9585-0

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