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R.E.V.E. - 2. Obsidiansphären

 R.E.V.E.

 

 

 

2. Obsidiansphären

II. Obsidiansphären






Träume verschwimmen mit der Realität.

Bis sie realer werden als die Wirklichkeit.

1. Neue Hinweise

 

 

 

»Was für eine Überraschung.« Zarea verschränkte die Arme vor der Brust und blickte Rivanee abwartend an. »Es ist schon lange her, seit du mich das letzte Mal besucht hast.«

Rivanee trat unruhig von einem Bein auf das andere. Warum fiel es ihr so schwer mit der Sprache herauszurücken?

»Komm.« Zarea winkte sie hinein.

Die beiden betraten das Haus und gingen hinauf in Zareas Zimmer. Ihre Eltern waren nicht da, im Erdgeschoss ertönte leise Gitarrenmusik aus den Lautsprechern der Musikanlage.

»Sento ist verschwunden«, begann Rivanee zögerlich.

»Vielleicht hat er keine Lust auf die Geographie-Klausur morgen und hat sich heimlich aus dem Staub gemacht«, mutmaßte Zarea.

»Welche Klausur?« Rivanee verlor den Faden. Morgen stand eine Arbeit an? Sie hatte überhaupt nicht gelernt und würde sich heute Abend sicherlich nicht in das dicke Geographie-Buch vertiefen.

»Hast du es etwa vergessen? In der letzten Zeit hast du dich wirklich verändert. Obwohl du schon immer sehr vergesslich warst.« Zarea strich sich eine rotblonde Strähne hinters Ohr. In ihrem beigen Bademantel sah sie aus wie eine Priesterin. Rivanee bewunderte ihre Anmut und Eleganz. Wie gerne würde sie einen Hauch von Zareas Grazie besitzen und sich nicht immer so holzig bewegen.

»Glaub bloß nicht, dass du morgen wieder bei mir abschreiben kannst.« Ein kühler Unterton mischte sich in Zareas Stimme. Sie war deprimiert. Enttäuscht von ihrer besten Freundin, die auf einmal unzählige Geheimnisse hatte.

»Ich denke es wird Zeit dich einzuweihen.« Rivanee kannte Zareas Zimmer in- und auswendig. Wie oft hatte sie hier übernachtet? Wie häufig hatte sie mit Zarea über ihre Sorgen gesprochen und von Jungs geschwärmt?

Damals hatte sie geglaubt, die Erde würde sich um ihre kleinen Problemchen und Wünsche drehen. Seit kurzem wusste sie es besser. Die Welten jenseits des Schleiers hatten ihr gezeigt, dass sie bisher mit Scheuklappen durch die Welt gelaufen war..

Die Erde war nur eine von Millionen, nein Milliarden Erfahrungswelten. Es gab viel mehr Parallelrealitäten, als ein Mensch sich je vorzustellen vermochte.

»In der letzten Zeit bist du schweigsam.« Zarea nippte an einer Tasse. »Willst du auch Tee? Ich habe gerade welchen gebraut.«

»Gerne.« Rivanee wusste nicht, wie sie anfangen sollte. Ihre Freundin besaß eine gute Menschenkenntnis. Sie erkannte schnell, wenn Rivanee etwas vor ihr verbergen wollte.

»Du müsstest es mit eigenen Augen sehen. Sonst glaubst du, ich wäre verrückt. Ah, viel zu heiß.« Sie verbrannte sich die Zunge.

»Dann zeige es mir. So schlimm kann es doch nicht sein, oder?« Zarea setzte sich ganz nah zu ihrer Freundin und beugte sich so weit vor, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten.

»Es geht nicht so einfach. Ich weiß außerdem nicht, ob es gut ist, wenn du eine dieser Traumsphären betrittst, ohne darauf vorbereitet zu sein.«

»Ich sehe viele Dinge, auf die ich nicht vorbereitet bin.« Zareas Stirn umwölkte sich. Ihre grauen Augen erforschten Rivanee. »Aber du gibst mir in der letzten Zeit eine Menge Rätsel auf.«

Unvermittelt stand sie vom Bett auf und öffnete eine Schublade. Eine Sekunde später landete ein Kartendeck neben Rivanee.

»Ich habe die Karten befragt.« Zarea setzte sich im Schneidersitz auf ein Kissen und begann zu mischen. »Immer wieder fällt das gleiche Blatt heraus. So etwas ist noch nie zuvor geschehen.«

Rivanee horchte auf. Zarea hatte ihr schon oft die Karten gelegt.

»Bisher haben sie fast immer ins Schwarze getroffen.«

»In der letzten Zeit zeigen sie mir nichts.« Zarea mischte schneller. Auf einmal flog eine Karte aus dem Deck.

»Der Traumfänger«, seufzte Zarea. Rivanee hob die Karte auf und betrachtete das Bild eingehend.

Ein mit Federn und Perlen durchsetztes Netz war vor ein offenes Fenster gespannt.

»Was bedeutet diese Karte?«

»Der Traumfänger symbolisiert das Reich des Unbewussten. Er ermöglicht es, diese Realität zu verlassen, um die Welt mit neuen Augen zu sehen. Gleichzeitig fordert dieses Blatt auf, sich endlich bewusst mit seinen Träumen zu beschäftigen und sie nicht als bloße Hirngespinste abzutun«, erklärte Zarea.

Rivanee schluckte. Eindeutiger ging es nicht.

»In der letzten Zeit beschäftige ich mich sehr intensiv mit meinen Träumen.« Der Begriff 'intensiv' kam ihr seltsam hohl vor. Er reichte nicht aus, um auch nur einen Bruchteil der jüngsten Vergangenheit in Worte zu fassen. Doch irgendwo musste sie beginnen, egal wie unglaublich es klang.

»Genauso wie Sento.«

»Was willst du damit sagen?« Zarea begann wieder zu mischen. Sie war sehr konzentriert.

»Er ist in einer Traumwelt gefangen.«

»Wie bitte?« Erneut flog eine Karte aus dem Deck. Zareas graue Augen weiteten sich.

Der Traumfänger.

»Ich glaube nicht mehr an Zufälle«, platzte Rivanee heraus, »nicht nach dem, was in den letzten Wochen geschehen ist.«

 

 

***

 

 

Ylexyel entspannte seinen Geist. Er war ruhig und wachsam. Die Balance war das Entscheidende.

Niemand wusste, dass er sich aus einem bestimmten Grund auf diese Reise begeben hatte. In der letzten Zeit trieb ihn eine innere Unruhe zur Aktion. Das Geschäft mit Tamien ermöglichte ihm wieder, die Geschehnisse der Obsidianspären zu lenken, ohne persönlich einzugreifen. Noch war es zu früh. Doch der Moment würde bald kommen.

Die verschiedenen Schicksalslinien zeigten ihm, dass der Augenblick näher war, als er vermutet hatte. Die feinen Stränge des Schicksals verbanden sich an einem Punkt zu einem Netz. Es lief alles darauf hinaus, dass die Welten wieder aufeinanderprallten.

Er wusste, was dies bedeutete.

Er würde sie wiedersehen.

Verlangen brandete in ihm auf. Dieses Begehren schlug große Wellen in seinem Geist und minderte seine Aufmerksamkeit für einen winzigen Augenblick.

Ein Schatten, schwärzer als eine mondlose Nacht, rührte sich am Rande seiner Wahrnehmung.

Ylexyel lächelte. Er wusste, warum er sich zu diesem See begeben hatte. Der See der vergessenen Erinnerungen lag an der untersten Grenze des dreizehnten Rings der Obsidiansphären.

Ylexyel war vor einer Ewigkeit hier gewesen. Vor Äonen als der Kampf zwischen den Mächten an seinem Höhepunkt stand.

Die Oberfläche des schwarzen Gewässers kräuselte sich leicht, obwohl es völlig windstill war.

Ylexyel ließ seinen Blick schweifen. Die dunkle Ödnis erschien ihm noch nie so einladend wie jetzt.

 

 

***

 

 

»Was siehst du?« Fohazar hielt das zerfledderte Buch vor Vincanes Gesicht

»Die Motten haben ganze Arbeit geleistet.« Vincane rümpfte die Nase.

»Sieh genauer hin.«

»Da ist nichts. Nur ein alter Ledereinband. Man kann nicht einmal den Namen des Autors lesen.«

»Gut erkannt.« Fohazar fuhr sich über den Bart. »Es gibt nämlich keinen Autor.«

Vincane runzelte die Stirn. Er war müde und wollte sich hinlegen, doch sein Mitbewohner war so gefesselt von diesem zweifelhaften Werk, dass er ihm einfach keine Ruhe ließ.

»Wie kann es ein Buch ohne Autor geben?« Vincane seufzte. Er wusste, dass Fohazar keine Ruhe geben würde, bis er seine neuesten Erkenntnisse dargelegt hätte.

»Das habe ich mich auch gefragt.« Fohazar blätterte einige Seiten im Buch um. »Die Botschaft findest du nicht im Text. Ich habe es schon durchgelesen.«

Fohazar breitete das Buch auf dem Tisch in seinem Wohnzimmer aus.

»Siehst du es?«

Vincane betrachtete die Seiten. Elf und zwölf. Kleine Buchstaben mit geschwungenen Linien. Diese Sprache kannte er nicht. Und trotzdem spürte er ein vertrautes Gefühl, als er die Worte betrachtete.

»Was ist das für eine Sprache?« Er blickte Fohazar an.

»Ich weiß es nicht.«

Vincane begutachtete die einzelnen Buchstaben. Jedes Gebilde formte ein bestimmtes Wort. Der Zugang zu dieser Sprache lag jenseits von Feder und Papier. Vincane wusste nicht, woher er diese Information bekam. Doch mit einem Mal spürte er, dass die Niederschrift dieser Sprache nur ein Relikt war. Eine Erinnerung an etwas, das sich mit Worten nicht beschreiben ließ.

»Ich spreche die Sprachen zahlreicher Traumwelten. Doch diese Schrift ist mir noch nie untergekommen«, sinnierte Fohazar und schlug einige Seiten um.

»Wer hätte vermutet, dass du in der Bibliothek von Tumanth auf so ein seltsames Werk stoßen würdest.«

»Du unterschätzt diese Stadt.« Fohazar betrachtete ihn scharf. »Die Wesen hier suchen nach etwas. Vergiss aber niemals, dass hier bereits sehr viel gefunden wurde. Vielleicht liegt die Antwort auf deine Frage direkt hier und du siehst sie nicht.«

»Wenn es so einfach wäre«, murmelte Vincane.

»Geh schlafen. Ich glaube du brauchst die Regeneration nötiger als ich.«

Vincane wusste, dass Fohazar nicht zufrieden war. Er würde wahrscheinlich wieder die halbe Nacht damit verbringen, nach weiteren Hinweisen und Details zu forschen, die ihn auf seiner Suche nach Crystazia weiterbringen würden.

Crystazia war die legendäre Weltenchronik. Vincane hielt ihre Existenz für ein Märchen.

»Was machst du, wenn du die Chronik gefunden hast?«

»Ich glaube, dass mich diese Entdeckung zu meinem Ziel führen wird.« Fohazars Augen leuchteten. Vincane wusste nicht viel über seinen alten Freund. Allein die Tatsache, dass er seit langer Zeit in Tumanth lebte, wies ihn als Suchenden aus. Vincane fragte sich häufig, ob ihre Suche sie jemals an ihr Ziel bringen würde. Insgeheim freute er sich, dass in Fohazar die Motivation erwacht war. Er hatte ihn noch nie so eifrig beim Studieren alter Wälzer erlebt.

»Falls du die Crystazia Chronik finden wirst, kann ich ja auch einen Blick hineinwerfen.« Vincane zweifelte sehr stark daran, dass es möglich war. Wo sollte sich so eine riesige Menge an Informationen befinden? Crystazia enthielt die Geschichte von Millionen von Jahren.

»Du bist immer so skeptisch, aber du wirst dich noch wundern.« Fohazar setzte ein wissendes Lächeln auf. »Glaube mir, du wirst mehr als nur einen Blick hineinwerfen wollen.«

Vincane verkniff sich einen Kommentar und begab sich in sein Zimmer. Es war nur karg ausgestattet. Nichts wies darauf hin, dass hier jemand lebte. Außer dem Bett gab es nur einen kleinen Tisch, einen schmalen Schrank und einen Stuhl. Wie sollte es hier auch Hinweise geben? Vincane kam nicht von hier und hatte nicht vor, den Rest seiner Existenz in Tumanth zu fristen. Doch wie lange war die Ewigkeit für manche Bewohner hier? Da die Zeit hier keine Rolle spielte, wanderten einige Wesen schon seit unzähligen Jahren, Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten durch die nebligen Straßen der Stadt.

Vincane ließ sich auf sein Bett sinken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Die Decke konnte ihm keine Antworten liefern. Sollte er vielleicht noch mal zu Ryla gehen?

Nein.

Ihre Worte waren klar gewesen. Wenn er das Rätsel lösen wollte, musste er Rivanee folgen. Vincane schnaubte. Warum ausgerechnet diesem unberechenbaren und höchst naiven Mädchen?

Doch wenn selbst die Milophar auf sie aufmerksam geworden waren, bedeutete dies, dass Rylas Prophezeiung dieses Mal vielleicht wirklich wichtig war.

Im Kern wurdest du gespalten. Das Sammeln der Erinnerungen wird dir große Schmerzen verursachen. Sei ein Beschützer, doch gib nicht deine gesamte Kraft. Du wirst dein altes Ich wiederfinden, wenn du es am wenigsten erwartest.

Das waren ihre Worte gewesen.

Sie hatten sich in sein Gedächtnis gebrannt.

 

 

***

 

 

»Sento ist also in einer Traumwelt gefangen.« Zarea sprach jedes Wort ganz langsam aus.

»Genau«, bestätigte Rivanee.

»Und wo ist diese Traumwelt?«

»Ich denke irgendwo in den unteren Obsidiansphären.«

»Obsidian... Obsidian.. was?« Zarea drehte den Löffel in ihrer Teetasse immer schneller um.

»Du musst sie mit eigenen Augen sehen.« Rivanee fragte sich, ob ihre beste Freundin ihr überhaupt noch ein Wort glaubte.

»Wann reist du denn das nächste Mal in diese Obsidiansphären?« Zareas graue Augen bekamen einen abenteuerlustigen Schimmer.

»Es ist nicht so simpel. Du kannst da nicht einfach so ein und aus laufen.« Rivanee beschlich eine Vorahnung. »Du willst doch nicht etwa mitkommen? Es ist kein Freizeitpark.«

»Wenn du dort warst und heil wiedergekommen bist, werde ich es auch schaffen.« Zarea sah Rivanee verschwörerisch an. »Wir haben früher auch alles zusammen unternommen. Nimm mich einmal mit in diese Welten.«

»Es ist kein Kinderspiel.«

»Seit wann bist du so ein Spielverderber geworden?« Zarea setzte ein mürrisches Gesicht auf. »Sonst war ich immer die Vernünftigere von uns beiden.«

»Die Zeiten ändern sich«, murmelte Rivanee. Konnte sie ihre beste Freundin einfach in die Obsidiansphären mitnehmen? War es nicht schon schlimm genug, dass Sento und ihr Bruder Ronan unfreiwillig damit Bekanntschaft gemacht hatten?

Sie blickte aus dem Fenster. Die Dämmerung hatte den Himmel komplett überzogen und in ein dunkles Violett getaucht. Am Horizont waren die letzten Streifen der rotglühenden Sonne zu erkennen.

Auf einmal huschte ein pechschwarzer Schatten am Fenster vorbei. Rivanee schreckte zurück.

»Was ist los?« Zarea sah nun ebenfalls hinaus.

»Dort war etwas.« Rivanee rieb sich die Augen. »Vielleicht habe ich mir das Ganze auch nur eingebildet.«

»Oh nein.« Zarea fiel beinahe vom Bett. »Da ist wirklich jemand vor meinem Fenster.«

Also war es doch keine Einbildung gewesen. Rivanee erhob sich langsam vom Bett.

Sie musste nachsehen, was dort war. Vielleicht befand sich hier in der Nähe ein offenes Portal zu den Traumsphären.

»Es könnte gefährlich sein.« Zarea umfasste Rivanees Ellenbogen.

»Ich weiß«, entgegnete Rivanee mutiger, als sie tatsächlich war. Ihre Füße versanken im weichen Teppichboden, als sie sich langsam vorarbeitete.

»Die Karte. Der Traumfänger. Alles macht auf eine erschreckende Art und Weise Sinn«, wisperte Zarea hinter ihr. Die Sonne hatte sich nun endgültig vom Firmament verabschiedet. Die Dämmerung nahm einen undurchdringbaren Ton an. Der Schatten vor dem Fenster rührte sich nicht von der Stelle.

»Vielleicht sollte ich lieber meinen Vater anrufen«, schlug Zarea vor.

»Ich glaube nicht, dass er uns helfen kann.« Rivanee war völlig auf das schwarze Muster vor dem großen Glas fixiert.

Ihr Magen verkrampfte sich, als sie den Fenstergriff berührte. Sie hatte keine Ahnung, was da vor ihr in der Düsternis lauerte.

»Ich habe Angst um dich.« Zarea war sehr besorgt.

»Keine Panik.« Mit einem Ruck öffnete Rivanee das Fenster. Ihre Arme waren verkrampft. Sie fürchtete sich.

Ein Schwall kühler Luft strich durch ihr braunes Haar.

»Der Schatten ist verschwunden«, stellte sie erstaunt fest. Die Angst ließ langsam von ihr ab, doch ein Abdruck des unbestimmten Gefühls blieb bestehen.

»Rivanee.«

Eine bekannte Stimme erklang in Zareas Garten.

Sie lehnte sich weit aus dem Fenster.

»Ich bin hier unten.«

 

 

 

2. Zarea staunt

 

 

 

»Elaris?« Rivanee lächelte. Sein plötzliches Erscheinen wehte ihre Angst hinfort. Zarea eilte zum Fenster und sah ebenfalls hinaus.

»Was macht er in unserem Blumenbeet?«

»Ich weiß es nicht«, kicherte Rivanee. Binnen weniger Momente war die eisige Furcht geschmolzen. Bildete sie es sich ein oder strahlte Elaris in dieser Finsternis?

»Darf ich ins Haus kommen?«, fragte er. Er stellte die Frage ganz leise. Obwohl er nicht rief, waren seine Worte deutlich und klar zu vernehmen.

»Er hat etwas Übermenschliches an sich«, murmelte Zarea.

Elaris stand vor der Tür und begrüßte die Mädchen mit einem warmen Lächeln.

»Ich bin hochgeklettert. Doch in diesem Moment dachte ich, es könnte euch erschrecken. Aus diesem Grund bin ich hinunter gesprungen. Evyana meinte, ich solle die Klingel benutzen. Vielleicht hätte ich gleich auf sie hören sollen.« Er wirkte richtig verlegen. Seine großen Bernsteinaugen blickten schuldvoll zu Boden.

Rivanee prustete vor Lachen. Elaris war wirklich nicht von dieser Welt. Sie gingen ins Wohnzimmer.

»Woher wusstest du, wo ich wohne?« Zarea versuchte ernst zu bleiben, aber ihre Stimme verriet sie. Auch sie amüsierte sich köstlich über den verwirrten Elaris.

»Ich habe Rivanees Energiesignatur verfolgt.«

»Energiesignatur? «Auf Zareas Stirn bildeten sich Falten.

»Ich hätte dir auch eine andere Erklärung liefern können. Zum Beispiel, dass mir Rivanees Mutter verraten hat, wo du wohnst.«

»So, so.« Zarea blickte abwechselnd von Rivanee zu Elaris.

»Ich weiß nicht, ob ich dir vertrauen kann. Du und deine Zwillingsschwester seid doch nicht einfach so plötzlich aus dem Nichts in Melisar aufgetaucht. Warum kommt ihr so unregelmäßig zum Unterricht?«, bohrte sie weiter.

Elaris zwinkerte nicht mit der Wimper. Er sah sie freundlich und gelassen an. Rivanee fragte sich, was in diesem Augenblick durch seinen Kopf ging. Auch im hellen Wohnzimmerlicht glaubte sie ein schwaches Glimmen um seinen Körper zu erkennen. Hatte er ihr nicht versprochen, ihr einmal seine Heimat zu zeigen? Wenn da noch mehr Personen wie Elaris und Evyana lebten, wollte sie diese Welt unbedingt kennenlernen. Rivanee brannte vor Neugierde.

»Der Traumfänger beginnt seine Wirkung zu entfalten«, sagte er nach mehreren Minuten.

Zarea schlug sich die Hand vor den Mund.

»Woher kennst du diese Worte? Genau die habe ich in meinen Träumen gehört. Jemand hat mit mir gesprochen. Dieser Traum hat sich ständig wiederholt.«

Rivanee war überrascht. Sie war also nicht die Einzige, die seltsame Erfahrungen in ihren Träumen durchlebte. Sie hätte nie geglaubt, dass man die Traumsphären mit dem physischen Körper bereisen konnte.

»Deine Sicht hat sich in den letzten Wochen stark geöffnet«, fuhr Elaris fort. Zarea sackte in sich zusammen. Seine kurzen Aussagen trafen sie wie Pfeile. Sie war sprachlos, denn mit niemandem hatte sie über ihre letzten Visionen gesprochen. Nicht einmal mit ihrer Großmutter, die ebenfalls stark ausgeprägte mediale Fähigkeiten besaß.

»Diese Visionen«, raunte Zarea und wippte langsam vor und zurück. »Solche Bilder habe ich noch nie gesehen. Diese Orte gibt es hier nicht. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, was mir diese Visionen sagen wollen.«

Zarea hielt inne. Aus ihrem Gesicht wich alle Farbe, als die Erkenntnis ihren Geist streifte.

»Soll das bedeuten, dass diese seltsamen Welten wirklich existieren?«

»Das sind die Traumsphären.« Rivanee umarmte ihre Freundin und strich ihr behutsam über den Rücken. Es musste ein Schock für sie sein. Elaris nickte ihr zu.

»Dann ergibt alles einen Sinn.« Zarea löste sich aus der Umarmung und wirkte etwas gefasster. »Meine Visionen, Rivanees seltsames Verhalten, Ronan und Sento, die spurlos verschwinden, euer plötzliches Erscheinen und das Auftauchen von diesem Vincane.«

»Vincane gehört nicht zu uns. Er verfolgt andere Pläne«, entgegnete Elaris ernst.

Wo der kühle Typ sich in diesem Augenblick wohl aufhielt? Rivanee legte keinen großen Wert auf seine Anwesenheit und dennoch verspürte sie einen starken Drang, hinter das Mysterium seines undurchschaubaren Wesens zu blicken. Nicht einmal die Geschwister, Milophar aus den höheren Traumsphären, konnten seine Identität aufdecken.

»Wir brauchen deine Hilfe, Zarea«, fuhr Elaris fort. »Evyana und ich waren uns nicht sicher, ob der richtige Moment gekommen ist, um dich einzuweihen. Doch die Ereignisse haben sich anders entwickelt, als es vorhergesehen wurde. Die möglichen Handlungslinien sind so dicht verwoben, dass es sehr viele Zukunftsalternativen gibt.«

»Einweihen? Ich glaube ihr seid mir alle sehr lange Erklärungen schuldig. Du auch, Rivanee«, entgegnete Zarea heftig.

»Ich bin selbst noch zu unwissend, um dir etwas Sinnvolles darüber erzählen zu können.« Rivanee zuckte mit den Schultern.

»Versuche deine Wut zu zügeln.« Elaris sah Zarea sanft an. »Bald wirst du alles wissen, was im Moment notwendig ist. Wir brauchen deine Sicht, um Sentos Aufenthaltsort aufzuspüren.«

 

 

***

 

 

Evyana holte tief Luft.

Es war unausweichlich. Die Vergangenheit war immer noch allgegenwärtig. Doch sie hätte nicht vermutet, dass ihre Erinnerungen noch so stark an die heftigen Emotionen von Angst und Verzweiflung gekoppelt waren. Diese Gefühle hatte sie nie gekannt. Bis zu jener Zeit.

Vor Äonen als das Licht gegen die Dunkelheit gekämpft hatte. Sie war ohne Elaris nach Velay zurückgekehrt. Diese Perlsphäre war die Heimat vieler Milophar.

Im Moment traf man nur sehr wenige von ihnen hier an.

Evyana schwebte wenige Millimeter über dem sattgrünen Gras. Ein angenehmer Windhauch fuhr über ihre Haut. Der wolkenlose Himmel erstrahlte in einem funkelnden Blau. Sie fühlte sich wohl hier. Und doch war etwas anders als sonst.

Fast jeder Milophar war auf dieser Mission. Sie hatte Velay noch nie so leer erlebt.

»Evyana.«

Sie sank ins Gras und sah in den Himmel. Die gigantische weiße Sonne blendete sie nicht. Inmitten des gleißenden Kreises erschien eine Gestalt. Sie schwebte langsam zu ihr hinunter.

»Cearto«, begrüßte Evyana den schlanken blauhaarigen Mann.

»Du siehst erschöpft aus.« Cearto musterte sie besorgt.

»Es ist schon in Ordnung. Wir müssen tiefer in die Obsidiansphären tauchen.«

»Die unteren Ringe sind von schwarzer Energie durchtränkt. Das heißt, dass der dunkle Adel wieder seinen Einfluss ausübt«, meinte Cearto ernst.

»Der Schleier lichtet sich. Alle unsere Freunde bewachen die Knotenpunkte und mit jedem Moment bilden sich mehr Risse.« Eine klamme Kälte griff nach Evyanas Herz. Sie kannte diese verwirrenden und entkräftenden Gefühle nur zu gut.

»Mach dir keine Vorwürfe. Ihr habt damals alles gegeben. Wenn es geschehen ist, dann war dies wohl ein Teil des großen Plans. Tausende Zeitalter sind seitdem verstrichen. Zweifle die Wege des Schicksals nicht an.« Cearto sendete ihr einen weißblauen Energiestrahl aus seiner Stirn zu. Das Licht linderte das beklemmende Gefühl und ließ die Kälte entweichen.

»Danke Cearto. So etwas darf nicht noch einmal geschehen.«, Evyana sog die wohltuende Wärme ein.

»Noch immer kann ich nicht das ganze Bild der Vergangenheit erkennen. Egal wie sehr ich mich darauf fokussiere, ich sehe nur Bruchstücke.«

»Das große Vergessen. Niemand hätte ahnen können, dass diese Macht so zerstörerisch sein könnte.«, meinte Cearto.

»Es fehlen so viele Bilder«, seufzte Evyana. »So viel Wissen, das wir benötigen. «

»Nichts ist verloren. Es gibt auch andere Wege. Dieses Mal erwachen auch die Bewohner der Erfahrungswelten. Viele Schläfer haben den Klang vernommen.« Cearto blickte wohlwollend auf sie herab.

»Das ist wahr. Darin liegt unsere Chance.«

»Je lichter der Schleier wird, desto bewusster werden die Menschen. «

Evyana nickte. Vor Äonen hatten die Spielregeln anders ausgesehen. Dieses Mal kam eine neue Komponente hinzu. Schwarz kämpfte gegen Weiß. Doch jetzt gab es einen dritten Spieler. Einen neutralen Neuankömmling. Außerdem vermutete Evyana, dass da noch mehr war. Der Krieg, der vor Äonen stattgefunden hatte, hatte unzählige Seelen ins Vergessen gestürzt.

Das große Vergessen.

Auch sie hatte mit dem Vergessen zu kämpfen. Ihre Erinnerungen waren sehr lückenhaft. Sie wollte es ihrem Bruder verschweigen. Doch jedes Mal, wenn die Emotionen des Verlustes und der Trauer an die Oberfläche geschwemmt wurden, konnte sie sich nicht abschirmen.

Wie sollte sie Elaris alles berichten, wenn sie selbst so viel vergessen hatte? Viele Milophar und sogar Wächter waren damals verschwunden. Das große Vergessen hatte sie in die entlegensten Winkel der Schöpfung geschleudert. Dort existierten sie nun, ohne zu wissen, wer sie waren.

Konnte es sein, dass es zwischen den Erwachenden in den Erfahrungswelten und den Verlorenen eine Verbindung gab?

»Du weißt, wozu diese Wesen in der Lage sind. Durch ihre gelebte Zeit in den Erfahrungswelten besitzen sie außergewöhnliches Potenzial«, fuhr Cearto fort.

»Nur wenige haben Kenntnis darüber und nur die wenigsten wissen etwas damit anzufangen«, erwiderte Evyana. »Du weißt, wie fest die Menschen schlafen, nicht nur im Traumzustand.«

»Doch diese Möglichkeit ist absolut einzigartig.«

»Habt ihr schon viele Schläfer aufwecken können?«, interessierte sie sich. Sie wusste, dass Cearto und einige andere Milophar eine Erfahrungswelt überwachten, die der Erde sehr ähnlich war.

»Noch nicht genug.« Cearto wirkte gleichmütig, aber er konnte den traurigen Unterton nicht verbergen.

»Was haben wir uns nur für eine Mission ausgesucht.« Evyana wollte nicht resignieren. Doch in Momenten wie diesen fiel es ihr schwer, die Hoffnung nicht zu verlieren.

»Besteht nicht darin die Herausforderung?« Cearto fasste neuen Mut. »Mir ist etwas Interessantes aufgefallen. Jeder Aufgewachte beeinflusst sein Umfeld. Sobald jemand bewusst wird, profitieren die anderen stark davon.«

»Eine exponentielle Verbreitung?«

»Es ist wie ein Stein der ins Wasser geworfen wird. Er schlägt große Wellen.«

Evyana schloss die Augen. Die Sonne von Velay durchflutete sie mit Energie und Geborgenheit. Ceartos Worte halfen ihr, die tiefe Angst in ihrem Herzen ein wenig zu lindern.

Sie brauchte Erholung. Die Reise nach Triso hatte an ihren Kräften gezerrt. Doch jetzt war keine Zeit auszuruhen.

»Du wirst Velay verlassen«, stellte Cearto fest.

»Ich werde gebraucht.« Evyana sog ein letztes Mal die energiedurchtränkte Luft ihrer Heimatwelt auf.

 

 

***

 

 

»Hallo Zarea.« Livia Lennet grüßte Rivanees Freundin.

»Guten Abend, Frau Lennet. Ich bin so froh, dass Ronan unversehrt wieder aufgetaucht ist.«

»Wir sind auch heilfroh. Auf schlaflose Nächte kann ich in Zukunft gerne verzichten.« Livia fasste sich ans Herz. Alles war wieder in Ordnung, doch die Erinnerung an dieses traumatische Erlebnis war immer noch frisch. Die ersten Nächte nach seiner Rettung war sie nachts mehrmals aufgewacht und hatte nach ihrem kleinen Sohn gesehen.

»Ich hoffe, dass so etwas nie wieder geschieht.«

Hinter Zarea erschien ein junger dunkelhaariger Mann. Er war groß gewachsen und sah sehr gut aus. Irrte sie sich oder besaßen seine braunen Augen einen goldenen Schimmer? Er sah jemandem sehr ähnlich.

»Das ist Elaris«, stellte Rivanee ihn vor.

»Erfreut, Sie kennen zu lernen.« Der junge Mann schüttelte sanft ihre Hand. Die Berührung hinterließ ein behagliches Gefühl auf Livias Haut.

»Meine Schwester Evyana war schon einmal hier. Sie hat Ihren Sohn geheilt. «, Elaris lächelte verschmitzt.

Daher kam er ihr also so bekannt vor. Seine hübsche Schwester war vor einigen Tagen dagewesen. Wenn das Rivanees Freund war, hatte sie einen Volltreffer gelandet. Warum hatte ihre Tochter noch nie ein Wort über diesen charmanten Jungen verloren? Sie erzählte ihr doch sonst so viel.

»Mutti, was starrst du ihn so an?«, brummte Rivanee.

»Wollt ihr vielleicht etwas essen.« Livia löste sich langsam aus ihrer Starre.

»Später vielleicht«, erwiderte Rivanee und lotste ihre beiden Gäste die Treppe hoch. Sie kamen an Ronans Zimmer vorbei. Rivanee horchte kurz. Ihr kleiner Bruder spielte ein Computerspiel. Die lustige Musik, unterbrochen von seinen Schimpftiraden, wenn er verlor, drang gedämpft in den Flur. Seitdem er entführt worden war, vergewisserte Rivanee sich immer, ob er da war.

»Deine Mutter ist eine sehr freundliche Frau«, meinte Elaris.

»Sie kann manchmal übertrieben neugierig sein.« Vorsichtshalber schloss Rivanee die Tür ihres Zimmers ab. Sie war froh, dass sie heute Morgen in aller Eile ein wenig aufgeräumt hatte. So liefen Zarea und Elaris keine Gefahr, über Bücherstapel zu stolpern oder in Kleiderbergen zu versinken.

»Woher hast du diesen Stein?« Zarea betrachtete den großen Bergkristall voller Ehrfurcht.

»Mein Psychologe hat ihn mir geschenkt«, erinnerte sich Rivanee, »Es ist ein seltsamer Kristall. «

Sie wartete auf Elaris Reaktion. Er wusste sicherlich, was es mit diesem durchsichtig weißen Stein auf sich hatte.

»Er vibriert.« Zarea strich über die Spitzen.

»Nicht nur das.« Rivanee dachte an Maro. Die bronzefarbene Katze mit den violetten Augen. Sie fragte sich, ob dieses seltsame Tier auftauchen würde, wenn sie danach rief.

Was willst du?

»Maro?«, murmelte Rivanee.

So werde ich genannt. Warum störst du mich bei meinem Nickerchen.

»Ich wollte dich nicht stören«, flüsterte Rivanee. Elaris und Zarea musterten sie fragend.

»Mit wem sprichst du, Rivanee?«, Zarea glaubte wohl, dass Rivanee nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte.

Haha. Deine Freundin schaut so lustig drein.

»Das liegt daran, dass ich mit einer unsichtbaren Gestalt rede. Warum zeigst du dich nicht einfach«, zischte Rivanee.

Das muss ich mir erst noch überlegen.

»Wer soll sich uns zeigen?« Angst mischte sich in Zareas Stimme. »Wohnt ein Geist in deinem Zimmer?«

Die Menschen sind einfach nur urkomisch. Geister! Dass ich nicht lache.

»Genug«, mischte sich Elaris ein. »Zeig dich. «

Verdutzt sah Rivanee zu ihm. Also hatte er ihr Gespräch auch gehört.

Immer diese Spielverderber.

Der Bergkristall wurde heller. Zarea wich zurück und versteckte sich hinter Elaris. Das Strahlen erfüllte das ganze Zimmer.

»Hier bin ich.« Eine bronzefarbene Katze lag zusammengerollt auf Rivanees Kopfkissen.

»Wo kommst du auf einmal her und warum kannst du reden?« Zarea lugte fassungslos hinter Elaris Schulter hervor.

»Eine sprechende Katze ist erst der Anfang.« Rivanee grinste. Mit diesem offenen Mund konnte ihre Freundin problemlos Tennisbälle fangen.

»Maro.« Elaris schüttelte den Kopf. »Wo sind deine Manieren geblieben?«

»Du kennst diese Katze?« fragte Rivanee verdutzt.

»Frag Elaris wie dieser kleine Kristall in deinen Besitz gelangt ist.« Maro legte eine pelzige Tatze auf den Stein. Das Leuchten war beinahe abgeklungen. Hin und wieder schimmerte der Kristall leicht.

»Eine lange Geschichte.« Elaris hob abwehrend die Hände.

»Du wurdest gezwungen aufzuwachen«, maunzte Maro. »Das ist nicht die feine Art.«

»Stimmt das?« Sie wandte sich direkt an den Dunkelhaarigen.

»Wir zwingen niemanden«, entgegnete er sanft. »Die Zeit war reif. Genauso wie jetzt der Moment gekommen ist, Zarea einzuweihen.«

»Aha. Die Zeit war also reif.« Maro hüpfte auf den Nachttisch.

»Vielleicht wollte ich gar nicht aufwachen«, donnerte Rivanee. Vorher war ihr das Leben stets überschaubar und klar vorgekommen. Ihre einzigen Probleme waren ihre Zensuren gewesen. Rivanee war nicht die fleißigste Schülerin und Mathematik war eine einzige Katastrophe, aber abgesehen davon war ihr Leben frei von Sorgen gewesen.

Bis zu dem Tag, an dem ihre Einschlafprobleme anfingen. Ein ungeheuerlicher Verdacht beschlich sie.

»Ihr wart für meine Schlafstörung verantwortlich und dann habt ihr mich aus heiterem Himmel einfach aufgeweckt. Bin ich euer Versuchskaninchen?«

»Nicht direkt.« Elaris zuckte nicht mit der Wimper. Wie konnte er nur so ruhig bleiben? Sie kannte ihn und seine Schwester seit einigen Wochen. Sie hatten bereits viel gemeinsam erlebt. Doch immer noch schwiegen sie, wenn Rivanee ihnen direkte Fragen stellte. Noch nie hatten sie ihr erklärt, warum gerade sie durch die Traumsphären reisen konnte.

»Es waren Minaven und Ladivelle.« Maro leckte sich die Pfötchen.

»Minaven und Ladivelle? Sind sie auch Milophar wie ihr?« wollte Rivanee wissen.

»Nein. Es sind Wesen aus Sphären jenseits der oberen Traumreiche«, erklärte Elaris.

»Was haben sie mit dem Ganzen zu tun?« Immer mehr Fragezeichen erschienen auf Rivanees Gesicht. Ihre beschränkte Weltsicht war in den letzten Wochen in hundert Teile zersplittert.

Mittlerweile wusste sie, dass es tausende, nein Millionen von Traumsphären gab. Jede Welt unterschied sich komplett von der anderen. Sogar in den Sphären selbst gab es weitere Welten. Und nun das.

Was waren Ladivelle und Minaven für Geschöpfe und warum mischten sie sich in ihr Leben? Jedes Mal, wenn sie glaubte etwas begriffen zu haben, kamen neue unglaubliche Informationen hinzu.

»Aus welchem Grund weckt ihr irgendwelche Leute?«, meldete sich Zarea wieder zu Wort.

»Die Zeit drängt und wir haben die Befugnis zur Handlung erhalten«, sagte Elaris.

»Wer hat euch dieses Recht gegeben?«

»Die Allmacht«, antwortete er knapp.

»Das kann ich einfach nicht fassen.« Zarea wickelte sich eine rotblonde Strähne um den Finger und starrte die seltsame Katze an.

»Insgeheim hast du nie daran gezweifelt.« Elaris Augen glommen dunkelgolden. Obwohl er von Rivanee und Zarea mit Fragen und Anschuldigungen bombardiert wurde, blieb er ruhig und entspannt. Menschliche Emotionen wie Wut, Aufregung und Ärger schienen ein Fremdwort für ihn zu sein.

Rivanee tat es auf einmal leid, ihn so angefahren zu haben. Es gab einen Grund für das plötzliche Auftauchen der Geschwister. Obwohl sie noch immer keinen blassen Schimmer hatte, warum gerade sie kopfüber in die Traumwelten gestürzt war, machte es Sinn. Sie konnte nicht erklären wieso. Zarea regte sich unruhig auf ihrem Platz.

Es gab einen Grund, den sie herausfinden musste. Sie hatte noch nie an Zufälle geglaubt. Gedankenverloren betrachtete sie ihre Freundin, die mit jedem Wort verwirrter wurde.

»Erst Rivanee, dann Sento. Und nun ich.«

»Du musst uns helfen. Mit deiner Sicht können wir herausfinden, wo sich euer Freund befindet.« Elaris sah sie aufmunternd an.

»Ich weiß nicht«, zweifelte Zarea. »Meine sogenannte Sicht täuscht sich oft.«

»Das liegt daran, dass du deinen inneren Bildern kein Vertrauen schenkst. Diese Gesellschaft hat euch geformt, nur euren fünf Sinnen zu vertrauen und alles darüber hinaus als Produkte der Fantasie abzutun«, schnurrte Maro.

»Warum könnt ihr nicht selbst eure besonderen Fähigkeiten nutzen, um Sento ausfindig zu machen?«, konterte Zarea.

»Evyana hat bereits versucht, seine Spur aufzunehmen. Doch diese Obsidiansphäre liegt jenseits des sechsten Ringes. Viel tiefer als Triso. Es hat sie sehr viel Energie gekostet, so tief zu tauchen. Sie regeneriert noch«, meinte Elaris.

Rivanee strich über Maros samtigen Kopf und versank in Gedanken. Die Geschwister hatten in der letzten Obsidiansphäre bereits unter der dichten Schwingung gelitten. Die Milophar kamen aus den Perlsphären. Welten die von Licht durchdrungen waren. Sie waren die Schwere und Düsternis nicht gewohnt. Rivanee hatte bisher noch keine dieser Probleme gehabt.

»Ich könnte es versuchen«, meinte Zarea zaghaft.

»Dir bleibt keine andere Wahl«, maunzte die bronzefarbene Katze.

»Haben wir nicht immer eine Wahl?« Rivanee sah in die runden Amethystaugen des Tieres.

»Glaubst du wirklich daran? «, Maro kicherte leise.

 

 

 

3. Ungewollte Einblicke

 

 

 

Vincane blätterte rasch durch Fohazars Bücher. Er suchte dieses seltsame Werk ohne Autor. Nach einem sehr kurzen und unruhigen Schlaf war er nicht mehr in der Lage gewesen wieder einzuschlafen. Zu viele Gedanken galoppierten durch seinen Kopf.

Nun saß er im Wohnzimmer und durchforstete die Literatur, die seinem Freund Hinweise auf den Verbleib von Crystazia liefern sollte. Wenn Fohazar ihn hier inmitten der aufgeschlagenen Bücher fand, würde er sicher sein besserwisserisches Lächeln aufsetzen. Vincane konnte nicht umhin, seinem alten Freund Recht zu geben. Crystazia vermochte ihm viele Antworten auf seine Fragen liefern.

Vielleicht war an dieser Legende wirklich etwas Wahres dran. Endlich fand er dieses Werk ohne Autor. Er schlug es in der Mitte auf und ließ seine Finger über die antiken Schriftzeichen gleiten.

Sie wogten wie winzige Wellen über seine Haut und sogen ihn förmlich in das alte Pergament hinein. Vincane zog rasch seine Hände weg. Die Worte auf dem vergilbten Papier ergaben für ihn keinen Sinn, wenn er versuchte sie zu lesen. Doch sobald er seine anderen Sinne spielen ließ, öffnete sich ein neuer Weg.

Erneut tastete er sich über die Schrift. Jeder Buchstabe, den er berührte, erwachte zum Leben. Er begann zu glühen und änderte die Form. Ecken und Kanten verschwammen und bildeten neue Symbole. Wirbel und Kreise, die in einem schwachen Blau leuchteten.

»Ich brauche eine Sprache, die ich verstehen kann«, murmelte Vincane und kam sich sofort lächerlich dabei vor. Warum in aller Welt unterhielt er sich mit Buchstaben aus einem halb zerfallenen Buch?

Doch seine Worte zeigten Wirkung. Die Wirbel fingen an, sich wieder zu bewegen. Sie strömten wie ein Fischschwarm zusammen. Dann bildeten sie einen großen Kreis. Das blaue Glimmen wurde stärker. In seiner Mitte erkannte Vincane ein Bild. Es war gestochen scharf, so als würde er am helllichten Tag durch ein Fenster sehen.

Das Bild zeigte den Markt von Tumanth. Die Händler breiteten gerade ihre Waren aus, um einen neuen Arbeitstag zu beginnen. Dann war ein schlaksiger Mann mit Pferdeschwanz zu erkennen.

Loire.

Vincane mochte diesen Typen nicht sonderlich, obwohl er sich nicht erklären konnte warum. Loire betrat sein provisorisches Zelt, öffnete eine große Truhe und entpackte dutzende von Schriftrollen. Vincane hielt die Luft an.

Diese Stücke mussten von einem ungeheuren Wert sein. Gerade als er sich die Rollen näher ansehen wollte, flog das Bild weiter. Hinter das Zelt zu einem Gebäude aus hellgrauem Marmor. Es war nicht sehr hoch und besaß ein Kuppeldach. Die Tür war von zwei Säulen umgeben.

Vincane wartete darauf, dass das Bild ihm den Innenraum dieses Hauses zeigte, als sich die Wirbel und Kreise wieder voneinander lösten.

Sie schwammen wie kleine Fische an ihre ursprünglichen Positionen und verwandelten sich in die uralte Schrift. Vincane stützte sein Kinn auf beide Hände und grübelte. Dieses Gebäude mit der Kuppel war ihm hier in Tumanth noch nie vorher aufgefallen. Dieses Buch wollte ihm mitteilen, dass dort der nächste Hinweis auf die Chronik zu finden war. Die Schatzsuche war Fohazars und nicht sein Spezialgebiet, doch sein Eifer war geweckt. Wenn er sich jetzt auf den Weg machte, würde

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 19.10.2018
ISBN: 978-3-7438-8404-5

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