Du beginnst dich zu verändern.
Hast du es noch nicht bemerkt?
Die Düsternis ist ein Teil von dir geworden.
Lord Grau war ein Bewohner zweier Welten. Er hatte sich in Dalxatir niedergelassen, weil diese Stadt prädestiniert dazu war, ihm zu dienen. Alles hier war darauf ausgelegt, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Die Hauptstadt Reagos war perfekt für seine Zwecke.
Fast die gesamte Unterhaltungs-Industrie des Landes war hier konzentriert. Menschen, die in dieser Branche arbeiteten, waren ideale Opfer. Sie wussten es nicht einmal.
Er rieb sich die Hände. Nein, sie hatten keine Ahnung, dass sie leer ausgingen, während er das bekam, was er brauchte.
Alles war lange nach Plan gelaufen.
Bis Tilarin Gones aufgetaucht war. Er hätte es gleich wissen müssen. Dieses Mädchen hatte ihn schon damals stutzig werden lassen, als sie unter ihrem alten Namen Kihana Zilva bei MMP unter Vertrag gewesen war. Doch die Zweifel und Ängste der meisten Voluntees verblassten, sobald sie in den Genuss von Ruhm, Reichtum und Schönheit kamen. Fast alle waren nur zu willig, ihr altes Leben wegzuwerfen, für den Glitter und Schein, den sie ihnen verkauften.
Tilarin war anders gewesen. Er hätte es wissen müssen. Sie war nicht nur ausgestiegen, sondern hatte sich gegen sie gewandt. Lord Grau lachte. Als ob sie eine Chance gegen die Übermacht hatte. Sie würde bezahlen. Für jede Schandtat. Dafür würde er persönlich sorgen.
***
»Es gibt einen Weg, dich zu befreien«, sagte die alte Frau. Sie kam Zadou bekannt vor. Sie hatte sie schon einmal gesehen. Doch wo?
Die Erinnerung lag noch nicht weit zurück. Gylill und Ventay vertrauten ihren Fähigkeiten. Dolha Gur war eine seltsame Frau. Sie schien in Zadous Seele zu blicken.
»Ich erinnere mich.« Zadou fiel es wie Schuppen von den Augen. »Sie waren in der U-Bahn, als der Schatten vor dem Fenster auftauchte.«
»Du hast nicht auf mich gehört«, rügte Dolha sie. »Aber das habe ich kommen sehen.«
»Sind Sie Hellseherin?«
»Um zu erahnen, dass du nicht kommen würdest, brauchte ich meine medialen Kräfte nicht zu beanspruchen.«
»Ich konnte nicht«, druckste Zadou herum. Die Wahrheit war, dass sie gar nicht vorgehabt hatte, die alte Dame aufzusuchen. Trotz der Schatten, die auftauchten, war sie nicht bereit gewesen etwas zu ändern.
Sie wusste immer noch nicht, ob sie hier sein wollte. Ventay hatte ihr die Entscheidung abgenommen. Sie war bereit zuzuhören, was Dolha zu sagen hatte. Ob sie etwas unternehmen würde, stand auf einem anderen Blatt. Sie wollte kein Gefäß für die Yakay werden. Aber war sie wirklich bereit, ihr Leben als Sängerin aufzugeben? Das Schattenblut auszutreiben, würde bedeuten, sich von MMP zu verabschieden.
Von Reyn.
»Wusste ich es doch«, murrte Dolha.
»Was?«, fragte Zadou ungehalten.
»Du bist immer noch so egoistisch und ignorant wie damals in der U-Bahn.«
»Das stimmt nicht.«
»Es bringt nichts. Ich spüre deine Emotionen. Deinen Wunsch, der nach wie vor von deinem Ego getrieben wird.«
»Aber ...«
»Leugne es nicht.«
Zadou knirschte mit den Zähnen. Es war sinnlos, dieser Frau etwas vormachen zu wollen. Sie schien Gedanken lesen zu können.
»Ich denke, dass Zadou bereit ist auszusteigen.« Ventay sah sie an. Sein Blick war voller Hoffnung.
»Vielleicht hat sie es dir gesagt, aber in ihrem Inneren sieht es ganz anders aus.« Dolha rümpfte die Nase. »Mit Mädchen wie dir haben sie einfaches Spiel.«
»Was fällt Ihnen ein.« So etwas wollte Zadou nicht auf sich sitzen lassen.
»Dein Körper ist kontaminiert, du bist in Gefahr, aber das scheint dir immer noch nicht auszureichen. Was muss noch geschehen?« Dolha mischte einen Stapel abgegriffener Karten, ohne den Blick von Zadou zu wenden.
»Was willst du, Zadou?« Gylills Stimme war leise, sie sah aus wie ein Grashalm, der vom Wing geschaukelt wurde. Es war nicht mehr die Gylill, die mit ihr zum Tanztraining gegangen war. Nicht mehr das Mädchen, das alles getan hatte, um die zweite Chance zu nutzen. Sie war ein anderer Mensch. Die Schatten hatten sie gebrochen. Zadou schluckte. Was für ein Schicksal stand ihr bevor, wenn sie nicht bald den Weg verließ, den MMP für sie gepflastert hatte?
»Ich ...« Zadou wollte die Yakay nie wieder sehen. Und doch ...
»Ja?« Dolha hob eine Augenbraue hoch. Eine Karte fiel heraus.
»Umbruch!«, rief die alte Frau.
»Was hat das zu bedeuten?«, wollte Zadou wissen.
»Nichts bleibt wie es war. Kein Stein bleibt auf dem anderen.«
Ihre Augen weiteten sich.
»Wir müssen hier weg.«
***
Die Dunkelheit kreiste Tilarin ein und verschlang sie. In der schwarzen Wolke sah sie die Hand vor Augen nicht. Sie hatte gewusst, dass in Balyon Ferrer ein mächtiger Yakay steckte. Doch sie hatte nie geahnt, zu welchen Dingen er in der Lage war.
»Ihr habt mir ein großes Geschenk gemacht, als ihr hergekommen seid.« Seine Stimme kam von überall. Unter sein tiefes Timbre mischte sich etwas, das Tilarin einen eisigen Schauer über den Nacken jagte.
Der Schatten sprach durch ihn hindurch. Kalt und metallisch. Tilarin streckte die Hände aus und tastete sich durch die Dunkelheit. Romas und Vaara mussten sich hier irgendwo befinden. Hoffentlich ging es Niban gut. Er hatte vor dem geheimen Zwischengeschoss Wache gehalten.
Wo war der Vortex? Sie durfte ihm nicht zu nahe kommen. Das Dimensionsportal konnte sie in Stücke reißen.
»Es ist nicht fair von mir. Ich sehe alles, während ihr blind umhertappt.« Balyon war hinter ihr.
Sie fuhr herum, die Hände vor sich gestreckt.
»Andererseits war es nicht fair von euch, die Kameras auszuschalten und euch als Bewerber auszugeben. Es nicht fair, in unsere Privaträume zu dringen und Material zu stehlen.«
Seine Stimme kam wieder aus einiger Entfernung.
»Kihana oder Tilarin? Nenn dich, wie du willst, besorge dir eine weitere falsche Identität. Es wird dir nichts nützen, denn du hast dich mit dem Falschen angelegt.«
Wo war Romas? Und Vaara? Tilarin kramte nach ihrem Handy und schaltete die Taschenlampenfunktion ein. Nichts. Der schwarze Nebel schluckte das Licht, verschlang es wie ein hungriges Tier.
Balyon lachte. »Ich mag deine Widerspenstigkeit. Alle Achtung, du hast mich lange unterhalten.« Seine Stimme kam von oben.
Sie wich zurück. Das Dimensionstor musste sich rechts von ihr befinden, falls sie sich nicht täuschte. Wenn sie einen weiteren Schritt zurück machte, musste sie sich der Tür nähern.
»Romas«, flüsterte sie.
Keine Antwort. Sie versuchte es erneut. Wo war ihr Freund? Er war doch nicht ...
»Irgendwann ist auch die unterhaltsamste Vorstellung vorbei. Schade, dass du diesen Weg gewählt hast. Du wärst ein gutes Idol geworden.«
Sie spürte Balyons Atem an ihrem Ohr.
Ihr Herz machte einen Sprung. Sie hechtete zur Seite. Fort von ihrem Feind. Plötzlich nahm sie ein Zucken wahr. Ein feiner Faden strich über ihr Handgelenk und elektrisierte sie.
»Nein.«
Die Wolke zerstob. Die bunten Ringe des Vortex durchschnitten die Dunkelheit. Sie legten sich wie Fesseln um Tilarins Arme und zerrten sie in die Mitte des Portals.
Ihr ganzer Körper stand unter Strom. Ihr war das passiert, wovor sie Romas gewarnt hatte. Die Ringe tanzten um ihren Körper, die Elektrizität drang in sie ein.
Sie sah explodierende Farben. Dann wurde alles dunkel.
***
»Fort. Schnell.« Dolha schob Gylill durch die Tür. Ventay und Zadou folgten ihr.
»Was ist los?«, fragte Gylill?
»Sie sind hier.«
Zadou musste nicht fragen, wer. Ivol und seine Schergen. Die Männer in Anzügen, die mit starren Gesichtern durch die Flure von MMP liefen.
»Wartet hier.« Dolha ließ sie kurz in einem Raum stehen, der vor Bücherregalen überzuquellen schien, um die die Vordertür ihres Ladens abzuschließen. Sie spürte Ventays Blick auf sich. Er glaubte an sie. Mehr als sie selbst. Er sah etwas in ihr, das sie nicht war. Sie hätte den Kuss früher unterbrechen müssen. Sie war nicht bereit für diesen Schritt.
»Weiter.« Die Stimme der Ladenbesitzerin war ein heiseres Flüstern. Zadou brauchte keine Aufforderung. Sie erreichten eine dunkle Seitengasse. Die Backsteinhäuser waren so hoch, dass sie auch tagsüber das Licht aussperrten.
»Wohin gehen wir?« Gylill hatte Mühe, mit den anderen Schritt zu halten. Am liebsten hätte Zadou sie einfach getragen.
»Wir müssen den Einflussbereich der Schatten verlassen.« Dolha war erstaunlich schnell für ihr Alter.
»Heißt das, wir kehren Dalxatir den Rücken zu?«, wollte Zadou wissen.
»Nicht direkt. Es gib Stadtteile, in denen wir sicherer sind als hier.«
Zadou ballte die Hände zu Fäusten. Konnte sie einfach mitkommen und alles hinter sich lassen? Diesen Schritt zu gehen, würde bedeuten, alle Schnüre zu durchschneiden. Alle Leinen zu kappen, die sie mit ihrem alten Leben verbanden.
War sie wirklich bereit dazu?
Reyn. Der Gedanke an ihn schmerzte sie. Reyn wartete auf sie. Sie konnte ihn nicht verraten. Er bedeute ihr alles.
Sie wurde langsamer, bis sie hinter Gylill zurückblieb.
»Zadou.« Dolha wandte sich zu ihr um. »Du musst stärker sein, als alle Gedanken und Gefühle, die dich zum Umkehren bewegen wollen. Es ist das Schattenblut. Es ist wie ein Droge.«
Zadou hörte ihre Worte und schleuderte sie davon. Was verstand schon diese Wahrsagerin von ihren Gefühlen? Nichts.
Nie hatte sie sich in einer ähnlichen Situation befunden. Sie wusste nicht, wie es war, jemanden so sehr zu wollen wie Reyn.
»Bleib bewusst. Lass dich nicht von den falschen Stimmen verführen.« Dolhas Worte waren Echos, die wie Wellen ans Ufer ihres Unterbewusstseins schlugen und dort zerbarsten.
Zadou fasste sich an die Schläfen. War das Liebe? Oder eine Sucht? War sie eine Drogenabhängige, die nicht mehr ohne die Schatten leben konnte? In ihrem Kopf explodierten tausend Gedanken. Ein stechender Schmerz breitete sich hinter ihren Augen aus.
»Sie will nicht.«
Zadou horchte auf. Alle erstarrten. Reyn stand auf dem Dach einer Garage und sah auf sie herunter. Um ihn herum wirbelte ein grauer Nebel. Der Strudel wurde kleiner, bis er sich schloss.
Reyn Yuho war in die Farben der Nacht gekleidet. Er trug einen schwarzen eng anliegenden Mantel und dunkle Hosen. Selbst seine Augen waren schwarz. In Zadous Kopf brannten die Sicherungen durch. Das Schattenblut in ihr wollte zu ihm. Es verlangte danach, ihm nahe zu sein.
Nur mit Mühe konnte sie sich unter Kontrolle halten.
»Verschwinde Yakay.« Dolha warf eine weiß schimmernde Murmel in seine Richtung. Reyn grinste, sprang in die Luft. Die Kugel prallte an die Wand und zerbarst. Weiße Lichtstrahlen breiteten sich aus. Zadou beobachtete Reyn mit offenem Mund. Er schwebte wie ein Ballon.
»Netter Versuch.« Er stieg höher und sprang an der Wand ab und landete vor ihnen.
»Zadou.« Er streckte seine Hand aus.
»Nicht, das ist ein Trick«, rief Ventay.
»Ich warte auf dich.« Reyns Stimme war flüssiges Karamell. Süß und verführerisch. Sein Blick glitt mühelos durch alle Schranken hinein in ihre Seele. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust.
Reyn. Sie brauchte ihn.
»Sei stärker«, beschwor Dolha sie. Zadou biss sich auf die Unterlippe. Konnte sie Reyn einfach hier stehen lassen und ihm für immer den Rücken kehren? War sie stark genug dafür? Ohne es zu merken, war sie zwei Schritte auf ihn zugegangen. Er war ein Magnet, dessen Kraft sie sich nicht entziehen konnte.
»Zadou, hör nicht auf ihn.« Ventay ergriff ihre Hand und zog sie zurück.
Seine Wärme umhüllte sie wie Watte. Ventay war das Licht, Reyn die Dunkelheit.
Es war so einfach. Sie musste standhaft bleiben und den Stimmen in ihrem Kopf trotzen. Sie musste stark bleiben. Die Zukunft, die Reyn ihr bot, würde sie in die Hölle führen. Sie fürchtete sich vor dem Ritual, das bevorstand und sie komplett verändern würde.
»Ich habe dich vermisst.« Reyn lächelte. Seine Iris wurde heller, bis seine außergewöhnliche Kombination aus den drei Farben blau, beige und braun zum Vorschein kam. Das Ziehen in ihrem Herzen wurde stärker.
»Lass dich nicht in die Dunkelheit ziehen«, schrie die alte Frau.
Zadou konnte nicht. Dolhas Worte prallten an ihr ab, wie ein Ball an einer Wand. Die Anziehung war zu stark. Ihre Beine bewegten sich von alleine. Je näher sie ihm kam, desto breiter lächelte er.
»Das ist die richtige Entscheidung«, wisperte Reyn, als sie ihn seine Arme fiel.
***
War sie tot? Sah die Nachwelt so aus? Tilarin glaubte an das Leben nach dem Tod. Allerdings hatte sie nicht gedacht, dass sie so früh von der Erde gehen würde.
Jemand hustete. Tilarins Knie begann zu pochen. Die Haut an ihren Händen brannte.
Das bedeutete ...
Wer Schmerz empfand, lebte. Ihre Lider waren verklebt. Sie rieb sich die Augen und öffnete sie langsam. Ihre Umgebung war in blaues Licht getaucht. Sie befand sich in einem langen Tunnel ohne Türen und Fenster. Der Boden war so weich, als ob er mit Sportmatten ausgelegt wäre.
Plötzlich spürte sie kalte Finger in ihrem Nacken. Sie schrie und rollte sich weg.
»Ruhig.«
Tilarins Atem ging stoßweise.
»Mach das nie wieder.« Sie starrte Romas aus großen Augen an. Eine Sekunde später fiel sie ihm um den Hals und riss ihn zu Boden.
»Du lebst.« Sie küsste ihn. Für Sekunden vergaß sie, dass ihre altbekannte Welt aufgehört hatte zu existieren.
»Das war zu erwarten.« murmelte er unter ihr. »Du hast dir zu viele Gedanken gemacht. Ich wusste, dass dieses Portal uns irgendwohin führen würde.« Romas half ihr sich aufzusetzen.
»Wo sind wir?« Tilarin blickte sich um.
»Das hier ist eine Zwischenebene. Ein Tunnel zwischen Erde und Yakay-Welt.«
Die Wände waren genauso weich wie der Boden. Sie ließen sich eindrücken, wie Knete, kehrten nach ein paar Sekunden jedoch wieder in ihren ursprünglichen Zustand zurück. Es gab keine Lampen. Das blaue Licht kam aus den Wänden und der Decke. Was war das für ein seltsames Material? Tilarin hatte so etwas noch nie zuvor gesehen. Die Wände schienen ein Eigenleben zu führen. Sie glaubte, sie atmen zu hören.
»Die Schatten müssen sich hier auf die Schwingung der Erde einstellen, bevor sie in unsere Welt kommen«, fuhr Romas fort. »Die Frequenz, die für uns normal ist, kann ihnen großen Schaden zufügen. Daher müssen sie sich hier erst adaptieren.«
Tilarin war erstaunt.
»Woher weißt du das alles?« Sie knuffte ihn in die Seite.
»Es waren Theorien, die sich nun bestätigen.«
»Warum hast du nie davon erzählt?«
»Sie waren zu abgedroschen. So lange ich keine Beweis hatte, klang alles wie ein Märchen.«
»Wie du siehst, steckt in jedem Märchen ein Körnchen Wahrheit.«
»Oder eine ganze Sandladung.« Romas Augen leuchteten. Sein Entdeckergeist kam zum Vorschein. Sie fühlte sich nicht wohl in dieser Zwischenwelt, er hingegen blühte auf. Der mürrische Gesichtszug um seine Mundwinkel war verschwunden. Er freute sich. Er war aufgeregt wie ein Kind, das einen neuen Spielzeugladen erkunden durfte.
»Sei vorsichtig«, mahnte sie ihn wie eine Mutter.
»Was kann uns schon passieren? Wir leben.«
»Wer weiß, wie lange«, murmelte sie.
Plötzlich erhellte ein greller Blitz den blauen Tunnel. Tilarin hielt sich die Augen zu.
Was war das?
Ein Zischen ertönte. Gefolgt von einem Flüstern. Silben in einer unbekannten Sprache. Der Blitz erlosch und hinterließ einen schwarzen Fleck. Nur wenige Meter vor ihnen.
»Ein Yakay.« Romas betrachtete das fließende Geschöpf. Kam es aus ihrer Welt oder aus seiner?
»Sei vorsichtig. Hier sind sie bestimmt noch stärker als auf der Erde.« Tilarin tastete nach den Lichtkugeln in ihren Taschen. Sie beruhigten ihre Nerven.
Die schwarze Pfütze breitete sich aus. Von Wand zu Wand und in die Länge. Immer weiter auf sie zu. Sie hatte noch nie zuvor einen Schatten gesehen, der sich ausdehnen konnte.
Tilarin und Romas wichen zurück. Aber die Materie war schneller als sie. Tilarin schleuderte eine Lichtkugel auf den öligen Teppich.
Das schwarze Webmuster löste sich an der getroffenen Stelle auf. Sie wollte eine zweite werfen, aber Romas hielt sie zurück.
»Das Loch schließt sich wieder.«
Sie konnte es nicht glauben. Die Murmel aus Licht hatte nichts gebracht. Der klaffende Riss schloss sich.
»Verdammt«, zischte Tilarin.
Was sollten sie tun? Die Schwärze erreichte ihre Füße und stieg bis zu ihren Knöcheln. Sie war klebrig wie Teer. Der Schatten schlängelte sich an ihren Unterschenkeln hoch. Tilarin versuchte sich loszureißen. Zwecklos.
Sie stach mit dem Dolch nach der materialisierten Dunkelheit.
Nichts. Ihre Waffen waren nutzlos.
Sie waren verloren.
Sie sah nichts, weil die Scheiben getönt waren. Sie konnten überallhin fahren. Reyn sagte nichts. Er war in Schweigen verfallen, als sie auf den Rücksitz des Wagens geklettert waren.
Zadou holte tief Luft. Sie hatte getan, was sie für richtig hielt. Oder nicht? Sie musterte Reyn von der Seite. Er sah erschöpft aus, schloss die Augen und lehnte sich zurück. Seine Haut war bleich und wächsern. Er wirkte wie eine Puppe, die zum Leben erwacht war.
»Du wolltest mich verraten.« Seine Worte waren wie Nadelstiche.
»Nein. Ich meine, ich weiß es nicht.« Zadou biss sich auf die Zunge. »Ich weiß gar nichts mehr.« Es stimmte. Sie war nicht mehr sie selbst. Wo hörte Zadou auf und begann das Schattenblut? Oder waren sie beide schon so miteinander verschmolzen, dass sie den Unterschied nicht mehr bemerkte? Wollte sie bei Reyn sein oder schrie die Dunkelheit nach ihm, die sich in ihr eingenistet hatte?
»Ich verstehe.« Er blickte sie an. Ein transparenter grauer Schleier lag auf seiner dreifarbigen Iris. Das bedeutete, ein Teil des Menschen war immer noch anwesend. Sie versuchte ihn zu erreichen.
»Ich weiß nicht, was ich tue. Ich will das Richtige machen. Die richtigen Entscheidungen treffen.« Sie stieß einen Schwall Luft aus. »Ich habe Angst. Riesige Angst vor dem Ritual.«
»Trotzdem bist du mit mir gekommen.«
»Weil ich ohne dich nicht existieren kann.« Es fühlte sich befreiend an, über ihre Gefühle zu reden. »Ich habe gemerkt, wie leer mein Leben ist, wenn du nicht bei mir bist.«
Er strich ihr eine bronzebraune Strähne aus dem Gesicht. Sein Ausdruck wurde weich. Die harten Züge schmolzen, genauso wie ihr Herz. Er war eine Droge. Eine Substanz, ohne die sie schon seit langem nicht mehr leben konnte.
War es Liebe oder Sucht? Sie wusste es nicht.
Sei stärker, als das Schattenblut. Dolhas Worte geisterten durch ihren Kopf.
Sei stärker.
»Ich kann nicht.« Diese Worte waren ihr herausgerutscht, bevor sie sie zurückhalten konnte. Reyn sah sie fragend an. Zadou wandte sich ab und blickte aus dem Fenster. Zwecklos. Sie sah nicht, was sich da draußen abspielte.
»Warum sind die Scheiben abgedunkelt?«
»Damit wir unsere Ruhe haben«, antwortete Reyn. Zadou glaubte nicht, dass dies der einzige Grund war. Etwas war anders als sonst. Auch wenn sie nicht benennen konnte, was. Reyn verschränkte ihre Hand in seiner.
»Ich verzeihe dir.« Er küsste sie auf die Schläfe. »Denn du bist zurückgekommen.«
»Was hättest du getan, wenn ich es mir anders überlegt hätte?« Zadou brannte darauf es zu erfahren. Denn sie war zwiegespalten gewesen. Beinahe hätte sie sich gegen ihn entschieden.
»Das solltest du lieber nicht wissen.« Reyns Stimme wurde eine Nuance frostiger. Seine Finger hielten sie fest in ihrem Griff.
»Sag es mir«, drängte sie ihn.
»Wir hätten dich gefunden. Egal, wo du dich versteckt hättest und dann ...« Er hielt inne.
Und dann?
»Hättet ihr mich getötet?«, keuchte Zadou. Reyn sah sie an, ohne etwas zu erwidern. In seinen Augen spiegelten sich Wut, Zweifel aber auch Angst.
Auf einmal spürte sie etwas Spitzes an ihrem Handrücken.
»Warum sagst du es mir nicht?«, verlangte sie zu erfahren. Reyn schwieg eisern. Wie gerne hätte sie seine Gedanken gelesen. Wenn er sich verschloss, konnte sie nur mutmaßen, was in seinem Kopf vorging. Reyn Yuho war einer der undurchsichtigsten Menschen, die sie in ihrem Leben kennen gelernt hatte.
»Lass uns nicht darüber reden.« Er strich ihr über die Wange. »Ruh dich aus.«
Zadou gähnte. Sie wurde auf einmal müde.
»Schlaf.« Reyns Worte versetzten sie in Trance. Ihr Geist gehorchte ihm. Ehe sie sich versah, schlossen sich ihre Augen und ihr Bewusstsein glitt in eine andere Sphäre.
***
»Wir haben sie verloren.« Dolha mischte seit mehreren Minuten ihren Kartenstapel. Hin und wieder fielen Karten heraus. Sie waren in Dolhas Wohnung geflüchtet, die sich am westlichen Rand von Intresar befand. Ihr Apartment sah fast genauso aus wie der Laden, in dem sie arbeitete. Auf den Fensterbrettern standen Kristalle. Die Buchregale quollen über vor Büchern. Bunte Häkeldecken bedeckten die Couch und es roch nach verbrannten Gewürzen.
Ventay wollte sich die Ohren zuhalten. Die alte Frau wiederholte diesen Satz immer wieder.
»Sie hat sich für die Schatten entschieden. Jetzt ist sie verloren.«
Er konnte nicht fassen, was passiert war. Zadou hatte ihnen den Rücken zugekehrt. Ventays Verstand weigerte sich zu glauben, was vor kurzem geschehen war.
Dolha hatte die ganze Zeit nicht daran geglaubt, dass Zadou sich ihnen anschließen würde. War er zu gutgläubig? Ventay war nicht bereit, diese Niederlage hinzunehmen.
»Was wird nun mit ihr geschehen?« Gyllils lange Haare hingen wie ein Vorhang vor ihrem Gesicht. Sie saß über einen Lichtdolch gebeugt und begutachtete ihn von allen Seite.
»Sie wird an einer Zeremonie teilnehmen, dann ist es vollendet. Wenn der Schatten in ihrem Körper lebt, haben wir sie verloren.« Dolha mischte schneller.
»Aber sagtest du nicht, dass es eine Möglichkeit gäbe, den Schatten vom Körper zu trennen?« Ventay würde nicht aufgeben. Dolha mischte die Karten wie eine Wahnsinnige. Das klappernde Geräusch zerrte an seinem Geduldsfaden.
Zwei Karten fielen auf den runden Holztisch.
Ein explodierender Turm und ein weißer Vogel, der über einen schwarzen Himmel flog.
»Die Möglichkeit existiert in der Theorie«, sagte Dolha schließlich. »In der Praxis hat es bisher noch niemand ausgetestet. Die Seele des Menschen muss aktiv sein. Ihr Wille zählt.«
»Dein Enkel wurde von den Schatten gefangen genommen. Sie haben seinen Körper besetzt.« Ventay erinnerte sich an die Geschichte, die Tilarin ihm erzählt hatte.
»Es war töricht von ihm sich in solche Gefahr zu begeben.« Dolha sah zu Boden.
»Wir werden ihn zurückholen und dieses Ritual bei ihm durchführen.«
»Tilarin hat mir versprochen, ihn zu finden, wenn ich sie mit Lichtwaffen ausstatte, aber ich habe ein böses Gefühl. Ich nehme Tilarin nicht mehr wahr.«
»Was?« Gylill schwenkte den Dolch in einer kreisenden Bewegung durch die Luft.
»Etwas Unvorhergesehenes ist passiert.« Dolha warf ihre Hände in die Luft. Ventay und Gylill tauschten einen alarmierten Blick aus.
Auf einmal hämmerte es an der Tür.
»Seidenschatten?« Gylill klammerte sich an den Dolch.
Dolha schlich zur Tür.
»Warte.« Ventay wollte sie aufhalten.
Mit einem Ruck riss sie die Tür auf. Niban stand im Flur. Völlig zerzaust und atemlos, als ob er gerade mehrere Kilometer gerannt wäre.
»Tilarin und Romas sind wie vom Erdboden verschwunden.« Er stützte sich am Türrahmen ab und japste nach Luft. »Und Balyon hat Vaara gefangen genommen.«
***
Sie spürte Seide an ihrem Gesicht. Eine dünne Decke war über ihr ausgebreitet. Kerzen knisterten.
Zadou öffnete die Augen. Sie lag in einem Bett, das sich in einem karg ausgestatteten Raum befand.
Außer dem Bett und der Kommode, auf der ein Kandelaber stand, gab es nichts hier drin. Schwere tannengrüne Gardinen verdeckten die Fenster. Draußen musste Nacht sein.
Oder war bereits der neue Tag angebrochen? Die Gardinen ließen kein Licht hinein. Sie wollte die Decke zurückwerfen, als sie etwas davon abhielt. Ihr Hände waren an zwei Holzpfählen gefesselt, die links und rechts vom Bett aufragten Sie rüttelte an den Seilen. Die straffen Fasern schnitten in ihre Handgelenke.
»Reyn?«, rief sie.
Keine Antwort. Sie versuchte, die Decke mit den Zähnen zu greifen. Ihre Beine waren ihr keine große Hilfe dabei, denn ihre Füße waren ebenfalls festgebunden worden.
»Reyn«, knurrte sie. »Was soll das?« Wieso hatte er sie gefesselt? Vertraute er ihr nicht? Glaubte er, sie würde weglaufen, wenn er sie nicht festband?
Wo hatte er sie hingebracht? Sie erinnerte sich an das leichte Stechen, das sie auf ihrem Handrücken gefühlt hatte, kurz bevor sie bewusstlos geworden war. Sie sah ihre linke Hand an. Auf dem Handrücken zwischen Zeige- und Mittelfinger war die Haut gerötet. Das Mal sah aus wie ein perfekter Kreis. Reyn musste ihr ein Schlafmittel injiziert haben.
»Warum?« Ihre Stimme war kaum mehr ein Flüstern. Sie wäre nicht fortgegangen. Sie hatte sich für ihn entschieden. Zadou zerrte an den Fesseln.
Sie gaben nicht nach. Wieder und wieder probierte sie es, bis ihre Handgelenke gerötet waren und ihre Haut schmerzte. So würde sie nicht weiterkommen. Zadou lehnte sich zurück und starrte an die Decke.
Sie zählte die Sekunden. Kam bis 578 und begann von neuem, weil Zweifel dazwischenfunkten. Liebte Reyn sie? Oder hatte er ihr nur seine Gefühle vorgespielt, um sie zum Ritual zu bewegen? Hatte er das gleiche mit Milia Herves getan? Wohin war seine Exfreundin verschwunden? Und warum schwieg er beharrlich, wenn sie ihn darauf ansprach?
Reyn wusste über seine Wirkung auf Frauen Bescheid. Es war ihr nach wie vor ein Rätsel, warum er unter den unzähligen hübschen Voluntees gerade sie ausgewählt hatte. Sie kannte seine Ex-Freundinnen und es gab nicht wenige davon. Welchen Reiz übte sie auf ihn aus? Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr Querverbindungen bildeten sich in ihrem Gehirn. Jeder Voluntee war ab einem bestimmten Zeitpunkt von einem Mann umgarnt worden.
Ju-Ann hatte Ontrew Tifemev kennengelernt.
Bei Darley hatten sie sich gar nicht bemühen müssen. Die Blondine hatte sich an den Moderator Renal Gorn herangeschmissen. Und nun interessierte sie sich für einen Schauspieler von MMPs Tochteragentur.
Vamaris hatte ein Verhältnis mit einem Mann aus der Marketingabteilung. Sie hatte ihn manchmal bei ihren Proben gesehen. Über Meora wusste sie nichts Genaues, sie vermutete aber, dass sie sich ebenfalls mit jemandem traf. In den Pausen und auf den Fahrten im Van klebte sie am Bildschirm ihres Handys und schrieb Nachrichten. Jeder von ihnen war ein Yakay zugeteilt worden, der sie auf das Ritual vorbereiten sollte.
Sie hatte den Jackpot geknackt. Reyn Yuho war ihr Führer geworden. Die Szenen der Vergangenheit liefen wie ein Film vor ihrem inneren Auge ab.
Reyn, dem sie zufällig auf dem Flur begegnet war und der ihr vor der Eliminationsrunde Mut zugesprochen hatte. Reyn, der plötzlich im Backstagebereich aufgetaucht war. Reyn, der unvermittelt in der Rotunde des Ferross erschienen war, als sie auf dem Ball vor Ivol Lorrent geflohen war. Er war immer aus dem Nichts aufgetaucht. Wie ein Geist, der sich materialisiert hatte.
Damals hatte sie geglaubt, diese Treffen seien schicksalhaft. Sie schüttelte den Kopf. Das waren keine Zufälle gewesen. Er hatte es geschickt eingefädelt und sie um seinen Finger gewickelt. Hatte er ihr jemals gesagt, dass er sie liebte?
Nein. Er brauchte sie. Er hatte sie systematisch auf dieses Ziel vorbereitet. Nun stand er kurz davor. Er hat ein neues Gefäß für einen Schatten gefunden. Sie war mit ihm gegangen, obwohl Dolha sie gewarnt hatte.
Ventay hatte versucht sie aufzuhalten. Ventay, in dessen Augen sie echte Gefühle gesehen hatte. Gefühle jenseits von Dunkelheit und Manipulation.
»Verdammt.« Zadou setzte sich im Bett auf und rüttelte an ihren Fesseln.
»Ganz ruhig.« Sie hörte seine Stimme bevor sie ihn sah. Zwei Meter vor dem Bett bildete sich dunkelgrauer Nebel. Zadou riss die Augen auf. Er wurde fest und glänzend wie Öl.
Die Umrisse eines Menschen schälten sich aus der Materie heraus.
Die Silhouette eines groß gewachsenen, schlanken Mannes. Zadou glaubte ihren Augen nicht. Seine Konturen wurden menschlicher. Der graue Nebel löste sich auf. Reyn stand vor ihr. Er trug ein offenes weißes Hemd zu einer engen schwarzen Hose. Barfuß ging er über das Parkett. Seine Füße erzeugten nicht das winzigste Geräusch.
»Interessant, nicht wahr?« Er lehnte sich an den Bettpfosten. »Nur wenige bekommen so etwas zu sehen.«
***
Luft. Sie brauchte Sauerstoff. Sie konnte nicht länger die Luft anhalten. Tilarin öffnete den Mund und atmete ein. Der Schatten hatte sich immer weiter ausgedehnt und verwandelte sich in einen gigantischen See. Romas und Tilarin waren darin eingetaucht. Sie hatte die Luft angehalten, so lange es ging.
Nun war es vorbei.
Moment. Sie konnte problemlos Luft holen. Sie nahm einen weiteren Atemzug. Das hier war kein Wasser.
Hoffnung brandete durch ihren Körper. Vielleicht konnten sie überleben und in ihre Welt zurückkehren. Im dunklen Wasser sah sie schemenhaft Romas Gestalt. Sie schwamm zu ihm und griff nach seiner Hand. Sie durften sich nicht verlieren. Tilarin würde durchdrehen, wenn sie ihn nicht mehr wiederfände. Er war einer der wichtigsten Menschen in ihrem Leben.
Er streckte den Daumen seiner freien Hand in die Luft. Alles in Ordnung, symbolisierte er ihr damit. Gemeinsam durchmaßen sie das dunkle Gewässer. Irgendwo musste sich ein Ufer befinden.
Da sie hier unten atmen konnte, bestand keine unmittelbare Gefahr mehr für sie. Im Moment nicht. Tilarin entspannte sich keineswegs. Diese Zwischenebene war ein unbekanntes Terrain mit eigenen Gesetzmäßigkeiten. Sie würde nicht den Fehler machen und diesen Ort unterschätzen. Sie erinnerte sich an die Computerspiele, die ihr kleiner Bruder gespielt hatte. Manchmal hatte sie ihm dabei zugesehen, wie er als Fuchs, Superheld oder Roboter durch fremdartige Welten gezogen war.
Nun befand sie sich selbst an einem surrealen Ort. Romas grinste breit. Seit sie hier waren, hatte er sich völlig gewandelt. Er war selbst zu einer dieser Spielfiguren geworden, die eine Quest lösen mussten.
»Wenn mich nicht alles täuscht, gefällt es dir hier«, meinte sie zu ihm.
»Und wie.« Romas Lächeln wurde noch breiter. »Die Viele-Welten-Theorie stimmt. Sie stimmt, kannst du dir das vorstellen?«
»Ich brauche es mir nicht vorzustellen. Ich bin mitten in einer dieser Welten«, seufzte Tilarin. Wie es aussah, war sie im Moment die Vernünftigere von ihnen beiden. Eine seltsame Wandlung.
Das Gewässer wurde flacher. Bald reichte es Romas bis zum Kinn. Einige Meter weiter konnte Tilarin aus dem Wasser sehen.
Kurze Zeit später erreichten sie das Ufer. Alles hier bestand aus dem gleichen nachgiebigen, mattenartigen Material. Die Umgebung glomm dunkelblau.
»Ich hätte gerne eine Karte.« Tilarin drehte sich im Kreis. Die Landschaft erstreckte sich bis zum Horizont. Sie würden sich verlaufen, wenn sie den Strand verließen. Alles sah gleich aus. Es gab keinerlei Wegmarken.
»Irgendwo muss es Vortexe geben«, vermutete Romas. »Diese Zwischenebene besitzt viele Stellen, an denen man die Erde betreten kann.«
»Hoffentlich finden wir bald so eine.«
»Es könnte uns in ein völlig anderes Land führen. Vielleicht sogar in eine andere Welt. Wer weiß, wohin die Yakay noch reisen.«
Tilarin sah ihn entgeistert an.
»Vermutlich werden wir auf der Erde herauskommen, wenn wir durch ein Dimensionstor treten. Versprechen kann ich allerdings nichts.« Romas zuckte mit den Schultern.
»Wohin als nächstes?« Tilarin kniff die Augen zusammen und spähte in die Ferne. Blaues Ödland breitete sich in die Unendlichkeit aus.
»Folgen wir unserem Instinkt«, schlug Romas vor.
»Diese Idee kommt von dir? Lass mich überprüfen, ob du Fieber hast.« Sie fasste seine Stirn an. »Dieser Ort beeinflusst dich.«
»Lass uns losgehen. Wir werden ankommen. Irgendwo.« Romas marschierte voran. Tilarin zögerte. Im Geist malte sie eine ungefähre Karte ihres Standortes. Sie drehte sich um und stolperte fast.
Der See war verschwunden.
***
»Du hast mich nur benutzt!« Die Worte sprudelten aus ihrem Mund. Sie bäumte sich auf und rüttelte an den Seilen.
»Du hast es von Anfang an geplant.« Zadou hatte gar nicht gewusst, wie viel Wut sich in ihr aufgestaut hatte, bis diese sich Bahn gebrochen hatte. Nun konnte sie den Schwall nicht mehr aufhalten.
Reyn war von einem Yakay besessen, der nach einem neuen Opfer gesucht hatte. Wie einfach musste es für ihn gewesen sein, sie an der Nase herumzuführen?
»Es ist deine Sicht der Dinge«, erwiderte Reyn nüchtern.
»Lass mich frei«, rief sie.
»Nur, wenn du dich beruhigst.«
»Woher weiß ich, dass ich dir glauben kann?« Zadou kämpfte den Zorn nieder.
»Habe ich dich jemals hintergangen?«
»Gegenfrage. Hast du mir jemals die Wahrheit erzählt?« Zadou sah ihn herausfordernd an. Reyn verschränkte die Arme vor der Brust.
»Wissen ist Macht. Wissen ist Gefahr. Ich habe dir so viel erzählt, wie ich durfte.«
»Wer verbietet dir zu reden?« Zadou war es satt, immer nur Ausflüchte und Halbwahrheiten zu hören.
»Versuche, mich zu verstehen.« Reyn suchte nach den richtigen Worten.
»Wie soll ich das anstellen, wenn du mir nichts erzählst?«
Reyn sah zur Decke, als ob dort die Antwort stehen würde.
»Ich weiß fast genauso wenig, wie am Tag, an dem wir uns das erste Mal begegnet sind. Du bist ein Buch mit sieben Siegeln.«
»Wenn es das ist, was du willst.« Reyn umkreiste das Bett und setzte sich an den Rand. »Dann werde ich es dir geben.« Seine langen Finger strichen über ihre Wange und hoch zu ihrer Stirn. Er übte mit seinem Zeigefinger leichten Druck auf die Stelle zwischen ihren Augenbrauen aus.
»Sieh genau hin.«
Ventay hatte sich nur kurz hingelegt. Er hatte sich geschworen, nicht länger als zwei Stunden zu schlafen. Aber sein Körper hatte mehr verlangt, also waren aus zwei Stunden zehn geworden. Als er erwachte, war es wieder hell. Früher Mittag.
Nach Nibans Neuigkeiten hatten sie lange in Dolhas Wohnzimmer gesessen und darüber nachgedacht, was sie als nächstes tun sollten. Alles war aus dem Ruder gelaufen.
Zadou war zu Reyn gegangen. Tilarin und Romas waren wie vom Erdboden verschwunden und Vaara befand sich in Balyons Händen.
Keine Idee war ausgereift. Viele Vorschläge zu gefährlich. Irgendwann gegen drei Uhr nachts, hatte die alte Frau ihren Kreis aufgelöst und darauf bestanden, dass sie schlafen gingen.
Ventay fuhr sich durchs Haar. Er hätte sich gewünscht, dass alles, was geschehen war, ein einfacher Alptraum war, aus dem er erwachen konnte.
Aber statt zu erwachen, verstrickte er sich immer mehr in den Fängen des Nachtmahrs. Sein Alptraum war Realität geworden. Er trat ans Fenster und blickte hinaus in die Welt, die ihm seltsam surreal erschien. Wo Zadou wohl steckte? Wie lange würde es dauern, bis ein Schatten ihren Körper übernahm? Er verstand sie nicht.
Da draußen herrschte Normalität. Menschen liefen durch die Straßen und gingen ihren Tätigkeiten nach. Manche hetzten zur U-Bahn, die sich eine Straße weiter befand. Andere schlenderten mit Einkaufstüten durch die Stadt. Ein Müllauto hielt vor dem gegenüberliegenden Haus und zwei Männer stiegen aus. Ein Hund kam an den Zaun gelaufen und kläffte.
Ein Auto mit geöffnetem Fenster fuhr vorbei. Der Fahrer hatte die Musikanlage auf die maximale Lautstärke gedreht. Aus den Boxen dröhnte das letzte Lied von Apricoze.
Welche Ironie. Zadou war wieder in den Fängen der Industrie. Aus freien Stücken.
Er würde aussteigen. Die letzten Wochen hatten sein Weltbild völlig auf den Kopf gestellt. Wie sollte er unter diesen Umständen weitermachen? Balyon Ferrer und die meisten Idole waren keine normalen Menschen. Was die Seidenschatten taten, war verwerflich. Er musste nur noch den richtigen Moment abpassen. Damit nicht auffiel, was er tat, hatte er sich für eine Woche krankschreiben lassen. Es war keine Seltenheit, dass Voluntees ausfielen. Nicht selten brachten die anstrengenden Trainings, der Schlafmangel und die ermüdenden Proben die Nachwuchstalente an den Rand der Erschöpfung. Die Härtesten von ihnen bissen die Zähne zusammen und ließen sich von einer Krankheit nicht davon abhalten, trotzdem zu MMP zu gehen. Doch nicht jeder war so zäh. Es würde nicht weiter auffallen, wenn Ventay sich eine kurze Auszeit nahm.
Es klopfte.
»Ja?« Er spähte zur Tür. Gylill steckte den Kopf ins Zimmer.
»Wie geht es dir?« Sie sah ihn mitfühlend an.
»Ganz gut.«
Sie kam ins Zimmer.
»Ich glaube nicht, dass Zadou verloren ist. Ich weiß, wie wichtig es dir ist, sie da rauszuholen.« Konnte sie Gedanken lesen?
»Aber Dolha meinte, es wäre aussichtslos.«
»Dolha hat ihren Enkel an die Seidenschatten verloren. Da ist diese Reaktion verständlich. Dennoch hat sie uns das Geheimnis der Lichtwaffen verraten. Auch sie hegt noch Hoffnung.«
»Du hast recht.« Er blickte sie an. Mit jedem Tag der verstrich, wurde sie gesünder. Ihre Wangen waren gerundeter und rosig gefärbt. Auch ihr Haar glänzte mehr. Sie war immer noch dünn, aber nicht mehr erschreckend mager. Gylill blühte langsam wieder auf.
»Es ist sehr mutig von dir«, sagte sie.
»Wenn sie mich erwischen, werden sie keine Gnade walten lassen.« Ventay wollte sich nicht zu viele Gedanken darüber machen, was passierte, wenn jemand von den Yakay ihn schnappte. Er hatte gehört, was Gylill passiert war. Die einfachste Lösung war, seinen Voluntee-Vertrag aufzulösen und MMP den Rücken zu kehren.
Doch gleichzeitig wusste er, dass er als Voluntee Zugänge zu verborgenen Informationen besaß.
»Ich habe oft darüber nachgedacht, ob es nicht besser gewesen wäre, sofort auszusteigen, nachdem mir Tilarin alles erzählt hat.« Gylills Blick verschwamm. »Aber ich wollte helfen. Aus diesem Grund spielte ich dieses Spiel weiter mit. So gelang es mir, geheimes Wissen zu besorgen. Ich kann deinen Zwiespalt verstehen.«
»Ich hätte kein Problem damit, sofort alles hinzuwerfen. Aber ...« Ventay sah zu Boden. »... ich kann nicht einfach gehen, solange sie noch dort ist.«
***
Der Punkt zwischen ihren Brauen erwärmte sich. Reyn hatte seine Hände seit einigen Minuten gesenkt, aber sie spürte den Nachhall seines Zeigefingers immer noch auf ihrer Stirn.
Unter ihrer Haut brodelte es.
»Schließ die Augen.« Seine Stimme war kilometerweit entfernt. Nicht mehr als ein ferner Hall.
Ihre Lider gehorchten ihm augenblicklich. Sie wurden schwer wie Blei.
Doch sie sank nicht in den Schlaf. Sie sah, obwohl sie die Augen geschlossen hielt. Zadou wurde zu einer Beobachterin. Vor ihr spielte sich ein Film ab. Reyns Geschichte.
*
Der Junge wusste nicht, woher er kam. Die Frauen fragten ihn aus, doch er konnte ihnen keine Antwort geben. Es war einem barmherzigen Taxifahrer zu verdanken, dass er in dieses Haus gekommen war.
Ein Waisenhaus am Rande Reagos. Die Nacht vor zwei Tagen hatte sich auf ewig in seine Erinnerung gebrannt. Er war in einer heruntergekommenen Gegend voller zerfallener Häuser erwacht. Dunkle Wolkenberge hatten die Sterne bedeckt. Hin- und wieder war die schmale Mondsichel zu sehen gewesen, wenn der Wind die Wolken angepeitscht hatte.
Er wusste nicht, wie er hierhergekommen war. Mehr noch, ihm fehlten die Erinnerungen.
Er konnte in seinem Gedächtnis nicht darauf zugreifen, was sich vor diesem Augenblick in seinem Leben abgespielt hatte. Es war weg. Eine leere Tafel, die vor kurzem noch beschrieben gewesen war.
Er hatte sich aufgerappelt und war durch die Straßen gewandert. Ohne zu wissen wohin. Irgendwann hatte es angefangen zu regnen. Die kalten Tropfen hatten seine Strickjacke, sein Shirt und seine Hose durchnässt. Seine Zähne hatten zu klappern angefangen. Die Kälte hatte sich bis in seine Knochen geschlichen.
»Junge, was machst du um diese Uhrzeit in dieser Gegend?«
Wer redete mit ihm?
»Es ist gefährlich hier. Du solltest schleunigst nach Hause gehen.«
Die Stimme kam aus einem Auto, das an der Ampel hielt. Es war der einzige Wagen weit und breit.
Nach Hause? Was war das für ein Ort? Der Junge versuchte, sich an sein Heim zu erinnern. An den Ort, an dem er sich sicher und geborgen fühlte. Leere. Eine nassgewischte Tafel, keine Informationen. Null Erinnerungen.
»Nach Hause?« Seine Stimme hörte sich fremd in seinen Ohren an. So als ob er schon lange nicht mehr gesprochen hatte.
Das Auto wechselte die Spur und fuhr auf seine Straßenseite. Es hielt wenige Meter vor ihm.
»Wie kommst du hierher?« Der Fahrer streckte seinen Kopf aus dem Fenster. Er hatte sich einen imposanten weißen Bart wachsen lassen.
»Ich weiß nicht.« Es war seltsam zu reden. Seine Stimmbänder waren ganz rau.
»Wo wohnst du?«, wollte der ältere Mann wissen.
»Ich weiß es nicht.« Der Junge blieb am Fenster stehen.
»Nein? Du musst doch irgendwo wohnen.«
Vielleicht hatte der Taxifahrer recht. Vielleicht wohnte der Junge irgendwo, wo es warm und gemütlich war. Wo jemand auf ihn wartete.
»Ich weiß es nicht.«
Der Mann runzelte die Stirn.
»Hier kannst du auf keinen Fall bleiben. Es grenzt an ein Wunder, dass dir noch nichts passiert ist.«
War es wirklich so ein Wunder? Er konnte es nicht beurteilen. Er war ein menschliches Wesen ohne einen Anhaltspunkt. Ohne einen Hinweis.
»Steig ein. Ich bringe dich an einen sicheren Ort.«
Das Auto roch nach Zitrusduft und Zigaretten. Die Ledersitze waren alt und durchgesessen. An einigen Stellen war das Innenfutter zu sehen.
»Ich habe einen Enkel in deinem Alter. Kleine Jungen sollten um diese Uhrzeit eigentlich schlafen.«
Der Junge antwortete nicht. Hatte er auch einen Großvater? Oder lebte der nicht mehr?
»Sonderbar.« Der ältere Mann musterte ihn wie eine komplizierte Rechenaufgabe. »Du hast eine eigenartige Augenfarbe.«
Das wusste er. Drei so herausstechende Farben waren nicht normal. Niemand besaß solche Augen wie er. Helles beige, blau und nussbraun. In wie vielen Fensterscheiben hatte er auf sein Spiegelbild gestarrt und sich gefragt, warum er so eine eigenartige Regenbogenhaut besaß.
»Wie heißt du?«, fragte der Fahrer.
Besaß er einen Namen? Er ging im Kopf das Alphabet durch. A,b,c,d. Kein Hinweis. Nur Leere.
»Ich weiß es nicht.«
»Leidest du an Gedächtnisverlust?« Danach stellte der Mann keine Fragen mehr. Er schaltete das Radio an und konzentrierte sich auf die Straße.
Der Junge musste eingenickt sein, als er erwachte, stand der Wagen vor einer heruntergekommenen Villa. Der Putz blätterte ab und zwei Fenster waren mit Brettern vernagelt.
Der Fahrer stieg aus und hämmerte an die Tür, deren grüner Lack an vielen Stellen abgeplatzt war. Eine Frau öffnete. Sie trug einen langen Wollmantel, der sie wie ein Schneeball aussehen ließ. Ihre weißen Haare waren zu einem nachlässigen Knoten gebunden. Der Mann musste sie aus dem Schlaf gerissen haben, denn sie gähnte herzhaft.
Der Junge hörte nicht, was die beiden besprachen, denn das Radio lief und die Türen waren geschlossen. Doch er ahnte, dass sich das Gespräch um ihn drehen musste. Die alte Frau betrachtete das Auto und nickte schließlich. Wenige Minuten später war alles geklärt. Der Junge wurde von der alten Dame, die sich als Chosane vorstellte, ins Haus geführt.
Es war ein Waisenhaus voller abgerissener Kinder. Die Pflegerinnen versuchten, sich gut um sie zu kümmern, aber ihnen fehlten oft die Mittel. Es gab Tage, an denen er nicht genug zu essen bekam und mit knurrendem Magen ins Bett ging. Seine Kleidung war abgetragen. Die Heizungen streikten oft und manchmal gab es kein warmes Wasser. Aber der Junge fühlte sich wohl. Er hatte vielleicht keine Vergangenheit mehr, dafür aber eine Zukunft.
*
Zadou schnappte nach Luft. Sie tauchte aus seiner Vergangenheit an die Oberfläche ihrer Realität und sog gierig Sauerstoff ein.
»Das ist dir passiert? Du hast in einem Waisenhaus gelebt?«, keuchte sie.
»Du hast es gesehen.« Er sah sie nicht an. Seine Hände krampften sich um die dünne Seidendecke.
Zadou strich sich über die Stirn. Der Punkt zwischen ihren Brauen pulsierte immer noch. Im nächsten Moment begriff sie, dass ihre Hände frei waren. Reyn musste die Fesseln gelöst haben.
»Warum hast du mir nie davon erzählt?«
Stille folgte auf ihre Worte. Sie ließ die Bilder Revue passieren. Sie sah Reyn als kleinen, frierenden Jungen. Mit nassen Haaren, die ihm in diese unglaublich faszinierenden Augen hingen. Am liebsten hätte sie ihn in die Arme genommen.
»Ich spreche nicht gerne über meine Vergangenheit.« Er knüllte die Seide in seinen Handflächen zusammen.
»Du redest überhaupt nicht gerne von dir.«
»Nein.« Sein Blick streifte sie. Prüfend.
»Es ist keine Schande.«
»Vielleicht nicht.«
»Sieh mich an.« Sie hob sein Kinn an. »Ich will mehr sehen. Je mehr ich erfahre, desto besser lerne ich dich kennen.«
»Ich weiß nicht, ob du das verkraftest.« Stille Drohung lag in seiner Stimme.
»Ich bin stark genug.« Sie schluckte die Angst hinunter. Sie war bereit, das Risiko einzugehen, wenn sie dafür mehr über Reyn Yuho erfuhr.
***
Sie war hübsch. Attraktiv. Anziehend.
Keine Frage. Alles, was sie an ihrem Körper gestört hatte, war verschwunden. Der leichte Höcker auf ihrer Nase. Die schmalen Lippen. Die viel zu flache Brust. All das gehörte schon lange der Vergangenheit an.
Nun war sie perfekt. Ihre klaren blauen Augen hatten einen rauchigen Schimmer angenommen. Sie mochte diese Nuance. Wie ein Meer in Aufruhr. Sie war überrascht, wie bewusst sie jeden Gedanken und jede Handlung ihres Körpers wahrnahm. Darley de Sur existierte weiterhin. Der Yakay hatte sie verbessert. Seh- und Hörvermögen waren gesteigert. Die
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 22.11.2018
ISBN: 978-3-7438-8709-1
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